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  • ISSN 2193-1224

    Ausgabe Nr. 10, WiSe 2015/16

    ein Projekt derGeowerkstatt Leipzig e.V.

    in Kooperation mit

    Beiträge unter anderem:

    und viele mehr ...

    Cover-Illustration von Florian Steiner

    Geographien der Verdrängung

    in den Obdachlosenszenen

    Tourismus- und Freizeitgeographie –

    eine verkannte Teildisziplin der Geographie

    Tourismus in Lappland: Unliebsame

    Last oder der rettende Anker?

    Wie gestalte ich eine Karte?

    Fotoreportage „Greetings from Detroit“

    http://www.geodach.org/http://www.geowerkstatt.com/http://entgrenzt.de/

  • 2 entgrenzt 10/2015Gesamteditorial |

    Liebe treue und neue entgrenzt-LeserInnen,

    Ohne eure Artikel, ohne eure Ideen und ohneeuer Engagement wären die vielen Seiten, diein den letzten Jahren erschienen sind, leer.Diese Ausgabe steht ganz unter dem Motto

    der Tourismusgeographie. Welche wissen-schaftliche Disziplin würde sich mit Tourismusbesser auskennen als die Geographie? Geogra-phInnen reisen scheinbar ständig in der Welt-geschichte herum und wechseln dabei zwi-schen den Rollen als TouristIn und ForscherIn.Oftmals sind GeographInnen auch direkt in-volviert, wenn es um den Ausbau neuer Fahr-radwege oder um die touristische Inwertset-zung interessanter Stadtteile geht. Man könntesagen, dass Tourismus eines unser Stecken-pferde ist.Wir freuen uns, euch einen Gastbeitrag von

    Prof. Dr. Werner Bätzing zu präsentieren.Nach 30 Jahren Forschung über die Alpen undden ländlichen Raum resümiert er, dass Tou-rismus durchaus stärkende wirtschaftliche Im-pulse in strukturschwachen Regionen setzenkann. In seinem Beitrag geht er auch auf diepotentiellen Tätigkeitsfelder für GeographIn-nen ein.Die studentischen Beiträge weisen indirekte

    Berührungspunkte mit dem Bereich Tourismusauf. Daniela Boß (Uni Bayreuth) hat sich inihrer Masterarbeit mit Obdachlosen in Ham-burg befasst. Diese erfahren häufig eine Ver-drängung, besonders in Räumen der Repräsen-tation und an touristischen Anziehungspunk-ten. Michael Neckermann (ebenfalls Uni Bay-reuth) führte in Hebron, Palästina, Interviewsmit AnwohnerInnen, die einen Einblick in diedortige alltagsweltliche Situation geben.Wie wichtig der Tagungstourismus für Geo-

    graphInnen ist, belegen die zahlreichen Beiträ-ge in Geowerkstatt. Die Berichte von der all-jährlichen Summerschool der Humangeogra-phie – in diesem Jahr zum Thema Migration –

    oder der Forschungsbericht der Erlanger Stu-dierenden, die ein Panel auf der Konferenz derAmerican Association of Geographers (AAG)in Chicago vorbereitet und durchgeführt ha-ben, sind zwei Beweise. Auch der Trägervereinder entgrenzt, die Geowerkstatt Leipzig e.V. ,war wieder unterwegs und berichtet von in-teressanten Erlebnissen in der Schrumpfungs-region Lausitz.Auch unsere Reihe „Die A´s und O´s des

    wissenschaftlichen Arbeitens“ wird in dieserAusgabe fortgesetzt und befasst sich mit demThema Geovisualisierung. Der letzte Beitragbelegt abermals, dass Forschung im Auslandein wesentlicher Bestandteil der wissenschaft-lichen Vita von Geographen und Geographin-nen ist. Dr. Joe Hill (Uni Bonn) berichtet vonseinem Werdegang und erläutert, wie seineErfahrungen ihm verschiedene weitere Türengeöffnet haben.Wir wünschen euch viel Spaß mit der 10.

    Ausgabe von entgrenzt und hoffen, bald eurewissenschaftlichen Artikel, eure Erfahrungenund Erlebnisse und eure Fotos abdrucken zudürfen.

    RedaktionCosima Werner

    mit Pauken und Trompeten feiern wir die 10. Ausgabe von entgrenzt!

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    GeographischesWerner Bätzing: Tourismus- und Freizeitgeographie –eine verkannte Teildisziplin der Geographie

    Daniela Boß: Geographien der Verdrängung in den Obdachlosenszenenam Beispiel der Hansestadt Hamburg

    Michael Neckermann: Challenging Geopolitics on the Ground: Der Widerstand derpalästinensischen Bevölkerung im Gebiet H2 der Stadt Hebron/Al-Khalil

    GeoWerkstattAnna Franke: Tourismus in Lappland: Unliebsame Last oder der rettende Anker?

    Jörg Kosinski: Interview mit Diane Rabreau über www.dianegoesforyou.com

    Katharina Drost und Sophia Fettinger: Bericht zum Workshop „Religiöse Identitäten undPraktiken in der post-säkularen Stadt“ im Rahmen der HumangeographischenSommerschule „Geographien der Migration“

    Alexander Grünberger, Sabrina Fest, Sebastian Fischer, Jonas Lendl, Norman Louis, Corinna Meyer,Johanna Nitsch, Eva Platzer: The Geographer or There and Back Again

    Alexander Grünberger, Sabrina Fest, Sebastian Fischer, Jonas Lendl, Norman Louis, Corinna Meyer,Johanna Nitsch, Eva Platzer: Über die Vernachlässigung von kulturellen Aspektenin der Katastrophenvorsorge – eine Diskussion

    Michelle Bröcking, Felicitas Meyer, Kristine Arndt, Frank Feuerbach, Max Edel:Willkommen in der Lausitz, Willkommen bei Vattenfall

    GeoPraktischChristian Bittner: Wie gestalte ich eine Karte?

    Joe Hill: Life as a Researcher

    GeoOrga Frühjahr 2016

    Foto(Geo)graphieCosima Werner: Fotoreportage „Greetings from Detroit“

    entgrenztmachen, aber wie?Nachwuchs für die kommenden Ausgabe!?Call for Papers Ausgabe 12Impressum

    Gesamtinhalt

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  • 4 entgrenzt 10/2015Geographisches |

    GeographischesGeographisches ist in entgrenzt die Rubrik, dieeure wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht.Ob es nun Hausarbeiten, Bachelor- oder Mas-terarbeiten oder eigenständig verfasste Artikelsind: Hinter jedem Projekt stehen viele Mona-te Arbeit, die es Wert ist, in Form von Aner-kennung honoriert zu werden. entgrenzt ist daseinzige Projekt im deutschsprachigen Raum,dass studentischen Arbeiten eine solche Platt-form bietet. Was dabei bisher herausgekom-men ist, könnt ihr in den neun bereits veröf-fentlichten Ausgaben nachverfolgen.Prof. Dr. Werner Bätzing, emeritierte Kory-

    phäe im Gebiet der regionalen Forschung, ins-besondere für die Alpen und den ländlichenRaum Süddeutschlands, fasst in unserem Gast-beitrag seine Arbeit zusammen und schildertmögliche Berufsperspektiven im Bereich desTourismus für Studierende.Der erste studentische Beitrag ist von Da-

    niela Boß (Uni Bayreuth), die aus ihrer Mas-terarbeit einen Artikel für diese Ausgabe ein-gereicht hat. Sie hat sich mit Obdachlosen inHamburg auseinandergesetzt und damit, wiediese Mechanismen der Verdrängung wahr-nehmen.

    Ebenfalls von der Uni Bayreuth ist MichaelNeckermann, der mehrere Wochen in Hebronverbrachte und dort Interviews mit Anwohner-Innen und ExpertInnen führte. Seine Analysebelegt die Vielschichtigkeit des Widerstandesder palästinensischen Bevölkerung gegenüberisraelischen Siedlern.

    Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen!

    Redaktion Geographisches

  • Tourismus- und Freizeitgeographie – eine verkannteTeild iszipl in der Geographie1

    Werner Bätzing

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    1 Einleitung

    Um das Jahr 1970 herum transformierte sichdie Industriegesellschaft in eine Dienstleis-tungsgesellschaft (Hanzig-Bätzing/Bätzing2005: 55 ff.). In diesem Kontext wurde das zu-vor elitäre Phänomen des Tourismus zu einemMassenphänomen, das alle Gesellschafts-schichten erfasste, und es bildete sich baldauch ein eigenständiger Freizeitbereich her-aus, der im Laufe der Zeit eine hohe sozio-kul-turelle und ökonomische Bedeutung erlangte2.Es ist daher kein Zufall, dass die Phänomene„Tourismus“ und „Freizeit“ seit den 1970erJahren stark aufgewertet wurden und werden,in allen Medien sehr präsent sind und dass dieDienstleistungsgesellschaft immer wieder aufstark verkürzte Weise als Freizeitgesellschaftbezeichnet wird.Überprüft man, in welchen inhaltlichen

    Kontexten in den Medien Tageszeitung, Radiound Fernsehen über Tourismus und Freizeitberichtet wird3, dann steht in der Regel derökonomische Aspekt sehr deutlich im Zentrum(ökonomischer Stellenwert von Touris-mus/Freizeit für Bruttosozialprodukt, Außen-handel, Konsumausgaben, für einzelne Regio-nen oder Orte), gefolgt von sozio-kulturellenAspekten (kulturelle Transformationen oderKonflikte, die durch Entwicklungen im Touris-mus ausgelöst werden) und von psychologi-schen Aspekten (Motivationen für Wahl be-stimmter Tourismus-/Freizeitformen und –or-te), wobei Platz 2 und 3 auch gelegentlich ihrePlatzierung tauschen können.Auffällig ist, dass der geographische Aspekt

    von Tourismus/Freizeit nur wenig in den Me-

    dien vertreten ist und dass es der Tourismusund Freizeitgeographie nur selten gelingt, ihreErgebnisse in den großen Medien zu präsentieren. Diese Situation ist deswegen erstaunlich, weil sich das Fach Geographie bereitsfrüh mit dem Phänomen Tourismus beschäftigt und dazu zwei große theoretische Ansätzevorgelegt hat. Deshalb waren bzw. sind diefachinternen Voraussetzungen eigentlich gutdass sich die Geographie zu dieser Thematiktheoretisch profund und praxisrelevant äußernkann.

