Entwicklung (nur) durch Wirtschaftswachstum?

Wohlstand ohne Wachstum?

Akademie Franz Hitze Haus Münster, 14.10.2018

Dr. Georg Stoll, Misereor

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

Entwicklung (nur) durch Wirtschaftswachstum? Wohlstand ohne Wachstum?

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

Entwicklung (nur) durch Wirtschaftswachstum? -> Ist Wirtschaftswachstum eine Bedingung für Entwicklung? - eine notwendige Bedingung? („nur durch Wachstum“) - eine hinreichende Bedingung? Wohlstand ohne Wachstum? -> Ist (Wirtschafts-)Wachstum eine Bedingung für Wohlstand? - eine notwendige Bedingung? (-> kein Wohlstand ohne

Wachstum) - eine hinreichende Bedingung?

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

Entwicklung Wohlstand Wachstum

? ?

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

„Entwicklung“? „Wohlstand“? „Wachstum“?

? ?

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

Gliederung: 1. Was verstehen wir unter Wirtschaftswachstum? 2. Was verstehen wir unter Wohlstand? 3. Was verstehen wir unter Entwicklung? 4. Ist Wirtschaftswachstum eine Bedingung für Wohlstand? 5. Ist Wirtschaftswachstum eine Bedingung für

Entwicklung?

Wachstum, Wohlstand und Entwicklung

Zunächst einige Zitate (sinngemäß) Johannes Hirata (Tagung Franz Hitze Haus): Müssen alle auf dasselbe Wohlfahrtsniveau kommen wie

wir? Teilnehmer (aus Lateinamerika) einer Konferenz in Paris: Wir haben das Recht auf nachholende Entwicklung

verloren. Studenten an der Universität Mumbai: Wollen Sie aus Europa uns sagen, welchen Wohlstand wir

anstreben sollen bzw. dürfen?

1. „Wirtschaftswachstum“

Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) … • in einem bestimmten Land, • in einem bestimmten Zeitraum (i.d.R. ein Jahr), • entweder absolut oder prozentual, • entweder als Gesamtsumme oder pro Kopf (Pro-Kopf-

Einkommen PKE). BIP: Es misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen

(Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden. … Die Veränderungsrate des preisbereinigten BIP dient als Messgröße für das Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaften. (Statistisches Bundesamt)

„Wirtschaftswachstum“

-> Verdoppelung in 54 Jahren

„Wirtschaftswachstum“

-> Verdoppelung in 23 Jahren (bei 3 Prozent Wachs- tum)

„Wirtschaftswachstum“

Die Dynamik von exponentiellem Wachstum

2. „Wohlstand“, „gutes Leben“

Ein Spektrum von Begriffen: • Glück, Zufriedenheit (eher subjektiv, individuell) • Wohlstand (eher materiell) • Wohlfahrt (eher gesamtgesellschaftlich) • „gutes Leben“ (durch Bedürfnisse definiert) • Gerechtigkeit (durch Normen definiert) • Gemeinwohl (umfassender Begriff: das ganzheitliche Wohl

aller Menschen eines Gemeinwesens) Etc.

„Wohlstand“, „gutes Leben“

Inhaltliche Bestimmung von Zielen und Mitteln für Wohlstand und „gutes Leben“ unterscheidet sich … • an verschiedenen Orten, • zu verschiedenen Zeiten, • in verschiedenen Gruppen. -> kollektive Verständigungs- und Aushandlungsprozesse! auch global (Menschenrechte, Sustainable Development Goals etc.) Spannung: Gemeinsamkeit <-> Pluralität

„Wohlstand“, „gutes Leben“

Grunddimensionen: („Grundbedürfnisse“?), • Konsummöglichkeiten, • Gesundheit, • Sicherheit, • Freiheit/Selbstbestimmung, • Soziale Bezüge, • Politische Teilhabe, • Intakte Umwelt.

„Wohlstand“, „gutes Leben“

• Schlechteres Leben? • Anderes Verständnis von „gutem Leben“?

