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Zerfall der Atomindustrie in Europa Energie & Umwelt Magazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 4 / 2020 > EPR Flamanville – der Albtraum Frankreichs > Euratom – der ewige Rettungsanker der Atomenergie? > Energiepolitik ist Klimapolitik

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Zerfall der Atomindustrie in Europa

Energie & UmweltMagazin der Schweizerischen Energie-Stiftung SES – 4 /2020

> EPR Flamanville – der Albtraum Frankreichs> Euratom – der ewige Rettungsanker der Atomenergie?> Energiepolitik ist Klimapolitik

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INHALT

Zerfall der Atomindustrie in Europa

4 EPR Flamanville – vom Vorzeigeprodukt zum Albtraum Frankreichs

Der Bau des EPR-Reaktors in Flamanville sollte die französische Atomwirtschaft neu lancieren. Inzwischen beschleunigt das Debakel des Projekts aber den Niedergang der einst stolzen nationalen Vorzeigeindustrie.

8 Energie aktuell

10 «Jede Technologie kommt im Alter an ihre wirtschaftlichen Grenzen»

2019 haben erneuerbare Energien wie Wind und Sonne erstmals mehr Strom geliefert als die Atomkraft. Mycle Schneider, Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, analysiert grundlegende Probleme der Atomkraft im globalen Marktumfeld.

12 Euratom – der ewige Rettungsanker der Atomenergie?Der EU-Gründungsvertrag 1957 ermöglicht die uferlose Finanzierung von neuen Atomkraftwerken und die notorische Beforschung neuer Reaktormodelle, wie etwa des Fusionsreaktors ITER. Daran ist auch die Schweiz beteiligt.

14 Der EPR-Atomreaktor strahlt bis in die Schweiz Obwohl weder der EPR in Flamanville noch jener in Olkiluoto betriebsbereit sind, gilt deren Sicherheitstechnik als neuster Standard in Europa. An ihm müssen sich die alten Atomkraftwerke messen. Es geht um Sicherheit, aber auch um viel Geld.

16 Energiepolitik ist Klimapolitik Die Klimakrise ist die grösste Herausforderung unserer Zeit. Die Schweiz muss ihre Gesetzgebung endlich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten und nicht nach politischem Gutdünken. Carte Blanche für Klimaaktivist Nico Müller.

18 Raumplanung für die Sonnenenergie Sonnenenergie lässt sich nicht nur auf Gebäuden, sondern auch auf anderen Infra-strukturbauten ernten. Hindernisse und Zielkonflikte können mit der anstehenden Revision des Raumplanungsgesetzes teilweise überwunden werden.

20 SES aktuell

22 Weder «planlos» noch «Planwirtschaft»Eine Allianz rund um die Auto- und Erdöllobby, unterstützt von der SVP, hat jüngst das Referendum gegen das CO2-Gesetz ergriffen. Die SES widerlegt sechs schlechte Argu-mente gegen das CO2-Gesetz – und ein Gutes. Ein Appell an die Vernunft.

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EDITORIAL

Frankreich bestimmt die Zukunft der europäischen Atomindustrie

Liebe Leserinnen und Leser

Sie wundern sich, weshalb es nicht weitergeht mit dem Atomausstieg in der Schweiz, weshalb von teuren Nachrüstungen statt von Stilllegungen gesprochen wird? Seit ich bei der SES arbeite, gehe ich genau diesen Fragen nach. In letzter Zeit haben sie mich vermehrt zu unserem westlichen Nachbarn geführt, wo sich seit Jahren tiefe Risse in der «Filière nucléaire» auftun. Diese Ausgabe des E&U widmet sich deshalb Frankreich – der «Grande Nation Nucléaire» – und der euro pä-ischen Atomindustrie.

Seit Wochen wird ein Besuch des französischen Prä si-denten, Emmanuel Macron, in der Reaktor-Schmiede Le Creusot von Framatome erwartet. Über den Grund des Besuchs wird wild spekuliert: Will er mehrere neue EPR-Atomkraftwerke bauen lassen oder bestellt er einen neuen Flugzeugträger mit Nuklearantrieb? Die schwer gebeutelte Atomindustrie Frankreichs hofft auf posi-tive Nachrichten ihres Präsidenten.

Tatsächlich hat sich Frankreichs ehemalige Vorzeige-industrie in letzter Zeit nicht gerade mit Ruhm be-kleckert (siehe Titelgeschiche zum EPR Flamanville, S. 4 − 7). Sie ist oft defizitär, die Qualität der Arbeiten mangelhaft und ohne Staat kaum überlebens fähig. Die quasi-staatliche Betreiberin EDF kämpft mit häufigen und langen Ausfällen ihrer 56 AKW, wie der neuste World Nuclear Industry Status Report von Mycle Schnei-der eindrücklich zeigt (S. 10 + 11 ). Nach dem Aus für das AKW Fessenheim wird sie in den nächsten Jahren weitere AKW schliessen müssen. Der wirtschaft liche

Druck nimmt zu, die Kosten für Nachrüstungen der in die Jahre gekommenen AKW gehen in die Milliarden. Trotzdem scheinen Laufzeitverlängerungen mangels neuer EPR-Bauten die einzige Option, um die Stromver-sorgung auch nur halbwegs sicherzustellen. Ob das rentieren kann, ist mehr als fraglich. Daten aus dem anderen grossen AKW-Land, den USA, zeigen, dass trotz verlängerter Betriebsbewilligung die Erhaltungskosten im Langzeitbetrieb stark ansteigen und ein rentables Geschäft verunmöglichen.

Die Probleme, die in Frankreich ein enormes Ausmass angenommen haben, betreffen natürlich auch andere Länder mit ziviler Nutzung der Atomkraft. Gerade kleine Länder wie die Schweiz oder Belgien stehen trotz mittelfristigem Atomausstieg vor den Fragen des Lang-zeitbetriebs und schielen auf den grossen Nachbarn Frankreich (siehe «Der EPR strahlt bis in die Schweiz», S. 14 + 15). Sind die alten Reaktoren trotz Milliarden-investitionen kostendeckend oder gar gewinnbringend weiterzuführen? Wie steht es um die Sicherheit? Wel-che Auflagen schreibt die Atomaufsicht für dieses neue Kapitel vor? Frankreich wird in verschiedener Hinsicht entscheidend sein für die Zukunft der europäischen Atomindustrie.

Ich wünsche Ihnen spannende Momente beim Lesen dieser Ausgabe.

Simon BanholzerSES-Leiter Fachbereich Atomenergie

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Von Felix MaiseEx-Redaktor Tages-Anzeiger, seit 25 Jahren im Elsass wohnhaft

Das Drama begann vor 15 Jahren und wurde damals als Sternstunde der französischen Atomindustrie gefeiert: 2005 beschloss die Electricité de France (EDF), das in die Jahre gekommene AKW in Flamanville an der franzö-sischen Westküste durch einen Reaktor der neusten Technologie zu ersetzen. Der französische Nuklearkon-zern AREVA, wie die EDF zu rund 85 % in Staatsbesitz, sollte anstelle des alten Reaktors einen mit 1600 Mega-watt deutlich leistungsstärkeren Druckwasserreaktor neuster Technologie bauen. AREVA pries sein Prestige-produkt, den sogenannten Evolutionary Power Reactor (EPR), als das Non Plus Ultra der modernen Atomtech-nologie an, als «Rolls Royce du nucléaire», wie AREVA

schwärmte. Mehr Leistung bei gleichzeitig grösserer Sicherheit, so das Versprechen.

Am 9. Juli 2020 publizierte der französische Rech-nungshof, die oberste Finanzkontrolle des Landes, sei-nen Bericht zum finanziellen Debakel des Projekts. Das Urteil fällt vernichtend aus. Die Analyse zwinge zu einem grundsätzlichen Überdenken der franzö sischen AKW-Politik, bilanzierte Ex-EU-Kommissar Pierre Mos-covici, seit diesem Sommer neuer Präsident des Rech-nungshofs. Der kühle Befund bestätigt die zunehmen-de Kritik, die es in der keineswegs atomkritischen fran-zösischen Öffentlichkeit seit Jahren am EPR-Bau in Flamanville gibt. «EDF hat bei der Lancierung des EPR-Programms die eigenen Fähigkeiten und Kapazi-täten überschätzt und die Kosten und ungelösten Prob-leme unterschätzt», sagt Pierre Moscovici.

EPR Flamanville – vom Vorzeigeprodukt zum Albtraum FrankreichsDer Bau des EPR-Reaktors in Flamanville sollte die französische Atomwirt-schaft neu lancieren. Inzwischen beschleunigt das Debakel des Projekts aber den Nieder gang der einst stolzen nationalen Vorzeigeindustrie. Ohne ständige massive Staatshilfe wäre Frankreichs Nuklearbranche bereits pleite.

FOkUS ATOMENERgIE

Noch immer nicht am Netz: Der EPR in Flamanville – das Non Plus Ultra der modernen Atomtechnologie (Foto S. 4).

Der französische Rechnungshof mit Präsident Pierre Moscovici kritisierte jüngst in seinem Bericht das finanzielle

Debakel des Projekts (Foto S. 5).

Foto: Electricité de France (EDF)

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Exorbitante BaukostenAls Anfang der 2000er-Jahre der EPR-Reaktor in Flaman-ville geplant wurde, ging die Bauherrin EDF von Kos ten von 3,4 Milliarden Euro aus. Im neu konzipierten Re-aktortyp EPR sah die französische Nuklearindustrie einen Exportschlager, der sie beim Reaktorbau auf den Weltmarkt zurückbringen würde. Flamanville sollte da-bei zum Vorzeigeprodukt des französischen Know-hows werden.

Der Optimismus war gross, als der Bau im Départe-ment Manche am Ärmelkanal in der Normandie im Jahr 2007 startete. Mit der Inbetriebnahme rechnete man bereits für 2012. Doch die Ernüchterung folgte bald und hat die Träume seither gründlich platzen lassen. Nach unzähligen Schwierigkeiten und ständi-gen Verzögerungen geht EDF heute davon aus, dass das Werk erst im Jahr 2023 ans Netz gehen wird. Bis heu-te belaufen sich die reinen Baukosten auf 12,4 Milli-arden Euro. Dazu kommen allerdings weitere 4,2 Mil-liarden an Finanzkosten, um den Bau überhaupt fort-führen zu können. Bis zur geplanten Inbetriebnahme dürften laut dem Bericht des Rechnungshofs weitere 2,5 Milliarden Euro hinzukommen, was die Gesamt-kosten auf stolze 19,1 Milliarden Euro erhöhen wird. Das entspricht dem 5,6-fachen der ursprünglich ver-anschlagten Kosten.

«Sehr ernste» SicherheitsmängelWer diese finanziell tragen soll, ist umstritten: Die Bau-herrin EDF, die zu 83,6 % dem französischen Staat ge-

hört, will die Mehrkosten nicht alleine tragen. Vielmehr soll der ebenfalls staatliche EPR-Nuklearkonzern AREVA für einen Teil des finanziellen Debakels geradestehen. AREVA lieferte mit technischen Mängeln behaftete Bau-teile, darunter vor allem den zentralen, bereits einge-bauten Reaktordruckbehälter mit fehlerhaften Schweiss-nähten, der in der AREVA-Tochterfirma Forge Creusot hergestellt worden war. Die französische Behörde für nukleare Sicherheit (ASN) stellte fest, dass der Kohlen-stoffgehalt in der Stahldecke zu hoch ist.

