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SUHRKAMP ELENA FERRANTE FRANTUMAGLIA Mein geschriebenes Leben

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Suhrkamp

ElEna FErrantEFrantumagliamein geschriebenes leben

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Elena FerranteFrantumaglia

Mein geschriebenes Leben

Aus dem Italienischenvon Julika Brandestini

und Petra Kaiser

Suhrkamp Verlag

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Die Originalausgabe erschien unter dem TitelLa Frantumaglia bei Edizioni e/o, Rom.

Erste Auflage © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin

© by Edizioni e/oAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

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Zu diesem Buch

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an alle, die die ers-ten beiden Romane von Elena Ferrante, Lästige Liebe() und Tage des Verlassenwerdens (), begeistertgelesen und diskutiert haben. Inzwischen hat Lästige Lie-be eine Art Kultstatus erlangt, viele haben die wunderbareVerfilmung von Mario Martone gesehen und das Interes-se an der ungewöhnlich öffentlichkeitsscheuen Autorin istweiterhin ungebrochen. Zudem hat die Zahl begeisterterLeser nach dem Erscheinen von Tage des Verlassenwer-dens noch einmal kräftig zugenommen, sodass die Fragendanach, wer sich wohl hinter demNamen Elena Ferranteverbirgt, eindringlicher wurden.

Um diese wachsende Neugier zu befriedigen, habenwir uns deshalb entschlossen, dem ebenso anspruchsvol-len wie wohlwollenden Publikumweitere Texte der Auto-rin zugänglich zu machen, und haben für diesen BandBriefe der Autorin an den Verlag edizioni e/o, einige derseltenen, schriftlich gegebenen Interviews und ihre Kor-respondenz mit ausgewählten Lesern zusammengestellt.Im Übrigen machen diese Texte ein für alle Mal deutlich,weshalb sich die Autorin seit nunmehr zehn Jahren so be-harrlich der Sensationsgier der Medien verweigert.

Die Verleger Sandra Ozzola und Sandro Ferri

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Dieses Vorwort der Verleger zur ersten Auflage von Fran-tumaglia datiert vom September . Alle Anmerkun-gen stammen vom Verlag.

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Das Befana-Geschenk

Liebe Sandra,bei dem letzten, sehr angenehmen Treffen mit Dir undDeinem Mann hast Du ironisch nachgefragt, was ichdenn nun zu tun gedenke, um den Verkauf von LästigeLiebe zu fördern (an den endgültigen Titel des Buchesmuss ich mich erst noch gewöhnen), und mir dabei einenDeiner lebhaften, amüsierten Blicke zugeworfen. Zu ei-ner spontanenAntwort fehltemir derMut, zumal ich auchdachte, Sandro gegenüber schon recht deutlich gewesenzu sein, er schien nichts dagegen zu haben. Deshalb hatteich eigentlich gehofft, das Thema nicht mehr ansprechenzu müssen, auch nicht im Spaß. Ich antworte Dir nunschriftlich, denn damit ersparen wir uns meine langenPausen, meine Unsicherheit, meine Nachgiebigkeit.

Ich habe die Absicht, gar nichts für Lästige Liebe zutun, nichts, was ein öffentliches Auftreten mit sich bräch-te. Ich habe bereits genug für diesen Roman getan: Ich ha-be ihn geschrieben.Wenn das Buch etwas taugt, sollte dasreichen. Ich werde keine Einladung zu Diskussionen oderTagungen annehmen. Ich werde zu keiner Preisverleihunggehen, falls man mir denn einen Preis zuerkennen sollte.Ich werde keineWerbung für das Buchmachen, vor allemnicht im Fernsehen, weder in Italien noch imAusland. Ichwerdemich nur schriftlich zuWort melden, aber auch dasmöglichst auf ein Minimum beschränken. Für mich undmeine Familie steht dieser Entschluss unwiderruflich fest.

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Ich hoffe, ich muss meine Meinung nicht ändern. Mir istdurchaus bewusst, dass das für den Verlag Schwierigkei-ten aufwirft. Ich habe Hochachtung vor Eurer Arbeit, ichhatte Euch sofort gern, und ich will Euch nicht schaden.Falls Ihr mich also nicht länger unterstützen wollt, sagtes gleich, ich hätte Verständnis dafür. Es ist ja überhauptnicht nötig, dass ich dieses Buch veröffentliche.