3. „Entwicklung“

Entwicklung -> Wohlstand, „gutes Leben“ Maßstab? -Pro-Kopf-Einkommen? -> „nachholende Entwicklung“ -Human Development Index (HDI)? -> umfassenderes Entwicklungsverständnis (PKE, Bildung, Lebenserwartung) -Einbeziehung von Verteilung und Ungleichheit? -> inklusives Entwicklungsverständnis, Machtkritik -Einbeziehung von Umweltschutz? -> „nachhaltige Entwicklung“

„Entwicklung“

Kritik am Entwicklungsbegriff: (Misereor-Weltgemeinwohl-Projekt 2012-15) Der Begriff ist ideologiebehaftet (Modernität, Marktfunda-mentalismus, Nationenbildung etc.) und verschleiert Machtinteressen (Rohstoffausbeutung, Absatzmärkte ...); - Der Begriff ist nicht zu trennen von einem auf Ausbeutung und Dominanz beruhenden Wirtschaftsmodell; - Der Begriff kann nicht von seiner eurozentrischen Entstehungsgeschichte abgelöst werden und ist kulturell nicht übertragbar (vgl. Buen Vivir); - Erfahrung: „Entwicklung“ zerstört Beziehungen; - Nicht „Entwicklung“ sollte das Ziel sein, sondern Trans-formation als Überwindung des dominanten Wirtschafts-modells in Richtung umfassender Gemeinwohlorientierung.

„Entwicklung“

Zentrales Anliegen von Entwicklung: Beseitigung von Armut Q: http://www.worldbank.org/en/news/press-release/2018/09/19/decline-of-global-extreme-poverty-continues-but-has-slowed-world-bank

Poverty at the International Poverty Line of $1.90/day (in 2011 PPP)

Region Headcount ratio (%) No. poor (millions)

2013 2015 2013 2015

East Asia and Pacific 3.6 2.3 73.1 47.2

Europe and Central Asia 1.6 1.5 7.7 7.1

Latin America and the Caribbean 4.6 4.1 28.0 25.9

Middle East and North Africa 2.6 5.0 9.5 18.6

South Asia 16.2 12.4 274.5 216.4

Sub-Saharan Africa 42.5 41.1 405.1 413.3

World Total 11.2 10.0 804.2 735.9

„Entwicklung“

Q: https://blogs.worldbank.org/opendata/number-extremely-poor-people-continues-rise-sub-saharan-africa

4. Wachstum und Wohlstand

1. Wirtschaftswachstum kann eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für Wohlstand sein in Ländern, deren Pro-Kopf-Einkommen nicht weit von der Armutsgrenze entfernt ist.

Erst eine Steigerung des PKE (= Wirtschaftswachstum) kann in diesen Fällen die nötigen Verteilungsspielräume für die Beseitigung extremer Armut schaffen.

(Bei Nichtberücksichtigung externer Transfers) (365 x 1,9 internationaler $ PPP = ca. 700 $ pro Jahr)

Wachstum und Wohlstand

GDP per capita LIC 1990 -2017 (PPP, constant 2011 international $) 1450 -> 1900 (https://data.worldbank.org/indicator/)

Wachstum und Wohlstand

2. Während das PKE auch im internationalen Vergleich bis zu einer bestimmten Schwelle signifikant mit Wohlstands-indikatoren korreliert, lässt sich für Länder mit hohem PKE eine andere Korrelation beobachten: Hier verlaufen Wohlstandsindikatoren umgekehrt proportional zur Ungleichheit der Einkommensverteilung.

Nimmt man hinzu, dass im Zuge des Wachstums des PKE

meistens auch die Ungleichheit der primären Einkommens-verteilung zunimmt, können sich aus Wirtschaftswachstum Gefährdungen des Wohlstands ergeben.

