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Marxistische Lesehefte 2 Erich Hahn Ideologie Ekkehard Lieberam Parlamente und Parteien Berlin 1998

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Marxistische Lesehefte 2

Erich Hahn

Ideologie

Ekkehard Lieberam

Parlamente und Parteien

Berlin 1998

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Marxistische LesehefteHeft 2

ISBN 3-932725-40-9

Redaktion: Uwe-Jens Heuer, Harry Nick, Kurt Pätzold, Arnold SchölzelSatz: Kurt Pätzold, Hans-Joachim SiegelHerstellung: GNN Verlag Sachsen/Berlin GmbH

Badeweg 1, 04435 SchkeuditzTel.: (03 42 04) 6 57 11 FAX: (03 42 04) 6 58 93

Preis: 00,00 DM

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Inhalt

Vorwort des Redaktionskollegiums 6

Ideologie 9(eingeleitet und ausgewählt von Erich Hahn)

I. Einführung 9

II. Texte 131. Karl Marx über gesellschaftliche Grundlagen der Ideologie (1859) 132. Karl Marx/Friedrich Engels zur Entstehung ideologischer Vorstellungen

(1845/46) 133. Karl Marx über die „verkehrte“ Art und Weise, in der die Verhältnisse der

Warenproduktion sich im Bewußtsein der Warenproduzenten widerspiegeln(1867) 16

4. Karl Marx über die „Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft inArbeitslohn“ als Beispiel für die Verschleierung wesentlicher, grundlegen-der Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft durch deren Oberfläche(1867) 18

5. Friedrich Engels über die relative Selbständigkeit der Ideologien (1890) 206. Friedrich Engels zur Entstehung und Wirksamkeit ideologischer

Vorstellungen (1893) 227. Wladimir I. Lenin über die Vereinigung von wissenschaftlichem

Sozialismus und Arbeiterbewegung (1899) 248. Wladimir I. Lenin über die Quelle des politischen Bewußtseins (1901/02) 259. Wladimir I. Lenin über den wissenschaftlichen Sozialismus als Ideologie

(1902) 2510. Nikolai J. Bucharin zum Begriff „Ideologie“ (1922) 2511. Antonio Gramsci über unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs

„Ideologie“ 2612. Max Horkheimer über Ideologie, absoluten Geist, Wahrheit (1951) 2613. Theodor W. Adorno über die Dialektik der Ideologie (1954) 2714. Ernst Bloch über Ideologie, Apologie, Betrug, Ideal, Symbol, Utopie,

Kultur. (1954/55) 2815. Georg Lukács über Ideologien als „Vehikel zum Ausfechten gesellschaft-

licher Konflikte“ (1964/68) 29

III.Literaturverzeichnis 30

Inhal t sv erze ichnis 3

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Parlamente und Parteien 32(eingeleitet und ausgewählt von Ekkehard Lieberam)

I. Einführung 32

II. Texte 381. Karl Marx über die repräsentative Verfassung als Fortschritt (1843) 382. Wilhelm Wolff zum Konflikt zwischen Bürgertum und Monarchie (1847 383. Karl Marx über Parteien, Klassen und Herrschaft im März 1850.

Allgemeines Stimmrecht und Bourgeoisieherrschaft (1850) 384. Karl Marx über die parlamentarische Republik als Despotie einer Klasse,

als Umwälzungsform und als Form der Herrschaft der Gesamtbourgeoisie.Einbildungen und wirkliche Interessen der Parteien (1851/52) 40

5. Karl Marx zur Kommune: nicht eine parlamentarische, sondern einearbeitende Körperschaft (1871) 41

6. Karl Marx für Arbeiter in die Parlamente (1871) 427. Karl Marx/Friedrich Engels zu entschiedener Opposition (1881) 428. Friedrich Engels über den parlamentarischen Kretinismus (1884) 429. Friedrich Engels für die Beachtung gegenwärtiger Bedürfnisse der Arbeiter

(1884) 4310. Friedrich Engels über Parteien als Kartelle zur Ausbeutung der Staats-

macht (1891) 4311. Friedrich Engels über Spießbürger in der Reichstagsfraktion (1892) 4412. Friedrich Engels über das Schaukelspiel der die Bourgeoisieherrschaft

verewigenden Parteien (1892) 4413. Friedrich Engels über die Bedeutung des Stimmenzuwachses (1893) 4514. Karl Kautsky über Erfahrungen des Parlamentarismus in England. Das

Parlament als Werkzeug der Diktatur des Proletariats (1893) 4515. Friedrich Engels über Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimmrecht.

Reichstag als Tribüne (1895) 4616. Eduard Bernstein über tatsächliche Teilhaberschaft als Ergebnis des

Wahlrechts (1899) 4717. Rosa Luxemburg über Parlament und Regierung: Organ der Klassen-

kämpfe bzw. Organ mit innerer Homogenität (1902) 4718. Rosa Luxemburg über den Rückgang der Bedeutung des Parlamentarismus

aufgrund sozialer Entwicklung (1904) 4819. Rosa Luxemburg über Parlamentarismus als Nährboden des Oppor-

tunismus (1904) 4820. August Bebel über scharfe Opposition als Hauptmethode parlamenta-

rischer Arbeit (1908/1910) 4921. Karl Kautsky über Ausnutzung der Differenzen zwischen den bürgerlichen

Parteien. Ablehnung einer Koalitionsregierung (1909) 50

Inhal t sverze ichnis4

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22. Rosa Luxemburg über die Ohnmacht der rein parlamentarischen Aktion(1912) 50

23. Wladimir I. Lenin über die Suche der reaktionären Parteien nach Rückhaltin den Massen (1913) 51

24. Rosa Luxemburg über außerparlamentarische Aktionen undParlamentarismus (1913) 51

25. Wladimir I. Lenin über die Unvermeidlichkeit der „bürgerlichenArbeiterpartei“ (1916) 52

26. Wladimir I. Lenin über die Republik als beste politische Hülle des Kapita-lismus. Vertretungsköperschaften, aber keinen Parlamentarismus (1917) 52

27. Rosa Luxemburg über das Parlament und die Erfahrungen der bürgerli-chen Revolutionen. Bürgerlicher Parlamentarismus und Klassenherrschafthaben ihr Daseinsrecht verwirkt (1918) 53

28. Karl Kautsky über die Nationalversammlung und A- und S-Räte (1919) 5429. Wolfgang Abendroth über den Funktionsverlust der Parlamente im Gesetz-

gebungsprozeß (1959) 5530. Wolfgang Abendroth über Konsequenzen der Entwicklung des Parteien-

kampfes als Auswahl von Führungskadern (1962) 5531. Reinhard Opitz über Monopolmacht, antimonopolistische Strategie und

Parlamente (1969) 5632. Wolfgang Abendroth über Ursachen oppositioneller Strömungen in der

Sozialdemokratie (1977) 5733. Ernest Mandel gegen Reduzierung des Klassenkampfes auf seinen

politisch-parlamentarischen Aspekt (1978) 57

III.Literaturverzeichnis 58

Inhal t sv erze ichnis 5

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Vorwort des Redaktionskollegiums

Im Aufruf „In großer Sorge“ hatten dessen Unterzeichner 1995 vor der Gefahreiner Richtungsänderung der PDS gewarnt, die dem Anpassungsdruck nachgibt.Die Unterzeichner forderten dagegen, „gemeinsam den Versuch zu unternehmen,vernünftig, also radikal, Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren und dabeifür unsere Strategie das, was wir bei Marx Wichtiges und Richtiges gelernthaben, nicht leichtfertig zugunsten neuer Moden über Bord zu werfen“1. Der Pro-zeß hat sich nicht mit der Schnelligkeit vollzogen, wie viele von uns damalsbefürchteten, aber er geht weiter. Überwiegender Pragmatismus geht mit theore-tischer Bedenkenlosigkeit einher.Eine auf radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse zielende Strategieder PDS bedarf unabdingbar entsprechender Theorie. Statt dessen werden aufunterschiedlichem Niveau Teilaussagen der Modernetheorien mit marxistischenAussagen und tagespolitisch begründeten Forderungen kombiniert. Viele theore-tisch Interessierte innerhalb und außerhalb der PDS finden sich dabei nichtzurecht, sind sich unsicher, was von dem früher Gelernten denn heute noch gilt,ob und inwieweit der Marxismus helfen könne, was denn heute Marxismus sei.Der ständige Druck, „durch den Zusammenbruch des europäischen Sozialismusist der Marxismus, ist Marx widerlegt“, bleibt nicht ohne Wirkung. Manchehaben auch die Sehnsucht nach der Wiederherstellung eines geschlossenenDenksystems (übrigens ist auch die heute verbreitete Ideologie weitgehendgeschlossen, ohne daß diese Geschlossenheit etwas mit theoretischem Anspruchzu tun hat). Links-kritisch denkende Jugendliche suchen vergeblich nach einemZugang zu marxistischer Theorie.Was ist in dieser Situation möglich, was könnte vielleicht das Marxistische Forumleisten? Viele veröffentlichen Arbeiten, auch in unserer Schriftenreihe. Das abergenügt diesen Anforderungen nicht. Eine theoretische Antwort auf unsere heuti-ge Gesamtsituation kann niemand geben. Sieben Jahre nach einem solchenZusammenbruch ist das unmöglich. Erst muß sich der Staub dieses Zusammen-bruchs gelegt haben, müssen die neuen Widersprüche voll sichtbar werden, eheüberhaupt an eine solche Antwort herangegangen werden kann. Abendroth hatteschon 1967 resignierend gesagt: „Wir müssen unsere Situation im wesentlichenmit der Lage vergleichen, in welcher sich am Anfang des 19. Jahrhunderts Fou-rier oder Sismondi und solche Leute befunden haben.“2

Eine Lösung kann auch nicht in dem einfachen Rückgriff auf Karl Marx liegen,was er denn wirklich gesagt habe, wie dies vor Jahrzehnten Ernst Fischer und

Vorwort6

1 Aufruf „In großer Sorge”, 1995, in: Neues Deutschland vom 18. Mai 19952 Wolfgang Abendroth, Gespräche mit Georg Lukàcs, Reinbek 1967, S. 93

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kürzlich Wolfgang Leonhard vornahmen. Hier handelt es sich um eine Reaktionauf die marxistisch-lenininstische Orthodoxie, die gegenwärtiges politischesHandeln unmittelbar aus den Aussagen der „Klassiker“ ableitete, in dem wirk-lich oder scheinbar entgegengesetzte Zitate aufgelesen wurden, das Werk vonMarx und Engels von der anderen Seite her als Steinbruch für Zitatenschlachtenbenutzt wurde.Was also könnte geschehen, um bei der marxistischen Aneignung der Gegenwartzu helfen?Ein Beitrag des Marxistischen Forums soll die gemeinsame Erarbeitung eines„Marxistischen Lesebuchs“ sein. Das kann und darf keine Zusammenstellung„richtiger“, also auch einander nicht widersprechender, Texte sein. Andererseitskönnen wir uns nicht auf die Darstellung der Methode beschränken, was ja hieße,daß es keinerlei Ergebnisse mehr gäbe. Es muß marxistisches Denken in seinerhistorischen Entwicklung und Widersprüchlichkeit erscheinen. Was aber isteigentlich marxistisches Denken?Marxistisches Denken im Gefolge von Marx ist immer eingreifendes materiali-stisch-dialektisches Denken. Wir sagen der Welt nicht, schrieb Marx 1843 anRuge, „Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug, wir wollen dir diewahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, worum sie eigentlichkämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sieauch nicht will.“3 Praxisrelevanz der Theorie ist damit ebenso gemeint, wie dieSicht der Theorie als integrales Moment der Praxis. Der Marxismus enthält damitnotwendig sowohl Aussagen über die Welt, über ihre Alternativen und Möglich-keiten wie normative Aussagen über Ziele. Das Verhältnis von Theorie und Pra-xis, von Theorie und Politik steht im Mittelpunkt seines Interesses. Dem Marxis-mus wohnt damit notwendig die Frage nach dem Adressaten, nach dem Subjektder Veränderung inne. Das war zunächst die Arbeiterbewegung (Marx: „Wie diePhilosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Phi-losophie seine geistigen Waffen.4“, später mehr und mehr die Partei und der vonihr dominierte Staat.Diese Beziehung von Theorie und Subjekt hatte zwiespältige Folgen. Für denErfolg der Verbreitung mußte ein Preis bezahlt werden. Die Theorie wurde denInteressen und dem Verständnis des Subjekts unterworfen. Im Dienste der Über-zeugungskraft einer geschlossenen Weltanschauung (Lenin: „Die Lehre von Marxist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch.“5

wurde der Marxismus immer stärker aus einem Paradigma, das stets an der sich

Vorwort 7

3 Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1978, S. 3454 MEW, Bd. 1, Berlin 1978, S. 3915 Lenin-Werke (LW), Bd. 19, Berlin 1981,S. 3

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verändernden Wirklichkeit zu überprüfen war, zu einem alles erklärendenDogma, unterlag er den Gefahren der Ideologie. Das begann schon mit dem Anti-Dühring, setzte sich in den Schriften von Kautsky (dem Begründer des „Marxis-mus“) fort und erreichte seinen Höhepunkt unter Stalin.Der Ausweg kann nicht sein, den Zusammenhang zwischen Theorie und gesell-schaftlicher Praxis zu zerreißen. Er bleibt die Seele des Marxismus, war auch dieGrundlage seiner wissenschaftlichen Fruchtbarkeit. Der Ausweg kann nur ineiner konsequent historischen Sicht auf die eigene Geschichte und Gegenwartliegen. Der Marxismus ist als theoretische Bewegung stets mit der sich verän-dernden Welt verknüpft, antwortet auf sie, korrigiert seine Antworten. Er ist zukeinem Zeitpunkt ein geschlossenes System, sondern immer nur Antwort, besserein Feld von Antworten auf die Welt. Er steht nicht nur in Auseinandersetzungmit der Welt, sondern stets auch in innerer Auseinandersetzung. Er unterliegtdamit immer auch der Gefahr irriger, unreifer und apologetischer Antworten,bestimmt durch ungenügende Kenntnis, den Druck des Gegners, auch aber deseigenen Dogmatismus.Jedes neue marxistische Nachdenken muß bemüht sein, an die bisherige Ge-samtentwicklung anzuknüpfen, frühere Auseinandersetzungen nicht zu wieder-holen, aber fortzuführen. Ein vereinfachtes, primitives Geschichtsbild hat in vie-len Fällen Kampfwillen und Kampfentschlossenheit gefördert. Es konnte aberauch dazu führen, daß - im Vertrauen auf den ohnehin sicheren Sieg - vor demkonkreten, immer unsicheren, Kampf zurückgewichen wurde. Es war demMarsch in der Kolonne dienlich, nicht aber dem eigenverantwortlichen, selbst-ändigen Kampf. Vor allem aber, und das ist ja heute erschreckende Wirklichkeit,führt die Niederlage dann zum ideellen Zusammenbruch. Der „Sieger derGeschichte“ ist auf Niederlagen nicht vorbereitet, er ordnet sich der neuen„objektiven Gesetzmäßigkeit“ unter.Eine neue Aneignung des marxistischen Erbes könnte durch ein MarxistischesLesebuch unterstützt werden. Es soll auch unsere eigenen Fragen und Zweifelwiderspiegeln, die Diskussion herausfordern. Es enthält klassische Texte vonMarx ebenso wie von Engels, Texte von Kautsky, Bernstein, Luxemburg, Lenin,Trotzki, Stalin, Lukàcs, Gramsci, Thalheimer bis zu Mandel u. a. (keine leben-den Autoren), Texte, die in ihrer Einheit und Widersprüchlichkeit den Reichtumund die Probleme marxistischen Denkens zum Weiterdenken enthalten. Haupt-kriterium der Auswahl ist theoretisches Niveau, Sprachgewalt und historischeWirksamkeit.Es werden zu etwa dreißig Begriffen Texte mit einer kurzen Einführung vorgelegt.Dabei war Textzusammenstellung und Einführung Sache des jeweiligen Autors.Sie erscheinen zunächst als Marxistische Lesehefte mit in der Regel zwei Begrif-fen. Später sollen sie als Buch veröffentlicht werden.