    2 Zwei große Ansätze in der Tourismus-/Freizeitgeographie

    Der erste große Ansatz stammt von Hans Poser aus dem Jahr 1939 und wird am Beispieldes Riesengebirges entwickelt. Im Rahmen desdamaligen Konzepts der Geographie der Landeskunde besteht sein Ziel darin, erstmals aneinem Beispiel konkret nachzuweisen, dassmit dem „Fremdenverkehr“ eine ganz spezifische Prägung der Landschaft verbunden istdie sich von anderen Kulturlandschaften(Ackerbau-, Weinbau-, Weidelandschaftenoder Industrie- und Stadtlandschaften) signifikant unterscheidet und dass dies auch zu einem neuen Teilgebiet der Anthropogeographieführen müsse, um diesem Phänomen gerechtwerden zu können (Poser 1939: 2-3). Ausheutiger Sicht erscheint dieser Ansatz sehrmodern: Hans Poser geht keineswegs – wieviele zeitgenössische Anthropogeographen –(latent) naturdeterministisch vor, sondern erbetont explizit die „Wechselwirkungen undWechselbeziehungen zwischen dem Fremden

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    1 : Der Autor ist emeritierter Professor für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er beschäftigt sichseit 1977 mit der Situation und den Problemen des Alpenraumes und seit 1995 auch mit dem ländlichen Raum inFranken; in beiden Kontexten spielt für ihn die Tourismus- und Freizeitgeographie eine gewisse Rolle, u.zw. sowohl intheoretischer, empirischer wie auch in praktischer Beziehung. Dieser Aufsatz reflektiert die Erfahrungen mit seinenregelmäßig angebotenen Einführungsseminaren „Tourismus- und Freizeitgeographie“; ein besonderer Dank geht dabeian zahlreiche engagierte studentische Beiträge.2: Ab 1995 übertreffen die jährlichen Freizeitausgaben eines durchschnittlichen Haushalts die jährlichenUrlaubsausgaben, siehe Hanzig-Bätzing/Bätzing 2005, S. 62.3: Dies war immer die Einstiegsaufgabe für die Teilnehmer meiner Tourismus-/Freizeitgeographie-Seminare, die in Formeiner mehrwöchigen Medienauswertung beantwortet werden sollte. Sie erbrachte in 20 Jahren stets ähnliche Ergebnisse.

    | Werner Bätzing

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    verkehr und den natürlichen und anthropo-geographischen Erscheinungen auf der Erd-oberfläche“ (Poser 1939: 2). Dies schlägt sichauch in der Gliederung seiner Monographienieder: Der erste Teil ist der Abhängigkeit desFremdenverkehrs von der Landschaft gewid-met, während der zweite Teil den Fremden-verkehr als Landschaftsgestalter und –verän-derer thematisiert. Zugleich stellt Poser denFremdenverkehr ganz gezielt in den regiona-len Kontext und entwirft eine „integrative“Analyse, die alle Teilbereiche des aktuellenNachhaltigkeitsdiskurses abdeckt (Umwelt,Wirtschaft, Gesellschaft, Siedlung, Verkehr),auch wenn er dabei teilweise andere Begriffegebraucht.So modern (weil „integrativ“ konzipiert)

    dieser Ansatz einerseits auch ist, so gibt es an-dererseits drei zentrale Aspekte, die es verun-möglichen, dass man auf ihn heute unmittel-bar zurückgreifen könnte: Erstens kommen dieMenschen nur als Gattungswesen vor („derMensch“), so dass nicht zwischen unterschied-lichen Gruppen/Individuen und ihren Interes-sen unterschieden werden kann. Zweitenswird das Grundmotiv des Fremdenverkehrsnaturalistisch interpretiert (der landschaftlicheGegensatz zwischen Quell- und Zielgebiet alsUrsache für den Fremdenverkehr) und drittensverbleibt dieser Ansatz streng innerhalb einerdeskriptiven Analyse (Klassifizierung und Ty-pisierung von Fremdenverkehrslandschaftenals Ziel einer weltweit angelegten Fremden-verkehrsgeographie) und entwickelt keine An-sätze zur Lösung der analysierten Situationen4.Der zweite große Ansatz stammt von der

    Münchner Schule der Sozialgeographie undwurde in der ersten Hälfte der 1970er Jahreentwickelt5. Während Hans Poser von derLandschaft ausgeht (vom Zielgebiet oder an-gebotsorientiert), gehen Karl Ruppert und Kol-legen von den Akteuren aus, die gruppenspe-zifisch differenziert betrachtet werden (vomQuellgebiet oder nachfrageorientiert). Das ge-samte menschliche Verhalten wird in siebensogenannte „Daseinsgrundfunktionen“ unter-teilt, die Funktion „Sich erholen“ stellt einevon diesen dar. Damit besitzt diese Funktionim Rahmen der gesamten menschlichen Ver-

    haltensweisen eine herausgehobene PositionDies schlägt sich auch darin nieder, dass derdafür zuständige Teilbereich der Geographiedie Geographie des Freizeitverhaltens, einender Teilbereiche der Sozialgeographie darstellt.Mit der Perspektivenverlagerung vom Ziel

    zum Quellgebiet konnten nun – parallel zumgesellschaftlichen Wandel – erstmals die Freizeitphänomene jenseits des Tourismus in dengeographischen Blick kommen. Die MünchnerSchule der Sozialgeographie entwirft dafür eine Dreigliederung für die Aktionsräume desFreizeitverhaltens, wobei die zeitliche Dauerdas Gliederungskriterium darstellt: Wohnumfeld (bis zu mehreren Stunden) – Naherholungsraum (halbtags bis Wochenende) –Fremdenverkehrsraum (längerfristig). Dabeibleibt die Freizeit in der Wohnung und im eigenen Garten aus der geographischen Analyseausgeschlossen, weil damit kein Ortswechselverbunden ist (Maier et al. 1977: 146). Damitkonnten diese neuen gesellschaftlichen Phänomene, die mit der Massenmotorisierung abden 1960er Jahren eine große räumliche Relevanz erhielten, erstmals von der Geographieanalysiert werden.Charakteristisch für diesen Ansatz ist es

    dass er nicht bei der Analyse stehen bleibtsondern sich gezielt in Form von Raumordnung und Regionalplanung für problemorientierte Lösungen engagiert6. Klassisches Beispiel für solche Problemlösungen ist die räumliche Entflechtung von Fremdenverkehr (prioritär in den Bayerischen Alpen) undNaherholung (prioritär im Voralpenraum)bzw. von Naherholung (an geeigneten Stellenim Voralpenraum) und Erholung im Wohnumfeld (am Stadtrand von München oder in innerstädtischen Grünanlagen), was eng mit derVerkehrsplanung verbunden ist (Verbesserungder Erreichbarkeit, um überlastete Erholungsstandorte zu entlasten).Die systematische Trennung zwischen den

    einzelnen Daseinsgrundfunktionen ist jedochdie Stärke und Schwäche dieses Ansatzes zugleich: Die räumliche Segmentierung der einzelnen Daseinsgrundfunktionen voneinanderund ihre Lokalisation an unterschiedlichen

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    4: Liest man den Text von Poser genau, dann fallen immer wieder versteckte Wertungen ins Auge (hässlich,unproportioniert, monströs u.ä.), die deutlich werden lassen, dass seine Sichtweise keineswegs so deskriptiv-neutral ist,wie er es vorgibt.5: Das Basiswerk ist Maier/Paesler/Ruppert/Schaffer 1977.6: Dies hat seinen konkreten Niederschlag in der bayerischen Raumordnung (Landesentwicklungsprogramm) undRegionalplanung gefunden, bei der Mitglieder der Münchner Schule der Sozialgeographie oft beratend tätig waren.

    Tourismus- und Freizeitgeographie – eine verkannte Teildisziplin der Geographie |

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    Orten führt letztlich zu einer extrem funkti-onsteilig organisierten Raumstruktur, dereneinzelne Funktionszellen monofunktional ge-trennt nebeneinander stehen, wodurch sehrviel Verkehr erzeugt wird und eine kalte, ste-rile Lebenswelt entsteht. Deshalb ist dieserAnsatz heute – wo wieder lebendige, multi-funktionale Funktionsmischungen angestrebtwerden - nicht mehr umsetzbar. Zugleich sindviele aktuelle Entwicklungen im Freizeitbe-reich dadurch geprägt, dass sie mehrere Funk-tionen miteinander mischen (Urban Entertain-ment Center, Erlebniseinkäufe, Freizeitparksals Kurzurlaubsziele, Edutainment usw.), wo-durch der Ansatz der strikten funktionalisti-schen Funktionstrennungen seine Berechti-gung verliert.

    3 Zur gegenwärtigen Situation der Tourismus- undFreizeitgeographie

    Nach meiner persönlichen Bewertung gibt esnach diesen beiden großen geographischenAnsätzen bis heute keinen neuen „großen“Ansatz mehr. Die Fülle von Darstellungen derTourismus- und Freizeitgeographie ist zwargroß (Becker et al. 2003, Hopfinger 2007, Jobet al. 2005, Reeh/Ströhlein 2011 , Schmu-de/Namberger 2010, Steinbach 2003, Steine-cke 2011 , Kagermeier 2015), aber alle sindm.E. dadurch geprägt, dass sie auf eine prag-matische Weise Elemente aus den beiden ge-nannten Ansätzen mit weiteren theoretischen,empirischen und politischen Elementen kom-binieren. Dadurch entstehen durchaus praxis-relevante Ansätze, die angehenden Geogra-phen die notwendigen Werkzeuge für eine Be-rufstätigkeit in diesem Themenfeld vermitteln,aber ein „großer“ Neuansatz ist m.E. bislangnicht darunter.Allerdings sind die institutions- und univer-

    sitätspolitischen Rahmenbedingungen dafürauch nicht günstig: In der Phase der „quanti-tativen Geographie“ (1970er bis 1980er Jah-re) lag das Schwergewicht darauf, die Anthro-pogeographie mit naturwissenschaftlichen Me-thoden zu erweitern, was bei der Tourismus-und Freizeitgeographie nur selten sinnvoll ist.In den 1990er und in der ersten Hälfte der2000er Jahre war das Thema „Nachhaltigkeit“zwar sehr modisch, aber die Geographie tatsich schwer, es problemorientiert aufzugrei-fen, weil es inhaltlich ziemlich nah an der al-ten Geographie der Landeskunde war. Seitdemsich nun die „Neue Kulturgeographie“ in der

    Anthropogeographie ausbreitet, stehen Dekonstruktionen im Zentrum, was den Entwurfvon neuen Konstruktionen erheblich erschwert(Bätzing 2011 ).Zusätzlich wird der Entwurf eines konzep

    tionellen Neuansatzes einer Tourismus- undFreizeitgeographie durch die aktuelle „Leistungsorientierung“ an den Universitäten behindert: Die meisten Leistungspunkte erhältman durch Publikation von Artikeln in Fachzeitschriften mit hohem impact-Faktor, in denen man aber nur hochspezialisierte Themenbehandeln kann, und eine Monographie zähltnicht als Leistung, weil es dafür kein quantitatives Bewertungskonzept gibt. Und Drittmitteldie für Leistungspunkte ebenfalls sehr relevantsind, erhält man am ehesten für konkrete empirische Forschungsprojekte, aber kaum fürdie Erarbeitung eines neuen Ansatzes.

