Ende und Anfang der Welt

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Ende und Anfang der Welt Island ist anders: Wenige Menschen leben zwischen vielen Vulkanen, Gletschern und Elfen. Offenbar eine gesunde Umgebung – nirgends auf der Welt werden die Menschen älter. Text: Fabio Delorenzi Fotos: Max Schmid, Fabio Delorenzi Thora Arnadottir blättert im Fotoalbum und zeigt auf den weissen Singschwan mit dem gelben Schnabel. «Sogar wenn wir mit dem Auto wegfuhren, folgte er uns und flog uns kilometerweit nach.» Sie lächelt. Vom Hof Brennistadir geht es immer kilometerweit, bis eine Ortschaft kommt. Die drei Gebäude unterschiedlichen Baujahres und die beiden Ställe sind so abgelegen wie die meisten Bauernhöfe auf Island, und weil es genügend Platz gibt, wird kaum etwas abgerissen, sondern ein neues Gebäude daneben gestellt. Auf Brennistadir gab es immer zahme Tiere: Polarfüchse, Ferkel, Lämmer. Die 38- Jährige blättert weiter und zeigt nun auf ein Foto mit Hunderten von Schafen: «Der Schafabtrieb. Tagelang haben wir auf den Weiden mit den Pferden die Schafe eingesammelt. Das war anstrengend. Und sehr schön.» Thora seufzt. Ihre Eltern sind alt, die Landwirtschaft nicht mehr einträglich. Der Schafabtrieb gehört auf Brennistadir der Vergangenheit an. Die Kühe hat Thora ihren Eltern abgekauft, aber sie sagt: «Viel Aufwand, kein Geld.» Der neue Traktor ist vor zwei Tagen kaputt gegangen, die Reparatur wird wieder eine Menge verschlingen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Brennistadir kein Bauernhof mehr sein wird. Vier Prozent der isländischen Bevölkerung arbeiten noch in der Landwirtschaft; vor 100 Jahren waren es 50 Prozent. Mystische Küste Island: Nirgends kombinieren sich die Formen und Farben so zahlreich und geheimnisvoll wie auf der Insel im Nordatlantik zwischen den Kontinenten.

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Island ist anders: Wenige Menschen leben zwischen vielen Vulkanen,Gletschern und Elfen. Offenbar eine gesunde Umgebung – nirgends aufder Welt werden die Menschen älter.

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Ende und Anfang der Welt Island ist anders: Wenige Menschen leben zwischen vielen Vulkanen, Gletschern und Elfen. Offenbar eine gesunde Umgebung – nirgends auf der Welt werden die Menschen älter.

Text: Fabio Delorenzi Fotos: Max Schmid, Fabio Delorenzi

Thora Arnadottir blättert im Fotoalbum und zeigt auf den weissen Singschwan mit dem gelben Schnabel. «Sogar wenn wir mit dem Auto wegfuhren, folgte er uns und flog uns kilometerweit nach.» Sie lächelt. Vom Hof Brennistadir geht es immer kilometerweit, bis eine Ortschaft kommt. Die drei Gebäude unterschiedlichen Baujahres und die beiden Ställe sind so abgelegen wie die meisten Bauernhöfe auf Island, und weil es genügend Platz gibt, wird kaum etwas abgerissen, sondern ein neues Gebäude daneben gestellt. Auf Brennistadir gab es immer zahme Tiere: Polarfüchse, Ferkel, Lämmer. Die 38-Jährige blättert weiter und zeigt nun auf ein Foto mit Hunderten von Schafen: «Der Schafabtrieb. Tagelang haben wir auf den Weiden mit den Pferden die Schafe eingesammelt. Das war anstrengend. Und sehr schön.» Thora seufzt. Ihre Eltern sind alt, die Landwirtschaft nicht mehr einträglich. Der Schafabtrieb gehört auf Brennistadir der Vergangenheit an. Die Kühe hat Thora ihren Eltern abgekauft, aber sie sagt: «Viel Aufwand, kein Geld.» Der neue Traktor ist vor zwei Tagen kaputt gegangen, die Reparatur wird wieder eine Menge verschlingen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Brennistadir kein Bauernhof mehr sein wird. Vier Prozent der isländischen Bevölkerung arbeiten noch in der Landwirtschaft; vor 100 Jahren waren es 50 Prozent.

Mystische Küste Island: Nirgends kombinieren sich die Formen und Farben so zahlreich und geheimnisvoll wie auf der Insel im

Nordatlantik zwischen den Kontinenten.