Vorwort8

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Ideologie

Eingeleitet und ausgewählt von Erich Hahn

I. Einführung

1. Unter einer Ideologie kann man eine Gesamtheit geistiger Anschauungen,Ideen, Theorien, Normen, Werte und anderer Elemente verstehen, die

bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln,der Lage, den Interessen und den Zielen bestimmter sozialer Gruppen - vorallem Klassen - oder Strömungen Ausdruck verleihen,auf die Erhaltung oder Veränderung gesellschaftlicher Zustände oder Ordnun-gen gerichtet sind undpraktische Verhaltensweisen oder Aktionen hervorrufen.

(Text 1, Text 10, Text 15).2. Der ideologietheoretische Denkeinsatz von Marx und Engels bestand vor allemdarin, wesentliche Merkmale der bürgerlichen Ideologie aufzudecken, auf dieseWeise allgemeine Einsichten in die Struktur und Dynamik ideologischer Prozes-se zu Tage zu fördern und so entscheidende ideologische Voraussetzungen zurgeschichtlichen Formierung der Arbeiterbewegung zu schaffen.Natürlich stehen diese Leistungen in einem unauflöslichen Zusammenhang mitGrundpositionen der marxistischen Theorie. Sie stellen zugleich eine Fortführungder französischen Aufklärung, der klassischen deutschen Geschichtsphilosophieund der Religionskritik Ludwig Feuerbachs dar.Besonders zwei Einsichten sind zu nennen.Zum einen die detaillierte Herleitung ideologischer Auffassungen aus dem mate-riellen Lebensprozeß der Gesellschaft und der geschichtlichen Praxis. (Text 2)Von ausschlaggebender Bedeutung dafür, daß gesellschaftliche Gruppen sichdurch ein bestimmtes Selbstverständnis, durch ein mehr oder weniger klaresBewußtsein von den Bedingungen und den Perspektiven ihrer Existenz sowiedurch eine spezifische Sicht auf das Ganze der Gesellschaft auszeichnen, ist ihreobjektiv gegebene Stellung in dem jeweiligen System ökonomischer und sozialerVerhältnisse. In starkem Maße vermittelt, d.h. stimuliert, gefiltert oder kanali-siert werden diese Prozesse geistiger Realitätsaneignung durch die mit dieserStellung verbundenen Interessen.Zu berücksichtigen ist natürlich der Zusammenhang zwischen der in diesemSinne determinierenden Rolle materieller Lebensverhältnisse und der geschicht-lichen Praxis. Ideologien formieren sich nicht in einer abstrakten Konfrontationbestimmter Subjekte mit ihren materiellen Lebensbedingungen sondern dadurch,

Einführung 9

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daß ihre Interessen, Bestrebungen und Aktivitäten mit denen anderer in Konfliktgeraten, daß sie gezwungen sind, ihre Absichten und Aktionen gegenüber Geg-nern und Konkurrenten zu rechtfertigen, zu begründen, zu verteidigen unddurchzusetzen. (Text 1).Derartige Selbstverständigungsprozesse bzw. Auseinandersetzungen mit aktuel-len Kontrahenden stehen darüberhinaus in einem zeitlichen Kontext. Stets gehtes darum, geschichtlich Überkommenes praktisch und geistig zu verarbeiten.Auffassungen, die überholte Zustände legitimieren, werden aus dem Weggeräumt. Zugleich ist es unumgänglich, sich der vorhandenen Ideen, Begriffeund nicht zuletzt ihres sprachlichen oder künstlerischen Ausdrucks zu bedienen,sich in den gegebenen geistigen Formen zu artikulieren.Hervorzuheben ist zum anderen die Analyse der Verkehrungen und Verzerrun-gen, denen die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Seins durch das gesell-schaftliche Bewußtsein in bestimmten Prozeßen ideologischer Realitäts-aneignung unterliegt. (Text 3, Text 4).So groß die Rolle von Irrtum, Lüge und Betrug oder anderen subjektiven Fakto-ren bei der Erzeugung und Verbreitung falscher Auffassungen über ökonomische,soziale oder politische Sachverhalte sein kann, entscheidend sind Widersprüchein den objektiven Produktions- und Lebensverhältnissen selbst, sind Erschei-nungen, die wesentliche Zusammenhänge verdecken, entstellen, einseitig oderverzerrt wiedergeben. Von bleibender Bedeutung dafür sind vor allem Marx’ Dar-stellung des Warenfetischismus im ersten sowie seine Enthüllung der „Verwand-lung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in Arbeitslohn“ im siebzehnten Kapi-tel des I.Bandes des „Kapital“. Ergänzt und umkleidet wird dies durch Untersu-chungen zur Rolle der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Erfordernisse desKlassenkampfes, der internen Logik geistiger Prozesse und anderer Faktoren.(Text 5, Text 6).3. Elemente der Marxschen Ideologietheorie und -begrifflichkeit wurden zuBestandteilen des wissenschaftlichen Fundus des zwanzigsten Jahrhunderts.Weitergeführt und kritisch verarbeitet wurden sie u.a. in den Werken von GeorgLukács, Antonio Gramsci und Leo Kofler, in den Debatten der Wissenssoziologie(Karl Mannheim) und der Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W.Ador-no, Walter Benjamin, Herbert Marcuse) sowie durch bestimmte Aspekte der Psy-choanalyse und der Systemtheorie.Lenin und andere Theoretiker der russischen Arbeiterbewegung sahen sich imZusammenhang mit der Oktoberrevolution vor die Aufgabe gestellt, die wechsel-seitigen und widersprüchlichen Verbindungen von Ideologie, Massenbewußtseinund Arbeiterbewegung zu analysieren und praktisch zu gestalten. (Text 7, Text 8,Text 9).

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Das Scheitern der an den Prinzipien und Erfahrungen der Oktoberrevolution ori-entierten sozialistischen Systeme macht es zwingend erforderlich, diese Fragenneu zu durchdenken und Tendenzen der Dogmatisierung und Realitätsblindheitals Konsequenz der politischen Institutionalisierung ideologischer Prozeße ent-gegenzuwirken.4. Seit Jahrzehnten unentschieden ist der Streit um die Frage, ob Ideologien injedem Falle falsches Bewußtsein darstellen oder ob es auch Ideologien gibt, aufdie dieses Merkmal nicht zutrifft, ob insofern der Ideologiebegriff ausschließlichkritischen Charakter trägt oder auch ein neutraler Ideologiebegriff legitim ist, obdie zahlreichen negativen Urteile über ideologische Prozesse von Marx undEngels hauptsächlich der bürgerlichen Ideologie bzw. idealistischen, religiösenoder ähnlichen Systemen gelten oder auf Ideologien generell zutreffen. (Text 11,Text 12, Text 13, Text 14).Die Herausarbeitung des falschen, des verkehrten und verkehrenden Charaktersideologischer Vorstellungen hat zweifelsohne erhebliche Bedeutung. Die Aufbre-chung von Selbsttäuschungen und Irrationalismen, der Nachweis von Nichtübe-reinstimmungen zwischen Meinungen und Tatsachen, ein realistisches Weltbildund unverfälschte, wissenschaftlich gestützte Einsichten in gesellschaftlicheZusammenhänge sind auch am Ende dieses Jahrhunderts unverzichtbar für Auf-klärung und Emanzipation.Andererseits ist davon auszugehen, daß die aktuelle und geschichtliche Wirk-samkeit von Ideen, Theorien oder anderen geistigen Entwürfen niemals alleinvon ihrem Wahrheitsgehalt abhängt. Zudem belegen zahlreiche Erfahrungen, daßIdeologien in der Regel weder nur durch falsche noch nur durch wahre Auffas-sungen gekennzeichnet sind. Marx hat klassische Verkehrungsmechanismenideologischer Vorstellungen in der Neuzeit aufgedeckt. Konkrete Ideologien las-sen sich jedoch keinesfalls auf diese Mechanismen und ihre Resultate reduzie-ren. In der bisherigen Geschichte waren Ideologien wesentlich zunächst Eman-zipations- und dann Herrschaftswissen. Die Eigenart von Ideologien ist es, prak-tische Erfordernisse einer geschichtlichen Situation auszudrücken. Sie sind aufdie Erzielung von Handlungsfähigkeit und praktischer Aktion angelegt. Und derErfolg dieser Funktion hängt von einem angemessenen Realitätsbezug ab. Dieseraber enthält mehr als die Wahrheitsrelation. Gefordert sind nicht nur der diskur-sive sondern beispielsweise auch der bildhaft-künstlerische Aufweis sichabzeichnender Möglichkeiten und die adaequate Artikulation von Erfahrungen,Bedürfnissen, Forderungen und Hoffnungen. Künftiges muß antizipiert, Normenmuß zur Geltung und Anerkennung verholfen werden. All das sind Realitätsbe-züge, die sinnvoller Weise kaum nach dem Wahrheitskriterium beurteilt undbewertet werden können.

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5. Die notwendige Reproduktion einer kritischen marxistischen Ideologietheoriesieht sich mit gravierenden Problemen und Herausforderungen konfrontiert.Erstens ist entgegen mehrfachen Voraussagen ein „Ende“ klassischer Ideologiennicht absehbar. Das kann auch nicht anders sein, da Ideologien eine notwendigeBewegungsform und Funktion geschichtlicher Widersprüche darstellen. DieSituation ist zur Zeit dadurch gekennzeichnet, daß eine Reihe traditioneller Ideo-logien in modifizierter Gestalt auftreten und kontinuierlich oder sporadisch einezum Teil beträchtliche Wirkung zeitigen - sei es als geistige Grundlage von Mas-senbewegungen (islamischer Fundamentalismus) oder militanter Minderheiten(Rassismus), als Legitimation politischer Konzepte (Nationalismus und christli-cher Fundamentalismus) oder als Begründung und Rechtfertigung ökonomischerStrategien (Neoliberalismus).Zweitens ist eine entschiedene Ausweitung und Vermehrung objektiver Faktorenfestzustellen, die das ideologische Leben der gegenwärtigen Welt konstituierenund die ideologische Herrschaft des Kapitals ausweiten. Marx’ Diktum vom„stummen Zwang der Verhältnisse“ bezieht seine außergewöhnliche Relevanzaus der demoralisierenden und disziplinierenden Wirkung der Massenarbeitslo-sigkeit ebenso wie aus der Rolle bestimmter Ästhetisierungsprozesse und derVerankerung bestimmter Konsummuster als domierende Leitbilder für dieLebensgestaltung in den entwickelten Industrieländern oder der manipulativenReproduktion kollektiver Psychosen in Ansehung zahlloser Staus und Barrierenbei der Lösung drängender Gattungsprobleme.Drittens. Marxistische Ideologietheorie bedarf der Verarbeitung der Resultatemoderner Medientheorien. Daß die gegenwärtig einsetzende Medienrevolutionmit Veränderungen der menschlichen Sinneswahrnehmung einhergeht, istunstrittig. Offen sind die Konsequenzen derartiger Veränderungen für die Rea-litätsverarbeitung als Ganzes und insofern für die geistige Struktur und die ideo-logische Stabilität - oder Brüchigkeit - sozialer Systeme.Viertens. Das Kardinalproblem kritischer Ideologietheorie überhaupt bestehtmöglicherweise darin, daß sich der Grundansatz klassischer Ideologiekritik,falsches Bewußtsein durch Aufklärung aus der Welt zu schaffen, die Wirkung vonIdeologie dadurch aufzuheben, daß die Produktion und der Charakter von Ideo-logie durchschaubar gemacht werden, überlebt hat. Klarheit über die Mechanis-men ideologischer Manipulation und Einsicht in die Verflechtung von Ideologie,Interessen und Macht konnten deren Wirkung nicht beeinträchtigen oder über-winden. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ideologischer Aktivität,zwischen dem Betrüger und dem Betrogenen scheint fragwürdiger denn je.