«Es handelt sich um einen Fabrikationsmangel, den ich als ernst oder sehr ernst bezeichnen würde, weil er einen entscheidenden Bestandteil betrifft», sagte ASN-Chef Pierre-Franck Chevet dazu. Zwar verzichtete die ASN darauf, den finanziell kaum tragbaren Austausch des bereits eingebauten Reaktorbehälters zu verlangen und begnügte sich mit weniger teuren, aber auch weni-ger sicheren Reparaturmassnahmen an den defekten Schweissnähten. Spätestens dieser Befund erschütterte das Vertrauen in das Projekt, das eigentlich zum Vor-zeigeobjekt der französischen Nuklearindustrie hätte werden sollen, nachhaltig.

«EDF hat bei der Lancierung des EPR-Programms die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten überschätzt, die Kosten und ungelösten Probleme unterschätzt.» Pierre Moscovici, Präsident französischer Rechnungshof

Fotos: wikimedia.org / M0tty (Rechnungshof) / Aron Urb (Pierre Moscovici)

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Wer trägt die Mehrkosten?Das Problem der Bauherrin EDF bei den Verantwortlich-keitsfragen für das finanzielle Debakel: AREVA exis-tiert in der ursprünglichen Form seit 2018 gar nicht mehr. Um die Pleite des Atomkonzerns zu verhindern, hat der Staat sein marodes Unternehmen mit einer Sub-vention von 4,5 Milliarden Euro sozusagen freigekauft und inzwischen in mehrere Teilgesellschaften aufge-teilt. Die Reaktorbausparte AREVA NP wurde in die EDF integriert, die seither unter dem Namen Framatome 75 % des Reaktorbaukonzerns hält. Eine neue immer noch zu 50 % staatliche Gesellschaft namens Orano übernahm den Rest des Geschäfts rund um den Kern-brennstoff-Kreislauf.

Ob mit der Neustrukturierung ein substanzieller Teil der ständigen Mehrkosten tragbar wird, ist ungewiss. Wahrscheinlicher ist, dass am Schluss einmal mehr der Griff in die Staatskasse nötig wird. Frankreichs Steuer-zahler sind seit Jahrzehnten unfreiwillig die verläss-lichsten Helfer bei allen Pleiten und Pannen der natio-nalen Atomwirtschaft. Ohne diese indirekte Staats-garantie wäre das EPR-Abenteuer im sich rasant verändernden Weltmarkt der Stromproduktion längst auf Grund gelaufen. Denn der in Flamanville produ-zierte Strom wird laut dem Rechnungshof 110 bis 120 Euro pro Megawattstunde kosten, doppelt so viel wie jener aus den 56 Reaktoren des bisherigen nationalen AKW-Parks.

Ein Debakel auch in FinnlandNicht besser als in Flamanville läuft es auch beim zwei-ten, ursprünglich deutsch-französischen EPR-Projekt

in Finnland. Bereits 2005, noch vor dem Baubeginn in Flamanville, war die Baugenehmigung für den ersten EPR-Reaktor im finnischen Olkiluoto erteilt worden. Der Auftrag wurde nach Jahren der Flaute im Nuklear-business als grosser Exporterfolg gefeiert.

Bereits 1998 war das grundsätzliche Design des EPR fest-gelegt worden. 2001 hatten die Unternehmen Siemens und Framatome ihre Nuklearaktivitäten unter dem Namen Framatome ANP zusammengefasst. 2006 wurde daraus AREVA NP. Die Anfangsfreude währte nicht lange: 2011, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushi-ma und den in Olkiluoto aufgetauchten Problemen, beendete Siemens sein EPR-Engagement und verkaufte seine Nuklearsparte kurzerhand ganz nach Frankreich. AREVA ist seither allein für die finnische Baustelle zu-ständig, die sich schnell als ähnlich desaströs erwies wie die in Flamanville. «Der Bau in Finnland hatte zur Folge, dass AREVA 2015 finanziell am Abgrund stand und der französische Staat eine mit 7,5 Milliarden Euro ausgesprochen teure Rettungsaktion starten musste», sag te Rechnungshof-Präsident Moscovici im Sommer der Zeitung «Le Monde».

Dabei hätte der EPR an der Westküste Finnlands eigent-lich 2012 in Betrieb gehen sollen – doch Strom erzeugt er bis heute, 15 Jahre nach Baubeginn, nicht. Aktuell rechnet man mit der Inbetriebnahme nicht vor 2022, wie die finnische Betreiberfirma TVO Ende August mit-teilte. Schuld daran sind wie in Flamanville technische Probleme, Pannen und eine unsorgfältige Projektlei-tung. Juha Poikola, zuständiger Manager des finnischen Energieversorgers TVO, sieht die Schuld dafür beim

Frankreichs Reaktorbauer haben aus Flamanville und Olkiluoto scheinbar nichts gelernt: EDF baut derzeit im britischen Hinkley Point zwei weitere EPR-Reaktoren.

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Konsortium von Siemens und AREVA, das den EPR- Neubau 2002 einst zum optimistischen Festpreis von 3 Milliarden Euro angeboten hatte: «Das grundlegende Reaktordesign war zwar fertig, die Detailpläne aber nicht. Die Bauarbeiten haben deshalb viel mehr Zeit benötigt als erwartet.» Und die Baukosten haben sich mehr als vervierfacht.

Ein neues Abenteuer in Hinkley Point CDoch Frankreichs Reaktorbauer haben aus Flamanville und Olkiluoto scheinbar nichts gelernt: Zwei weitere EPR-Reaktoren baut die EDF derzeit im britischen Hinkley Point, diesmal in einem Konsortium mit chine-sischen Unternehmen. Geplant sind zwei Druckwasser-reaktoren EPR mit je 1600 Megawatt Leistung. Die Kosten sollen sich auf 20 Milliarden Euro belaufen. Finanziert wird das Ganze zu 66,5 % von der EDF und zu 33,5 % von China General Nuclear (CGN), entspre-chend den Anteilen am Konsortium. Zur weiteren Absicherung der Investition versprach die britische Re-gierung einen staatlich garantierten Abnahmepreis von 10,8 Eurocent pro kWh für 35 Jahre. Zusätzlich gibt es eine Kreditgarantie von rund 19 Milliarden Euro. Tatsächlich fallen insgesamt Kosten in Höhe von 28,4 Milliarden Euro an. Dass ein chinesisches Staatsunter-nehmen am Bau eines Atomkraftwerks in Europa be-teiligt ist, gefällt dabei nicht allen. Vor dem Investiti-onsentscheid war es EDF-intern zudem zu einer Zerreiss-probe gekommen: Der EDF-Finanzchef trat zurück, weil nicht nur er, sondern auch die Gewerkschaftsver-treter im Verwaltungsrat den Entscheid für Hinkley Point finanziell für unverantwortlich hielt.

Im Dezember 2018 erfolgte dennoch der Startschuss zum Bau: Die kommerzielle Inbetriebnahme der zwei Reaktorblöcke war für das Jahr 2025 geplant, doch ist man schon in Verzug. Zudem ist das ursprünglich vor-gesehene Budget bereits um 2 Milliarden Euro über-schritten. Die garantierte Einspeisevergütung, mit der sich die EDF diesmal gegen ein weiteres finanzielles Debakel absichern will, ist derzeit deutlich höher als die Vergütung für Strom aus Offshore-Windparks. Nachdem der französische Strommulti das 2019 be-kanntgegeben hatte, fiel der EDF-Aktienkurs um 7 %. Seit 2007 ist der Aktienwert von EDF gar um 87 % ein-gebrochen, der Konzern hat 42 Milliarden Euro Schul-den und muss in den nächsten Jahren geschätzte 55 Milliarden in den Weiterbetrieb der 56 in die Jahre gekommenen französischen AKW stecken. Zuletzt ver-meldete EDF im 2020 neue tiefrote Zahlen als Folge der Coronakrise. Das alles sind finanzielle Fakten, die ein privates Unternehmen nicht überleben würde.

Die Chinesen sind tüchtiger Mit bloss fünf Jahren Verspätung auf die Planung und weniger hohen Kostenüberschreitung sind im südchi-nesischen Taishan seit 2019 immerhin zwei EPR-Reak-toren am Netz. Federführend beim Bau waren diesmal allerdings die Chinesen. Im Joint Venture hielt China General Nuclear (CGN) 51 %, EDF 30 % und ein regiona-les Elektrizitätswerk 19 %. Der EDF-Chinadelegierte

Fabrice Fourcade lobte die Inbetriebnahme in Taishan gleichwohl als Erfolg von 35 Jahren chinesisch-franzö-sischer Zusammenarbeit und Beweis der Reife der fran-zösischen EPR-Technologie.

Doch auch China hat nicht die Absicht, weitere EPR-Re-aktoren zu bauen, denn auch im Reich der Mitte kann man rechnen und reagiert auf die sinkenden Preise er-neuerbarer Energien: Laut einer Studie von Bloomberg New Energy Finance war der Strom aus Wind- und Solar-anlagen schon Ende 2018 20 % billiger als der aus Tai-shan. Die Erfahrungen in Taishan haben immerhin dazu geführt, dass die EDF beim Bau in Hinkley Point jetzt mit den tüchtigeren Chinesen zusammenarbeitet.

Ohne weitere EPR-Bauten läuft Frankreichs Atomindus-trie in absehbarer Zeit aber auf Grund. Hinter den Kulissen ist deshalb ein Seilziehen in vollem Gang: Die EDF erarbeitet im Auftrag der Regierung derzeit ein Szenario für den Bau von sechs neuen EPR in Frank-reich. Die Regierung hat den Entscheid über diese zent-rale Weichenstellung nach bewährtem Muster auf ei-nen Termin nach der nächsten Präsidentschaftswahl von 2022 verschoben. Bis dann soll die EDF nachweisen, dass sie technisch, finanziell und sicherheitsmässig in der Lage ist, ein Programm neuer Reaktoren zu meis-tern, das auf einer Hypothese von drei EPR-Paaren basiert. Die voraussichtlichen Kosten sollen dabei unter Berücksichtigung aller direkten und indirekten Kosten mit anderen CO2-armen Stromproduktionsformen ver-glichen werden.

Too big to fail?Angesichts des bisherigen EPR-Debakels und der un-günstigen Wettbewerbslage der teuren Reaktoren auf dem internationalen Strommarkt setzt die EDF neuer-dings auf einen redimensionierten, günstigeren Reaktor-typ EPR 2, «ein Reaktor für den Einsatz in Frankreich, der dem EPR nahe verwandt ist und von den Erfahrun-gen mit diesem profitieren kann, aber kostenmässig und bautechnisch optimiert ist», wie die EDF einmal mehr vollmundig verspricht. Derzeit prüft die Auf-sichtsbehörde ASN die entsprechenden Pläne. Sollte diese Prüfung positiv ausfallen, möchte die EDF im nächsten Jahr ein Gesuch für die Konstruktion des neu-en günstigeren EPR-Reaktortyps einreichen: Die Hoff-nung stirbt bekanntlich zuletzt, auch in der franzö-sischen Nuklearbranche. Die Reissleine zu ziehen und den atomaren Weg mit-telfristig ganz zu verlassen, kann man sich bis jetzt hingegen weder bei der Électricité de France (EDF) noch in der französischen Regierung wirklich vorstellen, Milliardenpleiten hin oder her. <

Der Aktienwert von EDF ist um 87 % eingebrochen, der Konzern hat 42 Milliarden Euro Schulden und muss geschätzte 55 Milliarden in den Weiterbetrieb der 56 französischen AKW stecken.

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Energie aktuell

> Energiegesetz: Der Bundesrat heizt ein

fx. Ab Mitte 2021 wird das Parlament die Energiever-sorgung der Schweiz diskutieren. Der Bundesrat will eine Botschaft mit dem Titel «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» vorlegen. Bis 2035 sollen 17 Terawattstunden (TWh) und bis 2050 39 TWh erneuerbare Energien (ohne Wasser-kraft) produziert werden. Damit erfüllt der Bundesrat unsere Forderung nach einer 100 % erneuerbaren Strom-versorgung – aber leider viel zu spät. Wir dürfen damit nicht bis Mitte des Jahrhunderts warten. Denn andere Bereiche wie die Landwirtschaft werden voraussicht-lich mehr Zeit benötigen, um das Netto-Null-Ziel zu erreichen. Das Parlament muss dem Gesetzesentwurf also noch kräftig einheizen, damit dieser nicht unnötig unserem Klima einheizt.