Wie Du weißt, fällt es mir schwer, die Gründe für mei-ne Entscheidung umfassend darzulegen. Aber Du sollstwissen, dass ich eine kleine Wette mit mir, mit meinenÜberzeugungen abgeschlossen habe. Ich glaube, Bücherbrauchen, wenn sie einmal geschrieben sind, keinen Au-tor mehr. Wenn sie etwas zu erzählen haben, finden siefrüher oder später ihre Leser. Und wenn nicht, dann ebennicht. Dafür gibt es viele Beispiele. Ich liebe diese geheim-nisvollen Bücher aus alter und neuer Zeit, die zwar keinenbestimmten Autor haben, aber trotzdem ein intensives Ei-genleben geführt haben und noch führen. Für mich sindsie wie ein Wunder, das über Nacht kommt, wie die Ge-schenke der Befana, auf die ich als Kind so sehnsüchtig ge-wartet habe, ich ging sehr aufgeregt ins Bett, und wennich morgens aufwachte, waren die Geschenke da, aber nie-mand hatte die Befana gesehen.Wahre Wunder sind sol-che, von denen nie jemand erfahren wird, wer sie voll-bracht hat, egal ob die kleinen Wunder der heimlichenHausgeister oder die großen, wirklich atemberaubendenWunder. Diesen kindlichenWunsch nach kleinen und gro-ßen Wundern habe ich immer noch, ich glaube nach wievor daran.

Darum, liebe Sandra, möchte ich in aller Deutlichkeitsagen: Falls Lästige Liebe es aus eigener Kraft nicht schaf-fen sollte, ein größeres Publikum anzusprechen, je nun,

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dann haben wir, Du und ich, uns eben geirrt; aber fallsdoch, wird das Buch auch ohne unsere Hilfe seinen Weggehen, und uns bleibt nur die freudige Aufgabe, uns beiden Leserinnen und Lesern für ihren Zuspruch zu bedan-ken. Und ist es nicht auch so, dassWerbung sehr teuer ist?Ich werde die kostengünstigste Autorin des Verlags sein.Sogar meine Anwesenheit wird Euch erspart bleiben.

Sehr herzlichElena

Brief vom . September

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Die Schneiderinnen der Mütter

Liebe Sandra,die Sache mit dem Preis wühlt mich sehr auf. Mich ver-wirrt nicht so sehr die Tatsache, dass mein Buch einenPreis bekommt, sondern vielmehr, dass er den Namen El-saMorantes trägt. Um ein paar Dankeszeilen zu schreiben,die vor allem eine Hommage an diese vonmir zutiefst ver-ehrte Autorin sein sollen, habe ich in ihren Büchern nachpassenden Zitaten gesucht. Dabei habe ich festgestellt,dass eine solche Drucksituation einem mitunter übel mit-spielen kann. Ich habe geblättert und geblättert, aber nichtein einziges passendesWort gefunden, dabei hatte ich docheine ganze Reihe deutlich in Erinnerung. Man müsste ein-mal darüber nachdenken, wie und wann Wörter aus Bü-chern verschwinden und diese dann am Ende wie leereGräber wirken.

Was hat mich in diesem Zusammenhang so blind ge-macht? Eigentlich war ich auf der Suche nach einer unver-kennbar weiblichen Passage über die Figur der Mutter,doch die von derMorante geschaffenenmännlichenErzähl-stimmen irritierten mich. Ich wusste genau, dass es diesePassagen gibt, aber um sie wiederzufinden, hätte ich denersten Leseeindruck wiederherstellen müssen, als es mirmühelos gelang, die männlichen Stimmen als Verkleidungweiblicher Stimmen und Gefühle wahrzunehmen. DasSchlimmste jedoch, was man unter solchen Umständentun kann, ist, unter Hochdruck nach einer zitierbaren

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Stelle zu suchen. Bücher sind komplexe Gebilde, die Zei-len, die uns tief erschüttert haben, markieren den Höhe-punkt eines inneren Erdbebens, das ein Text von den ers-ten Seiten an in uns Lesern ausgelöst hat: also entwedermacht man die Verwerfung ausfindig, und wird zu dieserVerwerfung, oder die Worte, von denen wir meinten, siewären eigens für uns geschrieben, sind nicht mehr auf-findbar und klingen, falls man sie doch wiederfindet, ba-nal und geradezu abgedroschen.