    4 Zur Bedeutung der Tourismus- und Freizeitgeographiein unserer heutigen Welt

    Auch wenn die Tourismus- und Freizeitgeographie in der Öffentlichkeit kaum präsent istso besitzt sie trotzdem eine sehr wichtige Aufgabe: Während alle anderen Wissenschaftsdisziplinen dieses Phänomen sektoral angehenführt die Tourismus- und Freizeitgeographieeine „integrative“ Analyse durch, bei der dieWechselwirkungen zwischen Umwelt – Wirtschaft – Gesellschaft im Zentrum stehen und jenach Gegenstand weitere Aspekte eine wichtige Rolle spielen können wie z.B. Symbole, Klischees oder Träume (Urlaub als „Traumwelt“).An einer solchen integrativen Analyse be

    steht nicht nur ein wissenschaftliches, sondernauch ein gesellschaftliches Interesse: Wenn eine touristische Entwicklung zu Umweltveränderungen und –zerstörungen führt, wenn dadurch soziale und kulturelle Konflikte eskalieren oder wenn durch unbeabsichtigte Nebenwirkungen hohe Kosten entstehen, dannentsteht ein Handlungsbedarf, bei dem manExperten sucht, die die Wechselwirkungenzwischen ökologischen, ökonomischen undsozio-kulturellen Dynamiken in einem konkreten Raum verstehen und gestalten können –und dies ist m.E. die Kernkompetenz des Faches Geographie.Allerdings lässt sich immer wieder feststel

    len, dass das Interesse an der geographischenKompetenz in der Tourismus-/Freizeitbranchedort am geringsten ist, wo es hochspezialisierte Strukturen gibt (z.B. in Tourismus- oder

    7entgrenzt 10/2015 | Werner Bätzing

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    Hotelkonzernen), und dort am größten ist, woTourismus/Freizeit am stärksten mit dernichttouristischen Welt verflochten ist. Des-halb besitzen Geographen die besten Berufs-aussichten als Tourismusmanager auf der Ebe-ne von Gemeinden, Landkreisen, Regionenoder als Tourismusverantwortliche im Rahmenvon National-, Naturparks, Biosphärenregio-nen oder im Rahmen von Stadt- und Regional-entwicklung, also überall dort, wo Tourismuseine Querschnittsaufgabe darstellt und das Ge-spräch mit vielen nichttouristischen Akteurenerfordert.Gerade weil unser global, national und re-

    gional so stark vernetztes Wirtschafts- und Ge-sellschaftssystem immer anfälliger auf unbe-absichtigte Nebenwirkungen zweckrationalenHandelns reagiert, wird die geographischeKompetenz derzeit immer wichtiger und ihreBedeutung dürfte auch in Zukunft weiter stei-gen. Es bleibt zu hoffen, dass es den Fachver-tretern gelingt, sich auf diesem Hintergrundöffentlich für ihr gesellschaftlich wichtigesAnliegen mehr Gehör als heute zu verschaffen.

    5 Tourismusgeographie konkret: Die Alpen

    Im Rahmen meiner eigenen jahrzehntelangenBeschäftigung mit den Alpen spielte der Tou-rismus stets eine relevante Rolle (vgl. Bätzing2015, Kapitel III, Abschnitt 5; Bätzing 2015a).Zentrale Erkenntnis dabei war und ist, dassder Tourismus im Alpenraum quantitativ seit20–25 Jahren stagniert und dass er sich in die-ser Zeit räumlich sehr stark konzentriert: 50 %aller touristischen Betten der Alpen findensich in nur 5 % der Alpengemeinden. Daher istes wichtig, die Alpen nicht als eine große Tou-rismusregion anzusehen, sondern zwischender Situation der etwa 300 großen Tourismus-zentren und der Situation der übrigen Alpen-gemeinden, die wenig oder gar keinen Touris-mus besitzen, zu unterscheiden. Daraus folgenauch unterschiedliche Zukunftsperspektiven:Für Tourismuszentren habe ich gefordert, dasskein weiterer quantitativer Ausbau der touris-tischen Infrastrukturen stattfindet, weil dasden ruinösen Wettbewerb weiter verstärkt,und dass stattdessen die touristischen Ghetto-Strukturen abgebaut und die Bezüge zur Re-gionalwirtschaft und zur regionalen Kultur ge-

    stärkt werden. In den anderen Alpengebietensollte dagegen ein nicht-technischer Tourismus auf der Grundlage der endogenen regionalen Potenziale ausgebaut werden, jedochnicht als Monofunktion, sondern als ergänzende Wirtschaftsaktivität, um die bedrohten dezentralen Arbeitsplätze zu sichern. Dadurchsoll verhindert werden, dass sich der Tourismus noch weiter aus der Fläche zurückziehtwie man es seit 25 Jahren in den Alpen beobachten kann (Bätzing/Lypp 2009).Da ich die Entwicklung einer klassischen

    Entsiedlungsregion der Alpen am Beispiel despiemontesischen Stura-Tals seit über 35 Jahren sehr genau verfolge und mich für ihre umwelt- und sozialverträgliche Aufwertung engagiere, bin ich selbst zum touristischen Akteurgeworden: Ich habe einen zweibändigen Wanderführer für den Weitwanderweg „GrandeTraversata delle Alpi/GTA“, der durch diepiemontesischen Alpentäler mit starker Entsiedlung führt, geschrieben und dadurch mitdazu beigetragen, dass dieses vorbildlicheTourismusprojekt heute noch existiert (Bätzing 2011a7). Da die GTA aber nur als eine Linie durchs Gebirge führt, diese Alpenregionaber einer flächenhaften Aufwertung bedarfhabe ich das durch die GTA entstandene Interesse an den piemontesischen Alpen imdeutschen Sprachraum dazu genutzt, um weitere Wanderführer für kleinere Alpengebietezu konzipieren und zu publizieren. Dies warnur möglich, weil der Rotpunktverlag in Zürich sehr daran interessiert war, Wanderführerzu publizieren, die nicht nur Wegbeschreibungen enthalten, sondern die zugleich in diedurchwanderte Region einführen und auchderen Probleme ansprechen. Zweitens war mirdies nur möglich, weil ich mit dem Geographen Michael Kleider ab 2002 einen Mitarbeiter hatte, der die piemontesischen Alpen gutkannte und mit dem ich optimal zusammenarbeiten konnte. Dadurch entstanden zwischen2006 und 2015 zusätzlich fünf Wanderbücherfür Teilgebiete der piemontesischen Alpen8

    die die Zahl der Besucher vor Ort spürbar erhöhten. Diese Wanderbücher zeigen, wie praxisrelevant eine geographische Regionsanalysesein kann.

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    7: Dieser Wanderführer erschienen erstmals 1986/89 und für 2016 ist die siebte, aktualisierte Auflage vorgesehen.Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, einen solchen Wanderführer permanent aktuell zu halten, damit er seineAufgabe erfüllen kann. Zu den Auswirkungen der GTA auf die Regionalentwicklung siehe die sehr materialreicheAnalyse von Luisa Vogt 2008.

    Tourismus- und Freizeitgeographie – eine verkannte Teildisziplin der Geographie |

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    6 Tourismusgeographie konkret:Der ländliche Raum in Franken

    Mit meiner Berufung an die Universität Erlan-gen-Nürnberg machte ich 1995 die Analyseund Auseinandersetzung mit dem ländlichenRaum in Franken zu meinem zweiten Schwer-punkt in Forschung und Lehre neben den Al-pen. Ich stellte schnell fest, dass selbst diegrößten und bekanntesten TourismusorteFrankens im Vergleich zu den Tourismuszen-tren der Alpen sehr klein waren und dass vieleGemeinden und Regionen gar kein oder nurein äußerst bescheidenes touristisches Ange-bot besaßen. Dagegen kam dem Freizeitange-bot (Tages- und Wochenendausflüge der Städ-ter) oft eine wichtige Bedeutung zu, aber diehohen Besucherzahlen standen in einem un-günstigen Verhältnis zur lokalen Wertschöp-fung.In einer Reihe von mir betreuter Examens-

    arbeiten wurden Vorschläge erarbeitet, welchelokalen Potenziale in umwelt- und sozialver-träglicher Form für Freizeit- und Tourismus-angebote aufgewertet werden könnten oderwie Tourismus/Freizeit und Regionalentwick-lung besser miteinander verbunden werdenkönnten. An solchen Arbeiten waren die Ak-teure im ländlichen Raum stets sehr interes-siert, und die Ergebnisse wurden – wenn siegut ausfielen – oft vor Ort öffentlich vorge-stellt und diskutiert.Aus zwei Projektseminaren, die ich gemein-

    sam mit dem Lehrstuhl für Bayerische undFränkische Landesgeschichte durchführte undin denen wir den Wandel im ländlichen Raumin den Bereichen Umwelt – Wirtschaft – Ge-sellschaft jeweils am Beispiel einer Gemeindeuntersuchten (die Geschichtswissenschaftlerkonzentrierten sich auf Archivarbeiten und dieZeit vor 1945, die Geographen auf geographi-sche Feldforschung, die Auswertung vonStrukturdaten und die Zeit nach 1945), ent-stand sogar ein touristisches Angebot: Aus derZielsetzung, die wichtigsten Ergebnisse unse-rer Untersuchungen auch den Einwohnern derGemeinde nahezubringen, entstand die Idee,dies anhand eines Rundganges durch Dorf undFlur mit verschiedenen Stationen zu realisie-ren. Da diese Idee auf sehr großes Interessestieß, entstanden daraus die Themenwege

    „Spurensuche Kunreuth – ein kulturgeschichtlicher Wanderweg“ und der „KulturwegEgloffstein – historischer Rundweg und geographische Rundwege9“ .Diese Themenwege spielen heute im Rah

    men der Gemeinden Kunreuth (Naherholung)und Egloffstein (Tourismus und Naherholung)eine relevante Rolle, weil sie von den Einheimischen geschätzt werden und deshalb auchfür Besucher von außerhalb interessant sind.Diese beiden Beispiele aus den piemontesi

    schen Alpen und dem ländlichen Raum Frankens sollen deutlich machen, dass es der Tourismus- und Freizeitgeographie trotz des Fehlens einer großen Theorie gut gelingen kannpraxisrelevante Beiträge zur regionalen Entwicklung zu leisten, an denen die Akteure vorOrt sehr interessiert sind. In Sonderfällen können dabei sogar Universitätsgeographen touristische Angebote entwickeln, die einen positiven Einfluss auf die Regionalentwicklungnehmen.

    9entgrenzt 10/2015 | Werner Bätzing

    8: Titel unter: www.rotpunktverlag.ch9: Zu „Spurensuche Kunreuth“: www.kunreuth.vg-gosberg.de/index?id= 0,207 zum „Kulturweg Egloffstein“ sieheBätzing/Weber 2008 und www.egloffstein.de/sites/gensite.asp?SID= cm220920080926003966485&Art= 237

    www.egloffstein.de/sites/gensite.asp?SID=cm220920080926003966485&Art=237www.kunreuth.vg-gosberg.de/index?id=0,207

  • 10 entgrenzt 10/2015Tourismus- und Freizeitgeographie – eine verkannte Teildisziplin der Geographie |

    LiteraturBätzing, W. (2015): Die Alpen. Geschichte und Zukunft ei-ner europäischen Kulturlandschaft, München (4. Fassung).Bätzing, W. (2015a): Zwischen Wildnis und Freizeitpark –Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Zürich.Bätzing, W. (2011 ): „Neue Kulturgeographie“ und Regio-nale Geographie. Können die Ansätze der „Neuen Kultur-geographie“ auf die Regionale Geographie übertragenwerden? Eine kritische Bewertung vor dem Hintergrundvon 30 Jahren Alpenforschung. IN: Mitteilungen der Ös-terreichischen Geographischen Gesellschaft, Bd. 153, S.101–128.Bätzing, W. (2011a): Grande Traversata delle GTA – dergroße Weitwanderweg durch die Alpen des Piemonts. 2Bände. Zürich, 6. aktualisierte Auflage.Bätzing, W./Lypp, D. (2009): Verliert der Tourismus inden österreichischen Alpen seinen flächenhaften Charak-ter? In: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Ge-sellschaft, Bd. 56, S. 327–356.Bätzing, W./Weber, A.O., Hrsg. (2008): Kulturweg Egloff-stein. Der kulturhistorische Wanderweg durch die Ge-meinde Egloffstein, Markt Egloffstein.Becker, C./Hopfinger, H./Steinecke, A. , (Hrsg.) (2003):Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz undAusblick, München/Wien.Hanzig-Bätzing, E./Bätzing, W. (2005): Entgrenzte Wel-ten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierungund Fortschritt und Freiheit, Zürich.