> «Neue» Klima- und Energiepolitik in den USA

fb. Trump hat viele Fortschritte beim Klimaschutz ab-geschwächt. Der Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkom-men fand just während der US-Wahlen statt. Nachfolger Joe Biden möchte sich erneut zum Klimaabkommen bekennen und die Stromversorgung bis 2035 emissions-frei gestalten. Vorschriften (wieder) in Kraft zu setzen, benötigt jedoch Zeit. Trotz Trump konnten die USA auf Ebene der Bundesstaaten einiges bewirken. So dürfen in Kalifornien ab 2035 nur noch emissionsfrei angetrie-bene Autos verkauft werden. Oder Texas, das stark in Windkraftanlagen investiert. Trump hat es nicht ge-schafft, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu stoppen. Die Kohlestromproduktion hat abgenommen, da sie schlicht nicht mehr mit Wind- und Solarstrom konkurrieren kann.

> BAFU-Bericht «Klimawandel in der Schweiz»

fb. Die Befunde sind nicht neu, zeigen aber einmal mehr: Der Klimawandel ist real und wir sind mit den bisher ergriffenen Massnahmen nicht auf Kurs. Die Schweiz ist stärker betroffen als andere Länder. Geht es so weiter, dann kann die Erwärmung hierzulande bis 2100 um bis zu sieben Grad zunehmen.

Der Bericht zeigt auch, dass wir deutlich mehr klima-schädliche Treibhausgase pro Kopf ausstossen als ande-re Länder. Werden zu den Emissionen im Inland die «grauen Emissionen» der importierten Güter aus dem Ausland hinzugezählt, dann steht die Schweiz bei der Klima sünder-Liste auf Rang vier, hinter den USA, Aus-tralien und Kanada. Uns trifft grundsätzlich eine be-sondere Verantwortung. Und langfristig lohnt es sich, das Problem zu lösen, statt abzuwarten. Klimaschutz kostet, aber kein Klimaschutz kostet mehr.

> IEA: Erneuerbare ab 2025 wichtigste Stromquelle

vs. Erneuerbare Energien sind auf dem Vormarsch. Auch die Corona-Krise kann den Siegeszug von Solar- und Windenergie nicht bremsen. Gemäss dem Bericht «Renewables 2020» der Internationalen Energieagentur (IEA) wachsen die Erneuerbaren in diesem Jahr welt-weit kräftig, während es zu Rückgängen bei Öl, Gas und Kohle kommt. Antreiber sind China und die USA. Der Zubau erneuerbarer Energien wird in diesem Jahr auf 200 Gigawatt ansteigen, was fast 90 % des ge samten Aus-baus der weltweiten Stromkapazität entspricht.

Die IEA fordert die politischen Entscheidungsträger auf, die starke Dynamik der erneuerbaren Energien durch richtige Entscheidungen zu unterstützen. Denn: «Erneuerbare sind widerstandsfähig gegen die Co-vid-Krise, aber nicht gegen politische Unsicherheiten», so IEA-Direktor Fatih Birol.

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> Stromlandschaft Schweiz: Bitte mehr Grün!

bj. 10 Jahre nach Fukushima kommt die Energiewende in der Schweiz nur zögerlich voran. Ein Projekt von Kli-ma-Allianz Schweiz und dem Stromvergleichsdienst myNewEnergy will PrivatkundInnen und Energieversor-ger für einen Wechsel auf Ökostromprodukte sensibili-sieren. Erfreulich ist, dass die meisten lokalen Stromver-sorger bereits heute Schweizer Wasserkraft als Standard-produkt führen (gelbe Regionen). Doch für den Ersatz des Atomstroms bis 2035 müssen wir heute rasch neue erneuerbare Energien ausbauen. Die Karte zeigt, wo die Energiewende auf Kurs ist oder an Tempo zulegen muss. Ziel ist, dass die grünen Bereiche grösser werden und die roten Flecken, welche Grau- oder Atomstrom anzeigen, ganz von der Karte verschwinden.

» stromlandschaft.mynewenergy.ch

> Atomwaffenverbot – Wo bleibt die Schweiz?

ti. Am 24. Oktober 2020 hat Honduras als 50. Staat den UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen ratifi-ziert. Somit tritt das Verbot im Januar 2021 in Kraft. Ein «Sieg für die Menschheit» kommentiert IKRK-Präsi-dent Peter Maurer das Ereignis. Mit dem völkerrechtlich bindenden Vertrag verpflichten sich die Unterzeichner-staaten, keine Atomwaffen zu entwickeln, produzieren, beschaffen, besitzen oder zu lagern. Leider bleibt die Wirkung des Vertrags auf dessen Symbolkraft be-schränkt. Denn die (offiziellen und inoffiziellen) Atom-mächte sind nicht an Bord – genauso wenig wie die Schweiz und weitere Nato-Staaten. Es bleibt zu hoffen, dass mit der Anzahl Unterzeichner auch der Druck auf die Schweiz, andere Länder und insbesondere die Atommächte wächst.

> Die Suche nach dem «rechten Mass»

ti. Die Suffizienz rückt immer mehr in den Fokus der Klima debatte. Energie- und Ressourcenverbrauch sollen durch Verhaltensänderung reduziert werden. Die For-schung setzt dabei das «rechte Mass» ins Zentrum: Wie mit den verfügbaren Ressourcen ein gutes Leben für alle ermöglichen? WissenschaftlerInnen der London School of Economics haben ein Szenario entwickelt und den minimalen Energiebedarf, basierend auf einem Katalog von Grundbedürfnissen für ein modernes Le-ben, berechnet. Dadurch liesse sich der globale Ener-gieverbrauch um rund zwei Drittel senken, sodass sich dieser im Jahr 2050 wieder auf dem Niveau von 1960 befände – trotz Bevölkerungswachstum. Fazit der Studie: Suffizienz ist weitaus weniger «enthaltsam», als Kritiker gemeinhin befürchten.

» https://doi.org/10.1016/j.gloenvcha.2020.102168

> Widerspruch gegen Lieferung an Leibstadt

sb. Deutschland hat zwar den Atomausstieg beschlossen, doch grenznahe Atomkraftwerke gefährden das Land auch über das Jahr 2022 hinaus. Die Waldshut- Tiengener Bürgerinitiative Zukunft ohne Atom (ZoA) sowie weitere atomkritische Organisationen wie der BUND oder IPP-NW gehen nun gegen Lieferungen deutscher Brennele-mente an das AKW Leibstadt (KKL) vor.

Die Produktionsstätte der französischen Framatome in Lingen liefert schon seit Jahren Brennelemente ans KKL, aber auch nach Doel in Belgien. Gegen die Liefe-rungen nach Doel haben Anti-AKW-Aktivisten bereits im April Widerspruch eingelegt. Die Exporte sind da-mit vorerst gestoppt. Dasselbe Vorgehen haben nun die süddeutschen Organisationen gegen Leibstadt gewählt. Bis 2022 soll das KKL noch genügend Brennelemente vorrätig haben.

© wikimedia.org / F1jmm

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Interview von Valentin SchmidtSES-Leiter Kommunikation

E&U: Der aktuelle «World Nuclear Industry Status Re port» (WNISR 2020) widmet einen Schwerpunkt dem Einfluss von Corona auf die AKW-Sicherheit. Was sind die wesentlichen Erkenntnisse?

Die Auswirkungen der Covid - 19-Pandemie sind beträchtlich. Zum ersten Mal in der Geschich-te wurde die Atomin dustrie von einer globalen Pandemie betrof-fen, speziell die Bereiche Sicher-heit und Sicherung – in der englischen Fachsprache «safety» und «security». Wenn Électricité de France (EDF), grösste AKW-Be-treiberin der Welt, zwei Drittel ihrer Angestellten im Atombe-reich nach Hause schickt, dann hat dies Konsequenzen. Diese Leute sind ja aus gutem Grund

im AKW vor Ort. Im Frühjahr entstanden Betriebs-situationen, bei denen das Sicherheitsniveau gesunken ist. Viele Kontrollvorgänge wurden gar nicht oder nur ungenügend ausgeführt. So kam es im französischen AKW Belleville zu einem Unfall. Einer von drei Wasser-stofftanks sollte ersetzt werden. Als die Angestellten eines Subunternehmens eintrafen, war kein Aufseher von EDF vor Ort. Die Monteure haben den falschen Tank von der Wand gerissen, den aktiven statt einen leeren, was zu einer Explosion und einem Brand führte und zwei Arbeiter verletzte.

In mehreren Ländern, darunter Kanada, Finnland, Frankreich und die USA, sind die Inspekteure der Atomaufsichtsbehörden komplett zu Hause geblieben. Gleich zeitig erklärten Behördenvertreter öffentlich, die Situation sei unter Kontrolle. Heute wissen wir: Die Aufsichtsbehörden hatten die nötigen Informationen hierfür schlicht nicht. Das war eigentlich der überra-schendste und schockierendste Befund beim Erstellen des Reports: Der eklatante Mangel an statis tischen Daten und öffentlich zugänglichen Informationen zu

Auswirkungen der Corona-Pandemie im Atomsektor. Wie viele getestete, infizierte, geheilte Mitar beiter? Wie viele sind gestorben? Welche Posten sind betroffen? Die Öffentlichkeit bleibt im Dunkeln. Zudem gibt es eine ganze Serie von weiteren Punkten, welche zur Erschwe-rung der Aktivitäten des Personals geführt hatte. So hat die Atomaufsichtsbehörde NRC in den USA 16-Stun-den-Tage für das AKW-Personal genehmigt. Wöchent-lich durfte bis zu 86 Stunden gearbeitet werden. Das fördert natürlich die Gefahr der Übermüdung in sicher-heitsrelevanten Bereichen.

E&U: Aus dem WNISR 2020 geht hervor, dass viele Länder – auch die Schweiz – überalterte AKW betrei-ben. Oft wird argumentiert, die AKW müssen am Netz bleiben, um getätigte Investitionen zu amorti-sieren. Langzeitbetrieb und Laufzeitverlängerungen seien in diesem Sinn rentabel.

Die Kosten des Langzeitbetriebs sind heutzutage derart gestiegen, dass sie mit anderen Energieproduktions-formen auf dem Markt nicht mehr mithalten können. Das Beispiel Ohio zeigt, mit welchen Mitteln heute um den wirtschaftlichen Betrieb gekämpft wird. Dort gab ein AKW-Betreiber «erfolgreich» 60 Mio. Dollar für die Bestechung von Abgeordneten aus – einschliesslich des Parlamentspräsidenten – um einen Parlamentsent-scheid zu Gunsten einer milliardenschweren Subven-tion zu erwirken und damit den Betrieb von vier un-rentablen Atomkraftwerken sicherzustellen. Letztlich deckte das FBI die beispiellose Verschwörung auf. Das zeigt: Jede Technologie kommt im Alter an ihre wirt-schaftlichen Grenzen. Ein altes Auto auf der Strasse zu halten, ist teurer als ein neues.

E&U: Der Report zeigt, dass 2019 die erneuerbaren Energien – ohne die Wasserkraft – weltweit erstmals die Atomkraft knapp überflügelt haben. Im globalen Strommix hatten die Erneuerbaren einen Anteil von 10,39 %, die Atomkraft 10,35 %. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück? Sind die Erneuerbaren inzwischen wirtschaftlicher als die Atom energie?