Am Ende habe ich auf das Euch bekannte Zitat zurück-gegriffen, das ich eigentlich Lästige Liebe als Motto vor-anstellen wollte. Doch selbst das ist schwieriger als ge-dacht, dennwennman es heute liest, klingt es so selbstver-ständlich, lediglich wie eine ironische Passage über dieEntmaterialisierung des mütterlichen Körpers durch densüditalienischenMann. Falls Ihr es zum besseren Verständ-nis für notwendig haltet, diese Stelle zu zitieren, schickeich Euch hier den ganzen Textauszug. In der Passage schil-dert Morante, was die Protagonistin Giuditta zu ihremSohn sagt, als der sich wie ein typischer Sizilianer benimmt,nachdem seine Mutter ihre Schauspielkarriere nach einerschlimmen Demütigung endgültig aufgibt und sich end-lich wieder normal kleidet.

Giuditta ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen.In diesem Augenblick sah er, wie sie ihm später sagte, ge-nau wie ein echter Sizilianer aus, wie einer von diesenstrengen sizilianischen Ehrenmännern, die immer auf ihreSchwestern aufpassen, dass sie am Abend nicht allein aus-gehen, den Verehrern keine Hoffnungen machen und dasssie keinen Lippenstift benutzen und für die dasWort »Mut-ter« zwei Dinge bedeutet: »alt« und »heilig«. Die Farbe,

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die sich für die Kleider der Mutter geziemt, ist Schwarzoder höchstens Grau oder Braun. Ihre Kleider sind unför-mig, denn niemand, nicht einmal die Schneiderinnen derMütter, kommt auf den Gedanken, dass eine Mutter denKörper einer Frau besitzt. Die Zahl ihrer Lebensjahre istein Geheimnis ohne Bedeutung, denn ohnehin gibt es fürsie nur eines: das Altsein. Dieses Alter ohne Form und Ge-stalt hat heilige Augen, die um die Kinder weinen, nichtwegen eigenen Kummers; es hat heilige Lippen, die fürdie Kinder beten, nicht für sich selbst. Und wehe dem,der vor diesen Kindern den heiligen Namen der Mutterleichtfertig ausspricht! Wehe! Es ist eine tödliche Beleidi-gung.

Dieser Passus soll bitte ohne Emphase vorgetragen wer-den, mit normaler Stimme, ohne die deklamatorischenTöne schlechter Komödianten. Wer von Euch das liest,sollte nur die folgenden Worte leicht betonen: unförmig,Schneiderinnen der Mütter, Körper einer Frau, Geheim-nis ohne Bedeutung.

Und hier nun schließlich mein Brief an die Preis-Jury,hoffentlich wird klar, dass die Worte der Morante allesandere als abgenutzt sind.

Ich entschuldige mich nochmals für die Umstände, dieich Euch bereite.

Elena

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Jury, als glühen-de Verehrerin Elsa Morantes habe ich etliche ihrer Worteim Gedächtnis. Also habe ich mich, bevor ich diesen Briefbegann, auf die Suche nach diesen mir bekannten Wortengemacht, um mich daran festzuhalten und dadurch an

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Substanz zu gewinnen. Allerdings habe ich dort, wo ich sievermutete, kaum etwas gefunden. Viele hatten sich ver-steckt. Andere, nach denen ich gar nicht gesucht habe, sta-chen mir plötzlich beim Durchblättern ins Auge, manchehaben mich mehr verzaubert als die eigentlich Gesuchten.Worte schlagen im Kopf des Lesers oft unvorhergeseheneWege ein. In erster Linie ging es mir um die Figur der Mut-ter, ein zentrales Motiv imWerk der Morante, und zu die-semZweck durchstöberte ichLüge undZauberei,ArturosInsel, La Storia und Aracoeli. In der Erzählung Der anda-

lusische Schal fand ich schließlich, wonach ich vermutlichmehr oder weniger gesucht hatte.Sicher kennen Sie den Text besser als ich, und ich braucheihn hier nicht noch einmal wiederzugeben. Es geht um dasBild, das Söhne von ihrenMüttern haben: Mütter sind alt,mit heiligen Augen, heiligen Lippen, in schwarzen, grauenoder ganz selten mal braunen Kleidern. Die Autorin sprichtanfänglich von »diesen strengen sizilianischen Ehrenmän-nern, die immer auf ihre Schwestern aufpassen«. Dochschon bald, nach wenigen Sätzen, verlässt sie Sizilien undgeht, wie mir scheint, zu einem weniger lokal gefärbtenBild der Mutter über. Das geschieht mit der Einführungdes Adjektivs unförmig. Die Kleider der Mütter sind unför-

mig, auch ihr Alter ist unbestimmt, sie sind einfach nur alt,»denn niemand«, schreibt Elsa Morante, »nicht einmaldie Schneiderinnen der Mütter, kommt auf den Gedanken,dass eine Mutter den Körper einer Frau besitzt.«Wichtig scheint mir die Wendung »niemand kommt aufden Gedanken«. Das Unförmige ist derart dominant fürdas Bild der »Mutter«, dass es weder Söhnen noch Töch-tern jemals in den Sinn käme, den Körper der Mutter mitweiblichen Formen in Verbindung zu bringen, es sei denn