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    Foto(Geo)graphie „Greetings from Detroit“

    Aus der Rubrik Foto(Geo)graphie findet ihr in dieser Ausgabe eine Fotoreportage vonCosima Werner. Die Bilder sind über die gesamte Ausgabe verteilt und mit demSymbol auf der linken Seite markiert. Einen erläuternden Beitrag gibt es auf Seite 67.

    Wandbild, Northend, Detroit 2014

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    Schriftzug desMotor-City Casinosin Briggs/Corktown.Detroit 2014

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    Die Fisher BodyPlant 21 der Firma

    Fisher wurde1919 gebaut.Detroit 2015

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    Entworfen wurdedas Gebäude vomdeutsch-stämmigenIndustrie-Architek-ten Albert Kahn.Heute arbeitet derBesitzer des Berli-ner Techno-Clubs„Tresor“ intensivdaran, den FisherBody mit elektroni-schen Klängenwiederzubeleben.Detroit 2015

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    Geographien der Verdrängung in den Obdachlosenszenenam Beispiel der Hansestadt Hamburg

    Daniela Boß

    Der geographische Blick auf Obdachlosigkeit hatin den letzten Jahren begonnen, sich zu verän-dern. Statt Obdachlose wie bisher vornehmlich alsOpfer der neoliberalen Stadtpolitik zu betrachten,erkennt man ihnen nun Handlungsfähigkeit zuund nimmt wahr, wie sie mittels entwickelter Be-wältigungspraktiken in der Lage sind, das restrik-tive Vorgehen von Städten zu unterminieren undGeographien der Verdrängung zu gestalten.

    1 Einleitung

    Das politische, wirtschaftliche und gesamtge-sellschaftliche Umfeld spiegelt sich stets imUmgang mit Randgruppen und Armen, insbe-sondere mit Obdachlosen, wieder. Die Schät-zungen zur Straßenobdachlosigkeit ergaben2012 einen Wert von 24.000 Menschen, waseinen Anstieg von 10  % im Vergleich zu 2010bedeutet (BAGW 2014b). Alleine in Hamburgwurden 2009 im Rahmen einer Studie 1029Obdachlose gezählt, wobei die tatsächlicheAnzahl vermutlich deutlich höher liegt(Schaak 2009: 1 ). Obwohl ab Mitte der 1970erJahre Obdachlosigkeit in Deutschland entkri-minalisiert und als soziales Problem wahrge-nommen wurde (Paegelow 2012: 34f.), änder-te sich dies Mitte der 1990er Jahre. In dieserZeit ließ sich ein Wandel der Obdachlosenpo-litik in den USA beobachten, welche sich nundurch restriktive Maßnahmen wie Verdrän-gung, Rekriminalisierung und Marginalisie-rung von unerwünschten Subgruppen (Smith1996; Mitchell 1997) charakterisieren lässtund Teil des stadtgeographischen Diskurses ist(DeVerteuil et al. 2009a; Mitchell 1997). Auchin Hamburg ist eine restriktive Vorgehenswei-se wie zum Beispiel die gezielte VertreibungObdachloser unter einer Brücke (Hirschbiegel2011 ) oder die Verdrängungsprozesse durchdie Privatisierung des Bahnhofvorplatzes inHamburg (Sim  2012) erkennbar.In den letzten Jahren entwickelte sich eine

    Forschungsströmung, die ihren Schwerpunktauf Obdachlose selbst und ihre Alltagswirk-

    lichkeit legt (Cloke et al. 2010; De Verteuil etal. 2009a) sowie u.   a. die Frage aufwirft, wieObdachlose in ihrer Lebenswirklichkeit durchdie Vielzahl an Restriktionen, mit denen deröffentliche Raum – und damit ein wichtigerTeil ihres Lebensraums – belegt ist, beeinflusstwerden. Der vorliegende Artikel versucht, diewachsende Heterogenität innerhalb der Alltagsrealität Obdachloser zu fokussierennimmt Obdachlose als handlungsfähige Individuen wahr und legt der Betrachtung vonObdachlosigkeit im Gegensatz zu punitivenAnsätzen ein komplexeres Verständnis zugrunde, welches mehr umfasst als Regulierungund Kontrolle. Dass Obdachlosigkeit trotz restriktiver Maßnahmen im Bild der Innenstadtsichtbar ist, lässt den Schluss zu, dass Obdachlose, bewusst oder unbewusst, Strategien undTaktiken als Bewältigungspraktiken des Alltags entwickeln und damit das Vorgehen derStädte unterminieren. Hier knüpft dieser Artikel an und untersucht beispielhaft innerhalbunterschiedlicher Obdachlosenszenen derHansestadt Hamburg Geographien der Verdrängung. Darunter subsumieren sich die Fragestellungen, ob und wo eine konkrete undspezifische räumliche Verdrängung von Obdachlosen stattfindet, ob und wie diese Verdrängungsmechanismen von obdachlosenMenschen anhand biographischer und persönlicher Erfahrungen wahrgenommen werdenwelche Geographien der Verdrängung für Obdachlose aufgrund ihrer Erfahrungen relevantsind und ihre spezifische Alltagswirklichkeitbeeinflussen sowie welche Bewältigungstaktiken sie entwickeln und nutzen, um mit konkreter Verdrängung umzugehen.Ziel des Artikels ist es, darzustellen, dass

    das Alltagsleben obdachloser Personen mehrals nur eine marginale soziale, ökonomischeund politische Konstellation ist, sondern komplexe räumliche und gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse abbildet.

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    2 Konzeptualisierung von Obdachlosigkeitin der Geographie

    Obdachlosigkeit kann verschiedene Zuständeder Wohnungslosigkeit beschreiben. In diesemArtikel wird Obdachlosigkeit als Straßenob-dachlosigkeit verstanden. Dies beschreibt denZustand einer Person, die über keine feste Un-terkunft verfügt und überwiegend im Freienübernachtet (Paegelow 2012: 34). Betrachtetman die wissenschaftlichen Beiträge zu Ob-dachlosigkeit, so standen lange Zeit Aspektewie Exklusion und Vertreibung im Fokus (Clo-ke et al. 2010: 1 ). Diese punitive Strömung,vertreten u.   a. durch Smith (1996) und Mit-chell (1997), stellt die Idee einer neoliberalenStadtpolitik, die auf soziale Kontrolle undStrukturen fokussiert ist, in den Vordergrundihres konzeptionellen Zugangs. Die angestreb-te Stadtpolitik führt zu einem repressiven An-satz im Umgang mit Obdachlosen, so dass esPraxis ist, obdachlose Menschen zugunsten ei-ner Kommodifizierung aus innerstädtischenRäumen zu verdrängen. Dies geschieht durchpolitische, rechtliche und kulturelle Mittel, dieals raumorientierte Strategien die Überlebens-praktiken Obdachloser kriminalisieren undveranschaulichen, wie durch zielgerichteteMaßnahmen sichtbare Armut im urbanenRaum marginalisiert wird. Demnach reflektiertdas Stadtbild, als räumliche Dimension, diepolarisierenden Machtverhältnisse innerhalburbaner Räume (Cloke et al. 2010: 1ff. ; De-Verteuil et al. 2009b: 647; Weisser 2011 :156).Erst in den letzten Jahren entwickelten sich

    Ansätze, die sich diesem Zugang widersetzenund ihn als unvollständig kritisieren, da diffe-renzierte Geographien der Obdachlosigkeitnicht erfasst werden können. Die Kritik, dassaußer Acht gelassen wird, wie Obdachlose mitden restriktiven Maßnahmen umgehen und obbzw. wie sie Widerstand leisten (Cloke et al.2010: 7), wird in diesem Artikel aufgegriffen.Zugleich wird für eine junge, humanorientier-te Forschungsströmung plädiert, die den hand-lungsfähigen Menschen in den Mittelpunktstellt. Ihr liegt der Anspruch zugrunde, dasPhänomen Obdachlosigkeit aus sich selbstheraus statt von oben herab zu erforschen so-wie die wachsende Heterogenität der Gruppeder Obdachlosen anzuerkennen, weshalb sieihren Fokus auf die Praktiken, Performanzenund Affekte des Alltagslebens Obdachloserlegt (DeVerteuil et al. 2009b: 646). Vertreter

    dieses Ansatzes sprechen sich für ein komplexeres Verständnis von Obdachlosigkeit ausdas besonders die Alltags- und Lebenswirklichkeiten sowie Handlungsfähigkeiten vonObdachlosen in den Vordergrund stellt (Clokeet al 2010: 2, 20; DeVerteuil et al. 2009b650). Durch die sich stets verändernden urbanen Räume sind Obdachlose zu fortwährendneuen Anpassungs- und Schaffungsprozessengezwungen. Sie beginnen, „place-making devices“ (Cloke et al. 2010: 8) zu entwickelnund ergebnisorientiert zu nutzen, indem siesich Raum aneignen. Durch Anwendung dieserTaktiken kreieren obdachlose Personen ihreindividuellen Bewältigungspraktiken, unterderen Zuhilfenahme sie in der Lage sind, Räume für ihre eigenen Interessen umzuwandelnindem sie räumliche Verfügungsrechte undDispositionen sowie ursprünglich existenteRaumbedeutungen ignorieren und bewusstverändern. Gestützt wird diese Überlegungdurch die Tatsache, dass urbane Obdachlosigkeit auch in den Städten, die durch restriktiveund punitive Vorgehensweisen (z.B. rechtlicheVerordnungen) gegen Obdachlose geprägtsind, weiterhin existent und sichtbar ist. Gerade unter der Prämisse, dass es Obdachlosenscheinbar gelingt, sich durch Bewältigungspraktiken das Überleben in innerstädtischenRäumen zu sichern, sollte Obdachlosigkeitnicht vornehmlich unter den sozial konstruierten Stigmata von Kriminalität und Devianzbetrachtet werden (Cloke et al. 2010: 8). Dieser Artikel stellt die Kommodifizierung des öffentlichen Raumes als einen Aspekt punitiverMaßnahmen in den Vordergrund.

    3 Kommodifizierung des öffentlichen Raumes

    Dass Obdachlose Bewältigungspraktiken entwickeln müssen, ist oftmals auf die neoliberaleStadtpolitik und eine damit einhergehendeKommodifizierung öffentlicher Räume zurückzuführen. Der öffentliche Raum, verstandenals frei zugänglicher physischer Raum instaatlichem und kommunalem Besitz (Glasze2001 : 161 ), bildet die Grundlage für die Lebensführung obdachloser Menschen undnimmt in ihrer Alltagswirklichkeit eine existenzielle Funktion ein. Neben dem privatenRaum existieren semi-öffentliche Räume, z.   BPrivateigentum, das aber trotzdem für die Öffentlichkeit zugänglich ist oder staatlich bezuschusst wird, allerdings gezielt bestimmte Gesellschaftsteile ausschließen kann (Glasze

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    ästhetisieren und mit einer vermeintlich ge-ordneten Innenstadt Investitionsanreize zubieten (Mitchell 1997). Dabei sollen Räumemit gehobenen und gesellschaftskonformenVerhaltensstandards sowie soziale Kontrolleund Ordnung entstehen (Ronneberger 2001 :37). Es kommt zwangsläufig zum Ausschlussbestimmter Bevölkerungsgruppen wie etwaObdachlosen, die als das „Subproletariat derMetropolen“ (Belina 1999: 60) gelten sowieals störend und umsatzschädigend empfundenwerden, da sie nicht mit den Wert- und Norm-vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft kon-form gehen. Um diese Verdrängung aus demöffentlichen und semi-öffentlichen Raum zulegitimieren, werden Randgruppen als Sicher-heitsrisiko eingestuft (Belina 1999: 61 ).Die Kommodifizierung des öffentlichen

    Raumes geschieht durch die DimensionenRecht (z.   B. Hausordnung), Personal (z.   B. pri-vate Sicherheitsdienste), architektonische Ge-staltung von Räumen (z. B. Verdrängungsmö-blierung) und Technik (z.   B. CCTV) (Wehr-heim 2012: 57). Die verdrängende Wirkungvon Kommodifizierungsprozessen beeinflusstdie Alltags- und Lebenswirklichkeiten Obdach-loser und bildet oftmals den Auslöser für dieEntwicklung von Bewältigungspraktiken, wes-halb vornehmlich auf diese Bezug genommenwird.