Die Kostenschere für den Neubau von erneuerbaren und atomaren Kraftwerken hat sich in den letzten zehn Jahren immer weiter geöffnet. Die Stromgestehungs-

WORLD NUcLEAR INDUSTRy STATUS REpORT 2020

«Jede Technologie kommt im Alter an ihre wirtschaftlichen Grenzen»2019 haben erneuerbare Energien wie Wind und Sonne erstmals mehr Strom geliefert als die Atomkraft. Dies zeigt der jüngst erschienene «World Nuclear Industry Status Report 2020». Im E&U-Interview analysiert Herausgeber Mycle Schneider grundlegende Probleme der Atomkraft im globalen Marktumfeld.

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Energieexperte Mycle Schneider

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kosten sind im Atombereich um zwei Drittel gestiegen, bei den Erneuerbaren massiv gesunken: um 70 % bei Wind, bis 90 % bei Solar. Die Durchschnittswerte für Strom aus neuen Wind- und Photovoltaik-Anlagen lie-gen heute weit unter 4 Eurocent pro Kilowattstunde (€ct/kWh), während sie bei der Atomkraft bei 14,5 €ct/kWh liegen.

Noch dramatischer ist heute die Entwicklung bei den Speichertechnologien. Gemäss «Bloomberg New Energy Finance» sinken die Kosten hier noch schneller als bei der Photovoltaik. Der Strom aus neuen Photovoltaik- Kraftwerken ist in vielen Regionen der Welt nun für unter 2 €ct/kWh zu haben. Der Weltrekord liegt aktuell bei 1,1 €ct/kWh Solarstrom, aus einem kommerziellen Gewinner-Angebot einer Auktion im August 2020 in Portugal. Gekoppelt mit Speicherung kommen wir in die Grössenordnung der Durchschnittswerte der Betriebskosten bestehender AKW. Das ist ein «Game Changer»! Der Markt hat das begriffen. Es gibt schon lange keine Privatfinanzierung für Investitionen in neue Atomkraftwerke mehr. Deshalb werden heute neue Kapazitäten weltweit zu zwei Dritteln mit erneu-erbaren Energien gebaut.

E&U: Von Atombefürwortern ist immer wieder zu hören, die Schweiz verbaue sich mit dem 2017 vom Stimmvolk bejahten Neubauverbot für Atomkraft-werke die Chance, mit CO2-armen Technologien wie etwa dem «Small Modular Reactor (SMR)» ihre Klimaziele zu erreichen. Wie sieht die Entwicklung bei den SMR aus?

Seit 2015 ist im WNISR alle zwei Jahre ein Kapitel dem «Small Modular Reactor» gewidmet – vorerst nur alle zwei Jahre, weil es eigentlich nicht viel Neues dazu zu sagen gab, ausser dass viel darüber geredet wird. SMR

sind keine neue Erfindung. Der Begriff existiert seit Jahrzehnten. In den USA gibt es heute eine Firma, die 60-MW-Module produzieren will. Das Problem ist, dass bei so kleinen Anlagen der Skaleneffekt nicht zieht. Das Geschäftsmodell kann nur wirtschaftlich sein, wenn man zahlreiche Einheiten verkauft. Bislang existieren lediglich Vordesigns, die bei detailliertem Engineering dann oft erhebliche Unzulänglichkeiten aufweisen. Die Kostenschätzungen steigen und immer mehr Interes-senten springen ab. Es gibt noch nicht mal einen Pro-totyp. Die SMR-Industrie hat vor allem Power-Point- Reaktoren anzubieten. Realistischere Einschätzungen halten eine serielle Produktion frühestens ab 2040 für möglich. Vor dem Hintergrund der Klimakrise haben wir diese Zeit schlicht nicht. Wir brauchen jetzt kosten-effiziente Lösungen. Und die können Energieeffizienz und Erneuerbare heute schon liefern. <

World Nuclear Industry Status ReportDer World Nuclear Industry Status Report (WNISR) wird seit 2007 alljährlich von einem internationalen Wissenschaftlerteam er-stellt und vom unabhängigen Energieexperten Mycle Schneider herausgegeben. Er zeigt die weltweiten Statistiken zur Situation der Atomindustrie und wird von der SES finanziell unterstützt.

www.worldnuclearreport.org

Small Modular Reactor (SMR)SMR sind kernspaltungsreaktoren, die viel kleiner sind und in einer Fabrik hergestellt, dann an einen Montageort gebracht werden könnten. Sie sollen einen geringeren Aufwand vor Ort, eine höhere Risiko-Eindämmungseffizienz und eine erhöhte Sicherheit der verwendeten kernmaterialien ermöglichen. In Europa wurde noch kein einziges SMR-Design genehmigt. In den USA ein einziges..., das seit dem Interview bereits wieder geändert wurde.

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Atom: 123 ➟ 155

gas (gas- & Dampf-kombikraftwerke, guD): 83 ➟ 56

photovoltaik (kristalline Solarzellen): 359 ➟ 41

Wind: 135 ➟ 40

kohle: 111 ➟ 109

Entwicklung der durchschnittlichen Stromgestehungskosten nach Energieträger

© WNISR - Mycle Schneider Consulting

in US-Dollar pro MWh

Die Grafik illustriert die sinkenden Kosten neuer erneuerbarer Energien im Vergleich zu den konventionellen Energieträgern Kohle, Gas und Atom.

Quelle: Lazard Estimates, 2019, in WNISR 2020, S. 269.

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Von Patricia LorenzAtomexpertin bei «Friends of the Earth Europe» und GLOBAL2000

Rückblende zu den Anfängen ungebremster Atom-euphorie: Der Euratom-Vertrag stammt aus dem Jahre 1957 und wird zusammen mit dem EWG-Vertrag als die Römischen Verträge bezeichnet. Bis heute ist der Euratom-Vertrag mit seinen Bestimmungen praktisch unverändert geblieben und weiterhin ein eigenstän-diger Vertrag. Zweck ist die Nutzung und Förderung der Atomkraft. Die Europäische Kommission ist mit der Umsetzung des Vertrags betraut.

Dank Euratom gelingt es vor allem während der 70er- und 80er-Jahre tatsächlich, in einigen Ländern massiv Reaktoren zu errichten. 1986 sorgte Tschernobyl für den Stopp, von dem sich die Atomindustrie nie mehr erholen sollte. Dazu führten – neben der Katastrophe in der Ukraine, die auch grosse Teile Europas mit einer radioaktiven Wolke überzog – vor allem Probleme eigener Bauart: extreme Kosten, Bauverzögerungen, wachsende technische Probleme, die sich wiederum aus den höheren Sicherheitsanforderungen ergaben sowie die Liberalisierung der Strommärkte. Diese Libe-ralisierung führte dazu, dass die Baukosten nicht mehr unlimitiert und unsichtbar in die Stromkosten der Kun-den umgelegt werden konnten.

Subventionierung von ungeahntem AusmassEuratom privilegiert die Atomenergie nach wie vor auf zahlreiche und schwindelerregende Weise:

■■ Erstens fördert und unterstützte die Euratom-Kredit-fazilität direkt die Errichtung von Atomkraftwerken in EU-Mitgliedstaaten und in Drittstaaten (in Mittel- und Osteuropa) – dies ohne Einbindung des EU-Parlaments oder der nationalen Regierungen.

■■ Zweitens: Euratom hat ein eigenes Forschungspro-gramm ausschliesslich zur Förderung der Atomenergie. Enorme Summen flossen und fliessen über das Euratom- Rahmenforschungsprogramm weiterhin in die Nuklear-forschung. Damit werden sonst unfinanzierbare Gross-projekte mit sehr umstrittener Realisierbarkeit, wie der Fusionsreaktor ITER oder die Reaktoren der sogenann-ten Generation IV, jahrzehntelang weitergeführt.

■■ Drittens nutzt die EU-Kommission den Euratom-Ver-trag im Nuklearbereich weiterhin verstärkt als Rechts-

grundlage für neue Richtlinien, die ohne Mitentschei-dungsrechte des EU-Parlaments beschlossen werden.

Euratom ist nicht nur ein Gründungsvertrag, sondern wird auch über ein Budget und eine Behörde verwaltet, sodass jeder EU-Beitritt eines Landes auch einen Beitritt zu Euratom bedeutet. Jedes Land zahlt Beiträge, die zur Förderung von Atomforschung und -nutzung verwendet werden, u. a. in Form von Krediten und Subventionen für die Atomwirtschaft. Dabei nutzt die Hälfte der Euratom- Mitglieder die Atomenergie überhaupt nicht.

Euratom und SchweizAuch der Nicht-EU-Staat Schweiz beteiligt sich an Eura-tom. Nicht nur an einzelnen Projekten, sondern sie leistet ihre jährlichen Beiträge an das Budget des Eura-tom-Programms nach demselben Schlüssel wie ein EU-Land. Zur Orientierung: 2017 waren es 13 Millionen, 2019 fast 16 Millionen Schweizer Franken. Seit 1978 beteiligt sich die Schweiz am Euratom-Projekt zur Kernfusion und der Plasmaphysik. Davon profitieren vor allem die ETH Lausanne und das Paul-Scherrer-Ins-titut in Würenlingen.

Schlüssel zur Finanzierung neuer Reaktoren Während die EU generell staatliche Subventionen zu mini mieren sucht, wird – dank Euratom – das Über-leben der Atomwirtschaft mit Steuermitteln garantiert. Denn seit den 90er-Jahren ist die noch verbliebene Atom-industrie E uropas – mit Ausnahme des staatlichen russischen Konzerns Rosatom – kaum mehr in der Lage, neue Reaktoren zu finanzieren und zu bauen. Dabei handelt es sich nicht um Kredite, sondern Aus-nahmen, die rechtlich (nicht unumstritten) auf eben diesem Vertragswerk aufbauen.

Der Fall Hinkley Point C 2005 verkündete die britische Regierung, den Bau neu-er Atomkraftwerke wieder aufzunehmen, ohne Subven-tionen und mit Inbetriebnahme vor 2020. Doch 2013 wird ein Subventionspaket nie da gewesenen Umfangs, finanziell und politisch, der Europäischen Kommission zur Notifizierung vorgelegt. Treffend dann der Kommen-tar des damaligen Energiekommissars Günter Oettinger, der die 35-jährige Abnahmeverpflichtung zum fixen Preis inklusive Profit für den Betreiber schlicht als «sowjetisch» bezeichnete. Die wichtigsten drei Punkte des Beihilfepakets, eigentlich eines Nothilfepakets:

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VERTRAg zUR gRüNDUNg DER EUROpäIScHEN ATOMgEMEINScHAFT (1957)

Euratom – der ewige Rettungsanker der Atomenergie?Der EU-Gründungsvertrag 1957 ermöglicht die ufer lose Finanzierung von neuen Atomkraftwerken und die notorische Beforschung neuer Reaktormodelle, wie etwa des Fusionsreaktors ITER. Daran ist auch die Schweiz beteiligt.

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■■ Erstens: Beihilfe in Form einer staatlichen Kredit-garantie für die Errichtungskosten in der Höhe von 17 Milliarden Pfund.

■■ Zweitens: Der «Contract for Difference» über den staatlich finanzierten, an den Verbraucherpreisindex gebundenen Abnahmepreis über eine Laufzeit von 35 Jahren, der deutlich über dem Marktpreis liegt und der neben den Kosten für die Investition auch sämt-liche Betriebskosten des Kraftwerks deckt.

■■ Zuletzt noch eine weitere Beihilfe in Form einer Aus-gleichszahlung im Falle einer vorzeitigen Schliessung, die ebenfalls alle verbliebenen Kosten und Entsorgungs-kosten umfasst. Der Clou: Es können auch «politische Gründe», wie etwa höhere Sicherheitsstandards, Aus-stiegsregelungen u. ä. geltend gemacht werden.