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mit Abscheu. Das gelingt nicht einmal den Schneiderin-nen, obwohl sie doch selbst Frauen, Töchter, Mütter sind.Aus Gewohnheit schneidern sie den Müttern Kleider aufden Leib, die alles Weibliche negieren, als sei alles Weib-liche eine Art Lepra, die das Bild der Mutter entstellt. Sietun es ganz automatisch und machen so auch das Alterzu einem Geheimnis ohne Bedeutung, für Mütter gibt esnur ein Alter: das Altsein.Erst jetzt, wo ich darüber schreibe, fange ich an, bewusstüber die »Schneiderinnen der Mütter« nachzudenken. Siefaszinieren mich, vor allem im Zusammenhang mit einemAusdruck, der mich schon als Kind fesselte: »Kleider wieauf den Leib geschnitten«. Als Kind dachte ich, dahinterstecke etwas Anstößiges: eine aggressive Handlung, einegewaltsame Zerstörung der Kleider und schamlose Ent-blößung des Körpers; oder schlimmer noch, einemagischeKunst, die die Umrisse des Körpers bis zur Obszönität sicht-bar macht. Heute erscheint mir dieser Ausdruck weder bö-se noch anstößig. Vielmehr fasziniert mich der innere Zu-sammenhang von zuschneiden, einkleiden, aussprechen.Ich finde es spannend, dass sich daraus auch die Redensart»über jemanden herziehen« entwickelt hat. Würden dieSchneiderinnen lernen, den Müttern die Kleider so auf denLeib zu schneidern, dass er sichtbar wird, oder sie so haut-eng zu machen, dass der weibliche Körper wieder zum Vor-schein käme – dieser weibliche Körper, den Mütter nunmal haben und immer schon hatten –, dann käme das Ein-kleiden einem Entblößen gleich und der Körper der Müt-ter, ihr Alter, wäre nicht länger ein Geheimnis ohne Be-deutung.Vielleicht hatte auch Elsa Morante, als sie von den Müt-tern und ihren Schneiderinnen sprach, die Notwendigkeit

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vor Augen, für sie richtige Kleider zu finden und mit derschlechten Gewohnheit zu brechen, die schon lange dasWortMutter belastet.Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fallerinnere ich mich an andere Bilder (beispielsweise »dasmütterliche Schweißtuch«, »das sich wohltuend wie fri-sche Liebe auf den leprösen Körper legt«), in die man sichgerne versenken würde, um als neue Schneiderin den Feh-ler des Unförmigen auszubügeln.

Die Autorin nahm den Preis für das beste Erstlingswerk,den ihr die Jury im Rahmen der . Auflage des PremioProcida, Isola di Arturo – Elsa Morante () für Lästi-ge Liebe zuerkannte, nicht persönlich entgegen. Bei derPreisverleihung wurde stattdessen der hier abgedruckteBrief verlesen. Dieser Text wurde in den von Jean-NoëlSchifano und Tjuna Notarbartolo herausgegebenen Ca-hiers Elsa Morante, Edizioni scientifiche , abgedrucktund wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.