    4 Alltagswirklichkeit Obdachloser aus theoretischer Sicht

    4.1 Subjektive Raumproduktionenin der Obdachlosencommunity

    Den Geographien der Verdrängung innerhalbvon Obdachlosenszenen liegen subjektiveRaumproduktionen zugrunde. Betrachtet mantheoretische Konzepte zur relationalen Raum-konzeption, die davon ausgeht, dass es durchsubjektive Raumkonstruktionen an einem Ortzu Überlagerungen mannigfaltiger Räumekommen kann, so scheint das Konzept desThirdspace von Soja (1996) geeignet, umdurch subjektive Raumkonstruktionen beding-te Konflikte in der Alltagswirklichkeit Ob-

    dachloser abzubilden. Sojas Konzept basiertauf The Trialectics of Spatiality, wobei Räumlichkeit durch den First-, Second- und Thirdspace konzipiert wird. Der Firstspace steht fürden wahrgenommenen, realen Raum, also denmateriellen Blickwinkel auf räumliche Phänomene. Der Secondspace als mentaler Raumund Raum der räumlichen Repräsentation verfolgt eher eine idealistische denn eine materielle Perspektive und wird im Kontext von Obdachlosigkeit und Stadt durch städtische Akteure und die der Wirtschaft verfolgt. DerThirdspace steht für den gelebten Raum. Erüberwindet den Dualismus zwischen Firstspace und Secondspace und steht für eine Perspektive, die sich von einer entweder-oderKonstruktion zu einer sowohl-als-auch-Konstruktion der Räume hinwendet (Soja 199674-81 ) sowie diese damit auch für sich überlagernde Raumkonstruktionen öffnet. Für dieBetrachtung von Konflikten im Kontext vonObdachlosigkeit ist das Thirdspace-Konzeptvon Soja hilfreich, um unterschiedliche Raumproduktionen innerhalb eines Raumes zu beschreiben, insbesondere jedoch um Interessenskonflikte aufgrund von Differenzen zwischen mentalem und gelebtem Raum aufzudecken.

    4.2 Kultur, Identität und Differenzals Mittel zur Ausgrenzung

    Die Begriffe Kultur, Identität und Differenzsind bei der sozialgeographischen Betrachtungvon Obdachlosenszenen immer präsent, da siesowohl in Diskursen zwischen Mitgliedern vonGruppen von Obdachlosen und der Mehrheitsgesellschaft als auch innerhalb der Obdachlosenszenen selbst zu Zwecken der Inklusionund Exklusion genutzt werden.Wie Kultur – verstanden als ein Sinn-, Ord

    nungs- und Wertesystem, das auf Sitten, Gewohnheiten, Gebräuchen, Traditionen, Religion, Sprache und charakteristischen Eigenschaften und Strukturen eines Kollektivs basiert und den Rahmen für Handlungen bietetsowie diese bewertet (Roth 1999: 95f.) – istauch Identität ein gesellschaftliches Produktdas zum einen durch Zusammenwirken vonZukunft und Vergangenheit, zum anderendurch Zuschreibungen gebildet wird. Dennnur wenn es Differenzen und damit Faktorengibt, die eine Abgrenzung ermöglichen, kannIdentität konstruiert werden. Identität beschreibt das Zugehörigkeitsgefühl eines Indi

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    viduums oder einer sozialen Gruppe zu einemdefinierten kulturellen Kollektiv, wie etwa ei-ner Gruppe von Obdachlosen. Um eine Identi-tät herausbilden zu können, muss eine Unter-scheidung von anderen Gruppen stattfinden.Identitätsbildend können alle Aspekte der Le-benswelt sein, wobei Kultur oftmals ein Teildavon ist. Ferner findet Identitätsbildung vor-rangig nicht nur durch das Individuum selbst,sondern durch den gesellschaftlichen Diskursstatt und ist trotz fortwährender Veränderun-gen in der Wahrnehmung ein stabiles Kon-strukt, über das sich Mitglieder der Gesell-schaft definieren (Hall 1999: 83f. ; 91–95.).Problematisch gestalten sich Identitätskon-

    struktionen, wenn Differenzen dazu genutztwerden, bestimmte Personengruppen auszu-grenzen. Durch Differenzen werden bei Sub-jekten Merkmale erzeugt, anhand derer eineTypenbildung und Kategorisierung möglichist. Typisierungen gestalten sich problema-tisch, sobald es zu Stereotypisierungenkommt. In diesem Fall wird ein Subjekt mit-tels simpler und durchaus weit verbreiteter Ei-genschaften dieses Subjekts nur auf diese re-duziert. Stereotypen bilden den Versuch ab,die soziale Ordnung der Gesellschaft zu stabi-lisieren, indem vermeintlich abnormale Mit-glieder, in diesem Kontext Obdachlose, exklu-diert werden, um die Inklusion der normalenMitglieder, hier die der Mehrheitsgesellschaft,zu festigen. Außerdem bieten Stereotypen dieMöglichkeit, Gesellschaftsmitglieder an einerNorm zu messen und zu legitimieren, dass die-jenigen, die nicht normkonform sind, als an-ders definiert werden und eine Exklusion ausder Mehrheitsgesellschaft gerechtfertigt ist(Hall 2004: 143ff.). Die Stereotypisierung vonObdachlosen bildet oftmals die Basis für Geo-graphien der Verdrängung.

    4.3 Bewältigungspraktiken

    Um im städtischen Umfeld zu überleben, ent-wickeln Obdachlose Bewältigungspraktiken.De Certeau (1988) versucht, das Alltagslebenkonzeptionell zu erfassen, indem er die Gesell-schaft und die herrschende Ordnung inklusiveder sie stützenden und schützenden Umge-bung sowie die inhärenten Machtverhältnissebeleuchtet. Der Fokus dieses Ansatzes liegt aufden spezifischen und kontextgebundenen All-tagspraktiken von Akteuren, die, wie Obdach-lose auch, unter determinierten Bedingungenagieren müssen, welche sie weder wählen

    noch bestimmen können. Die Bewältigungspraktiken sind selten darauf ausgelegt, dieherrschende Ordnung bewusst zu unterminieren, vielmehr versuchen sie, die herrschendenOrdnung und ihre Strukturen zu erdulden unddamit umzugehen (Rothfuß 2012: 66ff.). DeCerteau unterscheidet dabei zwischen Strategie und Taktik. Während Strategien den mitMacht versehenen und bewusst agierendenAkteuren, wie z.   B. Städten, vorbehalten sindsind Taktiken die Praktiken der SubalternenSie verfügen über keinen eigenen Raum, müssen sich stets neuen Situationen anpassen undsind auf günstige Gelegenheiten angewiesenin denen sie spontan durch alltägliche Praktiken die Hegemonie unterminieren können (DeCerteau 1988: 23, 31 , 89). Dieser Ansatz erklärt, mit welchen Strategien die herrschendeOrdnung die Räume der Obdachlosen diszipliniert und welche Taktiken Obdachlose nutzenum die Disziplinierung dieser Räume zu verhandeln. Dieser rational gelagerte Ansatz mussdurch den emotional basierten Ansatz der Performativität, wie Impression-Management, ergänzt werden. Der dramaturgische Zugangvertreten von Goffman (1959), zeigt dabei Gemeinsamkeiten zwischen inszeniertem Theaterund dem alltäglichen Leben auf. Verhalten imRahmen einer sozialen Interaktion transportiert stets auch soziale Bedeutung. Positiveoder negative Eindrücke, die Personen bei anderen Menschen hinterlassen, sind dafür verantwortlich, wie auf diese Personen reagiertwird und wie diese im sozialen Leben wahrgenommen werden. Die Definition einer Personund die Konstruktion ihrer Identität erfolgtüber soziale Aktivitäten sowie vorteilhafte undunvorteilhafte Eigenschaften. Identitätskonstruktionen sind damit das Ergebnis sozialerAktivitäten und bestimmen, wie in Zukunftmit einer Person interagiert wird. ImpressionManagement, als eine Art der Selbstdarstellung, ist ein zentraler Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen und beschreibt denVersuch von Individuen, den Eindruck, den sieauf andere machen, zu steuern, um durch ihrAuftreten gezielt einen bestimmten Eindruckzu vermitteln. Impression-Management kannsowohl bewusst als auch unterbewusst eingesetzt werden (Mummendey/Bolten 198558f.). Mittels verschiedener Techniken wirdangestrebt, die soziale Macht mit Hilfe einerpositiven Selbstdarstellung auszubauen, denVerlust des eigenen Ansehens möglichst geringzu halten, auf eine positive Reputation hinzu

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    arbeiten, Handlungen zu tätigen, um nicht fürden ganzen Umfang des eigenen Handelns zurVerantwortung gezogen werden zu können(Tedeschi et al. 1985, zit. in Mummen-dey/Bolten 1985: 60ff.) Im Kontext von Ob-dachlosigkeit ist dieser Ansatz gewinnbrin-gend, wenn obdachlose Personen mit Mitglie-dern der Mehrheitsgesellschaft interagieren,z.B. bei der Betrachtung von Taktiken wie Bet-teln oder dem Verkauf der Straßenzeitung(Cloke et al. 2010: 67).