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Dazwischen liegt der Zweite Weltkrieg, der Island in die Neuzeit katapultiert hat. Aus strategischen Gründen von den Westmächten besetzt, hatten die Isländer zum ersten Mal Gelegenheit, anders als mit der Fischerei oder Landwirtschaft Geld zu verdienen: Sie zogen in die Nähe der amerikanischen Stützpunkte auf der Insel – vor allem in das bis dahin überschaubare Städtchen Reykjavik – und liessen sich für alle möglichen Dienste bezahlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben nicht nur die amerikanischen Streitkräfte – sie betreiben noch heute einen Militärflughafen – sondern auch die modernen Zeiten Mittlerweile leben mehr als zwei Drittel aller Einwohner in Städten. Island hat relativ gesehen am meisten Autos und die höchste Mobiltelefondichte. In der Region Reykjavik leben 200'000 Leute, im Rest des Landes, das zweieinhalb Mal so gross ist wie die Schweiz, nur noch 100'000. Und die Stadflucht hält an, denn viele wollen nach Reykjavik, wo das Leben billiger ist, wo es Kinos gibt, Einkaufszentren, Tanzlokale, einen Familienpark, Schwimmbäder. Der 25-jährige Gudlaugur Bergmann studiert in Reykjavik. «Es gibt hier alles. Boutiquen, Trend-Cafés, fantastisches Essen, tolle Bars und viel Kultur.» Gudlaugur spricht hervorragend Englisch, ist weltgewandt und clever. Er wird es weit bringen. Zwar wandert auch er später aus, wie so viele gut ausgebildete Isländerinnen und Isländer, und geht nach London, Berlin oder New York. Aber er wird später wieder zurückkehren, so nach zwanzig oder mehr Jahren, wie viele, die weg waren, und sich im reiferen Alter wieder magisch von ihrer Heimat angezogen fühlen. «Weißt du», sagt Gudlaugur, und er sagt du, weil sich auf dieser Insel alle duzen: «Island ist eben anders.»

Das ist wohl wahr. Die Insel im Nordatlantik ist im Landesinnern unbewohnbar, dunkel im Winter, von Sturm und Regen gepeitscht. Sie ist freilich auch wunderschön, oftmals bezeichnet als das Labor der Schöpfung, wo man sieht, wie alles anfängt. Denn, bildlich gesprochen: Island ist das Land, wo man dem lieben Gott bei der Erschaffung der Erde zuschauen kann. Dass es dabei nicht immer nur gemütlich zugeht, zeigt die Geschichte. Seit der Besiedlung vor über 1000 Jahren, als sich norwegische Wikinger niederliessen, brachen Vulkane aus, erschütterten Erdbeben das Land, rissen Lawinen und Stürme Menschen in den Tod, führte die Kälte zu Missernten und Hungersnöten. So wälzten sich zum Beispiel im Jahr 1783 beim Ausbruch

Auch Gudlaugur wird in die weite Welt hinaus ziehen und, so sagt er, eines Tages gewiss nach Island zurück kehren.

Thora lebt auf einem abgelegenen Hof am Ende der Welt. Wenn aber in New York ein Konzert ist, das sie nicht verpassen

möchte, fliegt sie mit ihrem Mann eben mal schnell hin, schliesslich ist es nicht weit in die us-amerikanische Metropole.