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Schreiben auf Bestellung

Liebe Sandra,da habt Ihr mir ja was Schönes eingebrockt: Bei der Ar-beit an dem Beitrag für Euer Verlagsjubiläum habe ichnämlich festgestellt, dass Schreiben auf Bestellung mühe-los von der Hand geht und man dabei sogar auf den Ge-schmack kommt. Und wie soll’s jetzt weitergehen? Solljetzt alles Wasser den Abguss hinunter, weil der Stöpselnunmal gezogen ist? ImAugenblick könnte ich über allesund jedes schreiben. Ihr möchtet einen Beitrag zur Feierdes neuen Autos? Prompt werde ich irgendwo die Erinne-rung an meine erste Autofahrt abrufen und mich dann,Zeile um Zeile, bis zum Glückwunsch zum neuen Autovorarbeiten. Ich soll Euch gratulieren, weil Eure KatzeJunge bekommen hat? Schon grabe ich die Katze aus, diemein Vatermir erst geschenkt undmir dann, vomMiauengenervt, wieder weggenommen und an der Straße nachSecondigliano ausgesetzt hat. Ihr möchtet einen Beitragfür einBuchüberdasheutigeNeapel?Danehme ichalsAus-gangspunkt die Episode, als ich mich einmal aus Angst,einer aufdringlichen Nachbarin zu begegnen, die meineMutter rausgeworfen hatte, nicht aus derWohnung trauteund ziehe dann Wort um Wort die Angst vor der Gewaltheraus, die einen heute anspringt, weil die alte Politik sichzwar ein neues Make-up auflegt, man aber gar nicht erken-nen kann, worin dasNeue, das wir unterstützen sollen, ei-gentlich besteht. Ich soll etwas schreiben zu dem dringen-

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denWunsch der Frauen, endlich zu lernen, die eigene Mut-ter zu lieben? Dann erzähle ich, wie meine Mutter michals Kind fest an die Hand nahm, damit fange ich an – imÜbrigen würde ich darüber tatsächlich gern schreiben,denn ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, wenn sieausAngst, ich könntemich losreißen und auf die holprige,gefährliche Straße laufen, meine Hand fest umklammerte,wobei ich ihre Angst spürte und selbst Angst bekam –,und dann finde ich garantiert einenWeg, um auf das The-ma einzugehen und auch ein kunstgerechtes Zitat von Lu-ce Irigaray oder Luisa Muraro einzuflechten. Ein Wortzieht das andere nach sich, eine Seite von banaler, elegan-ter, akkurater Kohärenz bringt man immer zusammen,zu jedem beliebigen Thema, egal ob anspruchslos oderanspruchsvoll, simpel oder komplex, nebensächlich odergrundsätzlich.

Was also soll ich tun, Eure Bitte einfach ablehnen unddamit Menschen verprellen, die ich mag und denen ichvertraue? Das liegt mir nicht. Also habe ich ein paar Zei-len geschrieben, als Zeichen echter Hochachtung für denehrenwerten Kampf, in dem Ihr Euch seit Jahren engagiertund der, glaube ich, heute noch schwerer zu gewinnen ist.

Hier also mein Beitrag, herzlichen Glückwunsch. Dies-mal begnüge ich mich damit, über einen Kapernbusch zuschreiben. Keine Ahnung, was danach kommt. Ich könn-te Euch leicht mit Erinnerungen, Gedanken, universellenEntwürfen überschütten. Nichts leichter als das. Momen-tan habe ich das Gefühl, ich könnte auf Bestellung überalles schreiben, über die Jugend von heute, die Schandta-ten des Fernsehens, über Di Giacomo, Francesco Jovine,über die Kunst zu gähnen oder über einen Aschenbecher.Auf die Frage eines Journalisten, wie er zu seinen Geschich-

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ten komme, nahmTschechow, der große Tschechow, denerstbesten Gegenstand, der ihm in die Finger fiel – einAschenbecher nämlich –, und sagte: Sehen Sie den hier?Wenn Siemorgenwiederkommen, gebe ich Ihnen eineGe-schichte mit dem Titel Der Aschenbecher. Eine herrlicheAnekdote. Aber wie und wann wird etwas so dringlich,dass man unbedingt darüber schreiben muss? Ich weißes nicht. Ich weiß nur, dass Schreiben auch eine deprimie-rende Seite hat, wenn die Absicht plötzlich zu durchsich-tig wird. Dann klingt sogar die Wahrheit bisweilen künst-lich. Deshalb möchte ich, um jedes Missverständnis zuvermeiden, hier noch einmal, ganz ohne Kapern oder sons-tiges, ganz ohne Literatur, ausdrücklich betonen, dassmeine Glückwünsche aufrichtig gemeint sind und von Her-zen kommen. Bis bald,

Elena

An einem der vielen Häuser, in denen ich als junge Frau ge-wohnt habe, wuchs jedes Jahr ein Kapernbusch, an derWand Richtung Osten. Die Wand bestand aus nacktemStein, war schlecht verfugt, und es gab keinen Samen, derdort nicht seine Scholle fand. Doch insbesondere der Ka-pernbusch blühte und gedieh dort so prächtig und in sozarten Farben, dass er mir wegen seiner Kraft, seiner sanf-ten Energie im Gedächtnis geblieben ist. Der Mann, deruns das Haus vermietete, mähte jedes Jahr mit der Sensealle Pflanzen nieder, doch vergeblich. Als er irgendwanndie Wand ausbesserte, brachte er mit der Hand eine glattePutzschicht auf und strich sie dann in einem grauenhaftenHellblau. Lange wartete ich zuversichtlich darauf, dassder Kapernbusch sich bekrabbeln, wieder ausschlagenund den eintönigen Putz sprengen würde.