    5 Methodik

    Methodisch wurden die Daten durch eine vier-wöchige, feldbasierte Forschung im Umfeldunterschiedlicher Obdachlosenszenen in Ham-burg1 erhoben. Neben teilnehmender undnicht-teilnehmender Beobachtung in nieder-schwelligen Einrichtungen und dem innerstäd-tischen Gebiet in fußläufiger Distanz zumHauptbahnhof wurden 20 qualitative Inter-views mit Obdachlosen geführt. Kriterium fürdie Auswahl der Interviewpartner war, dassdiese psychisch und physisch in der Lage wa-ren, an einem Interview teilzunehmen und ak-tuell oder vor kurzer Zeit auf der Straße lebenbzw. gelebt haben. Aufgrund der Sprachbar-riere wurden überwiegend deutschsprachigeObdachlose befragt. Es gelang ein Mischver-hältnis von sechs weiblichen und 14 männli-chen Interviewpartnern, welches annäherndmit der Gender-Verteilung in der Obdachlo-senszene korreliert. Die Interviews wurden inden Aufenthaltsräumen der niederschwelligenEinrichtungen durchgeführt und dauertendurchschnittlich 45 Minuten. Um die Skepsismir gegenüber zu reduzieren, wurden alle In-terviewpartner über das Thema der Arbeit in-formiert. Während der ersten Interviews wur-de deutlich, dass die befragten Personen kaumVerknüpfungen mit dem Begriff der Verdrän-gung herstellen konnten bzw. Verdrängungs-prozesse nicht als solche einordneten. Deshalbwurden sie zu ihrem Tagesablauf, zu Ortendes Konsums, Schlafens, Geldverdienens undFreizeit-Verbringens befragt, ebenso wie zu Si-cherheits- und Unsicherheitsräumen, mit demZiel, daraus Geographien der Verdrängung ab-zuleiten. Besonderes Interesse galt dabei der

    Bedeutung, Wahrnehmung und Bewertungdieser Orte sowie persönlichen Erfahrungendie mit diesen Orten in Verbindung gebrachtwerden konnten. Die Interviews wurden nacheinem Regelsystem transkribiert und mit denProtokollen der Beobachtungszeiträume inAnlehnung an eine qualitative Inhaltsanalysein Verbindung mit induktiver Kategorienbildung ausgewertet. Als Hauptkategorien ließensich gruppeninterne Verdrängungsmechanismen mit räumlicher Manifestation und Verdrängungsprozesse im öffentlichen Raum ausmachen, wobei letztere im Fokus des Artikelsstehen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse nicht repräsentativsind, sondern konkret spezifische Verdrängungsprozesse sowie biographische, persönliche Erfahrungen der einzelnen Befragten darstellen. Aufgrund des zeitlich begrenzten Aufenthaltes in Hamburg war nur ein kursorischer Blick in verschiedene Obdachlosenszenen und individuelle Erfahrungen möglichDeshalb können keine allgemeingültigen Aussagen für den Umgang mit Verdrängung durchObdachlose in der Stadt Hamburg getroffenwerden. Die Alltagswirklichkeiten Obdachloser sind hochkomplex, viele Praktiken undRoutinen laufen im Verborgenen ab und dieBefragten sind sich darüber nicht bewusstoder möchten diese nicht preisgeben, weshalbdiese in Interviews nicht kommuniziert werden. Auch gab es in wenigen Fällen Diskrepanzen in der Selbstdarstellung von Befragtenund meinen eigenen Beobachtungen und/oderBeschreibungen durch Mitglieder unterschiedlicher Obdachlosenszenen. Es ist zu vermutendass keiner der Befragten während der Befragung ein schlechtes Bild von sich zeichnenwollte.

    6 Empirische Ergebnisse

    Ein zentraler Aspekt der Geographien der Verdrängung ist die Kommodifizierung öffentlicher Räume, welche einen Teil der Lebensgrundlage vieler obdachloser Menschen darstellen. Deshalb stehen ausgewählte, durchKommodifizierung ausgelöste Verdrängungsprozesse im Fokus dieses Artikels.

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    1 : Die Betrachtungen der Obdachlosenszenen in Hamburg wurde als Beispiel gewählt, um theoretische Überlegungenempirisch zu unterfüttern. Die Analysen der empirischen Daten sind weder für alle Obdachlosenszenen in Hamburggültig noch sollen sie in Gänze auf andere Städte übertragbar sein. Im Vordergrund steht die Sichtweise derEinzelpersonen, die befragt wurden.

    Geographien der Verdrängung in den Obdachlosenszenen |

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    6.1 Auswirkungen der Kommodifizierungsprozesse

    Innerhalb des öffentlichen und semi-öffentli-chen Raumes in Hamburg wurden währendder Empirie klare Tendenzen zur Kommodifi-zierung deutlich. Die architektonische Gestal-tung der Innenstadt, Hausordnungen und Si-cherheitsdienste in Geschäften sowie die Prä-senz der Polizei sind Indikatoren. So findetman in der Innenstadt Verdrängungsmöblie-rung, welche die architektonische Dimensionder Kommodifizierung repräsentiert, wie z.B.wühlsichere Mülleimer mit Eingriffsschutzoder erhöhter Anbringung, um das Hineingrei-fen nach Pfandflaschen zu verhindern sowieSitzgelegenheiten, die so konzipiert sind, dasssie das Zusammentreffen größerer Gruppenverhindern oder längeres Sitzen oder Liegenunmöglich machen. Dieses als gezielte Ver-drängung zu bewertende Vorgehen (DeVer-teuil et al. 2009b: 647; Weisser 2011 : 156)wird von den befragten Obdachlosen erst beigenauerem Nachfragen als reale Verdrängungwahrgenommen und hat auch nur geringeAuswirkungen auf ihre Alltagswirklichkeiten,da sie im Tagesablauf der Befragten eine ge-ringere Rolle spielen: „Ich hab nie auf derBank geschlafen“ (I12/21 .05.2013). Nur dieAnbringung von wühlsicheren Mülleimernwirkt sich aus, da das Sammeln von Pfandfla-schen, die eine potentielle Einnahmequelledarstellen, erschwert wird: „Finanziell auf je-den Fall mit den Mülleimern“ (I14/22.05.2013). Die Kommodifizierungsdimen-sionen Recht und Personal werden von denBefragten verstärkt wahrgenommen, jedochunterschiedlich bewertet. Während sich einigeder Befragten über Hausordnungen und diePräsenz von Polizei und v. a. privaten Sicher-heitsdiensten ärgern – „Jetzt haben sie was zusagen, jetzt ist es unangenehmer“ (I3/03.05.2013) –, empfinden andere diese als zu-sätzlichen Schutz. „Innenstadt weiß ich, fährtalle halbe Stunde die Streife vorbei“ (I7/14.04.2013). Die befragten Obdachlosen kriti-sieren zwar die Kommodifizierung des öffent-lichen Raumes, die konkreten Auswirkungenauf ihre Alltagswirklichkeit, mit Ausnahmeder modifizierten Mülleimer, sind jedoch ge-ring. Einige der Befragten zeigen jedoch auchVerständnis für das Vorgehen der Stadt. Das„haben sich die Leergutsammler aber selberzuzuschreiben. […] Weil die nämlich dannrein greifen und Müll, der da drin ist, einfachrausschmeißen, um an irgendwas da unten ran

    zu kommen und hinterher den Müll, den sieraus geschmissen haben, nicht wieder reintun. […] das haben wir uns selber versautWären wir ordentlich (betont) hätte die Stadtkeine Veranlassung“ (I9/16.05.2013).Dass es zu Interessenskonflikten zwischen

    Obdachlosen und Vertretern der Mehrheitsgesellschaft kommt, ist durch subjektiv unterschiedliche Raumkonstruktionen zu erklärenDie Vertreter öffentlicher und ökonomischerInteressen streben einen möglichst auf Konsum ausgerichteten und attraktiven Innenstadt- oder Geschäftsraum an, der durch diePräsenz von Obdachlosen, die in der Konstruktion des mentalen Raumes nicht vorkommen, sich dort jedoch aufhalten, gestört wirdDiese Gruppen sind ebenfalls Teil der Innenstadt und verändern durch Überlagerung vonsubjektiven Raumkonstruktionen den Secondspace in einen Thirdspace. Das Einsetzen vonSicherheitspersonal, die Einführung von Hausordnungen und die Installation von Verdrängungsmöblierung kann als Strategie derMachtvollen verstanden werden, den Thirdspace wieder in den Secondspace zu überführen. Gegenüber Sicherheitsdiensten sind Obdachlose machtlos und entwickeln keine Taktiken. Im öffentlichen Raum, speziell in Bezugauf die für sie relevanten Abfallbehälter alsTeil der Verdrängungsmöblierung, um den innerstädtischen Raum für Obdachlose unattraktiv zu machen, entwickeln sie Bewältigungspraktiken. Die Befragten bauen gezieltauf Unterstützung aus der Bevölkerung, diemittels Aktionen auf die Problematik aufmerksam gemacht und gebeten wurde, dasLeergut neben die Abfallbehälter zu stellen„[D]a haben einige so ein Logo gedrucktPfandflaschen bitte nicht in die Mülleimerschmeißen“ (I4/07.05.2013). Dies ermöglichtes den Obdachlosen nun, trotz installierterVerdrängungsmöblierung Pfandflaschen alsEinnahmequelle zu nutzen.

    6.2 Schlafplätze im öffentl ichen Raum

    Den Stellenwert des Schlafplatzes in der Alltagswirklichkeit Obdachloser hebt alleine dieTatsache hervor, dass Obdachlosigkeit durchdie Übernachtung im Freien gekennzeichnetist. Das wichtigste Kriterium für die Wahl desSchlafplatzes, der Platte, ist, dass sie witterungsgeschützt ist. Ob der Schlafplatz versteckt oder in der Innenstadt gewählt wirdhängt vor allem von persönlichen Vorlieben

    17entgrenzt 10/2015 | Daniela Boß

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    ab. Ein Großteil der Befragten, die eine Plattein der Innenstadt innehaben und damit vor-wiegend in Geschäftseingängen nächtigen,pflegt eine Art Symbiose mit den Ladenbesit-zern. Viele Geschäftsinhaber scheinen es – alsErgebnis stadtinterner Aushandlungsprozesseunter verschiedenen Akteuren – zu tolerieren,dass Obdachlose ihre Platte in ihren Ladenein-gängen aufschlagen, sofern diese erst nach La-denschluss bezogen und vor Ladenöffnung ge-räumt und sauber hinterlassen wird. „Damusst du nur, wenn die morgens ihre Hütteaufmachen, dann musst du da auch weggehenoder bereits weg sein und abends warten, bisdie eben zumachen. Und auf Sauberkeit ach-ten! Da nicht in die Ecken pinkeln oder ir-gendwelche weiß ich nicht Veranstaltungen,Feuerchen machen oder ähnliche Sachen. Dasgeht nicht. Aber wenn du dich vernünftig be-nimmst, dann sind auch sie dir gegenüber sehrvernünftig“ (I5/08.05.2013). Geschieht diesnicht, kommt es zu Konflikten und oftmals zurInstallation von Rolltoren, die Geschäftsein-gänge völlig als potentiellen Schlafplatz aus-schließen. Die hohe Toleranz führen Obdach-lose auf ihr eigenes, positives Verhalten zu-rück. Jedoch machen sie auch deutlich, dassdas negative Verhalten eines Einzelnen negati-ve Folgen für die ganze Szene an diesem Orthaben kann. „So und wenn da dann neSchnapsleiche liegt, wo denn was weiß ichnoch daneben gepinkelt ist […] [D]as meinich mit 'wir versauen uns das selber'. (. . ) Undwenn einer (betont) mit auf der Platte ist, derscheiße ist, der versaut das allen (betont)“(I9/16.05.2013). An dieser Stelle werden auchDifferenzen innerhalb der Gruppe deutlich, diean dieser Stelle jedoch nicht thematisiert wer-den. Allerdings muss erwähnt werden, dassLadenbesitzer durchaus von der nächtlichenAnwesenheit Obdachloser profitieren können,da diese eine Art Diebstahlsicherung darstel-len und mögliche Einbrüche verhindern. Ins-gesamt fühlen sich die Befragten aus der In-nenstadt nicht verdrängt. Sofern sie sich andie Abmachungen mit den Geschäftsinhabernhalten, wird ihre Anwesenheit akzeptiert undtoleriert.Auch hier kommt es wieder zur Überlage-

    rung subjektiver Raumkonstruktionen. Ge-schäftsinhaber, die ihre Ladeneingänge fürmögliche Kunden attraktiv gestalten wollen,repräsentieren den Secondspace. Der Third-space verändert dies, denn für Obdachlosesind die Geschäftseingänge attraktive Schlaf-

    möglichkeiten. Durch den Einsatz von Rolltoren und damit einer Nutzungseinschränkungder Ladeneingänge gelingt es den Ladeninhabern, den Secondspace aufrecht zu erhaltenAllerdings geben die meisten Befragten andass sich die Geschäftsinhaber mit dem gelebten Raum arrangieren können, solange es inden für sie relevanten Zeiträumen zu keinerÜberlagerung der Raumkonstruktionenkommt. Auch hier wenden Obdachlose eineTaktik als Bewältigungspraktik an. Mittels Impression-Management, was in diesem Fall mitdem Anpassen an gesellschaftliche Normenwie das Einhalten von Absprachen einhergehtist ein Großteil der Befragten bestrebt, einenpositiven Eindruck zu hinterlassen und sichvon den Klischees „des Obdachlosen“ abzuheben. Durch Anpassung erhoffen sich obdachlose Personen eine positive Reaktion auf ihrVerhalten, mit der Absicht, davon auch in Zukunft profitieren zu können. Sie sind bestrebteine langfristige, positive Reputation zu erlangen und Repressionen zu verhindern, indemsie sich als vertrauenswürdig und als positivesBeispiel innerhalb einer Obdachlosenszenezeigen.