Somit handelt es sich um ein vollkommen risikofreies Projekt für den französischen Investor EDF. Der Britische Rechnungshof hat diesbezüglich bereits erklärt, dass die Kosten und Risiken, die durch diesen Vertrag gebunden sind, von der Regierung unterschätzt wurden und die KonsumentInnen noch lange für diese zwei Reaktoren teuer zahlen werden müssen.

Im Fall von Hinkley Point C zog die Republik Österreich vor das Europäische Gericht und nun vor den Europäi-schen Gerichtshof (EuGH), um den Missstand anzufech-ten. Erfolglos: Der EuGH hat dieses Jahr endgültig die Auslegung von Euratom gegenüber dem Wettbewerbs-recht bestätigt. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Atom-strom «anders» ist als anderer Strom und also separat behandelt und gefördert werden kann – das ermögli-

che und bezwecke Euratom. Die Atomkraft ist durch den alten Euratom-Vertrag von 1957 heute noch ein klar definiertes Ziel des EU-Rechts.

Und wie werden wir Euratom wieder los? Eine Auflösung ist der einzige Weg. Aber kein einfacher: Da es sich um einen Gründungsvertrag handelt, ist die Einberufung einer Regierungskonferenz mit den Regie-rungsvorsitzenden aller EU-Mitgliedstaaten nötig. Das alleine ist eine Herausforderung. Die pronuklearen Staa-ten sind zwar nicht in der Mehrheit, aber meist grosse Mitgliedstaaten (Frankreich) oder sehr klar aufgestellt und laut, wie die Tschechische Republik, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und seit neuestem auch Polen (auch wenn dort das erste AKW vielleicht nie gebaut wird). Und dann müssten sich die Staaten einstimmig auf Auflösung oder radikale Reform einigen. Technisch wäre das kein Problem: Die wenigen notwendigen Rege-lungen wie etwa Strahlenschutz könnten in den EU-Ver-trag übernommen werden, die Kontrolle über das Spalt-material würde wie für alle anderen Staaten der Welt von der Internationalen Atomenergie -Organisation (eine UN-Behörde) durchgeführt werden.

Es gibt in der Tat immer wieder Vorstösse von einzelnen Staaten oder Gruppen für eine Reform oder Auflösung. Es braucht noch einen Anlass, etwa wenn die EU-Kom-mission die Kreditlinie von Euratom befüllen möchte. Denn dann würde auch eine heftige öffentliche Diskus-sion über die vollkommen disproportionale Förderung der Atomkraft entstehen – und könnte den Anfang vom Ende des Atomvertrags der EU bedeuten. <

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Euratom sichert das finanzielle Überleben der Atomenergie. Der Vertrag von 1957 gehört aufgelöst.

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Von Simon BanholzerSES-Leiter Fachbereich Atomenergie

Die Summe scheint unwirklich. 55 Milliarden Euro will der französische AKW-Gigant EDF bis 2030 in die Nach-rüstung seiner Reaktor-Flotte stecken. Ob sich das lohnt? Die 32 zwischen 1978 bis 1987 in Betrieb ge -nommenen 900-MW-Reaktoren werden bald 40 Jahre alt und müssen die «4. Visite décennale» der fran zö si-schen Atomaufsicht «Autorité de sureté nucléaire» ASN durchlaufen. Ende 2020 will die ASN festlegen, welche Nachrüstungen EDF umsetzen muss. 1 Was in Paris ent-schieden wird, hat ebenfalls Einfluss auf die verbliebe-nen drei AKW in der Schweiz: Gewisse Nachrüstungen müssten wohl übernommen werden, mit Investitions-kosten in noch unbekannter Höhe.

EPR als «State of the Art»EDF baut seit vielen Jahren in Flamanville ein neues AKW des Typs «Evolutionary Power Reactor» EPR. Er ist eine Weiterentwicklung älterer Baureihen, welche die Lehren aus den Unfällen in Three Mile Island und Tschernobyl berücksichtigen soll. In Westeuropa gibt es kein AKW, das sicherheitstechnisch einen höheren Stand hätte. In Frankreich wie auch in der Schweiz müssen sich bestehende AKW am aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik orientieren, also am fran-zösischen EPR. Schon seit Jahren diskutiert deshalb die AKW-Betreiberin EDF mit der Atomaufsicht ASN darü-

ber, welche Nachrüstungen für die älteren Reaktoren notwendig sind, damit sie über die aktuell be willigte Laufzeit von 40 Jahren betrieben werden dürfen. Eines ist heute schon klar: Es wird sehr viel Geld kosten. Zu viel? Ist ein wirtschaftlicher Betrieb für den tief verschuldeten Quasi-Staatsbetrieb EDF noch möglich? Denn schon heute ist der Betrieb der französischen AKW – aufgrund der hohen Investitionskosten und schlechten Verfügbarkeit – stark defizitär.

EDF und die HerkulesaufgabeBernard Laponche, Physiker und ehemaliger Ingenieur beim «Commissariat de l’énergie atomique» CEA, hat im Auftrag der SES das Dilemma von EDF und der 900-MW -Reaktorflotte analysiert. Er diagnostiziert, dass es für EDF drei massgebliche Hürden gibt. 2

■■ Erstens sind Nachrüstungen wie beispielsweise ein «Core Catcher light» oder «Stabilisateur du corium», wie er in Frankreich genannt wird, technisch noch gar nicht fertig erprobt. Trotzdem hat EDF angekündigt, solche Nachrüstungen umsetzen zu wollen. 3

■■ Zweitens war EDF bei der 4. «Visite décennale» im AKW Tricastin 1 mit 5000 Fachkräften vor Ort versammelt. Ob sie das künftig, wenn mehrere Prü fungen gleichzeitig anstehen, leisten kann, ist mehr als fraglich. Möglicherweise dauern dann die Überprüfungen länger oder die Qualität nimmt ab. Das gilt ebenfalls für die ASN, die an ihre Grenzen kommen könnte.

■■ Drittens nimmt die Verschuldung der EDF-Gruppe unaufhaltsam zu. Alleine letztes Jahr nahm die Nettoverschuldung um über 7 Milliarden Euro zu. EDF versucht deshalb seit 2019, die Ausgaben um bis zu einer Milliarde pro Jahr zu senken.

ENSI und der Stand der NachrüstungstechnikIn der Schweizerischen Kernenergiegesetzgebung gibt es den spannenden wie unklar definierten Begriff «Stand der Nachrüstungstechnik». Die AKW-Betreiber in der Schweiz müssen «die Anlage so weit nachrüsten, als dies nach der Erfahrung und dem Stand der Nach-rüstungstechnik notwendig ist, und darüber hinaus, so weit dies zu einer weiteren Verminderung der Gefähr-dung beiträgt und angemessen ist». 4 Auf Nachfrage der SES hat die Atomaufsicht ENSI diesen Begriff öffentlich

DIE zUkUNFT DER ATOMkRAFT IN DER ScHWEIz

Der EPR-Atomreaktor strahlt bis in die Schweiz

Obwohl weder der EPR in Flamanville noch jener in Olkiluoto betriebsbereit sind, gilt deren Sicherheitstechnik als neuster Standard in Europa. An ihm müssen sich die alten Atomkraftwerke messen – auch in der Schweiz. Es geht um Sicherheit, aber auch um viel Geld.

Fokus FrankreichDie Modalitäten und das Tempo des Atomausstiegs der Schweiz werden in hohem Masse von Entwicklungen in Westeuropa – nicht zuletzt von Atommächten wie Frankreich und grossbri-tannien – beeinflusst. Sie geben den Takt vor in Bezug auf Sicherheitsstandards und Laufzeitverlängerung bestehender AkW. Aus diesem grund wirft die SES in einer Serie von Analysen den Blick auf Frankreich, die «grande nation nucléaire». In loser Folge werden neben Artikeln von André Herrmann, präsident der Strahlenschutzkommission von 2005 bis 2012, und Bernard Laponche, physiker und Ingenieur ehemals bei cEA, weitere Analysen folgen.

www.energiestiftung.ch/fokus-frankreich

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präzisiert: Mindestens die internationale Praxis bezüg-lich Nachrüstungen müssen die Schweizer AKW eben-falls umsetzen. Viele Länder haben AKW in Betrieb, die demnächst nachzurüsten sind, falls sie Laufzeitver-längerungen anstreben. Daher sind die Beschlüsse, wie jene der ASN Ende 2020 auch für die Schweiz enorm bedeutend. So hat das AKW Gösgen geprüft, ob und wie auch sie einen «Stabilisateur du corium» einbauen könnten. Für Leibstadt und Beznau müsste gemäss ENSI zuerst noch analysiert werden, wie sich dieses neue Sicherheitsinstrument umsetzen liesse. 5

Das nahe Ende – oder Langzeitbetrieb?Alle drei verbliebenen AKW der Schweiz stecken aktuell in einer periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) oder haben sie erst kürzlich abgeschlossen. Das ENSI verfügt zum Abschluss einer PSÜ jeweils Nachrüstun-gen, die umgesetzt werden müssen. Aus diesem Grund rüsten sich die Bertreiberinnen auch finanziell für den Langzeitbetrieb. Alle AKW haben in den letzten Jahren bereits hunderte Millionen für neue Technik ausgege-ben. Sie werden noch mehr ausgeben müssen. Neben Bankkrediten und Anleihen nimmt beispielsweise die Kernkraftwerk Gösgen-Däniken AG (KKG) auch Geld in der Höhe von 50 Millionen Franken bei ihren Aktio-nären auf. 6 Damit werden allerdings längst nicht nur sicherere Komponenten finanziert, sondern auch veral-tete Technik wie die Brandschutzklappen ersetzt.

AKW-Sicherheit erlaubt keinen SpielraumDie Investitionen sind also oft dazu da, das aktuelle Sicherheitsniveau zu halten und weniger es zu erhöhen – haben also nicht zwingend mit dem Stand der Nach-rüstungstechnik zu tun. Die AKW-Betreiber wissen das und versuchen bereits heute, das ENSI unter Druck zu setzen. Im Oktober hat der Branchenverband swiss-nuclear ein Positionspapier 7 publiziert, in dem erklärt wird, dass der Langzeitbetrieb nicht unnötig verteuert

werden darf, respektive ein wirtschaftlicher Betrieb möglich sein müsse. Dennoch hat das ENSI bei Nachrüs-tungen, die international umgesetzt werden und die Sicherheit steigern, gemäss Kernenergiegesetz keinen grossen Spielraum.

Das Schweizer Prinzip «Weiterbetrieb solange sicher» ist nichts Statisches, sondern bedeutet Weiterentwicklung und Erweiterung der Sicherheitstechnik so nahe wie möglich an den Stand von Wissenschaft und Technik – eben EPR oder bald EPR 2. <

Die Neuentwicklung «Core Catcher»

Der «core catcher» ist eine Neuentwicklung des französischen AkW-konstrukteurs AREVA aus den Lehren der kernschmelzen von Tschernobyl und Three Mile Island. Sollte es im Reaktordruck-behälter zu einer kernschmelze kommen, könnte das geschmol-zene radioaktive Material über einen Abfluss in ein kühlbares Becken abgeleitet werden. So soll verhindert werden, dass der Reaktordruckbehälter explodiert und die radioaktive Schmelze in die Atmosphäre geschleudert wird. EDF wird nicht das Reaktorge-bäude bestehender AkW neu bauen, sondern spricht von einem speziellen kühlsystem für den Fall einer kernschmelze. Details sind nur wenige bekannt.