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II. Texte

1. Karl Marx über gesellschaftliche Grundlagen der Ideologie(1859)

Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischenund geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Men-schen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihrBewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten diemateriellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhande-nen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist,mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten.Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fes-seln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit derVeränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Über-bau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen mußman stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zukonstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen undden juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen,kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußtwerden und ihn ausfechten.(Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 8und 9)

2. Karl Marx/Friedrich Engels zur Entstehung ideologischer Vor-stellungen (1845/46)

S.26: Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächstunmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehrder Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der gei-stige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihresmateriellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache derPolitik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sichdarstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen,Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durcheine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entspre-chenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formen hinauf. Das Bewußtsein kannnie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihrwirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihreVerhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so

Texte 13

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geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wiedie Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physi-schen.Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erdeherabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h. es wird nichtausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen,auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen,um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von denwirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeßauch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebenspro-zesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind not-wendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materi-elle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Meta-physik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformenbehalten hiermit nicht länger den Schein der Selbstständigkeit. Sie haben keineGeschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produkti-on und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieserihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. ...S.31/32: Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblickean, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesemAugenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres alsdas Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen,ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblicke an ist das Bewußt-sein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der „reinen“Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen. Aber selbst wenn dieseTheorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehendenVerhältnissen treten, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die bestehendengesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Wider-spruch getreten sind. ...S.46: Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herr-schenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Machtder Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, diedie Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damitzugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich imDurchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktionabgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts alsder ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedan-ken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, dieeben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herr-schaft.

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S.47/48: Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs dieGedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbst-ändigt man sie, bleibt dabei stehen, daß in einer Epoche diese und jene Gedan-ken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um dieProduzenten dieser Gedanken zu bekümmern, läßt man also die den Gedankenzugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z.B. sagen,daß während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treueetc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheitetc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnittein... Jede neue Klasse, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt,ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemein-schaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideellausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als dieeinzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen. Die revolutionierende Klas-se tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, nicht alsKlasse, sondern als Vertreterin der Gesellschaft auf, sie erscheint als die ganzeMasse der Gesellschaft gegenüber der einzig herrschenden Klasse. Sie kann dies,weil im Anfange ihr Interesse wirklich noch mehr mit dem gemeinschaftlichenInteresse aller übrigen nichtherrschenden Klassen zusammenhängt, sich unterdem Druck der bisherigen Verhältnisse noch nicht als besonderes Interesse einerbesonderen Klasse entwickeln konnte.S.274: Je mehr die normale Verkehrsform der Gesellschaft und damit die Bedin-gungen der herrschenden Klasse ihren Gegensatz gegen die fortgeschrittene Pro-duktionsweise entwickeln, je größer daher der Zwiespalt in der herrschendenKlasse selbst und mit der beherrschten Klasse wird, desto unwahrer wird natür-lich das dieser Verkehrsform ursprünglich entsprechende Bewußtsein, d.h. eshört auf, das ihr entsprechende Bewußtsein zu sein, desto mehr sinken die frühe-ren überlieferten Vorstellungen dieser Verkehrsverhältnisse, worin die wirklichenpersönlichen Interessen ppp. als allgemeine ausgesprochen werden, zu bloß ide-alisierenden Phrasen, zur bewußten Illusion, zur absichtlichen Heuchelei herab.Je mehr sie aber durch das Leben Lügen gestraft werden und je weniger sie demBewußtsein selbst gelten, desto entschiedner werden sie geltend gemacht, destoheuchlerischer, moralischer und heiliger wird die Sprache dieser normalenGesellschaft.S.405: „Beruf, Bestimmung, Aufgabe, Ideal“ sind...entweder1. die Vorstellung von den revolutionären Aufgaben, die einer unterdrücktenKlasse materiell vorgeschrieben sind; oder2. bloße idealistische Paraphrasen oder auch entsprechender bewußter Ausdruckder durch die Teilung der Arbeit zu verschiedenen Geschäften verselbständigtenBetätigungsweisen der Individuen; oder

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3. der bewußte Ausdruck der Notwendigkeit, in der Individuen, Klassen, Natio-nen sich jeden Augenblick befinden, durch eine ganz bestimmte Tätigkeit ihreStellung zu behaupten: oder4. die in den Gesetzen, der Moral pp. ideell ausgedrückten Existenzbedingungender herrschenden Klasse (bedingt durch die bisherige Entwicklung der Produk-tion), die von ihren Ideologen mit mehr oder weniger Bewußtsein theoretisch ver-selbständigt werden, in dem Bewußtsein der einzelnen Individuen dieser Klasseals Beruf pp. sich darstellen können und den Individuen der beherrschten Klas-se als Lebensnorm entgegengehalen werden, teils als Beschönigung oderBewußtsein der Herrschaft, teils als moralisches Mittel derselben. Hier, wieüberhaupt bei den Ideologen, ist zu bemerken, daß sie die Sache notwendig aufden Kopf stellen und ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für denZweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse ansehen, während sie nur ihr Aus-druck und Symptom sind.(Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, Berlin 1958,S. 26, 31-32, 46, 47-48, 274, 405)

3. Karl Marx über die „verkehrte“ Art und Weise, in der dieVerhältnisse der Warenproduktion sich im Bewußtsein derWarenproduzenten widerspiegeln (1867)

S.85-87: Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihremGebrauchswert. Er entspringt ebensowenig aus dem Inhalt der Wertbestimmun-gen. Denn erstens, wie verschieden die nützlichen Arbeiten oder produktivenTätigkeiten sein mögen, es ist eine physiologische Wahrheit, daß sie Funktionendes menschlichen Organismus sind, und daß jede solche Funktion, welchesimmer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichemHirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. ist. Was zweitens der Bestimmung derWertgröße zugrunde liegt, die Zeitdauer jener Verausgabung oder die Quantitätder Arbeit, so ist die Quantität sogar sinnfällig von der Qualität der Arbeit unter-scheidbar. In allen Zuständen mußte die Arbeitszeit, welche die Produktion derLebensmittel kostet, den Menschen interessieren, obgleich nicht gleichmäßig aufverschiedenen Entwicklungsstufen. Endlich, sobald die Menschen in irgendeinerWeise füreinander arbeiten, erhält ihre Arbeit auch eine gesellschaftliche Form.Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald esWarenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit dermenschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständ-lichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeits-kraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte,endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestim-

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mungen ihrer Arbeiten bestätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftli-chen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Men-schen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständlicheCharaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaftendieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Pro-duzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftlichesVerhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitspro-dukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sichder Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz desSehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb desAuges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußerenGegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Ver-hältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wert-verhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischenNatur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zuschaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschenselbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses vonDingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelre-gion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichenKopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Ver-hältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte dermenschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsproduk-ten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher der Waren-produktion unzertrennlich ist.Dieser Fetischcharakter der Warenwelt enspringt, wie die vorhergehende Analy-se bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter derArbeit, welche Waren produziert.Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte vonein-ander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatar-beiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produuzenten erst ingesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte,erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbei-ten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich inder Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehun-gen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Pro-duzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Bezie-hungen ihrer Privatarbeiten als das was sie sind, d.h. nicht als unmittelbargesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern

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vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhält-nisse der Sachen.S.89-90: Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auchihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der wirklichen Ent-wicklung entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum und daher mit denfertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses. Die Formen, welche Arbeitspro-dukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind,besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens,bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen, nicht über den histori-schen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gel-ten, sondern über deren Gehalt. So war es nur die Analyse der Warenpreise, diezur Bestimmung der Wertgröße, nur der gemeinschaftliche Geldausdruck derWaren, der zur Fixierung ihres Wertcharakters führte. Es ist aber eben diese fer-tige Form - die Geldform - der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Cha-rakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Pri-vatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren. Wenn ich sage, Rock,Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperungabstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks insAuge. Aber wenn die Produzenten von Rock, Stiefel usw. diese Waren auf Lein-wand - oder auf Gold und Silber, was nichts an der Sache ändert - als allgemei-nes Äquivalent beziehn, erscheint ihnen die Beziehung ihrer Privatarbeiten zuder gesellschaftlichen Gesamtarbeit genau in dieser verrückten Form.Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Essind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produkti-onsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionswei-se, der Warenproduktion.(Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 85-87, 89-90)

4. Karl Marx über die „Verwandlung von Wert resp. Preis derArbeitskraft in Arbeitslohn“ als Beispiel für die Verschleierungwesentlicher, grundlegender Verhältnisse der bürgerlichenGesellschaft durch deren Oberfläche (1867)

S.557: Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn desArbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für einbestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird.S.559/560: Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt direkt gegenübertritt, istin der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letztrer verkauft, ist seineArbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereis aufgehört, ihm

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zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden. Die Arbeit ist dieSubstanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert.Im Ausdruck: „Wert der Arbeit“ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht,sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwaWert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Pro-duktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformenwesentlicher Verhältnisse. Daß in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrtdarstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischenÖkonomie.Die klassische politische Ökonomie entlehnte dem Alltagsleben ohne weitereKritik die Kategorie „Preis der Arbeit“, um sich dann hinterher zu fragen, wiewird dieser Preis bestimmt?.S.560/561: Aber was sind die Produktionskosten - des Arbeiters, d.h. die Kosten,um den Arbeiter selbst zu produzieren oder zu reproduzieren? Diese Frage schobsich der politischen Ökonomie bewußtlos für die ursprüngliche unter, da sie mitden Produktionskosten der Arbeit als solcher sich im Kreise drehte und nichtvom Flecke kam. Was sie also Wert der Arbeit... nennt, ist in der Tat der Wert derArbeitskraft, die in der Persönlichkeit des Arbeiters existiert, und von ihrerFunktion, der Arbeit, ebenso verschieden ist, wie eine Maschine von ihren Ope-rationen. ...Da der Wert der Arbeit nur ein irrationeller Ausdruck für den Wert der Arbeits-kraft, ergibt sich von selbst, daß der Wert der Arbeit stets kleiner sein muß alsihr Wertprodukt, denn der Kapitalist läßt die Arbeitskraft stets länger funktio-nieren als zu Reproduktion ihres eignen Werts nötig ist.S.562/63: Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung desArbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlteArbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. Bei der Fronarbeit unter-scheiden sich räumlich und zeitlich, handgreiflich sinnlich, die Arbeit des Frö-ners für sich selbst und seine Zwangsarbeit für den Grundherrn. Bei der Skla-venarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstags, worin der Sklave nur den Wertseiner eignen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet,als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit.Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlteArbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstar-beiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbei-ters.Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert undPreis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis derArbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsicht-bar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des

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Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produk-tionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vul-gärökonomie.Braucht die Weltgeschichte viele Zeit, um hinter das Geheimnis des Arbeitslohnszu kommen, so ist dagegen nichts leichter zu verstehn als die Notwendig-keit...dieser Erscheinungsform.Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmungzunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller andren Waren.Der Käufer gibt eine gewisse Geldsumme, der Verkäufer einen von Geld ver-schiednen Artikel. Das Rechtsbewußtsein erkennt hier höchstens einen stoffli-chen Unterschied...Daß dieselbe Arbeit nach einer andren Seite hin allgemeineswertbildendes Element ist, eine Eigenschaft, wodurch sie sich von allen andrenWaren unterscheidet, fällt außerhalb des Bereichs des gewöhnlichen Bewußt-seins.S.564: Übrigens gilt von der Erscheinungsform „Wert und Preis der Arbeit“ oder„Arbeitslohn“, im Unterschied zum wesentlichen Verhältnis, welches erscheint,dem Wert und Preis der Arbeitskraft, dasselbe, was von allen Erscheinungsfor-men und ihrem verborgnen Hintergrund. Die ersteren reproduzieren sich unmit-telbar spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andre muß durch die Wis-senschaft erst entdeckt werden. Die klassische politische Ökonomie stößtannähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren.Sie kann das nicht, solange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt.(Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 557, 559-560,560-561, 562-563, 564)

5. Friedrich Engels über die relative Selbständigkeit der Ideologien(1890)

S.490: Die Sache faßt sich am leichtesten vom Standpunkt der Teilung derArbeit. Die Gesellschaft erzeugt gewisse gemeinsame Funktionen, deren sie nichtentraten kann. Die hierzu ernannten Leute bilden einen neuen Zweig der Teilungder Arbeit innerhalb der Gesellschaft. Sie erhalten damit besondre Interessenauch gegenüber ihren Mandataren, sie verselbständigen sich ihnen gegenüber,und - der Staat ist da. Und nun geht es ähnlich wie beim Warenhandel und spä-ter beim Geldhandel: die neue selbstände Macht hat zwar im ganzen und großender Bewegung der Produktion zu folgen, reagiert aber auch, kraft der ihr inne-wohnenden, d.h. ihr einmal übertragnen und allmählich weiterentwickelten rela-tiven Selbständigkeit, wiederum auf die Bedingungen und den Gang der Produk-tion. Es ist Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewe-gung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und, weileinmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen

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Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, abersie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten undmit relativer Selbständigkeit begabten politischen Bewegung, der Bewegungeinerseits der Staatsmacht, andrerseits der mit ihr gleichzeitig erzeugten Oppo-sition. Wie im Geldmarkt sich die Bewegung des Industriemarkts im ganzen undgroßen, und unter oben angedeuteten Vorbehalten, widerspiegelt, und natürlichverkehrt, so spiegelt sich im Kampf zwischen Regierung und Opposition derKampf der vorher schon bestehenden und kämpfenden Klassen wider, aber eben-falls verkehrt, nicht mehr direkt, sondern indirekt, nicht als Klassenkampf, son-dern als Kampf um politische Prinzipien, und so verkehrt, daß es Jahrtausendegebracht hat, bis wir wieder dahinterkamen.S.491/492: Mit dem Jus ist es ähnlich: Sowie die neue Arbeitsteilung nötig wird,die Berufsjuristen schafft, ist wieder ein neues, selbständiges Gebiet eröffnet,das bei aller seiner allgemeinen Abhängigkeit von der Produktion und dem Han-del doch auch eine besondre Reaktionsfähigkeit gegen diese Gebiete besitzt. Ineinem modernen Staat muß das Recht nicht nur der allgemeinen ökonomischenLage entsprechen, ihr Ausdruck sein, sondern auch ein in sich zusammenhän-gender Ausdruck, der sich nicht durch innere Widersprüche selbst ins Gesichtschlägt. Und um das fertigzubringen, geht die Treue der Abspiegelung der öko-nomischen Verhältnisse mehr und mehr in die Brüche. ...Die Widerspieglung ökonomischer Verhältnisse als Rechtsprinzipien ist notwen-dig ebenfalls eine auf den Kopf stellende: Sie geht vor, ohne daß sie den Han-delnden zum Bewußtsein kommt, der Jurist bildet sich ein, mit aprioristischenSätzen zu operieren, während es doch nur ökonomische Reflexe sind - so stehtalles auf dem Kopf. Und daß diese Umkehrung, die, solange sie nicht erkannt ist,das konstituiert, was wir ideologische Anschauung nennen, ihrerseits wieder aufdie ökonomische Basis zurückwirkt und sie innerhalb gewisser Grenzen modifi-zieren kann, scheint mir selbstverständlich.S.492/493: Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischenGebiete angeht, Religion, Philosophie etc., so haben diese einen vorgeschichtli-chen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen und übernommnen Bestandvon - was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiednen falschen Vor-stellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Gei-stern, Zauberkräften etc. liegt meist nur negativ Ökonomisches zugrunde; dieniedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zurErgänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung und selbst Ursache, diefalschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürf-nis die Haupttriebfeder der fortschreitenden Naturerkenntnis war und immermehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzu-ständlichen Blödsinn ökonomische Ursachen suchen. Die Geschichte der Wis-