    6.3 Umgang mit Verdrängungsprozessen

    Den Befragten ist durchaus bewusst, dass Verdrängung dadurch zustande kommt, dass sievon vielen als nicht zur Mehrheitsgesellschaftzugehörig angesehen werden, dass „man nichtmehr in die Gesellschaft integriert ist. Man istin so einer parallelen Subgesellschaft“ (I14/22.05.2013). Ferner ist ihnen auch bewusstdass sie oftmals in Verbindung mit den Klischees des Obdachlosen wahrgenommen werden. „[W] ir sind Penner. Wir sind AbschaumWir sind asozial, wir gehören entfernt“(I9/16.05.2013). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die befragten Obdachlosen angeben, dass Verdrängung immer dann stattfindet, wenn sie sich durch ihr Erscheinungsbildoder ihr Verhalten deutlich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden oder vorherrschende Klischees bedienen. „Diese konsumgesteuerte Gesellschaft, wenn man sich genauso bewegt, hat man eine Rückzugsmöglichkeitweil man dann nicht mehr unter dieser Beobachtung steht. […] Sagen wir mal so, wennich meinen Schlafsack […] und noch die Isomatte dran klemmen hab und vielleicht auchnoch entsprechend rum lauf, dann bin ich immer unter Beobachtung“ (I2/03.05.2013). Ei

    18 entgrenzt 10/2015Geographien der Verdrängung in den Obdachlosenszenen |

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    ne Befragte gibt an, dass der deutlichste Zu-stand, an dem die eigene Obdachlosigkeit füralle sichtbar wird, das Übernachten im öffent-lichen Raum ist, da die soziale Situation dortnicht verborgen werden kann. Dies deckt sichmit den Aufzeichnungen im Feldtagebuch.„Auch in anderen Geschäftseingängen lassensich Obdachlose nieder. Und erst da werdenviele von ihnen als solche sichtbar. Aufgrundihres äußeren Erscheinungsbildes und ohneGepäck hätten sie genausogut der Mehrheits-gesellschaft angehören können“ (Feldtagebuch27.05.2013). Verhalten und Erscheinungsbildentscheiden darüber, wie schnell die klischee-behaftete Identität Obdachloser einer Personzugeschrieben wird und die entsprechenden(ablehnenden) Reaktionen erfolgen. „[E] sspielt eine große Rolle, wie du dich in der Ge-sellschaft, in Anführungsstrichen, wie du dichda bewegst. Wenn du nicht wie so ein totalvergammelter Typ rumläufst, dann fällst duauch erstmal schon gar nicht so auf“(I5/08.05.2013). Um diese Art von Verdrän-gung, die sie durch ihr eigenes Verhalten undihr Äußeres zum Teil beeinflussen können, zuumgehen, versuchen die befragten Obdachlo-sen, sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassenoder, wenn möglich, Konformität zu errei-chen. Dies ermöglicht es ihnen, sich in derStadt frei zu bewegen und nicht verdrängt,diskriminiert und/oder stigmatisiert zu wer-den. „Kleider machen Leute und du fällst da-mit nicht auf tagsüber, außer man hat haltden Rucksack, dann wird man zwar ange-guckt, aber (lachend) ich geh locker auch alsTourist durch. Also das ist/ man muss ebenhalt seine Sachen ordentlich halten und wennman sauber rumläuft und nicht wie der letzteDreck. […] Wenn man nicht gerade mit nerBierflasche tagsüber rumläuft, (lachend) danngeht’s auch“ (I2/03.05.2013).Verdrängung findet also immer dann statt,

    wenn das Verhalten oder das Erscheinungsbildnicht dem Werte- und Normsystem der Mehr-heitsgesellschaft entspricht. Die Identitätszu-schreibung Obdachloser durch die Mehrheits-gesellschaft geht oftmals mit einer Stereotypi-sierung einher, so dass den Personen weitereEigenschaften wie Suchterkrankung oder kri-minelles Verhalten zugeschrieben werden, diewiederum eine Verdrängung aus dem öffentli-chen Raum gesellschaftlich legitimieren. Eineobdachlose Person muss also versuchen, denStereotypisierungsprozess mittels Bewälti-gungspraktiken von vornherein zu verhindern.

    Durch einen ordentlichen Kleidungsstil undeine angemessene Körperhygiene sowie normkonformes Verhalten gelingt dies weitgehendZur Umsetzung sind Obdachlose auf Kleiderkammern sowie Waschmaschinen und Duschen in niederschwelligen Einrichtungen angewiesen. Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen und Obdachlosenszenen, diesich als gruppeninterne Verdrängungsprozesseabzeichnen, erschweren oder verhindern denZugang zu dieser spezifischen und wichtigenInfrastruktur jedoch. Mit der Folge, dass einige Obdachlose ihre Taktik der Anpassung andas Werte- und Normsystem der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr praktizieren können, ihresoziale Situation sichtbar wird und sie im öffentlichen Raum mit mehr Repressionen konfrontiert werden.

    7 Fazit

    Im öffentlichen und semi-öffentlichen Raumfindet Verdrängung v.   a. durch die Durchsetzung des Hausrechts sowie die Installation vonVerdrängungsmöblierung statt. Dies nehmendie befragten Obdachlosen aber nicht unbedingt als reale Verdrängung wahr, ein Teil befürwortet dieses Vorgehen sogar. Als für sierelevant stellt sich ein Teil der Verdrängungsmöblierung dar, weil er Auswirkung auf ihrefinanzielle Situation hat. Während die Durchsetzung des Hausrechts in Ladeneingängen alsnegative Auswirkung auf die Alltagswirklichkeit beschrieben wird, weil Platten verlorengehen und damit relevante Aspekte des Tagesablaufes negativ beeinträchtigt werden, äußern sie für das repressive Vorgehen in Einkaufscentern und Bahnhof sogar Verständnisbzw. begrüßen die Vorgehensweise, da dadurch neue Sicherheitsräume entstehen. Dieskann sich bei entsprechender Anpassung andie gesellschaftlichen Normen positiv auf dieGestaltung der Alltagswirklichkeiten auswirken. Um Verdrängungsmechanismen im öffentlichen und semi-öffentlichen Raum zu umgehen, entwickeln die hier befragten Obdachlosen Bewältigungspraktiken, leisten jedochkeinen offensichtlichen und aktiven Widerstand dagegen. Zum einen sichern sie sich Unterstützung aus der Bevölkerung, zum anderenversuchen sie ihr Verhalten und ihr persönliches Erscheinungsbild den Mitgliedern derMehrheitsgesellschaft anzupassen, um nichtoder nur in geringerem Maße stereotypisiertzu werden. Denn ist die Obdach- und Woh

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  • nungslosigkeit nicht erkennbar, werden sie imöffentlichen und semi-öffentlichen Raum mitdeutlich weniger Repressionen konfrontiert.

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    Foto(Geo)graphie „Greetings from Detroit“

    | Foto(Geo)graphie

    Leere Schulbibliothek der 2012 geschlossenen Jackson School in Jefferson Chal-mers. Detroit 20145

    St. Agnes Kirche in Virgina Park. Detroit 20144

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    Michael Neckermann

    Chal lenging Geopol itics on the Ground:Der Widerstand der palästinensischen Bevölkerungim Gebiet H2 der Stadt Hebron/Al-Khal i l

    Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensernist zunehmend internationalisiert und wird aufglobaler Ebene immer relevanter. Jedoch spieltaber die lokale Ebene eine entscheidende Rolle beider Generierung der jeweiligen geopolitischenLeitbilder sowie bei der politischen Mobilisierungfür die unterschiedlichen nationalen Projekte. An-hand der Stadt Hebron/Al-Khalil, wo israelischeSiedler in direkter Nachbarschaft zu den palästi-nensischen Bewohnern leben, soll aufgezeigt wer-den, wie genau alltägliche Erlebnisse und Erfah-rungen der Palästinenser zum palästinensischenLeitbild und der politischen Mobilisierung beitra-gen. Dabei zeigt sich, dass die weitverbreitetenWiderstandsformen, die sich mit Medienarbeitauseinandersetzen, von Bedeutung sind, weil so-mit gezielt internationale Besucher angesprochenund über die politische Lage informiert werden.

    1 Einleitung

    Der Israel-Palästina Konflikt bleibt aktuell undes kommt immer wieder zu Eskalationen.Gleichzeitig zeichnet sich der Konflikt durchvielseitige Wechselbeziehungen zwischen lo-kalen, regionalen und globalen Politiken aus,weshalb er auch weiterhin für geopolitischeStudien von höchstem Interesse ist. Dabei ha-ben sich innerhalb der kritischen Geopolitikverschiedene Richtungen mit dem Israel-Paläs-tina Konflikt befasst, jedoch lagen dabei häu-fig israelische Narrationen und Praktiken imForschungsfokus. Dies führte zu einer eindi-mensionalen Beschreibung des komplexenVerhältnisses zwischen der palästinensischenGesellschaft und der Okkupation. In den For-schungsfokus müssen somit auch die verschie-denen Formen des palästinensischen Wider-stands rücken; genauso wie die unterschiedli-chen Mittel mit denen Palästinenser Gegenent-würfe zu dem hegemonialen geopolitischenLeitbild Israels entwickeln. Im Rahmen diesesArtikels soll durch das lokale Place Makingder palästinensischen Bewohner Hebron/Al-

    Khalils geklärt werden, wie genau die geopolitische Wissensproduktion der Palästinenseraussieht und welche Rolle Widerstand dabeispielt. Somit handelt es sich um einen anti-essentialistischen Ansatz, der räumliche Identitäten nicht als gegeben, sondern als komplexeKonstruktionen versteht. Zusätzlich soll gewährleistet werden, dass Okkupation und Widerstand nicht die einzigen beschreibendenAspekte der palästinensischen Gesellschaftsind und andere, z.B. aus den Bereichen Kultur, Ökonomie, Soziales und Politik auch berücksichtigt werden.