1 4e réexamen périodique des réacteurs de 900 MWe, 8.10.2018, siehe www.asn.fr/Informer/Actualites

2 www.energiestiftung.ch/fokus-frankreich.html3 Präsentation EDF zur 4. visite décennale, siehe www.asn.fr4 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20010233/index.html 5 Technisches Forum Kernkraftwerke vom 11. September 20206 Aktionärsdarlehen für das Kernkraftwerk Gösgen, 8. Juli 2020,

siehe www.stadt-zuerich.ch7 Der Langzeitbetrieb der Schweizer Kernkraftwerke, Oktober 2020,

siehe www.swissnuclear.ch > Allgemeine Positionspapiere

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Ausbreitungskammer

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Schematische Darstellung des Core Catchers (siehe Info-Box unten).

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Energiepolitik ist KlimapolitikDie Klimakrise ist die grösste Herausforderung unserer Zeit und die Energie-politik einer der wichtigsten Hebel für ihre Bewältigung. Die Schweiz muss ihre Gesetzgebung endlich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten und nicht nach politischem Gutdünken.

Von Nico MüllerETH-Student Rechnergestützte Wissenschaften, Klimaaktivist, arbeitet am Klima-Aktionsplan mit

297’080 Millionen Tonnen – Das ist in etwa unser verbleibendes CO2-Budget zum Publikationszeitpunkt dieser Ausgabe, falls wir eine bescheidene 2/3-Wahr-scheinlichkeit haben wollen, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen. Davon verpulvern wir jede Se-kunde weitere 1331 Tonnen. Die Rechnung ist trotz der grossen Zahlen relativ einfach: In sieben Jahren hat sich dieses Budget aufgelöst.

Lassen Sie diese Zahl erst Mal setzen. – Dieser Zeit-punkt ist dem heutigen Tag näher als die Fuss-ball-Weltmeisterschaft in Brasilien und viel näher als die Atomkatastrophe in Fukushima. Das fühlt sich sogar für jemanden in meinen jungen Jahren an wie vorgestern.

Die Zeit drängtSelbst wenn wir also morgen früh direkt nach dem Frühstück beginnen, unsere Emissionen drastisch zu reduzieren und auf einen linearen Absenkpfad zu len-ken, bleiben uns nur knapp 15 Jahre, bis weltweit das letzte fossile CO2-Molekül ausgestossen werden darf. Gleichzeitig steht die Schweiz wie andere finanziell starke Staaten gemäss Pariser Abkommen in der Pflicht, ihre Emissionen schneller zu eliminieren als der Rest der Welt.

Es ist an dieser Stelle eigentlich überflüssig festzuhal-ten, dass die Klimaziele des Bundes in Anbetracht der Lage völlig ungenügend sind. Jedoch geht oftmals die Dimension dieser Fahrlässigkeit zu schnell wieder ver-gessen. Wir stehen beim Klimawandel der grössten Krise unserer Zeit gegenüber, Covid-19 eingeschlossen. Doch anstatt dieser Herausforderung mutig und ent-schlossen entgegenzutreten, schliesst der Bundesrat internationale Abkommen ab, um das Problem ins Aus-

kLIMA-AkTIONSpLAN FüR NETTO-NULL BIS 2030

Rise Up for Change: Klimabewegung besetzt den

Bundesplatz, September 2020.

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land verlagern zu können, während das Parlament sich darüber streitet, ob der Benzinpreis-Aufschlag jetzt bei 10 oder 12 Rappen begrenzt werden soll. Das ist kein Krisenmanagement, sondern grenzt an Realitäts-verweigerung.

Doch was hat das mit Energiepolitik zu tun?Etwa 80 % aller Treibhausgasemissionen sind energie-bedingt, entstehen also durch den Verbrauch fossiler Brenn- und Treibstoffe. Das ist eine gute Nachricht, denn wir wissen sehr genau, wie wir sie loswerden. Die Ölhei-zung wird der Wärmepumpe Platz machen, die Indus-trie wird auf alternative Materialen und synthetische Brennstoffe umstellen und der Verbrennungsmotor wird von Fahrrad, Bus- und Schienenverkehr abgelöst und wo nicht anders möglich vom Elektromotor.

Diese Dekarbonisierung unseres Energiesystems wird zwangsläufig zu einem Anstieg des Strombedarfs führen, auch mit konsequenten Effizienz- und Suffizi-enzmassnahmen. Die nationale Energie- und Strom-politik hat die Aufgabe, diesen Mehrbedarf mit erneu-erbaren Quellen zu decken und die Differenz nicht durch Stromimporte aus Kohle-, Gas- oder Atomkraft-werken im Ausland zu füllen, was wiederum bloss eine Verschiebung des Problems wäre.

Was bedeutet Netto-Null für die Energiepolitik?Der Klimastreik hat in den vergangenen zwölf Monaten gemeinsam mit dutzenden Expertinnen und Experten aus diversen Bereichen einen Klima-Aktionsplan erar-beitet, der mit einem vernünftigen CO2-Budget rechnet und aufzeigt, wie Netto-Null bis 2030 sozialverträglich und technologisch machbar ist. Der gesamte Aktions-plan wird voraussichtlich Anfang Januar 2021 pub-liziert. In zwölf Kapiteln und auf mehreren hundert Seiten behandelt er 138 Massnahmen für eine mutige und realistische Klimapolitik.

Nach Rechnung des Klima-Aktionsplans müssen wir die erneuerbaren Energien um zusätzliche 32 TWh aus-bauen, damit die Schweiz bis 2030 klimaneutral ist und so ihrer Unterschrift unter dem Pariser Abkommen gerecht wird. Das ist viel und entspricht einer Steige-rung der Schweizer Stromproduktion um etwa 50 %. Gleichzeitig ist das aber auch dringend notwendig und durchaus machbar. Schliesslich fehlt es weder an Tech-nologien und Potenzialen noch an Expertise oder finan-ziellen Mitteln.

Die Wende kommt nicht von alleinNatürlich kommt eine so ambitionierte Wende nicht von allein. Deshalb schlagen wir in unserem Plan acht Massnahmen für eine Netto-Null-Politik im Energie-sektor vor.

Das Kernstück dieser Massnahmen bildet eine Solar-pflicht: Hauseigentümer, deren Dächer als geeignet ein-gestuft werden, sind verpflichtet, innert zehn Jahren eine Photovoltaikanlage auf diesen zu installieren.

Ausnahmen sollen dabei nur denkmalgeschützte Ge-bäude bilden. Parallel sorgt eine kostendeckende Ein-speisevergütung dafür, dass sich die Anlagen mit der Zeit selbst amortisieren. Die Investitionskosten von ungefähr 20’000 Franken sind durchaus zumutbar, zu-mal Hauseigentümer normalerweise zu einer finanziell starken Bevölkerungsgruppe gehören. Dort wo das Eigen-kapital nicht ausreicht, sollen Kantonalbanken (oder eine designierte Klimabank, wie sie im Aktionsplan vorgeschlagen wird) zinslose Darlehen zur Verfügung stellen. Da für die Eigentümer unter dem Strich so kei-ne Mehrkosten entstehen, ist diese Massnahme zwar ambitioniert, aber bei weitem nicht so radikal wie sie auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag.

Mit nur dieser einen pragmatischen Massnahme liesse sich der gesamte Mehrbedarf an Strom mehr oder weni-ger im Alleingang abdecken. Sie könnte uns sogar ein kleines Polster geben, falls die Effizienzmassnahmen im Mobilitäts- und Gebäudebereich den Gesamtenergie-bedarf doch nicht ganz auf das erhoffte Niveau senken können. Die Schweiz kennt bereits eine sehr ähnliche Regelung: Das Zivilschutzgesetz sieht vor, dass jedes Ge-bäude über einen Luftschutzbunker verfügen, oder sich bei einem anderen einkaufen muss. Solche Anforderun-gen sind der Schweiz also nicht unbekannt.

Kein «Business as usual»Begleitet wird diese Massnahme von sieben weiteren aus dem Energiekapitel, die sich teilweise aber auch überschneiden: Ein kantonales System für den Handel mit Stromzertifikaten, Auktionen für praxisbewährte Stromabnahmeverträge («Power Purchase Agreements») anstelle der einmaligen Investitionsbeiträge, wie sie momentan im Entwurf zum Energiegesetz vorgeschla-gen werden, ein stark vereinfachter und beschleunigter Bewilligungsprozess für Photovoltaik und Windkraft, Ausbildungs- und Umschulungsprogramme für PV-Fach-planerInnen sowie für Montagepersonal, die Abschaf-fung von Netzgebühren für sämtliche Speichertech-nologien und die Ablösung der heutigen Hoch- und Niedertarife durch ein flexibleres Tarifsystem.

Natürlich gehen diese notwendigen Veränderungen über die gewöhnliche Politik von Bundesrat und Parla-ment hinaus. Sie sind nicht «Business as usual». Aber wir stehen schliesslich auch nicht «Problems as usual» gegenüber.

Wenn Bundesrat und Parlament glauben, nur mit dem jetzigen CO2-Gesetz gegen die Klimakrise antreten zu können, ist das wie, wenn sie mit einem Taschenmesser in den Krieg ziehen würden. Das ist zwar besser als gar nichts, aber wenn man nicht deutlich schwerere Geschütze auffährt, wird man dennoch hoffnungslos unterliegen. Es ist Zeit, die Mutlosigkeit der kleinen Schritte hinter uns zu lassen. Wir müssen uns grosse Veränderungen zutrauen, wie sie in der Geschichte im-mer wieder nun mal nötig sind, ansonsten haben wir bereits verloren. <

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AUSBAU DER pHOTOVOLTAIk

Raumplanung für die SonnenenergieSonnenenergie lässt sich nicht nur auf Gebäuden, sondern auch auf anderen Infrastrukturbauten ernten. Dem stehen raumplanerische Hindernisse und Zielkonflikte entgegen. Diese können mit der anstehenden Revision des Raumplanungsgesetzes teilweise überwunden werden. Ein rechtswissen-schaftlicher Sammelband zeigt die Konflikte exemplarisch auf.

Von Felix NipkowLeiter Fachbereich erneuerbare Energien

Wer auf seinem Dach eine Solaranlage bauen will, kann das in der Regel ohne Baubewilligung tun. Artikel 18a des Raumplanungsgesetzes (RPG) sieht vor, dass in Bau- und Landwirtschaftszonen solche Vorhaben ledig-lich der zuständigen Behörde zu melden sind. So weit, so gut. Was aber, wenn die Solaranlage nicht auf einem Dach, sondern auf einer Staumauer, einer Lärmschutz-wand oder einem Treibhaus stehen soll? Das ist vor allem ausserhalb der Bauzone rechtlich zumeist kom-pliziert. Dabei wären die Möglichkeiten der Mehrfach-nutzung vielfältig: Die Albigna-Staumauer zum Beispiel wurde von der Betreiberin ewz mit 1280 Photo voltaik-

modulen bestückt. Solaranlagen können auch multi-funktional sein und gleichzeitig als Lärmschutzwand oder Beschattungselement dienen. Genau in diesen Fällen greift der Artikel 18a RPG jedoch nicht. Und dann wird es kompliziert für die Solarplaner.

Das grösste Potenzial der Solarenergie liegt auf Gebäu-den – auf geeigneten Dächern und Fassaden könnten gemäss www.sonnendach.ch, einer Untersuchung des Bundesamts für Energie, pro Jahr 10 % mehr Strom pro duziert werden als die Schweiz zurzeit verbraucht. Es ist aber schwierig, dieses Potenzial rasch zu er-schliessen: Eine Solarpflicht für Neubauten oder beim Sanieren alter Dächer, wie sie in Dubai, in Wien sowie einigen deutschen Bundesländern bereits gilt, wird hier zu Lande (noch) nicht ernsthaft diskutiert.

AUSBAU DER pHOTOVOLTAIk

Auf über 2165 m.ü.M. sind 1280 Photovoltaikmodule entlang der

Albigna-Staumauer montiert. Sie liefern seit September Strom

für über 210 Haushalte.