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senschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigng dieses Blödsinns,respektive seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blöd-sinn. Die Leute, die dies besorgen, gehören wieder besondern Sphären der Tei-lung der Arbeit an und kommen sich vor, als bearbeiteten sie ein unabhängigesGebiet. Und insofern sie eine selbständige Gruppe innerhalb der gesellschaftli-chen Arbeitsteilung bilden, insofern haben ihre Produktionen, inklusive ihrerIrrtümer, einen rückwirkenden Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwick-lung, selbst auf die ökonomische. Aber bei alledem stehn sie selbst wieder unterdem beherrschenden Einfluß der ökonomischen Entwicklung. Z.B. in der Philo-sophie läßt sich dies am leichtesten für die bürgerliche Periode nachweisen.Hobbes war der erste moderne Materialist (im Sinne des 18.Jahrhunderts), aberAbsolutist zur Zeit, wo die absolute Monarchie in ganz Europa ihre Blütezeithatte und in England den Kampf mit dem Volk aufnahm. Locke war in Religionwie Politik der Sohn des Klassenkompromisses von 1688. Die englischen Deistenund ihre konsequenten Fortsetzer, die französischen Malterialisten, waren dieechten Philosophen der Bourgeoisie, die Franzosen sogar der bürgerlichen Revo-lution. In der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel geht der deutscheSpießbürger durch - bald positiv, bald negativ. Aber als bestimmtes Gebiet derArbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmate-rial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden undwovon sie ausgeht. ... Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwick-lung auch über diese Gebiete steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb derduch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebnen Bedingungen: in der Philoso-phie z.B. durch Einwirkung ökonomischer Einflüsse (die meist wieder erst inihrer politischen usw. Verkleidung wirken) auf das vorhandne philosophischeMaterial, das die Vorgänger geliefert haben. Die Ökonomie schafft hier nichts anovo, sie bestimmt aber die Art der Abänderung und Fortbildung des vorgefund-nen Gedankenstoffs, und auch das meist indirekt, indem es die politischen, juri-stischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Phi-losophie üben.(Friedrich Engels, F. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, MEW, Bd. 37,Berlin 1967, S. 490, 491-492, 492-493)

6. Friedrich Engels zur Entstehung und Wirksamkeit ideologischerVorstellungen (1893)

Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von Marx und mirregelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns allegleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf dieAbleitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungenund durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen

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Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelleSeite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstel-lungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommnen Anlaß zuMißverständnissen resp. Entstellungen gegeben. ...Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denkervollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Trieb-kräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideolo-gischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche resp. scheinbare Triekbräfte. Weiles ein Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Den-ken ab, entweder seinem eignen oder dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mitbloßem Gedankematerial, das er unbesehen als durchs Denken erzeugt hinnimmtund sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigenUrsprung untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Han-deln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instand im Denken begrün-det erscheint.Der historische Ideolog (historisch soll hier einfach zusammenfassend stehn fürpolitisch, juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für alle Gebiete, die derGesellschaft angehören und nicht bloß der Natur) - der historische Ideolog hatalso auf jedem wissenschaftlichen Gebiet einen Stoff, der sich selbständig ausdem Denken früherer Generationen gebildet und im Gehirn dieser einander fol-genden Generationen eine selbständige, eigne Entwicklungsweise durchgemachthat. Allerdings mögen äußere Tatsachen, die dem einen oder andren Gebieteangehören, mitbestimmend auf diese Entwicklung eingewirkt haben, aber dieseTatsachen sind nach der stillschweigenden Voraussetzung ja selbst wieder bloßeFrüchte eines Denkprozesses, und so bleiben wir immer noch im Bereich desbloßen Denkens, das selbst die härtesten Tatsachen anscheindend glücklich ver-daut hat.Es ist dieser Schein einer selbständigen Geschichte der Staatsverfassungen, derRechtssysteme, der ideologischen Vorstellungen auf jedem Sondergebiet, der diemeisten Leute vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katholi-sche Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinemrepublikanischen „Contrat social“ den konstitutionellen Montesquieu „überwin-det“, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der Theologie, der Philosophie, derStaatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete dar-stellt und gar nicht aus dem Denkgebiet herauskommt. Und seitdem die bürger-liche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Pro-duktion dazugekommen, gilt ja sogar die Überwindung der Merkantilisten durchdie Physiokraten und A.Smith für einen bloßen Sieg des Gedankens; nicht fürden Gedankenreflex veränderter ökonomischer Tatsachen, sondern für die end-lich errungene richtige Einsicht in stets und überall bestehende tsatsächliche

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Bedingungen; hätten Richard Löwenherz und Philipp August den Freihandel ein-geführt statt sich in Kreuzzüge zu verwickeln, so blieben uns fünfhundert JahreElend und Dummheit erspart.Diese Seite der Sache, die ich hier nur andeuten kann, haben wir, glaube ich, allemehr vernachlässigt, als sie verdient. Es ist die alte Geschichte: Im Anfang wirdstets die Form über den Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich habe das ebenfallsgetan, und der Fehler ist mir immer erst post festum aufgestoßen. Ich bin alsonicht nur weit entfernt davon, Ihnen irgendeinen Vorwurf daraus zu machen -dazu bin ich als älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im Gegenteil - aberich möchte Sie doch für die Zukunft auf diesen Punkt aufmerksam machen.Damit zusammen hängt auch die blödsinnige Vorstellung der Ideologen: weil wirden verschiednen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spie-len, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnenauch jede historische Wirksamkeit ab. Es liegt hier die ordinäre undialektischeVorstellung von Ursache und Wirklung als starr einander entgegengesetztenPolen zugrunde, die ablosute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein histori-sches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursa-chen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbstseine eignen Ursachen zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast absicht-lich.(Friedrich Engels, F. Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893, MEW, Bd. 39, Ber-lin 1968, S. 96-97)

7. Wladimir I. Lenin über die Vereinigung von wissenschaftlichemSozialismus und Arbeiterbewegung (1899)

Die Sozialdemokratie reduziert sich nicht auf einfachen Dienst an der Arbeiter-bewegung: sie ist die „Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung“ (umdie Definition K.Kaustskys zu gebrauchen, die die Hauptideen des „Kommuni-stischen Manifests“ wiedergibt); es ist ihre Aufgabe, in die spontane Arbeiterbe-wegung bestimmte sozialistische Ideale hineinzutragen, sie mit sozialistischenÜberzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissenschaft stehen müssen,zu verbinden, sie mit dem systematischen politischen Kampf für die Demokratieals ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus zu verbinden, ...(Wladimir I. Lenin, Artikel für die „Rabotschaja Gazeta“, LW, Bd. 4, Berlin 1955,S. 211)

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8. Wladimir I. Lenin über die Quelle des politischen Bewußtseins(1901/02)

Das politische Bewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden,das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalbder Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet,aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen allerKlassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehun-gen zwischen sämtlichen Klassen.(Wladimir I. Lenin, Was tun?, LW, Bd. 5, Berlin 1955, S. 436)

9. Wladimir I. Lenin über den wissenschaftlichen Sozialismus alsIdeologie (1902)

Das „Klasseninteresse“ zwingt die Proletarier, sich zu vereinigen, gegen dieKapitalisten zu kämpfen, über die Bedingungen ihrer Befreiung nachzudenken.Das „Klasseninteresse“ macht sie für den Sozialismus empfänglich. Aber derSozialismus, als Ideologie des proletarischen Klassenkampfes, ist den allgemei-nen Bedingungen der Entstehung, Entwicklung und Festigung einer Ideologieuntergeordnet, d.h. er fußt auf dem gesamten Rüstzeug des menschlichen Wis-sens, setzt eine hohe Entwicklung der Wissenschaft voraus, erfordert wissen-schaftliche Arbeit usw. usf.(Wladimir I. Lenin, Brief an den Nordbund, LW, Bd. 6, Berlin 1956, S. 155)

10. Nikolai J. Bucharin zum Begriff „Ideologie“ (1922)

S.238: Unter der gesellschaftlichen Ideologie werden wir das System der Gedan-ken, Gefühle oder Verhaltensmaßregeln (Normen) verstehen. Dazu gehören folg-lich solche Erscheinungen wie der Inhalt der Wissenschaft... und der Kunst, dieGesamtheit der Normen, der Sitten oder der Moral usw. Unter gesellschaftlicherPsychologie werden wir die nichtsystematisierten oder wenig systematisiertenGefühle, Gedanken und Stimmungen verstehen, die die gegebene Gesellschaft,Klasse, Gruppe, Profession usw. aufweist. ...S.247/48: Die gesellschaftliche Psychologie ist ein gewisses Reservoir für dieIdeologie...Die Ideologien sind das Geronnene der gesellschaftlichen Psycholo-gie...Die Ideologie ist nicht von der Psychologie durch einen Grenzpfahl mit derAufschrift: „Eintritt streng verboten“ getrennt. Im Gegenteil, in Wirklichkeitvollzieht sich stets ein ununterbrochener Prozeß der Befestigung, der Verdich-

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tung, der Verhärtung der gesellschaftlichen Psychologie zur gesellschaftlichenIdeologie.(Nikolai I. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922,S. 238, 247-248)

11. Antonio Gramsci über unterschiedliche Verwendungsweisen desBegriffs „Ideologie“

Wenn man den Wert der Ideologien in Betracht zieht, so scheint mir, daß ein Ele-ment des Irrtums in der Tatsache zu suchen ist (was andererseits nicht zufälligist), daß man mit dem Namen Ideologie einmal den für eine bestimmte Basis not-wendigen Überbau, zum anderen die willkürlichen Hirngespinster gewisser Indi-viduen bezeichnet. Die abfällige Bedeutung des Wortes ist extensiv geworden,und das hat die theoretische Analyse des Begriffs Ideologie verändert und dena-turiert. Der Prozeß dieses Irrtums kann leicht rekonstruiert werden: 1. die Ideo-logie wird als von der Basis unterschieden festgestellt, und man behauptet, daßnicht die Ideologien die Basis verändern, sondern umgekehrt; 2. man behauptet,eine gewisse politische Lösung sei „ideologische“, d.h. nicht ausreichend, umdie Basis zu ändern, während sie sie zu ändern glaubt; man behauptet, sie seiunnütz, stupide etc.; 3. man geht zu der Behauptung über, jede Ideologie sei „rei-ner Schein, unnütz, stupide etc.Man muß also unterscheiden zwischen historisch organischen Ideologien, die füreine gewisse Struktur notwendig sind, und willkürlichen, rationalistisch „gewoll-ten“ Ideologien. Soweit sie historisch notwendig sind, sind sie gültig, „psycholo-gisch“ gültig, sie „organisieren“ die Menschenmassen, bilden das Terrain, aufdenen die Menschen sich bewegen, ein Bewußtsein ihrer Lage erhalten, kämpfenetc. Soweit sie „willkürlich“ sind, bringen sie nur „Bewegungen“ in Form indivi-dueller Polemik hervor etc.(Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt am Main 1967, S. 169-170)

12. Max Horkheimer über Ideologie, absoluten Geist, Wahrheit(1951)

S.11: Wenngleich das Wort Ideologie heute in einem verschwommenen und uni-versalen Sinn gebraucht wird, enthält es doch immer noch ein Element, das imGegensatz zu dem Anspruch des Geistes steht, seinem Dasein oder seinem Inhaltnach für unbedingt zu gelten. Selbst in seiner verflachten Form widerspricht derIdeologiebegriff somit der idealistischen Anschauungsweise. Geist als Ideologieist nicht absolut...S.21: Geist ist in der Tat in der Geschichte verflochten, er hängt unlöslich mitdem Willen, den Interessen und Trieben der Menschen, mit ihrer realen Lage

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zusammen. Aber der Unterschied zwischen dem als Unbedingtem sich aufsprei-zenden Bedingten einerseits und der Erkenntnis, zu der wir mit unseren bestenKräften jeweils kommen, andererseits, dieser Unterschied fällt damit keineswegsdahin. Es ist der Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Der Name derIdeologie sollte dem seiner Abhängigkeit nicht bewußten, geschichtlich aberbereits durchschaubaren Wissen, dem vor der fortgeschrittensten Erkenntnisbereits zum Schein herabgesunkenen Meinen, im Gegensatz zur Wahrheit vorbe-halten werden.(Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1985,S. 11, 21)