    2 Neuere Ansätze der kritischen Geopolitik

    Geopolitik ist schon immer ein Begriff, der mitverschiedenen Ideologien und Idealen in Verbindung gebracht wird (Ó Tuathail/Agnew1992: 191 ) und bei dem es um allgemein anerkannte Raumkonzepte geht. Dabei ist eineder zentralen Aufgaben der kritischen Geopolitik, diese Raumkonzepte als Konstrukte zubegreifen und dahinter liegende Machstrukturen offen zu legen. Diese Offenlegung setztaber voraus, dass die Produktion geopolitischen Wissens, die vom Lokalen bis zum Globalen erfolgt, ins Zentrum der Forschung rückt(ebd. 194). Bei der Untersuchung der Wissensproduktion kommen eine Vielzahl theoretischer Zugänge zum Tragen, z.B. „[…] feminism, cultural studies, post-structuralism, andpost-colonial studies […] ” wodurch verschiedene Zugänge möglich sind (Dalby 2008414f.). Neben diesen Theorien gibt es auchForderungen nach einer stärkeren Lokalisierung geopolitischer Studien. Dies führt zu„[…] a more geographical geopolitics that disaggregates rather than homogenizes actorsand, by implication, localizes rather than globalizes analysis and explanation“ (Ó Tuathail2010: 257).Im Bezug zum Israel-Palästina Konflikt

    wurden unterschiedliche kritische-geopoliti

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    sche Studien durchgeführt, die von der Vielfaltder Ansätze profitieren. So untersuchen Gra-ham und Weizman die urbanen Strukturen inden besetzten Gebieten Israels/Palästina undzeigen auf, wie einerseits die Zerstörung pa-lästinensischen, urbanen Raumes durch Narra-tive der Angst und Sicherheit begründet wird(Graham 2004). Andererseits dienen israeli-sche urbane Strukturen in den besetzten Ge-bieten auch zur Kontrolle und Regulierung derdort lebenden Palästinenser (Weizman 2007).Die Arbeiten von Harker zum Thema Familieund Zuhause unterstreichen, dass palästinensi-sche Gesellschaft und Lebenswelt komplexsind und sich nicht allein auf Okkupation undWiderstand reduzieren lassen, sondern dass eshier zu vielfältigen sozialen, kulturellen undemotionalen Verflechtungen kommt (Harker2009; Harker 2011 ). Dennoch ist die Erfor-schung der geopolitischen Wissensproduktionder Palästinenser auf lokaler Ebene unvoll-ständig und es besteht weiterhin Forschungs-bedarf. Hier soll der Artikel ansetzen und aufBasis postkolonialer und feministischer Ansät-ze die geopolitische Wissensproduktion derPalästinenser untersuchen, die sich im PlaceMaking von Hebron/Al-Khalil zeigt. Zudemsoll der Forschungsprozess reflexiv die Rolledes Forschers bei der geopolitischen Wissens-produktion mitberücksichtigen.

    3 Relationales Raum- und Ortsverständnis

    Wie bereits erwähnt, spielt für den hier ge-nutzten kritischen geopolitischen Ansatz dasPlace Making eine zentrale Rolle, welches anDorreen Massey´s Place und Space Konzeptionangelehnt ist. Schon seit längerer Zeit beschäf-tigt sich Dorreen Massey mit relationalenRaumkonzepten (Strüver, 2014: 34), die auchan postkoloniale und feministische AnsätzeAnschluss finden sowie neuere konstruktivisti-sche Strömungen innerhalb der kritischenGeopolitik, die Raum als Konstrukt sehen(Helmig, 2008: 68). Kern ihrer Raumkonzepti-on sind drei Thesen: Raum als Produkt vonWechselbeziehungen und Interaktionen zwi-schen verschiedenen Entitäten, Raum als Be-reich heterogener, koexistenter Vielfalt vonNarrativen und Praktiken sowie Raum alsSphäre, die nicht abgeschlossen ist und sich inständiger (Re)Produktion befindet (Massey,2005: 9). Eine solche Konzeption korrespon-diert mit neueren Überlegungen in der Politik,z.B. anti-essentialistischen Ansätzen, die alle

    Formen von Identität als soziales Konstruktsehen oder Ansätze, die Differenz und Vielfaltbefürworten sowie die Offenheit zukünftigerEntwicklungen betonen (Massey 1999b: 2930). Diese Raumkonzeption schafft die Voraussetzung für ein relationales Ortskonzeptden Place. Die Bedeutungszuschreibung vonPlaces erfolgt im Sozialen (Belina 2013: 108)und sie entsteht aus dem Gefüge verschiedener, in Beziehung stehender Entitäten. Darunter können verschiedenartige Dinge verstanden werden: „The phenomenon in questionmay be a living thing, a scientific attitude, acollectivity, a social convention, a geologicalformation“ (Massey 2005: 12). Die Art der Beziehung zwischen den Entitäten ist dabei geprägt von dem Machtverhältnis zwischenebendiesen und legt dabei deren Hierarchiefest (Massey 1999b: 41 ). Jedoch sind dieseMachtverhältnisse verhandelbar, sodass Veränderungen möglich sind (Massey 2005: 162).Was einen Place spezifisch macht, ist seine

    räumlich-temporäre throwntogetherness, dieResultat der unterschiedlichen Verbindungenvon Entitäten ist und wodurch ein bestimmteshier und jetzt erzeugt wird (Anderson 2008232). Places sind zeitlich und räumlich wandelbar und sie sind gegenüber anderen Placesnicht abgeschlossen. Ihre politische Relevanzist dabei eng verknüpft mit der jeweiligen sozialen Gruppierung, die die throwntogetherness des Place konstituieren, sprich am PlaceMaking beteiligt sind. „Erst die von mehr oderweniger großen Gruppen mehr oder wenigerbis ins Detail geteilten Bedeutungen, die physisch-materiellen Orten zugeschrieben werden[…] , machen Places gesellschaftlich relevant“(Belina 2013: 109). Places können sich überlagern und um denselben physischen Ort konkurrieren, was zu Aushandlungsprozessenbzw. Konflikten zwischen differierenden sozialen Gruppen führt. Dabei nutzen die jeweiligen sozialen Gruppen die Bedeutungszuweisungen der Places, bzw. das Place Makingauch im Sinne der politischen Mobilisierung(Belina 2013: 114). Dies gilt gerade in Bezugzu marginalisierten Gruppen, da diese häufigzu solchen Place-bezogenen Formen der politischen Mobilisierung greifen, wenn es umWiderstand geht (Belina 2013: 113).In Hebron/Al-Khalil wird von Seiten der

    palästinensischen Bewohner eine Place-bezogene politische Mobilisierung vorgenommendie zu den alltäglichen Erfahrungen vor Ortanschlussfähig ist (Belina 2013: 114). Diese

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    alltäglichen Erfahrungen von Okkupation undWiderstand sind wichtige Bestandteile derKonzeption des Places Hebron/Al-Khalil, aberauch des geopolitischen Wissens und Leitbil-des der palästinensischen Unterdrückung.Geopolitische Leitbilder und das dazugehörigegeopolitische Wissen können relational ge-dacht als größere konstruierte Konzepte ver-standen werden, die ein bestimmtes Machtge-füge konstituieren und sich in ständiger(Re)Produktion befinden (Massey 1999a: 9).Mithilfe der lokalen politischen Mobilisierungwird das geopolitische Leitbild (re)produziertund ist somit wichtiger Bestandteil der Wis-sensproduktion. Insofern bietet sich durch dasKonzept des Place die Möglichkeit, die geopo-litische Wissensproduktion der Palästinenserauf lokaler Ebene zu betrachten. Allerdings istes notwendig reflexiv die Positionierung desForschenden zu betrachten, da es unmöglichist nicht Teil der lokalen Aushandlungsprozes-se zu werden (Massey 2008: 496). Der For-scher selbst nimmt Teil am Place Making.

    4 Methodik und Empirie

    Im Rahmen eines dreimonatigen Aufenthaltesim Jahr 2013 in Hebron/Al-Khalil wurdenqualitative Interviews durchgeführt, wobeiproblemzentrierte Interviews (PCI) und Exper-teninterviews zum Einsatz kamen. Der PCI-Ansatz gehört zu den halb-strukturierten In-terviewformen (Mayring 2002: 67) und zeich-net sich dadurch aus, dass das Interview aufdie Beantwortung einer spezifischen For-schungsfrage ausgelegt ist (Witzel/Reiter2012: 4). Neben dieser Problemzentrierungsind PCIs noch objekt- und prozessorientiert(Mayring 2002: 68). Kernüberlegung hinterdem PCI-Ansatz ist das Verständnis, dass For-scher und Befragter in einem dialogischenProzess sind, in dem das praktische Wissen desBefragten und das wissenschaftliche Wissendes Forschenden gemeinsam genutzt werden,um eine für beide Seiten relevante For-schungsfrage zu beantworten (Witzel/Reiter2012: 5). Somit sieht diese Interviewform denForscher als aktiven Teil der Wissensgenerie-rung und erlaubt somit reflexive Rückschlüsseauf seine/ihre Rolle bei diesem Prozess. DieProzess- und Objektorientierung des PCI-An-satzes unterstreicht auch die Notwendigkeit,

    dass Forschungsmethoden immer im Einklangmit den lokalen Gegebenheiten entwickeltwerden müssen, um so den besten Zugangzum Forschungsfeld zu bekommen (Witzel/Reiter 2012: 29). Dies gilt im Besonderenfür alle Forschungsprojekte in den Gebietendes Nahen Ostens, zumal es hier, bedingtdurch die seit Jahren andauernden Konfliktegroße Probleme gibt in Bezug auf VertrauenTransparenz und politischer Positionierungdes Forschenden (Cohen, Arieli 2011 ). Zusätzlich müssen noch kulturelle und sozialeAspekte sowie Sprachbarrieren berücksichtigtwerden. Diese Überlegungen fanden Eingangin den Forschungsprozess und wurden weitestgehend berücksichtigt. Zudem wurdegroßer Wert auf Anonymität gelegt, weshalbauf persönliche Daten verzichtet wurde.Für die Auswertung standen neun Inter

    views mit Bewohnern von Hebron/Al-Khalildie entweder in oder nahe der Zone H21 leben, zur Verfügung. Zudem gab es noch dreiExperteninterviews mit zwei lokal agierendenOrganisationen („Hebron Rehabilitation committee – Legal Unit“ und „Youth Against Settlement“) sowie einem Ladenbesitzer. Die Auswertung erfolgte nach dem System der komparativen Analyse, wobei hier in mehrerenTeilschritten von der Einzelanalyse bis zur interviewübergreifenden Gesamtanalyse vorgegangen wurde. Bei der Analyse der Interviewswurde zudem der Dialogverlauf mitanalysiertum die Rolle des Forschers besser herauszuarbeiten sowie eventuelle Fehler wie Missverständnisse und Suggestivfragen für die Analyse zu entfernen. Die Experteninterviews wurden auf dieselbe Art und Weise analysiert undintegriert, da der PCI-Ansatz als Multimethoden-Ansatz konzipiert ist und es somit zulässigist, sie mit weiteren Methoden zu kombinieren.

    5 Die Stadt Hebron/Al-Khalil in Referenz zumIsrael-Palästina Konflikt

    Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern findet seine historischen Wurzeln in denersten Immigrationswellen osteuropäischerJuden Ende des 19. Jahrhunderts (Achcar2011 : 50). Eine Vielzahl internationaler Verträge wurden im Laufe des folgenden Jahrhunderts verabschiedet (unter anderem die

    24 entgrenzt 10/2015

    1 : H2 ist der Teil der Stadt, der sich unter israelischer Kontrolle befindet. Eine genauere Erläuterung befindet sich imAbschnitt 4.

    Challenging Geopolitics on the Ground |

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    Balfour Deklaration) und unterschiedliche Ak-teure hatten jeweils die Vorherrschaft im his-torischen Palästina. Jedoch konnten in keinemFall die steigenden Spannungen zwischen demjüdischen und arabischen Teil der Bevölke-rung gestoppt werden. Diese gipfelten in derUnabhängigkeitserklärung Israels, der großenVertreibung der Palästinenser 1948 sowie dermilitärischen Besetzung d