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Für die Klimaziele braucht es die erweiterte Nutzung der SolarenergieEs eilt in jedem Fall! Ob man das Netto-Null-Ziel erst bis 2050 erreichen will wie der Bundesrat oder bis 2030 wie der Klimastreik: Das Ausbautempo der Solar energie muss beschleunigt werden. Nebst der Verbes serung der Investitionssicherheit für erneuerbare Energien im Rahmen der bevorstehenden Revision des Energiege-setzes muss deshalb auch das von Gebäuden unabhän-gige Solarpotenzial erschlossen werden. Berechnungen der Firma Meteotest im Auftrag von Swissolar ergaben ein Potenzial von 27 Terawattstunden jährlicher Solar-stromproduktion auf Autobahnböschungen, Parkplatz-überdachungen und vorbelasteten, alpinen Flächen. Das entspricht fast der Hälfte des schweizerischen Strom-verbrauchs. Denkt man zusätzlich an die Agrarphoto-voltaik – also zum Beispiel Solarpanele auf Gewächs-häusern oder als Weidezäune – wird klar, dass dieses Potenzial nicht vernachlässigt werden darf.

Umweltfreundliche solare ErschliessungAbgesehen von Anlagen auf der grünen Wiese, soge-nannte Freiflächenanlagen, gibt die Solarenergie kaum Anlass für Konflikte. Im Gegensatz zu Windkraftwerken oder neuen Wasserkraftwerken an noch unverbauten Flüssen ist bei Solaranlagen auf bestehender Infrastruk-tur in der Regel mit weniger Widerstand aus der Bevöl-kerung oder seitens Landschaftsschutz zu rechnen, weil die Solaranlage in diesen Fällen als Teil der bereits be-stehenden Infrastruktur wahrgenommen wird.

Trotzdem ist der Ausbau der Photovoltaik abseits be-stehender Gebäude kein Selbstläufer, selbst wenn die Finanzierung gesichert ist. Damit er rasch genug vor-ankommt, müssen auch raumplanerische Hindernisse und Zielkonflikte möglichst aus dem Weg geräumt werden. Das bringt die Chance mit sich, auf weitere Kriterien Rücksicht zu nehmen: Die günstigsten An-lagen sind nach den Erfahrungen im Ausland grosse Freiflächenanlagen. In der kleinräumigen Schweiz haben diese zu Recht einen schweren Stand. Eine sorg-fältige und koordinierte Auswahl solcher Standorte ist deshalb zentral für eine umweltfreundliche solare Erschliessung.

Einheitliche Regelung gefordertDie angesprochenen raumplanerischen Hindernisse und Zielkonflikte führen zu Investitionsrisiken und letztlich zu brachliegendem Potenzial. Sie bestehen beispielsweise bei der Frage der Zonenkonformität von Anlagen auf landwirtschaftlichen Bauten, bei der Be-willigungskompetenz für Anlagen auf Lärmschutz-wänden oder der Beurteilung der Standortgebunden-heit von Anlagen ausserhalb der Bauzone.

David Stickelberger, Geschäftsleiter des Branchenver-bands Swissolar, stellt fest: «Erneuerbare Energien wer-den an verschiedenen Stellen im Gesetz unterschied-lich privilegiert.» Zum Beispiel werden Bauten und Anlagen, die zur Gewinnung von Energie aus Biomasse

unter gewissen Voraussetzungen für zonenkonform er-klärt (Art. 16a Abs. 1bis RPG). «Eine Vereinheitlichung der Regelung, welche Energieerzeugungsanlagen aus-serhalb der Bauzone zulässig sind, würde eine willkom-mene Klärung und Vereinfachung bedeuten». betont David Stickelberger.

RPG-Revision als Chance «Die geplante Revision des Raumplanungsgesetzes bie-tet die Chance, die Weichen für einen massvollen Ausbau der Solarenergie ausserhalb von Gebäuden zu stellen», meint David Stickelberger. Das Raumplanungs-gesetz wird derzeit in der zuständigen Kommission des Ständerats beraten. Die StänderätInnen wollen eine kompaktere Version erarbeiten, nachdem der Natio-nalrat Ende 2019 gar nicht erst auf den Vorschlag des Bundesrats eingegangen ist. Da es schwerpunktmässig um Bauen ausserhalb der Bauzone geht, passen die An-liegen der Solarenergie hier gut hinein.

SES, Swissolar und die ZHAW werden das Thema wis-senschaftlich weiterverfolgen und konkrete Empfehlun-gen an die Politik ausarbeiten, wie sich raumplaneri-sche Hindernisse für die Photovoltaik beseitigen lassen – dies stets zu Gunsten eines sorgfältigen, umwelt-freundlichen, aber gleichzeitig auch raschen Ausbaus der Solarenergie. <

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Sammelband zur erweiterten Nutzung der Solarenergie

Die SES und Swissolar haben die zürcher Hochschule für ange-wandte Wissenschaften zHAW zusammen mit drei renommierten JuristInnen aus dem Bereich Raumplanung und Energierecht be-auftragt, anhand von Beispielen exemplarisch solche zielkonflik-te aufzuzeigen. Die rechtswissenschaftlichen Beiträge werden in einem Sammelband von Dr. Oliver Streiff, Dozent an der zHAW, im Dike-Verlag herausgegeben. Sie sind aufeinander abgestimmt und gleichzeitig eigenständige Untersuchungen. Im Vordergrund steht der Ausbau der solaren Stromproduktion. Die Aussagen gelten aber in der Regel auch für die solare Wärmenutzung.

■ «zwei auf einen Streich: photovoltaikanlagen auf Lärm-schutzwänden», von Rechtsanwältin EBp Schweiz Ag und Lehrbeauftragte zHAW.

■ «photovoltaik auf Bauten in der Landwirtschaftszone», von Dr. iur. christoph Jäger, Rechtsanwalt.

■ «photovoltaik-Anlagen im alpinen Raum», von lic. iur. Ursula Ramseier, Rechtsanwältin, Ramseier Anwaltskanzlei.

Die Untersuchungen wurden durch die SES, Swissolar und die zHAW finanziert und können Anfang 2021 beim Dike-Verlag be zo-gen werden (www.dike.ch/Schriften_zum_Energierecht). JournalistInnen und andere Interessierte  können bei der SES gratis eine elektronische Version anfordern.

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SES aktuell

> Referendum gegen das CO2-Gesetz

Langsam nervts! Endlich hat eine grosse Mehrheit des Parlaments einen Kompromiss gefunden und das neue CO2-Gesetz verabschiedet. Und was machen VertreterIn-nen von SVP-nahen Kreisen? Sie ergreifen das Referen-dum. Dass Splittergruppen der Klimajugend das Refe-rendum unterstützen, macht die Sache noch komple-xer. Natürlich ist das neue CO2-Gesetz nicht perfekt, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung und schafft den nötigen Rahmen für griffige Klimaschutz-massnahmen. Für unsere Kinder und Kindeskinder ist matchentscheidend, dass dieses Gesetz angenommen wird. Deshalb engagiert sich die SES gegen das Refe-rendum und für ein JA zum neuen CO2-Gesetz. Helfen Sie uns mit Ihrer Spende: auf unserer Website oder mit dem Einzahlungsschein im E&U. Vielen Dank!

» www.energiestiftung.ch/co2-gesetz.html

> Herzliche Gratualtion, Beat Jans!

Ende Oktober ist SES-Stiftungsratspräsident und Nati-onalrat Beat Jans im Kanton Basel-Stadt gleich im ersten Wahlgang in den Regierungsrat gewählt worden. Ende November, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, hat er sich zudem auch für die Wahl zum Regierungsprä-sidenten zur Verfügung gestellt. Die Geschäfts stelle der SES gratuliert Beat Jans von ganzem Herzen zu diesem glanzvollen Resultat und wünscht ihm viel Erfolg und alles Gute in seiner Tätigkeit in der Kantonsexekutive. Für die SES bedeutet das leider aber auch, dass Beat Jans sein Amt als Stiftungsratspräsident 2021 abgeben wird. Wir blicken also mit einem lachenden und einem wei-nenden Auge auf diesen Wahlerfolg. Der Prozess der Nachfolge rInnensuche läuft bereits. Wir werden zu gegebener Zeit informieren.

> Die Halbwertszeit des Erinnerns

Anfang September fanden «radioaktive Wildschweine» Beachtung in den Schweizer Medien: Anhand von Fleischproben wurde festgestellt, dass gewisse Wild-schweine den Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilo-gramm Körpergewicht überschreiten; das Fleisch solcher Tiere darf nicht zum Verkauf angeboten werden. Der Jäger erhält in einem solchen Fall eine Entschädigung.Die Medien erwähnten, dass die Tiere die Radioaktivität durch den Verzehr von Pilzen aufgenommen hätten, dass es sich um das Isotop Cäsium-137 handle und dieses vom «Reaktorunfall» 1986 in Tschernobyl stamme.

... und Schwamm drüber?!So weit, so korrekt. Gewisse Medien wiesen – ein Zei-chen von erzwungenem Optimismus? – darauf hin, die Radioaktivität klinge ja ab, da Cs-137 eine Halbwertszeit von 30 Jahren habe. Ehrlicher wäre wohl, darauf hinzu-weisen, dass seit der Katastrophe von Tschernobyl be-reits «eine Halbwertszeit» (34 Jahre) verstrichen und die Aktivität immer noch so hoch ist, dass sie Pilze und Wildschweine ungeniessbar machen kann!

Besonders stark reichert sich Cs-137 in Pilzen an, die Lignin zersetzen können und deshalb einen leichten Zugang zu Kalium und darum auch zum chemisch sehr vergleichbaren Cäsium haben. Insbesondere der Maro-nen-Röhrling (Boletus badius) und der Flockenstielige Hexen-Röhrling (Boletus erythropus) reichern Cäsium an, während beispielsweise der verwandte Gemeine Steinpilz (Boletus edulis) nur eine geringe Cäsium-An-reicherung zeigt.

Was lernen wir daraus? Schon 2018 und 2019 gab es Medienmitteilungen über radioaktive Pilze und Wild-schweine im Süden Deutschlands. Das Schweizer Bundesamt für Le-bensmittelsicherheit und Veterinär-wesen (BLV) war 2016 sogar daran,

die Strahlengrenzwerte für Lebensmittel abzuschaffen – nur fünf Jahre nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima. Die Halbwertszeit des Erinnerns ist offen-bar extrem kurz!

SES-Stiftungsrat Dieter Kuhn; dipl phys UZH; NDS Umweltlehre UZH

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Impressum

ENERGIE & UMWELT, Nr. 4 / 2020

Herausgeberin: Schweizerische Energie-Stiftung SES

Sihlquai 67, 8005 zürich, 044 275 21 21

[email protected], www.energiestiftung.ch

Spenden-konto: 80-3230-3 I Iban-Nr. cH69 0900 0000 8000 3230 3

Redaktion & Layout: Rafael Brand, Scriptum,

Tel. 041 870 79 79, [email protected]

Redaktionsrat: Simon Banholzer (sb), Rafael Brand (rb),

Florian Brunner (fb), Nils Epprecht (ne), Tonja Iten (ti), katja Jent (kj),

Felix Nipkow (fn), Valentin Schmidt (vs), Reto planta (rp)

Redesign: fischerdesign, Würenlingen

Korrektorat: Vreni gassmann, Altdorf

Druck: Ropress, zürich (klimaneutral & mit Ökostrom gedruckt)

Papier: RecyStar Nature, aus 100% FSc-zertifiziertem Recyclingpapier,

prozesschlorfrei gebleicht

Auflage: 10'000, erscheint 4 x jährlich

SES-Fördermitgliedschaft (inkl. E & U-Abo):

Fr. 400.– kollektivmitglieder

Fr. 100.– paare / Familien

Fr. 75.– Verdienende

Fr. 30.– Nichtverdienende

Abdruck mit Einholung einer genehmigung und unter Quellenangabe

und zusendung eines Beleg exemplars an die Redaktion erwünscht.