13. Theodor W. Adorno über die Dialektik der Ideologie (1954)

S.472/473: Die Ideologienlehre bricht auseinander in einen höchst abstrakten,der bündigen Artikulation entratenden Totalentwurf und monographische Studi-en. In dem Vakuum dazwischen verliert sich das dialektische Problem der Ideo-logien: daß diese zwar falsches Bewußtsein, aber doch nicht nur falsch sind. DerSchleier, der notwendig zwischen der Gesellschaft und deren Einsicht in ihr eige-nes Wesen liegt, drückt zugleich kraft solcher Notwendigkeit auch dies Wesenselbst aus. Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu derbestehenden Wirklichkeit. Sie können „an sich“ wär sein, so wie die Ideen Frei-heit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit es sind, aber sie gebärden sich, als wären siebereits realisiert. Die Etikettierung solcher Ideen als Ideologien, die der totaleIdeologiebegriff gestattet, zeugt vielfach weniger von Unversöhnlichkeit mit demfalschen Bewußtsein, als von Wut auf das, was in sei’s auch noch so ohnmächti-ger geistiger Reflexion auf die Möglichkeit eines Besseren verweisen könnte...S.474: Von Ideologie läßt sich sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbst-ändig, substantiell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozeßhervortritt. Ihre Unwahrheit ist stets der Preis eben dieser Ablösung, der Ver-leugnung des gesellschaftlichen Grundes. Aber auch ihr Wahrheitsmoment haf-tet an solcher Selbständigkeit, an einem Bewußtsein, das mehr ist als der bloßeAbdruck des Seienden, und danach trachtet, das Seiende zu durchdringen. Heuteist die Signatur der Ideologien eher die Absenz dieser Selbständigkeit als derTrug ihres Anspruchs.(Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, in: Theodor W. Adorno, Soziolo-gische Schriften I, Frankfurt am Main 1979, S. 472-473, 474)

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14. Ernst Bloch über Ideologie, Apologie, Betrug, Ideal, Symbol,Utopie, Kultur (1954/55)

S.126/27: Die Frage ist nun, ob und wieweit sich der vorwegnehmende Gegenzugmit einem bloß verschönernden berührt. Besonders dann, wenn das bloß Ver-schönernde, obwohl es durchaus überleuchtet, über die Hälfte gar keinen Gegen-zug, sondern ein bloßes bedenkliches Polieren des Vorhandenen in sich hat. Unddas mit keineswegs revolutionärem Auftrag dahinter, sondern mit apologeti-schem, mit einem also, der das Subjekt mit dem Vorhandenen versöhnen soll.Diese Absicht erfüllt vor allem die Ideologie in den nicht mehr revolutionären,obzwar noch aufsteigenden, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch för-dernden Zeiten einer Klassengesellschaft. Das Überleuchten des Vorhandenengeschieht dann als täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung, und es istumgeben von lauter Rauch oder Weihrauch des falschen Bewußtseins. (Die fauleIdeologie in den absinkenden Zeiten einer Klassengesellschaft, besonders alsodie des Spätbürgertums von heute, gehört freilich überhaupt nicht hierher; dennsie ist bereits gewußtes falsches Bewußtsein, mithin Betrug.) Weiterhin aber gibtes in der Ideologie gewisse Verdichtungs-, Vervollkommnungs- und Bedeutungs-figuren des Vorhandenen, die, wenn überwiegend auf Verdichtung bezogen, alsArchetypen, wenn überwiegend auf Vervollkommnung bezogen, als Ideale, wennüberwiegend auf Bedeutung bezogen, als Allegorien und Symbole bekannt sind.Die in alledem, auf so verschiedene Weise, intendierte Verschönerung des Vor-handenen ist immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie will von letzte-rem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken. Vielmehr wird hier das Vorhande-ne ergänzt, zwar auf keine dialektisch sprengende und reale, jedoch so, daß eineeigentümliche, eine uneigentliche Antizipation des Besseren nicht fehlt... Undnun ist die Frage konkreter geworden: ob und wieweit sich der vorwegnehmendeGegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Denn in Ideologie, anders inArchetypen, anders in Idealen, anders in Allegorien und Symbolen liegt zwarkein Gegenzug vor, wohl aber ein Übersteigen des Vorhandenen durch seine ver-schönernde, verdichtende, vervollkommnende oder bedeutungshafte Übersteige-rung. Und diese wiederum ist nicht möglich ohne eine verzerrte oder versetzteutopische Funktion...S.131: Ein scharfer Blick bewährt sich nicht bloß darin, daß er duchschaut. Son-dern ebenso in der Weise, daß er nicht jedes als so klar wie Wasser sieht. Indemeben nicht alles so fertig klar ist, sondern zuweilen ein Gären, Sich-Bilden vor-liegt, dem gerade der scharfe Blick gerecht wird. Am breitesten wie gemischte-sten erscheint dieses Unabgeschlossene in der Ideologie, sofern sie mit derbloßen Bindung an ihre Zeit nicht erschöpft ist. Und auch nicht mit dem bloßenfalschen Bewußtsein über ihre Zeit, das alle bisherigen Kulturen begleitet hat...

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S.134: Das Klassische in jeder Klassik steht vor jeder Zeit genauso als revolu-tionäre Romantik da, nämlich als vorwärts weisende Aufgabe und als Lösung, dieaus der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit entgegenkommt und selber nochvoll Zukunft spricht, anspricht, weiterruft. Das aber, samt Bescheidenerem, istnur deshalb der Fall, weil Ideologien nach dieser Seite mit dem falschen Bewußt-sein ihrer Basis und auch mit der aktiven Arbeit für ihre jeweilige Basis nichterschöpft sind. Keine Suche nach dem Überschuß ist möglich im falschenBewußtsein selbst, wie es die Ideologie der Klassengesellschaften getragen hat,und keine ist notwendig in der Ideologie der sozialistischen Revolution, an derüberhaupt kein falsches Bewußtsein teilnimmt. Der Sozialismus als Ideologie desrevolutionären Proletariats ist überhaupt nur wahres Bewußtsein, bezogen auf diebegriffene Bewegung und die ergriffene Tendenz der Wirklichkeit...S.135: Auch die Klassenideologien, worin die Großwerke der Vergangenheit ste-hen, führen genau auf jenen Überschuß über das standortgebundene falscheBewußtsein, der fortwirkende Kultur heißt, also Substrat des antretbaren Kul-turerbes ist. Und es erhellt nun: eben dieser Überschuß wird erzeugt durchnichts anderes als durch die Wirkung der utopischen Funktion in den ideologi-schen Gebilden der kulturellen Seite. Ja, falsches Bewußtsein allein wäre nochnicht einmal ausreichend, um die ideologische Einhüllung so, wie es geschah, zuvergolden. Es allein wäre außerstande, eines der wichtigsten Merkmale der Ideo-logie herzustellen, nämlich verfrühte Harmonisierung der gesellschaftlichenWidersprüche. Wie viel weniger erst ist Ideologie als Medium fortwirkenden Kul-tursubstrats ohne ihre Begegnung mit utopischer Funktion begreifbar.(Ernst Bloch, Das antizipierende Bewußtsein, Frankfurt am Main 1972, S. 126-127, 131, 135)

15. Georg Lukács über Ideologien als „Vehikel zum Ausfechtengesellschaftlicher Konflikte“ (1964/68)

Ideologie ist vor allem jene Form der gedanklichen Bearbeitung der Wirklichkeit,die dazu dient, die gesellschaftliche Praxis der Menschen bewußt und aktions-fähig zu machen... Diese Determiniertheit aller menschlichen Äußerungsweisendurch das hic et nunc des gesellschaftlich-geschichtlichen Geradesoseins ihrerEntstehung hat zur notwendigen Folge, daß eine jede Reaktion der Menschen aufihre ökonomisch-soziale Umwelt unter bestimmten Umständen zur Ideologie wer-den kann. Diese universelle Möglichkeit zur Ideologie beruht seinsmäßig darauf,daß ihr Inhalt (und in vielen Fällen auch ihre Form) untilgbare Zeichen ihrerGenesis in sich bewahrt. Ob diese Zeichen eventuell bis zur Unwahrnehmbarkeitverblassen oder prägnant sichtbar werden, hängt von ihren - möglichen - Funk-tionen im Prozeß der gesellschaftlichen Konflikte ab... In solchen Kämpfen ent-steht auch die historisch so wichtig gewordene pejorative Bedeutung der Ideolo-

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gie. Die sachliche Unvereinbarkeit der gegeneinander streitenden Ideologiennimmt im Laufe der Geschichte die verschiedensten Formen auf, sie kann alsAuslegung von Traditionen, von religiösen Überzeugungen, von wissenschaftli-chen Theorien und Methoden usw. erscheinen...Weder eine individuell richtige oder falsche Ansicht, noch eine richtige oderfalsche wissenschaftliche Hypothese, Theorie etc. ist an und für sich eine Ideo-logie: sie kann nur... zur Ideologie werden. Erst nachdem sie theoretisches oderpraktisches Vehikel zum Ausfechten gesellschaftlicher Konflikte geworden ist,mögen diese größere oder kleinere, schicksalhafte oder episodische sein, kannsie zu einer Ideologie werden.(Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 2. Halbband, Darm-stadt und Neuwied 1986, S. 389-401)

III. Literaturverzeichnis

Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, in: Theodor W. Adorno, Sozio-logische Schriften I, Frankfurt am Main 1979Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/Westberlin1977Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1974Manfred Behrens, u.a. (Hrsg.), Theorien über Ideologie. Argument-Sonderband40, Berlin 1979Ernst Bloch, Das antizipierende Bewußtsein, Frankfurt am Main 1972Nikolai I. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus, Hamburg 1922Terry Eagleton, Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 1993Friedrich Engels, F. Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, MEW, Bd. 37,Berlin 1967Friedrich Engels, F. Engels an Franz Mehring, 14. Juli 1893, MEW, Bd. 39Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt am Main 1967Sebastian Herkommer, Einführung Ideologie, Hamburg 1985Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main 1985Leo Kofler, Soziologie des Ideologischen, Stuttgart 1975Wladimir I. Lenin, Artikel für die „Rabotschaja Gazeta“, LW, Bd. 4, Berlin 1955Wladimir I. Lenin, Was tun?, LW, Bd. 5, Berlin 1955Wladimir I. Lenin, Brief an den Nordbund, LW, Bd. 6, Berlin 1956Kurt Lenk (Hrsg.), Ideologie, Neuwied und Berlin 1967

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Hans-Joachim Lieber, Ideologie. Eine historisch-systematische Einführung,Paderborn/München/Wien/Zürich 1985Hans-Joachim Lieber (Hrsg.), Ideologie - Wissenschaft - Gesellschaft, Darmstadt1976Georg Lukács, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 2. Halbband, Darm-stadt und Neuwied 1986Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1952Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, Berlin 1958Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin 1961Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin 1962Volker Meja und Nico Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie. ZweiBände, Frankfurt am Main 1982Adam Schaff, Geschichte und Wahrheit, Wien/Frankfurt/Zürich 1970Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Zwei Bände, Frankfurt am Main1983Peter Zima, Ideologie und Theorie, Tübingen 1989

Literaturverze ichnis 31

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Parlamente und Parteien

Eingeleitet und ausgewählt von Ekkehard Lieberam

I. Einführung

Die Spezifik der marxistischen Sicht auf die politischen Institutionen Parlamen-te und Parteien ist die Aufdeckung ihres Klassencharakters, ihrer konkretenRolle in den Klassenkämpfen und Machtkonstellationen ihrer Zeit (beispielhaft:Text 27). Die marxistische Diskussion um Parlamentarismus und Parteien bzw.Parteiensysteme ist so auch Teil der Debatte um die Strukturen der Macht, um dieFunktionsweise der bürgerlichen Demokratie und um die politischen Kräftever-hältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft, deren Beeinflussung und Verände-rung, sowie um die Konsequenzen, die sich aus alldem für die Politik undArbeitsweise einer sozialistischen Partei ergeben.1

Als widersprüchlicher Erkenntnisprozeß ist diese Diskussion zum einen durchdie vielgestaltigen sich wandelnden Tendenzen und Erscheinungsformen im Par-laments- und Parteiensystem des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt, die z. T. eineeindeutige begriffliche Bewertung schwierig machten (z. B. Ist die parlamentari-sche Republik „Umwälzungsform“ oder „Lebensform“ der bürgerlichen Gesell-schaft? - Text 4). Dieser Erkenntnisprozeß war zum anderen auch deshalb kom-pliziert, weil es immer wieder, insbesondere unter dem Eindruck jäher revolu-tionärer Wendungen (so im Zusammenhang mit den Revolutionen 1917/1918), zuheftigen Kontroversen unter Marxisten über die Grundfragen der Haltung zumParlamentarismus, zur „Eroberung oder Beseitigung des bürgerlichen Parla-ments“ kam (Text 26, Text 27, Text 28). Dabei ist nicht zu übersehen, daß der„parlamentarische Kretinismus“ (Text 8, Text 18) zu einem wichtigen Vehikel desÜbergang von Marxisten auf opportunistische Positionen wurde, verbunden miteiner Interpretation des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischenDemokratie als Garantie für „tatsächliche Teilhaberschaft“ (Text 16). Die Unter-schätzung von außerparlamentarischen Machtmitteln bzw. der Verzicht darauf,die Erhebung des Parlaments zur „Zentralachse des sozialen Lebens“ (Text 18)erscheint als Teil und Ausdruck realer Anpassungsprozesse ehemals marxisti-scher Parteien an das politische System des Kapitalismus, die in der Funktions-weise des bürgerlichen Parlamentarismus selbst einen wichtigen „Nährboden“haben (Text 19).Karl Marx und Friedrich Engels konnten bereits auf eine mehrhundertjährigeGeschichte des Parlaments zurückblicken. Sie sahen im Prinzip der Repräsenta-tion einen großen Fortschritt (Text 1). Begrüßt wurde von Wilhelm Wolff das Auf-treten des Bürgertums gegen die unbeschränkte Monarchie im Vereinigten Land-