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Heute, wo ich meinem Verlag gratuliere, habe ich das un-trügliche Gefühl, dass es wirklich passiert ist. Der Putz be-kam Risse, der Kapernbusch konnte wieder austreiben.Deshalb wünsche ich dem Verlag e/o, dass er weiterhin ge-gen den Putz kämpft, gegen alles, was durch Übertünchenharmonisiert. Auf dass er stur von Jahr zu Jahr immer neueBlüten hervorbringe, neue Bücher in Form der Kapern-blüte.

Der Anlass, auf den hier Bezug genommen wird, war das-jährige Bestehen der Edizioni e/o (). Der Text wur-de in dem Katalog abgedruckt, den der Verlag anlässlichdes Jubiläums herausbrachte.

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Das verfilmte Buch

Lieber Sandro,natürlich bin ich neugierig, ich kann es kaum erwarten,das Drehbuch von Martone zu lesen, und möchte Dich da-her bitten, es mir sofort zu schicken. Allerdings befürchteich, dass die Lektüre nur dazu dient, meine Neugier zu be-friedigen, denn für mich bedeutet es, zu verstehen, was ge-nau an meinem BuchMartone zu einer Verfilmung gereizthat und noch reizt, welchen Nerv es bei ihm getroffen hat,wie es seine Phantasie angeregt hat. Ansonsten rechne icheigentlich eher damit, in eine komische, ein bisschen pein-liche Lage zu geraten: denn dadurch werde ich zwangs-läufig zur Leserin eines fremden Textes, der eine Geschich-te erzählt, die ich selbst geschrieben habe; anhand seinerWorte werde ich mir dann vorstellen, was ich mir schoneinmal vorgestellt, gesehen und mit meinen Worten fixierthabe; und diese zweite Vorstellung wird zwangsläufig ineinen – ironischen? tragischen? –Vergleich mit der erstenmünden; ich werde also zur Leserin eines meiner Leser,der mir auf seine Art, mit seinen Mitteln, mit seiner Intel-ligenz und Sensibilität erzählt, was er in meinem Buch ge-lesen hat. Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren werde.Aber ich befürchte, ich werde feststellen, dass ich übermein eigenes Buchwenig weiß. Ich befürchte, in demTexteines anderen (ein Drehbuch ist zwar eine spezielle Formdes Schreibens, erzählt aber trotzdem eine Geschichte) zusehen, was ichwirklich erzählt habe und was mir womög-

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lich missfällt; oder Schwächen zu entdecken; oder einfachfestzustellen, was fehlt, was ich unbedingt hätte erzählenmüssen, aber aus Unfähigkeit, Ängstlichkeit, selbstgewähl-ter stilistischer Beschränkung oder oberflächlicher Betrach-tung nicht erzählt habe.

Aber Schluss jetzt, ich will das nicht unnötig in die Län-ge ziehen. Denn ich muss gestehen, dass die Lust auf einegänzlich neue Erfahrung stärker ist als alle kleinlichen Sor-gen und Ängste. Ich glaube, ich werde es folgendermaßenmachen: Ich lese den Text vonMartone und ignoriere da-bei einfach, dass es sich um eine Etappe auf dem Weg zueiner Verfilmung handelt; ich nutze die Arbeit und den Er-findungsreichtum eines anderen einfach als Gelegenheitzur weiteren Auseinandersetzung, und zwar nicht mitmeinem Buch, das inzwischen ein Eigenleben führt, son-dern mit der darin angesprochenen Thematik. Sag ihmbitte, wenn Du ihn siehst oder mit ihm telefonierst, dasser sich von mir auf keinen Fall einen fachlich hilfreichenBeitrag erwarten soll.

Ich danke Dir für Deine Mühe.Elena

Der Brief vom April bezieht sich auf das Drehbuchvon Mario Martone zur Verfilmung von Lästige Liebe.Martone schickte das Drehbuch mit einem Begleitbriefan die Ferrante. Danach entwickelte sich eine lebhafte Kor-respondenz, die wir im Folgenden dokumentieren.