Wachstum und Wohlstand

Entkopplung von Wohlstand und Wachstum mit Zunahme des PKE

Q: Wilkinson/Pickett, aus: T. Jackson, Wohlstand ohne Wachstum

Wachstum und Wohlstand

Entkopplung von Wohlstand und Wachstum mit Zunahme des PKE

Q: Wilkinson/Pickett, aus: T. Jackson, Wohlstand ohne Wachstum

Wachstum und Wohlstand

Einkommens- höhe

Wachstum und Wohlstand

Einkommens- verteilung

Wachstum und Wohlstand

3. Wirtschaftswachstum geht mit zunehmendem Verbrauch natürlicher Ressourcen und Deponiekapazitäten (z.B. für CO2) und damit steigenden Umweltbelastungen einher.

Diese Belastungen haben in manchen Bereichen

Dimensionen erreicht, die sowohl lokal als auch global den Wohlstand von Menschen heute und zukünftiger Generationen einschränken oder bedrohen.

Wachstum und Wohlstand

„Planetary Boundaries“

Q: Stockholm Resilience Centre; Illustration: Steffen e.a. 2015 (https://www.stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries/planetary-boundaries/about-the-research.html)

Wachstum und Wohlstand

Trotz aller Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz beim Ressourceneinsatz und der Verwendung nachwachsender Rohstoffe (Konsistenz) konnte der Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch bis heute nur relativ entkoppelt werden.

Notwendig für einen Rückgang der schädlichen Umwelt-belastungen wäre aber eine absolute Entkopplung. Eine Politik hinreichender Reduzierung von Umweltbelastungen muss deshalb im Interesse der Wahrung der Wohlstands-voraussetzungen bereit und in der Lage sein, Begrenzungen in materiellen Konsummöglichkeiten (Suffizienz) und damit Wachstumsrückgänge und auch (zumindest sektoriell) Schrumpfungen in Kauf zu nehmen und politisch zu gestalten.

Wachstum und Wohlstand

Ressourcenverbrauch, Bevölkerung, BIP:

Wachstum und Wohlstand

Rebound: Ressourceneffizienz wird nicht zur Reduzierung von Umweltbelastungen genutzt, sondern zur Ausweitung von Konsum.

Wachstum und Wohlstand

Begrenzung des Klimawandels durch Entkopplung?

Q: T. Jackson, Wohlstand ohne Wachstum

5. Wachstum und Entwicklung

Was folgt für Wachstum und Entwicklung? • „Nachholende Entwicklung“ ist aus ökologischen Gründen

global nicht möglich. Sie ist aber auch zum Erreichen sozialer Wohlstandsziele nicht notwendig.

• Arme Länder können auf Wachstum angewiesen sein, um allen dort lebenden Menschen auch nur die Mindest-chancen auf Wohlstand gewährleisten zu können.

• Die anderen Länder müssen - auch unter Inkaufnahme von Wachstumseinbußen und Schrumpfungen - Pfade einer nachhaltigen Entwicklung beschreiten, wenn global und auch in Zukunft die Mindestvoraussetzungen für Wohlstand für alle Menschen gegeben sein sollen.

Wachstum und Entwicklung

Entwicklungsstrategien für LIC, MIC, HIC

Q: M. Munasinghe (2010). Addressing Sustainable Development and Climate Change Together Using Sustainomics.

Wachstum und Entwicklung

Unsere Hausaufgaben für eine global nachhaltige Entwicklung:

Umbau der eigenen ökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Strukturen im Sinn einer Postwachstumsgesellschaft;

Kooperation beim Auf-/Umbau eines internationalen Ordnungsrahmens zum Schutz globaler Gemeingüter;

Unterstützung von Niedrig- und Mitteleinkommensländern bei ökologisch nachhaltigen Entwicklungspfaden zur wirksamen Armutsbekämpfung;

kritische Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Tradition der Moderne.

Wachstum und Entwicklung

Die Aufgabe: „gutes Leben“ für alle – innerhalb der Grenzen ökologischer Nachhaltigkeit Das Beispiel: Hoher Human Development Indicator (HDI) bei niedrigem ökologischem Fußabdruck?

Q: Global Footprint Network (https://www.footprintnetwork.org/our-work/sustainable-development/)

Wachstum und Entwicklung

„We all look for little more in life!“ (Werbung in der „Times of India“ für Investment-Fund)