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tag in Preußen (Text 2). Marx und Engels nahmen selbst Anteil an den Klas-senkämpfen um das allgemeine Wahlrecht und um die parlamentarische Repu-blik in Frankreich (Text 3 und Text 4), um den Einzug der Sozialisten in die par-lamentarischen Vertretungen in Deutschland, in Frankreich und England. Siesahen im Parlament eine Tribüne des Klassenkampfes und in den Parlaments-wahlen vor allem ein Barometer für die Siegeschancen des Proletariats (Text 15).Sie gaben im besonderen Maße August Bebel konkrete Ratschläge für die parla-mentarische Arbeit (Text 7, Text 9, Text 11, Text 13).Zu ihrer Zeit, um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dasdarf dabei nicht übersehen werden, war das Parlament in der überwiegendenMehrzahl der europäischen Staaten (Ausnahme: USA, England und Frankreich)ein recht bedeutungsloses Anhängsel halbabsolutistischer Regierungssysteme.Parteien gab es erst in Gestalt von Zusammenschlüssen monarchistischer, bür-gerlicher und kleinbürgerlicher Politiker, die sich aus Parlamentsgruppen undWahlvereinen zu recht lockeren Parteigebilden entwickelten sowie in Gestalt vonersten Arbeiterparteien, die sich zunächst außerhalb des Parlaments formierten.Der von der Arbeiterbewegung getragene Kampf um das allgemeine Wahlrechthatte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Chartistenbewegungeinen Höhepunkt, aber auch eine Niederlage erfahren. In den USA, wo das all-gemeine Wahlrecht für weiße Männer weitgehend realisiert war, wurde es durchdie Praxis der offenen Abstimmungen, durch das Kartell der beiden großen kor-rupten Parteien (Text 10) und infolge verbreiteter Wahlfälschungen stark entwer-tet.Vor allem nach der Revolution vom Februar 1848 in Frankreich (Text 3 undText 4) wurden kurzzeitig in einer Art politischen Großexperiments die Konturenjenes Modells einer „parlamentarischen“ bzw. „konstitutionellen Republik“ (soKarl Marx) sichtbar, wie es sich dann mit Modifikationen im 20. Jahrhundert inden entwickelten kapitalistischen Staaten durchsetzte: allgemeines und gleichesWahlrecht, Beherrschung des Parlaments durch der Bourgeoisie ergebene Partei-en, Inbesitznahme des staatlichen Apparates als „Hauptbeute“ durch die sieg-reichen Parteien. Im Zusammenhang mit den „Klassenkämpfen in Frankreich“entwickelte Karl Marx denn auch seine wichtigsten Thesen zur Funktionsweisedes bürgerlichen Parlaments: Es ist jene politische Form, die die Herrschaft derGesamtbourgeoisie gewährleistet. Der Organismus der in ihm vertretenen Partei-en wurzelt in den materiellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. DasParlament spiegelt den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit wider. Eserweist sich als Bollwerk der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat und wirdbeseitigt, wenn die Kontrolle der Bourgeoisie verloren geht.Als in den folgenden Jahrzehnten insbesondere in Deutschland der Kampf umselbständige Arbeiterparteien mit Massenanhang wachsende Wahlerfolge und

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eine stetige Zunahme der Reichstagsmandate brachte, rückten drei Fragen in denVordergrund: erstens die Frage nach der Bedeutung von Wahlerfolgen und parla-mentarischen Positionen für den Kampf um die Eroberung der politischen Machtbzw. für das Herankommen an die sozialistische Revolution (Text 14, Text 15,Text 24); zweitens die Frage nach dem Verhältnis von parlamentarischer Tätigkeitund außerparlamentarischer Aktion (Text 20 und Text 22); drittens nach demSinn und den Risiken einer Regierungsbeteiligung (Text 17 und Text 21).Nicht übersehen werden darf, daß Karl Marx und Friedrich Engels (Text 5) unddann auch Lenin (Text 26) aus dem ersten, kurzzeitigen Versuch einer sozialisti-schen Revolution in Gestalt der Pariser Kommune 1871 sehr weitreichendeSchlußfolgerungen für die Überwindung des Parlamentarismus, für einen neuenTyp der gewählten Vertretungskörperschaften, der Regierung und des Gemeinwe-sens ableiteten.Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kam es zu einem tiefgreifenden, qualitativenWandel der parlamentarischen Institutionen und Regierungssysteme, der Partei-en und Parteiensysteme. Auch die bürgerlichen Parteien mußten „Rückhalt inden Massen“ suchen (Text 23). Die schon von Engels erkannte Tendenz zur Her-ausbildung „bürgerlicher Arbeiterparteien“ (Text 25) verstärkte sich qualitativ,indem sie in zunehmendem Maße auch die sozialdemokratischen Parteien erfaß-te. Die Bedienung der ebablierten Parteien an der Staatskrippe (Text 14) schloßeine sich ausweitende Ämterpatronage ein; der Verschmelzung der Staatsspitzemit den Führungen dieser Parteien entsprach die Tendenz zur bürokratischenParteienherrschaft. Die Parteien wurden vergleichbar mit kapitalistischen Betrie-ben, in denen unten gearbeitet und oben Geld verdient wird. Es kam zu einemFunktionsverlust der Parlamente gegenüber der Regierung gerade auch imGesetzgebungsprozeß. Dies ging einher mit einem Anwachsen der legislativenRolle der eng mit dem Großkapital liierten Ministerialbürokratie (Text 29). NeueMethoden der Wählermanipulierung und der Ausgestaltung des Wahlrechts tru-gen dazu bei, allgemeines Wahlrecht und Bourgeoisiesherrschaft zu vereinbaren(Text 30 und Text 31).Aus der Sicht am Ende dieses Jahrhunderts besteht das wohl wichtigste Resultatder Transformation parlamentarischer Demokratie darin, daß sie - und damit Par-lamente, allgemeines Wahlrecht und Parteien - sowohl in den parlamentarischenRepubliken und Monarchien als auch in den präsidentiellen bzw. semipräsiden-tiellen Republiken zu einer insgesamt stabilen Bewegungs- und Entwicklungs-form einer sich wandelnden kapitalistischen Gesellschaft geworden sind. Es ent-stand ein Parlaments- und Parteienmechanismus, der Kapitalmacht und parla-mentarisches System nicht nur vereinbar werden ließ, sondern beide im Systemdes sozialstaatlichen Klassenkompromisses fest miteinander verband. Aus einemAnhängsel des monarchistischen Regierungssystems wurde das Parlament zum

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formalen Dreh- und Angelpunkt der Staatspolitik, zum realen Zentrum der Her-vorbringung der politischen und administrativen Elite wie auch jener Integrati-onsmechanismen, die der Kapitalherrschaft Massenloyalität und Legitimationsichern. 2

Mittels ihrer in den Parlamenten vertretenen Parteien war es der Arbeiterbewe-gung sowie anderen sozialen und politischen Bewegungen möglich, ihre Interes-sen und Forderungen partiell durchzusetzen, die Staatspolitik und die Art undWeise der Machtausübung zu beeinflussen. Die zeitweilige Übernahme derRegierung durch sozialdemokratische und kommunistische Parteien befördertediese Entwicklung, erklärt sie aber nur teilweise. Sie wurde möglich unter demDruck machtvoller außerparlamentarischer Bewegungen und unter dem anhal-tenden Druck des Realsozialismus. Sie kam zum Stillstand bzw. ist regressiv seitsich das politische Kräfteverhältnis in den siebziger und achtziger Jahren zugun-sten des Kapitals veränderte. Nicht zu übersehen ist, daß die neoliberale Politikder Umverteilung des Reichtums von unten nach oben von den meisten Parla-menten befördert wird. Die sich gerade auch angesichts dieser Politik verschär-fenden sozialen Konflikte und Verteilungskämpfe bewirken, daß die Parlamentewieder stärker zu Arenen der Klassenauseinandersetzung werden.Zugleich geht es um enorm praktisch-politische Fragen: Kern einer Wider-standsstrategie gegen die neoliberale Offensive, auf die sich ein Großteil derwirtschaftlichen und politischen Elite verständigt hat, muß die Veränderung despolitischen Kräfteverhältnisses sein. Ohne den Aufbau von realer Gegenmachtgegen die Macht des Kapitals wird es den Linkskräften in den Parlamenten nichtgelingen, diese Offensive zu stoppen und eine gesellschaftliche Wende zugunstender Lohnabhängigen, der sozialen und demokratischen Bewegungen und über-haupt „der Gesellschaft von unten“ einzuleiten. Verhängnisvoll wäre in dieserSituation die Reduzierung des Klassenkampfes auf seinen parlamentarischenAspekt (Text 33) oder gar die Anpassung an die vom Neoliberalismus bestimm-ten parlamentarischen Spielregeln. Aktueller denn je ist der Gedanke von RosaLuxemburg von der Ohnmacht der rein parlamentarischen Aktion und ihreErkenntnis, daß die Kraft der parlamentarischen Aktion allein von der „eigenenMachtentfaltung“ der Massen abhängt (Text 22).

1 Zur aktuellen Diskussion in der PDS um derartige Konsequenzen vgl. u. a. M. Böttcher,A. Dost, U.-J. Heuer, E. Lieberam, Opposition als Gegenmacht, Disput 11/1995; U.-J.Heuer, Zur Einführung und W. Richter, Zur außerparlamentarischen Arbeit der PDS,in: In großer Sorge, was ist, was denkt, was will das Marxistische Forum, Köln 1995;E. Lieberam, Opposition als Gegenmacht, Marxistische Blätter, 1-96; Ekkehard Liebe-ram, Die PDS und der Integrationsmechanismus des parlamentarischen Systems, Mar-xistisches Forum, Heft 5, Januar 1996, U.-J. Heuer, E. Lieberam, G. Schirmer, ZurRegierungsbeteiligung der PDS, Disput 8/1996; J. Bischoff, In Bonn angekommen,Sozialismus, 9/96

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2 Vgl. E. Lieberam, Marxistische Demokratietheorie und bürgerliches Parlament, in:Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 30, Juni 1997. Eine sehr instruktive Sicht aufdie Transformation der parlamentarischen Demokratie kennzeichnet die Publikationenvon Johannes Agnoli. Vgl. insbesondere: J. Agnoli, Thesen zur Transformation derDemokratie, Berlin 1968; Zur Parlamentarismus-Diskussion in der Bundesrepublik,Sozialistische Politik, 1/1969; Revolutionäre Strategie und Parlamentarismus, in:Überlegungen zum bürgerlichen Staat, Berlin 1975 und Krise des Parlamentarismus?,Demokratie und Recht, 15/1987. In seinen „Thesen zur Transformation der Demokra-tie“ führt Agnoli u.a. aus: „Denn die klassische parlamentarische Demokratie gibt esschon längst nicht mehr. Nicht nur entsprachen ihre soziale Funktion und ihre institu-tionelle Struktur einer vergangenen Periode der Geschichte. Der liberale Staat war dieöffentlich-rechtliche Organisationsform der Herrschaft in einer Gesellschaft, die zwarkapitalistisch produzierte (und daher sind einige seiner Institute noch vorhanden),jedoch mit der Kraft der Dampfmaschine arbeitete. Mit einem solchen Staat kann unse-re Gesellschaft, die Atomkraft produziert und mit Atomkraft produzieren wird, sehrwenig anfangen. Überdies aber: die klassische parlamentarische Qualität des früherenbürgerlichen Staates: die Vormacht des Parlaments, seine Souveränität und seine poli-tische wie legislative Entscheidungskompetenz, ist selbst verfassungsrechtlich über-wunden. Das Grundgesetz postuliert die Vormacht der Exekutive gegenüber der Legis-lative, sei es in der Frage der Richtlinienkompetenz, sei es in der Frage der Kontrolleder Regierung über das Parlament. ...Die Schwierigkeit lag - und liegt - in dem ambivalenten Charakter, den das Parlamentunter Umständen annehmen kann. In einer dynamisch gewordenen bürgerlichenGesellschaft, die ebenso durch den Antagonismus der Produktion gekennzeichnet istwie durch die Interessenpluralität der Distribution, können sich Vertretungskörper-schaften als Instrumente bieten, den Antagonismus staatlich zum Ausdruck zu bringenund so den (gesellschaftlichen) Klassenkampf zum politischen Herrschaftskonflikt zupotenzieren. So gesehen kann das parlamentarische Regierungssystem nur dann diebürgerliche Herrschaft garantieren und den Kapitalismus schützen, wenn es gelingt,seine Ambivalenz zurückzudrängen. Es muß als Mechanismus funktionieren, der anta-gonistische Konflikte so weit wie möglich politisch „irrelevant“ macht und pluraleInteressenkonflikte staatlich kontrolliert und befriedet. Die von Friedrich Engels ent-wickelte Perspektive kehrt sich derart um: die „bürgerliche Republik“, nach Engelsdie beste Form für die offene, unter Umständen sogar friedliche Austragung des Klas-senkampfes und des Herrschaftskonflikts, versucht bürgerlich zu bleiben und transfor-miert sich zur besten Form, die abhängige Klasse in das kapitalistische System der Pro-duktion und in das bürgerliche System der Herrschaft zu integrieren. Das „Volk“ wirdzur bloßen Manövriermasse im Konkurrenzstreit politischer Führungsgruppen degra-diert. Beispielhaft, durchaus vorbildlich für andere „parlamentarisch“ regierte Ländervollzog sich diese Transformation in der Bundesrepublik. ...Die verstaatlichten Parteien entwickeln eine neuartige gesellschaftliche Qualität, diemit ihrer eigenen materiellen Interessenlage verbunden ist: Sie sind an der Aufrech-terhaltung der Verhältnisse interessiert, die ihre eigene Verstaatlichung und feste Eta-blierung an der Macht ermöglichen. Dadurch koppeln sie sich - ganz gleich, ob sieMassenparteien sind oder nicht - mit den Interessen derjenigen gesellschaftlichen