E&U-Artikel von externen AutorInnen können und dürfen von der

SES-Meinung abweichen. Das E&U wird auf FSc-papier, klimaneutral

und mit erneuerbarer Energie gedruckt.

Klima und Energie gehören zusammen. Erneuerbare Energien in der Schweiz auszubauen ist neben einer Reduktion des Energieverbrauchs die wirksamste aller Klimaschutzmassnahmen. Wie der Ausbau umweltver-träglich gelingt und was es braucht, damit es vorwärts geht, haben ExpertInnen und PolitikerInnen aus der Schweiz und Europa an der SES-Fachtagung «Power fürs Klima» Ende September in Zürich erörtert. Dabei wurde klar: Es gibt keine Ausreden mehr, die erneuerbaren Energien sind da.

Sie können das Referat von ETH-Klimawissenschafterin Sonia Seneviratne, den Auftritt des Energy Watch Group- Präsidenten Hans- Josef Fell oder das Politpodium mit den Nationalrätinnen und UREK-Mitgliedern Priska Wismer-Felder (CVP), Susanne Vincenz-Stauffacher (FDP) und Gabriela Suter (SP) sowie alle anderen Beiträge noch Mal auf Video anschauen oder sich die Folien der Refe-rate herunterladen.

Danke für Ihr Interesse!

Die Folien zu den Referaten sowie den Link zur Bilder-galerie finden Sie auf:

» www.energiestiftung.ch/fachtagung20

Die Videomitschnitte der Referate und Diskussionen aus dem Live-Stream finden Sie auf:

» www.youtube.com/energiestiftung

RüCKBLICK SES-FACHTAGUNG 2020

POWER FüRS KLIMA Wie der Ausbau der erneuerbaren Energien gelingt

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Von Tonja Iten Wissenschaftliche Mitarbeiterin SES

1. Die Schweiz nimmt bereits eine umwelt-politische Vorbildrolle ein. – Schön wärs.

Mit dieser Behauptung startet die Gegnerschaft ihr Ar-gumentarium gegen das CO2-Gesetz. In der Tat konnte die Schweizer Umweltpolitik im 20. Jahrhundert wich-tige Erfolge verbuchen, welche zum Beispiel unsere Gewässer sauberer gemacht oder die Luftqualität ver-bessert haben. Mit der Katalysator-Pflicht war die Schweiz Pionierin, als sie diese 1986 als erstes euro-päisches Land vorschrieb. Anders sieht es mit Blick auf die aktuelle Klimapolitik aus. Laut Klimaschutz-Index belegt die Schweiz den 16. Platz, gerade noch vor der Ukraine und hinter Lettland.1 Um es an den Re-duktionszielen zu veranschaulichen: Das Schweizer CO2-Gesetz fixiert ein Inland-Klimaziel von minus 37,5 % bis 2030. Das europäische Parlament hingegen will die Emissionen im gleichen Zeitraum um 60 % reduzieren.

2. Der Anteil der Schweiz an den globalen Emis si o-nen ist mit 0,2 % minimal. Sollen sich China & Co. anstrengen. – Alle müssen mitmachen!

Dass China mit rund 1,4 Milliarden EinwohnerInnen mehr Abfall und Emissionen produziert als die Schweiz, überrascht hoffentlich niemanden. Solche «spitzfin-dige» Länder-Vergleiche machen nur Sinn, wenn man sich die Emissionen im Verhältnis zur Bevölkerung anschaut. Der helvetische Anteil liegt zwar lediglich bei gut 0,2 % der globalen Emissionen. Aber bei 0,1 % der Weltbevölkerung ist das immer noch doppelt so viel wie angebracht wäre. Um die Klimaerwärmung in Grenzen zu halten, müssen die Emissionen weltweit bis zur Mitte dieses Jahrhunderts auf Netto Null sinken. Das heisst, alle müssen reduzieren.

3. Wirksamer Umweltschutz ist nur in einer Marktwirtschaft möglich. – Ein Trugschluss.

Der Markt wirds richten? Sogar die marktaffinen Wirt-schaftswissenschaften zweifeln dies im Falle des Klima-wandels an und sprechen vom «grössten Marktversagen aller Zeiten». Die Begründung: Der Markt arbeitet nur effizient, wenn die Preise die wahren Kosten abbilden. Dies ist aber gerade in Bezug auf die Klimaerwärmung

nicht der Fall. Ein Fleischburger kostet die Gesellschaft weitaus mehr als die 5 Franken, die der Konsument berappt. Man spricht von «negativen Externalitäten»: Mein Handeln hat negative Effekte auf andere. Ich muss diese Konsequenzen aber nicht selbst übernehmen, sondern gebe diese an die Allgemeinheit weiter. Beim Klimaschutz genügt darum das Prinzip Eigenverant-wortung nicht. Diesem Missstand versucht die Klima politik mit einer CO2-Abgabe zu entgegnen: Emissionsintensive Güter oder Dienstleistungen werden verteuert und preislich unattraktiver. Das CO2-Gesetz nimmt diesen wohlgemerkt liberalen An-satz auf. Dass das CO2-Gesetz damit die Marktwirt-schaft abzuschaffen gedenkt, wie die Kritiker befürch-ten, scheint ein bisschen überzogen.

4. Flugticket-Abgabe, Benzinpreiserhöhung und Heizöl-Verbot treffen alle. – Falsch, es trifft die VerursacherInnen.

Das CO2-Gesetz betrifft zwar alle, doch «trifft» es nicht alle. Denn ein grosser Teil der Abgaben wird zurück-verteilt. Zum Beispiel die Flugticket-Abgabe: Diese ist eine Lenkungsabgabe, keine Steuer. Die Einnahmen fliessen nicht in den Staatshaushalt, sondern an die Bevölkerung zurück (mindestens die Hälfte). Die CO2-Grenz werte für Gebäude bei Heizungsersatz kommen in der Tat faktisch einem Verbot von Ölheizungen gleich. Dass aber Verbote und Gebote in manchen Fäl-len sinnvoll sind und Eigenverantwortung nicht immer reicht: siehe Punkte 1 + 3.

Und die «heilige Kuh» Verkehr, der mit knapp einem Drittel der Schweizer Treibhausgase der grösste Emissi-onsverursacher ist? Fakt ist, dass der Verkehrssektor die Reduktionsziele bei weitem nicht erfüllt. Gründe sind die steigende Anzahl gefahrener Kilometer und ver-brauchsstarke Fahrzeuge. Deshalb braucht es weitere Massnahmen, sprich auch eine erhöhte CO2-Abgabe auf Treibstoffe, die aber mit maximal 12 Rappen pro Liter viel zu tief bleibt, um eine Lenkungswirkung zu erzie-len. Dennoch: Wer weniger fliegt oder klimafreund-lich fährt oder sauber heizt, der profitiert und kriegt letztlich mehr Geld zurück als einbezahlt. Dadurch ist das Gesetz sozialverträglich.2 Fazit: Die CO2-Abga-be verteilt die Last gemäss Verursacherprinzip und entlastet alle, die wenig CO2 ausstossen.

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cO2-gESETz

Weder «planlos» noch «Planwirtschaft»

Mit verdrehten Argumenten hat eine Allianz rund um die Auto- und Erdöllobby, unterstützt von der SVP, jüngst das Referendum gegen das CO2-Gesetz er-griffen. Die SES widerlegt sechs schlechte Argumente gegen das CO2-Gesetz – und ein Gutes. Ein Appell an die Vernunft.

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5. Das CO2-Gesetz schadet unnötigerweise dem Gewerbe und der Wirtschaft. – Im Gegenteil. Es schafft klare Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaften.

Unnötiges wollen wir alle vermeiden. Doch es ist höchs-te Zeit in der Klimapolitik für griffige Massnahmen. Um den drohenden Klimakollaps zu stoppen, braucht es entschlossenes Handeln bei gleichzeitig richtigen Rah-menbedingungen. Genau das strebt das CO2-Gesetz als Kompromiss zwischen Wirtschaftsverbänden, Umwelt-organisationen und allen Parteien (ausser der SVP) an und berücksichtigt ebenso die Interessen der Wirtschaft.

Grosse Teile der Wirtschaft unterstützen das neue CO2-Gesetz, weil es Planungs- und Investitionssicher-heit bietet: «[ Wir ] sind überzeugt, dass ein Mix an re-gulierenden Vorschriften, freiwilligen Massnahmen und attraktiven Anreizen eine solide Grundlage liefert für eine nachhaltige und treibhausgasarme Wirtschaft, die sich primär an Chancen orientiert», schreibt der neuge-gründete Verein «Schweizer Wirtschaft für das CO2-Ge-setz», der mehr als 25'000 Unternehmen vertritt.3

6. Das CO2-Gesetz geht zu weit und ist planloser Aktivismus. – Völlig falsch: Die Massnahmen sind berechtigt und fundiert.

Bloss nichts überstürzen, teilen uns die Klimaschutz-bremser mit. Ja, aber überstürzt handelt hier niemand. Wohl kaum eine Krise in der Menschheitsgeschichte wurde gleichermassen ausführlich und breit analysiert, evaluiert, modelliert, berechnet, überprüft, diskutiert und debattiert. «Es ist zwingend geboten, unverzüg-

lich zu handeln.» Das betonte die Weltgemeinschaft im Abschlussprotokoll der Toronto-Welt klimakon-ferenz – im Jahr 1988. Wenn drei Jahrzehnte später moderate Massnahmen in einem Gesetz festgeschrie-ben werden sollen, kann von «planlosem Aktivismus» wohl kaum die Rede sein.

Das CO2-Gesetz geht zu wenig weit. – Stimmt! Doch nichts tun, geht überhaupt nicht. Zum Schluss ein gutes Argument aus Klimaschutzkrei-sen. Einzelne Klimastreik-Sektionen unterstützen das Referendum: Das CO2-Gesetz gehe zu wenig weit. Da haben sie zweifellos Recht und auch die Wissenschaft hinter sich. Für die Umsetzung des Pariser Klimaabkom-men reicht es nicht. Aber: Ein Nein zum CO2-Gesetz sorgt keineswegs für eine weitergehende Klimapoli-tik. Im Gegenteil: Es bringt weitere Verzögerungen und das Risiko, ohne gesetzlichen Rahmen für Klima-schutz dazustehen. Darum sei hier gerne nochmals das Referendumskomitee zitiert: «Lasst uns vernünftig bleiben!» – und JA sagen zum CO2-Gesetz. <

1 Der Klimaschutz-Index vergleicht und bewertet die Klimaschutzanstrengungen von knapp 60 Staaten, die zusammen für 90 % der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sind.

2 Zur finanziellen Wirkung von Lenkungsabgaben auf die Bevölkerung, siehe Infras Schweiz, «Finanzielle Auswirkung von Abgaben auf Brennstoffe, Treibstoffe und Flugtickets Rechenbeispiele für ausgewählte Haushalte», Oktober 2019.

3 Medienmitteilung von AEE Suisse, «Schweizer Wirtschaft organisiert sich für das CO2-Gesetz», 23. September 2020.

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Singt das Hohelied auf den freien Markt: Die SVP – hier 2015 an einer Wahlveranstaltung – unterstützt das CO2-Gesetz-Referendum, welches eine Allianz rund um die Auto- und Erdöllobby ergriffen hat.

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«Länder, die Investitionen in Nuklearenergie im grossen Massstab planen, riskieren, nicht ihr volles Potenzial im Kampf gegen den Klimawandel auszuschöpfen.»

Benjamin Sovacool, Professor für Energy Policy an der University of Sussex Business School, in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Oktober 2020. Seine neue Studie zeigt, dass erneuerbare Energien im Kampf gegen den Klimawandel effizienter sind.

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