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der Laki-Spalte zwölf Kubikkilometer Lava aus dem Erdinnern, breiteten sich auf einer Fläche von 565 Quadratkilometern aus, nahmen 20 Millionen Tonnen Kohlendioxid, 15 Millionen Tonnen Schwefeldioxid und tonnenweise andere giftige Gase aus dem Schlund mit, was die Weiden verwüstete und das Trinkwasser vergiftete. Es starben 10000 Isländer, ein Viertel der damaligen Bevölkerung, und vier Fünftel der Tiere. Pocken und Pest, Hungersnöte und Piratenüberfälle dezimierten die Isländer immer wieder dramatische – sie aber, die von wilden Kriegern zu braven Bauern mutierten Wikinger, blieben. Gudlaugur räuspert sich und wiederholt: «Island ist anders.» Er fragt: «Kennst du ein anderes Land, in dem Strassen einen Bogen um grosse Steine machen, weil dort drin Elfen wohnen? Siehst du dieses Haus dort, siehst du es?» Er zeigt mit dem Arm auf ein rotes Holzhaus am Rande eines jungen Lavafeldes. «Dort wohnt heute ein steinreicher Fischer. Als er das Haus baute, kam es dauernd zu Unfällen, es ging nicht vorwärts. Also holte er Rat bei der Elfenbeauftragten Erla Stefansdottir. Sie sprach mit der Elfenfamilie, die dort lebte, sie verhandelte und vermittelte. Der Fischer musste das Haus mehrere Meter näher in unsere Richtung verschieben, damit die Elfenfamilie in Ruhe weiterleben konnte. Von da ab ging auf der Baustelle alles reibungslos. Es gibt viele solcher Geschichten in Island. Da muss etwas dran sein!» Dass an Island etwas dran sein muss, spürte auch Jules Verne. Der Schriftsteller liess in seinem Roman «Die Reise zum Mittelpunkt der Erde» seine Helden durch den Snaefellsjökull in die Erde hinabsteigen, dort, wo Gudlaugurs Eltern – beide an spirituellen Phänomenen interessierte Menschen – bereits vor Jahren hingezogen sind. Der Grund – sowohl für Verne als auch für Gudlaugurs Eltern: Der vergletscherte Vulkan gilt als eines der sieben Energiezentren unserer Erde. Ein Energiezentrum der eigenen Art ist Birna Mjöll Atladottir, eine kräftige und laute, aber herzliche und fröhliche Person. Sie lebt am westlichsten Punkt Europas, in Breidavik. Ihr Mann betreibt Landwirtschaft, sie beherbergt Vogelkundler, die hierher kommen, um am Latrjaberg Seevögel zu beobachten, was ein fantastisches Naturspektakel ist. Neben den Ornithologen und den Vögeln leben einzig noch Birnas 700 Schafe am Westkap, von dem es fünf Stunden bis nach Reykjavik sind. Zur nächsten Tankstelle sind es 50 Kilometer auf Schotterpisten. Es gibt keinen Handyempfang und keinen Fernseher. Birna strahlt: «Wundervoll! Auf diese Weise können wir nicht anders, als uns mit uns selber zu beschäftigen. Wir reden und lachen viel und machen abends Spiele. Meine Tochter Maggi, die unter der Woche im Internat ist, kann es kaum erwarten, bis sie am Freitagabend wieder nach Hause kommt.» Nach Hause? Wir würden sagen: ans Ende der Welt. Wobei: In Island gibt es viele Enden der Welt. Djupavik zum Beispiel. Vor dem Zweiten Weltkrieg stampften hier clevere Geschäftsleute eine Heringsfabrik aus dem Boden. Mit Fischöl und eingelegten Heringen machten sie innert kürzester Zeit eine Menge Geld und schufen viele Arbeitsplätze. Nach einigen Jahren blieben die Fischschwärme aus. Heute leben in Djuapvik noch zwei Leute ganzjährig, Eva und ihr Mann Asbjörn. Das einstige Wohnhaus der Fabrikarbeiterinnen haben sie zu einem einfachen, aber gemütlichen Gästehaus umgebaut, das im Sommer in Betrieb

Birna lebt am äussersten Ende Europas – mit einem Temperament, als würde Sie in einer Grossstadt das

erfolgreichste Restaurant am Platz führen.

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ist. Und im Winter? «Ach, da lesen wir viel. Ist das gemütlich, wenn es draussen stürmt, der Himmel in den schönsten Rot- und Blautönen leuchtet. Ich liebe den Winter!» Kluge Leute zerbrechen sich schon lange den Kopf, ob es diese entspannte Art und Weise ist, welche die Isländer so alt werden lässt: Mit 82,6 Jahren bei Frauen und 78,4 Jahren bei Männern hat Island nämlich die höchste durchschnittliche Lebenserwartung der Welt. Oder ist es die Arbeit, die jung hält? Isländer arbeiten hart: durchschnittlich 52 Stunden in der Woche, und das bis 67 Jahre. Vielleicht aber ist auch das heisse Wasser, das an 700 Orten aus der Erde sprudelt, ein wahrer Jungbrunnen. Die Isländer legen sich jedenfalls mit Leidenschaft hinein: Allein die sieben Bäder in Reykjavik verzeichnen über eineinhalb Millionen Eintritte im Jahr! Und selbst im entlegenen Djupavik gibt’s ein Schwimmbad, wenngleich das noch einmal eine Autostunde entfernt liegt, aber was ist schon eine Stunde in einem dünn besiedelten Gebiet? Das direkt am Atlantik gelegene Schwimmbad Krossnes lockt mit 37 Grad Celsius, mit Aussicht auf Eisberge aus Ostgrönland und Treibholz aus Sibirien. Selbstverständlich gibt es keinen Bademeister, kein Kaffee und kein Chlor im Wasser, aber eine Dusche. Und ein Schild, dass genaue Anweisungen gibt, wie und wo man sich am Körper gründlich zu waschen hat, bevor man ins Bad geht. Schliesslich ist das Ende der Welt – betrachtet man es von der anderen Seite –, auch immer der Anfang der Welt. Und an einem solch besonderen Ort will man doch einen guten Eindruck hinterlassen, auch wenn es gar niemand sieht.

Eva lebt mit ihrem Mann gewissermassen am Ende der Strasse – die im Winter gar nicht befahrbar ist. Trotzdem finden Sie es an ihrem Ende

der Welt mehr als gemütlich. Und wer sie in ihrem originellen Hotel besucht, sieht das genauso so.