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Gruppen, denen es ebenso an der Konservation der gegebenen Strukturen gelegen ist.Insofern ist die alte Frage müßig, ob die politisch herrschenden Gruppen Handlangerder herrschenden Klasse sind oder ob sie eine selbständige gesellschaftliche Klasse(die politische Klasse) darstellen. Sie sind selbst ein Teil, nämlich der politische, derherrschenden Klasse. Genauer: sie sind deren staatliche Funktion. Auf diese Weisewird der gesellschaftliche Antagonismus im Parteiensystem nicht mehr widerspiegelt.... Ideologisch bezeichnen sich gerade solche Parteien, die sich den breiten Massenentfremdet haben, selbst als Volksparteien. Die Volksparteien entwickeln einen neuar-tigen, durch die Zusammenarbeit der eigenen Führungsstäbe bedingten Herrschafts-mechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierendein Konkurrenzverhältnis eingehen. Nur ist dieses Konkurrenzverhältnis obligatorischorganisiert und hat mit dem Prinzip der freien Konkurrenz ebenso wenig zu tun wie dieorganisierte Marktaufteilung des modernen Oligopolkapitalismus mit dem freien Wett-bewerb. Die offene Konkurrenzzirkulation politischer Führungsgruppen, die sichgegenseitig bekämpfen und ausschließen, wird abgelöst von einer assimilativen Zirku-lation, die in letzter Konsequenz zur Selbstauflösung treibt: zur durchgängigen Assi-milation der (schein)konkurrierenden Parteien und ihrer gemeinsamen Beteiligung ander Staatsgewalt - sei es im Zusammenspiel und im Wechselmechanismus von Mehr-heits- und Minderheitsfraktion, sei es in der Form der Großen Koalition. So kämpfendie Parteien untereinander um die Regierungsmacht und bilden dennoch eine symbio-tische Einheit, in deren Kreis ein abstrakter Führungskonflikt ausgefochten werdenkann. Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei. ...Das bedeutet: die Perspektive einer „systemimmanenten“ Evolution des Parlamenta-

rismus scheitert an seiner eigenen, systembedingten, d.h. durch seine Herrschafts-funktion bedingten Involutionstendenz. Wie diese Involutionstendenz langfristig stär-ker durchschlägt als die Möglichkeit, das Parlament vertretungsfunktional auszunut-zen, zeigt die Entwicklung in noch desintegrierten Gesellschaften. Die fundamenta-loppositionellen Parteien, die sich auf das parlamentarische Spiel einlassen und denaußerparlamentarischen Kampf nicht mehr als das wesentliche Mittel des Herrschafts-konflikts praktizieren, drohen ihre emanzipatorische Qualität zu verlieren und sich inbürokratische Integrationsapparate zu verwandeln. Anders gesagt: der politische und(warum denn nicht) auch moralische Niedergang der Sozialdemokratie (ein histori-scher Verrat an der Befreiung der Menschen) ist ein Warnzeichen für die sozialisti-schen und kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern.“ (Konturen,Zeitschrift für Berliner Studenten, Nr. 31, 1968)

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II. Texte

1. Karl Marx über die repräsentative Verfassung als Fortschritt(1843)

Es ist die Streitfrage zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung. Dierepräsentative Verfassung ist ein großer Fortschritt, weil sie der offene, unver-fälschte, konsequente Ausdruck des modernen Staatszustandes ist. Sie ist derunverhohlene Widerspruch.(Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW, Bd. 1, Berlin 1978, S. 279)

2. Wilhelm Wolff zum Konflikt zwischen Bürgertum und Monarchie(1847)

Die Wichtigkeit seiner Verhandlungen (des „Vereinigten Landtages“ in Preußen -E. L.) beruht darauf, daß die öffentliche Meinung in Preußen während der 11Wochen einen Fortschritt gemacht hat, zu welchem ohne den Landtag viele Jahreerforderlich gewesen wären. Zum ersten Mal kämpfte hier das preußische Bürger-tum mit der Bürokratie und der unbeschränkten Monarchie gleichsam vor denAugen des Publikums.(Wilhelm Wolff, Der preußische Landtag und das Proletariat in Preußen wie über-haupt in Deutschland, in: Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materia-lien, Bd. 1, Berlin 1983, S. 516)

3. Karl Marx über Parteien, Klassen und Herrschaft im März 1850.Allgemeines Stimmrecht und Bourgeoisieherrschaft (1850)

In der Nationalversammlung saß ganz Frankreich zu Gericht über das Pariser Pro-letariat. Sie brach sofort mit den sozialen Illusionen der Februarrevolution, sieproklamierte rundheraus die bürgerliche Republik, nichts als die bürgerlicheRepublik. Sofort schloß sie aus der von ihr ernannten Exekutivkommission dieVertreter des Proletariats aus: Louis Blanc und Albert; sie verwarf den Vorschlageines besondern Arbeitsministeriums, sie empfing mit stürmischem Beifallsrufedie Erklärung des Ministers Trélat: „Es handle sich nur noch darum, die Arbeit aufihre alten Bedingungen zurückzuführen.“Aber das alles genügte nicht. Die Februarrepublik war von den Arbeitern erkämpftunter dem passiven Beistande der Bourgeoisie. Die Proletarier betrachteten sichmit Recht als die Sieger des Februar, und sie machten die hochmütigen Ansprüchedes Siegers. Sie mußten auf der Straße besiegt, es mußte ihnen gezeigt werden,

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daß sie unterlagen, sobald sie nicht mit der Bourgeoisie, sondern gegen die Bour-geoisie kämpften. ...Und die wirkliche Geburtsstätte der bürgerlichen Republik, es ist nicht derFebruarsieg, es ist die Juniniederlage. ...Seit Anfang März hatte die Wahlagitation für die gesetzgebende Nationalversamm-lung begonnen. Zwei Hauptgruppen traten sich gegenüber, die Partei der Ordnungund die demokratisch-sozialistische oder rote Partei, zwischen beiden standen dieFreunde der Konstitution, unter welchem Namen die trikoloren Republikaner des„National“ eine Partei vorzustellen suchten. Die Partei der Ordnung bildete sichunmittelbar nach den Junitagen; erst nachdem der 10. Dezember ihr erlaubt hatte,die Koterie des „National“, der Bourgeoisierepublikaner, von sich abzustoßen,enthüllte sich das Geheimnis ihrer Existenz, die Koalition der Orleanisten undLegitimisten zu einer Partei. Die Bourgeoisieklasse zerfiel in zwei große Fraktio-nen, die abwechselnd, das große Grundeigentum unter der restaurierten Monar-chie, die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie unter der Julimonar-chie, das Monopol der Herrschaft behauptet hatten. Bourbon war der königlicheName für den überwiegenden Einfluß der Interessen der einen Fraktion, Orleansder königliche Name für den überwiegenden Einfluß der Interessen der andernFraktion - das namenlose Reich der Republik war das einzige, worin beide Fraktio-nen in gleichmäßiger Herrschaft das gemeinsame Klasseninteresse behauptenkonnten, ohne ihre wechselseitige Rivalität aufzugeben. ...Die Bourgeoisherrschaft als Ausfluß und Resultat des allgemeinen Stimmrechts,als ausgesprochener Akt des souveränen Volkswillens, das ist der Sinn der Bour-geoiskonstituion. Aber von dem Augenblick an, wo der Inhalt dieses Stimmrechts,dieses souveränen Willens nicht mehr die Bourgeoisherrschaft ist, hat die Konsti-tution noch einen Sinn? Ist es nicht die Pflicht der Bourgeoisie, das Stimmrechtso zu regeln, daß es das Vernünftige will, ihre Herrschaft? Das allgemeine Wahl-recht, indem es die vorhandene Staatsmacht beständig wieder aufhebt und vonneuem aus sich erschafft, hebt es nicht alle Stabilität auf, stellt es nicht jedenAugenblick alle bestehenden Gewalten in Frage, vernichtet es nicht die Autorität,droht es nicht die Anarchie selbst zur Autorität zu erheben? Nach dem 10. März1850, wer sollte noch zweifeln?Die Bourgeoisie, indem sie das allgemeine Wahlrecht, mit dem sie sich bisher dra-piert hatte, aus dem sie ihre Allmacht saugte, verwirft, gesteht unverhohlen:„Unsre Diktatur hat bisher bestanden durch den Volkswillen, sie muß jetzt befestigtwerden wider den Volkswillen“.(Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, Berlin 1960, S. 30,58, 59 und 93)

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4. Karl Marx über die parlamentarische Republik als Despotieeiner Klasse, als Umwälzungsform und als Form der Herrschaftder Gesamtbourgeoisie. Einbildungen und wirkliche Interessender Parteien (1851/52)

Die Niederlage der Juniinsurgenten hatte nun allerdings das Terrain vorbereitet,geebnet, worauf die bürgerliche Republik begründet, aufgeführt werden konnte;aber sie hatte zugleich gezeigt, daß es sich in Europa um andre Fragen handelt alsum „Republik oder Monarchie“. Sie hatte offenbart, daß bürgerliche Republik hierdie uneingeschränkte Despotie einer Klasse über andre Klassen bedeute. Siehatte bewiesen, daß in altzivilisierten Ländern mit entwickelnder Klassenbildung,mit modernen Produktionsbedingungen und mit einem geistigen Bewußtsein,worin alle überlieferten Ideen durch jahrhundertelange Arbeit aufgelöst sind, dieRepublik überhaupt nur die politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesell-schaft bedeutet und nicht ihre konservative Lebensform, wie z. B. in den Vereinig-ten Staaten von Nordamerika...Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedin-gungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalte-ter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganzeKlasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und ausden entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum,dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie dieeigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bil-den: Wenn Oreanisten, Legitimisten, jede Fraktion sich selbst und der andern vor-zureden suchte, daß die Anhänglichkeit an ihre zwei Königshäuser sie trenne,bewies später die Tatsache, daß vielmehr ihr gespaltenes Interesse die Vereini-gung der zwei Königshäuser verbot. Und wie man im Privatleben unterscheidetzwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklichist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen undEinbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichenInteressen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden. ...Der koalisierten Bourgeoisie gegenüber hatte sich eine Koalition zwischen Klein-bürgern und Arbeitern gebildet, die sogenannte sozialdemokratische Partei. DieKleinbürger sahen sich nach den Junitagen 1848 schlecht belohnt, ihre materiel-len Interessen gefährdet und die demokratischen Garantien, die ihnen die Gel-tendmachung dieser Interessen sichern sollten, von der Konterrevolution in Fragegestellt. Sie näherten sich daher den Arbeitern. Ihre parlamentarische Repräsen-tation andrerseits, die Montagne, während der Diktatur der Bourgeoisrepublika-ner beseite geschoben, hatte in der letzten Lebenshälfte der Konstituante durchden Kampf mit Bonaparte und den royalistischen Ministern ihre verlorene Popu-

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larität wiedererobert. Sie hatte mit den sozialistischen Führern eine Allianzgeschlossen. Februar 1849 wurden Versöhnungsbankette gefeiert. Ein gemein-schaftliches Programm wurde entworfen, gemeinschaftliche Wahlkomitees wurdengestiftet und gemeinschaftliche Kandidaten aufgestellt. Den sozialen Forderungendes Proletariats ward die revolutionäre Pointe abgebrochen und eine demokrati-sche Wendung gegeben, den demokratischen Ansprüchen des Kleinbürgertumsdie bloß politische Form abgestreift und ihre sozialistische Pointe herausgekehrt.So entstand die Sozialdemokratie. ...Es (das Kleinbürgertum - E. L.) glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungenseiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein diemoderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. ...Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider dieRevolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentrali-sation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommnetendiese Maschine statt sie zu brechen. Die Parteien, die abwechselnd um die Herr-schaft rangen, betrachteten die Besitznahme dieses ungeheuren Staatsgebäudesals die Hauptbeute des Siegers.(Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, Berlin 1960,S. 122, 139, 140, 141 und 197)

5. Karl Marx zur Kommune: nicht eine parlamentarische, sonderneine arbeitende Körperschaft (1871)

Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den ver-schiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlichund jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oderanerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parla-mentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetz-gebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung,wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verant-wortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebensodie Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommunean abwärts, mußte der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Dieerworbnen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträgerverschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörtenauf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein.(Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, Berlin 1963, S. 339)

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6. Karl Marx für Arbeiter in die Parlamente (1871)

Man soll keineswegs glauben, daß es von geringer Bedeutung ist, Arbeiter in denParlamenten zu haben. Wenn man ihre Stimme erstickt, wie im Falle DePotter undCastiau, oder wen man sie hinauswirft wie Manuel - so üben diese Repressalienund diese Unterdrückung eine tiefe Wirkung auf das Volk aus. Wenn sie dagegen,wie Bebel und Liebknecht, von der Parlamentstribüne sprechen können, so hörtsie die ganze Welt. Sowohl in dem einen wie in dem andern Fall verschafft dasunsern Prinzipien große Publizität. Um nur ein Beispiel zu bringen: Als Bebel undLiebknecht während des Krieges, der in Frankreich geführt wurde, darangingen,gegen den Krieg zu kämpfen, um angesichts all dieser Geschehnisse die Verant-wortlichkeit dafür seitens der Arbeiterklasse von sich zu weisen, war ganzDeutschland erschüttert; und sogar in München, dieser Stadt, wo Revolutionennur wegen des Bierpreises zustandekommen, fanden große Kundgebungen statt,auf denen die Beendigung des Krieges gefordert wurde.Die Regierungen sind uns feindlich gesinnt; man muß ihnen mit allen uns zuGebote stehenden Mitteln antworten. Arbeiter in die Parlamente bringen istgleichbedeutend mit einem Sieg über die Regierungen, aber man muß die richti-gen Männer auswählen, keine Tolains.(Karl Marx, Aus dem Protokoll der Sitzung der Londoner Konferenz der Interna-tionalen Arbeiterassoziation vom 20. September 1871, MEW, Bd. 17, Berlin 1962,S. 651)

7. Karl Marx/Friedrich Engels zu entschiedener Opposition (1881)

Statt entschiedner politischer Opposition - allgemeine Vermittlung; statt desKampfs gegen Regierung und Bourgeoisie - der Versuch, sie zu gewinnen und zuüberreden; statt trotzigen Widerstands gegen Mißhandlungen von oben - demüti-ge Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle histo-risch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Mißverständnisse und alleDiskussion beendigt mit der Bemerkung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig.(Karl Marx, Friedrich Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht u. a., MEW,Bd. 34, Berlin 1966, S. 405)

8. Friedrich Engels über den parlamentarischen Kretinismus(1884)

Endlich deckten wir den parlamentarischen Kretinismus (wie Marx es nannte) derverschiedenen sogenannten Nationalversammlungen auf. Diese Herren hattensich alle Machtmittel entschlüpfen lassen, sie zum Teil freiwillig wieder denRegierungen überliefert. Neben neugestärkten, reaktionären Regierungen standenin Berlin wie in Frankfurt machtlose Versammlungen, die trotzdem sich einbilde-

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ten, ihre ohnmächtigen Beschlüsse würden die Welt aus den Angeln haben. Bisauf die äußerste Linke herrschte diese kretinhafte Selbsttäuschung. Wir riefenihnen zu: ihr parlamentarischer Sieg werde zusammenfallen mit ihrer wirklichenNiederlage.Und so geschah’s in Berlin wie in Frankfurt. Als die „Linke“ die Majorität erhielt,jagte die Regierung die ganze Versammlung auseinander; sie konnte es, weil dieVersammlung ihren eigenen Kredit beim Volk verscherzt hatte.(Friedrich Engels, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848-49, MEW,Bd. 21, Berlin 1984, S. 21)

9. Friedrich Engels für die Beachtung gegenwärtiger Bedürfnisseder Arbeiter (1884)

Will die Fraktion sich nicht einfach ablehnend verhalten, so kann sie nach mei-ner Meinung zu dieser Staatshilfe für die Bourgeoisie, die möglicherweise (wasfreilich erst zu beweisen) den Arbeitern indirekt zugute kommen kann, nur dannihre Einwilligung geben, wenn ebensolche Staatshilfe für die Arbeiter zugesichertwird. „Gebt Ihr uns 4-5 Millionen jährlich für Arbeitergenossenschaften (nicht Vor-schuß, sondern Schenkung, wie für die Reeder), dann lassen wir mit uns reden.Gebt Ihr uns Garantien, daß in Preußen die Domänen statt Großpächter oder anBauern, die ohne Taglöhnerarbeit existenzunfähig sind, an Arbeitergenossenschaf-ten ausgepachtet werden sollen, daß öffentliche Arbeiten an Arbeitergenossenschaf-ten statt an Kapitalisten verdungen werden, gut, wir wollen ein übriges tun. Wennnicht, nicht.“Wenn die Fraktion solche Vorschläge macht, wofür natürlich die richtige Formgefunden werden muß, dann wird niemand den sozialdemokratischen Abgeordne-ten vorwerfen können, sie vernachlässigten über die Zukunft der gegenwärtigenBedürfnisse der Arbeiter.(Friedrich Engels an Wilhelm Liebknecht in Berlin vom 29. Dezember 1884,MEW, Bd. 36, Berlin 1967, S. 259)

10. Friedrich Engels über Parteien als Kartelle zur Ausbeutung derStaatsmacht (1891)

Nirgends bilden die „Politiker“ eine abgesondertere und mächtigere Abteilungder Nation als grade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden große Parteien,denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, dieaus der Politik ein Geschäft machen, die auf Sitze in den gesetzgebenden Ver-sammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von de Agi-tation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Esist bekannt, wie die Amerikaner seit 30 Jahren versuchen, dies unerträglich gew-

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ordne Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpfder Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehn, wiediese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu derenbloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiertkeine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewa-chung der Indianer. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politi-schen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mitden korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten - und dieNation ist ohnmächtig gegen diese, angeblich in ihrem Dienst stehenden, in Wirk-lichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Poli-tikern.(Friedrich Engels, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Einleitung, MEW, Bd. 22, Ber-lin 1963, S. 197-198)

11. Friedrich Engels über Spießbürger in der Reichstagsfraktion(1892)

Ich habe noch die Jahre im Gedächtnis, wo ich - damals noch mit L[ie]bk[necht]in offizieller Korrespondenz stehend - in einem fort gegen die überall hinein-sickernde urdeutsche Spießbürgerei anzukämpfen hatte. Im ganzen und großenhaben wir das in Reichsdeutschland glücklich hinter uns, aber was sitzen in derFraktion für Spießer und kommen immer wieder hinein! Eine Arbeiterpartei hat danur die Wahl zwischen Arbeitern, die sofort gemaßregelt werden und dann leichtals Parteipensionäre verlumpen, oder Spießbürgern, die sich selbst ernähren, aberdie Partei blamieren.(Friedrich Engels an Victor Adler, 30. August 1992, MEW, Bd. 38, Berlin 1968,S. 445)

12. Friedrich Engels über das Schaukelspiel der die Bourgeoisie-herrschaft verewigenden Parteien (1892)

Und wenn in nicht mehr ferner Zeit sich herausstellt, daß dies neue Parlamentnichts mit Herrn Gladstone und Herr Gladstone nichts mit diesem Parlamentanfangen kann, dann wird die englische Arbeiterpartei auch wohl hinreichendkonstituiert sein, um dem Schaukelspiel der beiden alten, einander an der Regie-rung ablösenden aber eben dadurch die Bourgeoisieherrschaft verewigenden Par-teien demnächst ein Ende zu machen.(Friedrich Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der „Lage der arbeitendenKlasse in England“, MEW, Bd. 22, Berlin 1972, S. 330)

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13. Friedrich Engels über die Bedeutung des Stimmenzuwachses(1893)

Unsere Wahlen nahmen einen glänzenden Verlauf. 1890 - 20 Sitze, jetzt 24 beimersten Ansturm gewonnen; 1890 - ungefähr 60 Stichwahlen, diesmal 85. Wirhaben zwei Sitze verloren und sechs neue gewonnen. Unter den 85 Stichwahlensind 38, wo wir 1890 nicht in die Stichwahl kamen...Die Anzahl der Sitze hat jedoch eine sehr zweitrangige Bedeutung. Die Hauptsa-che ist der Zuwachs an Stimmen, und der wird gewiß beträchtlich sein.(Friedrich Engels an Laura Lafargne, 20. Juni 1893, MEW, Bd. 39, Berlin 1978,S. 86)

14. Karl Kautsky über Erfahrungen des Parlamentarismus in Eng-land. Das Parlament als Werkzeug der Diktatur des Proletariats(1893)

Die Unterschiede zwischen beiden Parteien (den Whigs und den Tories - E. L.)schwanden immer mehr, sie waren schließlich nicht größer als die Unterschiede,wie sie innerhalb jeder der beiden Parteien vorkamen. Wenn trotzdem der Gegen-satz zwischen Tories und Whigs fortdauerte, so war der Grund nur der, daß dieStaatskrippe zu klein war, als daß beide Parteien gleichzeitig an sie heran konn-ten.Die Kämpfe im Parlament verloren damit immer mehr den Charakter von prinzi-piellen Kämpfen; sie wurden immer mehr bloße Intrigen von Strebern, die sichnach Amt und Würden drängten, um Gelegenheit zu bekommen, den Staat nichtetwa in ihrem besonderen Sinne zu leiten, sondern auszubeuten. ...Gerade im Vaterland des Parlamentarismus zeigt die Entwicklung der Parteiver-hältnisse, wie unrichtig die Behauptung ist, der Parlamentarismus diene aussch-ließlich der Kapitalistenklasse. Wir haben gesehen, daß je nach der Höhe der öko-nomischen Entwicklung und nach der Art des Wahlrechts das Repräsentativsy-stem den verschiedensten Klasseninteressen gedient und die verschiedenstenCharakterformen angenommen hat.Nachdem das englische Unterhaus über anderthalb Jahrhunderte lang ein Werk-zeug der Diktatur der Aristokratie gewesen ist, wurde es für ein halbes Jahrhun-dert ein Werkzeug der Diktatur der industriellen Kapitalisten. Aber bereits habendiese ihre Alleinherrschaft verloren, bereits ist das Proletariat imstande, die inne-re Politik des Landes zu seinen Gunsten zu beeinflussen im Parlament und durchdas Parlament, und die Arbeiterklasse braucht nur noch sich innerlich freizuma-

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chen vom liberalen Denken, um das englische allmächtige Parlament in ein Werk-zeug der Diktatur des Proletariats zu verwandeln.(Karl Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, Stuttgart 1911, S. 98 , 99 und109)

15. Friedrich Engels über Erfahrungen mit dem allgemeinen Stimm-recht. Reichstag als Tribüne (1895)

Schon das Kommunistische Manifest hatte die Erkämpfung des allgemeinenWahlrechts, der Demokratie, als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben desstreitbaren Proletariats proklamiert, und Lassalle hatte diesen Punkt wieder auf-genommen. Als nun Bismarck sich genötigt sah, dies Wahlrecht einzuführen alseinziges Mittel, die Volksmassen für seine Pläne zu interessieren, da machtenunsere Arbeiter sofort Ernst damit und sandten August Bebel in den ersten kon-stituierenden Reichstag. Und von dem Tage an haben sie das Wahlrecht benutzt ineiner Weise, die sich ihnen tausendfach gelohnt und die den Arbeitern aller Län-der als Vorbild gedient hat. Sie haben das Wahlrecht, in den Worten des französi-schen marxistischen Programms, transformé, de moyen de duperie qu’il a été jus-qu’ici, en instrument d’émancipation - es verwandelt aus einem Mittel der Prelle-rei, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung. Und wenn das allgemeineWahlrecht keinen anderen Gewinn geboten hätte, als daß es uns erlaubte, uns alledrei Jahre zu zählen; daß es durch die regelmäßig konstatierte, unerwartet rascheSteigerung der Stimmenzahl in gleichem Maße die Siegesgewißheit der Arbeiterwie den Schrecken der Gegner steigerte und so unser bestes Propagandamittelwurde; daß es uns genau unterrichtete über unsere eigene Stärke wie über diealler gegnerischen Parteien und uns dadurch einen Maßstab für die Proportionie-rung unserer Aktion lieferte, wie es keinen zweiten gibt - uns vor unzeitiger Zag-haftigkeit ebensosehr bewahrte wie vor unzeitiger Tollkühnheit -, wenn das dereinzige Gewinn wäre, den wir vom Stimmrecht haben, dann wäre es schon überund übergenug. Aber es hat noch viel mehr getan. In der Wahlagitation lieferte esuns ein Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den Volksmassen da, wo sie unsnoch fernstehen, in Berührung zu kommen, alle Parteien zu zwingen, ihre Ansich-ten und Handlungen unseren Angriffen gegenüber vor allem Volk zu verteidigen;und dazu eröffnete es unseren Vertretern im Reichstag eine Tribüne, von der herabsie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ihren Gegnern im Parlament wie zuden Massen draußen sprechen konnten als in der Presse und in Versammlungen.(Friedrich Engels, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Einleitung,MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 518)

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16. Eduard Bernstein über tatsächliche Teilhaberschaft als Ergebnisdes Wahlrechts (1899)

In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassenbald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen,als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können durchzusetzen...Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaberam Gemeinwesen, und diese virtuelle Teilhaberschaft muß auf die Dauer zurtatsächlichen Teilhaberschaft führen. Bei einer der Zahl und Ausbildung nachunentwickelten Arbeiterklasse kann das allgemeine Wahlrecht lange als dasRecht erscheinen, den „Metzger“ selbst zu wählen, mit der Zahl und Erkenntnisder Arbeiter wird es jedoch zum Werkzeug, die Volksvertreter aus Herren in wirk-liche Diener des Volkes zu verwandeln.Aber das allgemeine Wahlrecht ist erst ein Stück Demokratie, wenn auch einStück, das auf die Dauer die anderen nach sich ziehen muß, wie der Magnet diezerstreuten Eisenteile an sich zieht. Das geht wohl langsamer vor sich, wie esmancher wünscht, aber trotzdem ist es im Werk. Und die Sozialdemokratie kanndies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos, auch in der Doktrin,auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, stellt, mit allen sichdaraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.(Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben derSozialdemokratie, Berlin 1991, S. 145 und 146)

17. Rosa Luxemburg über Parlament und Regierung: Organ derKlassenkämpfe bzw. Organ mit innerer Homogenität (1902)

Während das Parlament ein Organ der Klassen- und Fraktionskämpfe innerhalbder bürgerlichen Gesellschaft, deshalb das geeignetste Terrain für den systemati-schen Widerstand der Sozialisten gegen die Herrschaft der Bourgeoisie bildet, istdiese Rolle der Arbeitervertreter im Schoße der Regierung von vornherein ausge-schlossen. Berufen, das fertige Ergebnis der im Parlament und im Lande ausge-fochtenen Parteikämpfe in die Tat umzusetzen, ist die Zentralgewalt vor allem einOrgan der Aktion, dessen Lebensfähigkeit auf innerer Homogenität beruht.Ebenso wie in der kapitalistischen Wirtschaft ihre einzelnen Zweige, Produktion,Austausch, Kredit, Transportwesen, aufs innigste zusammenhängen und großindu-strieller Welthandel bei mittelalterlichen Verkehrsmitteln, sozialistischer Aus-tausch bei privatwirtschaftlicher Produktion undenkbar sind, ebenso muß in dembürgerlichen Staate, der nur die politische Organisation der kapitalistischen Wirt-schaft ist, zwischen den einzelnen Funktionen volle Harmonie bestehen. ...Somit stellt die Zentralregierung eines modernen Staates ein Räderwerk dar, des-sen einzelne Teile von allen Seiten ineinandergreifen und gegenseitig ihre Bewe-

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gungen bestimmen und regulieren. Der unmittelbare Transmissionsmechanismus,der das ganze Räderwerk in Gang bringt, ist das bürgerliche Parlament, aber dietreibende Kraft sind dabei zunächst die Klassen- und Parteiverhältnisse im Landeund in letzter Linie - die Produktions- und Austauschverhältnisse der gesell-schaftlichen Wirtschaft. Der kapitalistischen Einheitlichkeit der Ökonomik hierentspricht die bürgerliche Einheitlichkeit der Regierungspolitik dort.(Rosa Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke,Bd. 1, Zweiter Halbband, Berlin 1970, S. 58 und 59)

18. Rosa Luxemburg über den Rückgang der Bedeutung des Parla-mentarismus aufgrund sozialer Entwicklung (1904)

Es ist eine historisch nicht bloß erklärliche, sondern notwendige Illusion des umdie Herrschaft kämpfenden und noch mehr des zur Herrschaft gelangten Bürger-tums, daß sein Parlament die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibendeMacht der Weltgeschichte sei. Eine Auffassung, deren natürliche Blüte jenerfamose „parlamentarische Kretinismus“ ist, der über dem selbstgefälligen Rede-geplätscher von ein paar hundert Abgeordneten in einer bürgerlichen Gesetzge-bungskammer die weltgeschichtlichen Riesenkräfte übersieht, die draußen imSchoße der gesellschaftlichen Entwicklung, ganz unbekümmert um die parlamen-tarische Gesetzmacherei, wirksam sind. ...Solange der Klassenkonflikt zwischen Bürgertum und Feudalmonarchie dauert, istder offene Parteikampf im Parlament sein natürlicher Ausdruck. Auf dem Bodendes perfekt gewordenen Kompromisses dagegen sind bürgerliche Parteikämpfe imParlament unnütz. Die Interessenkonflikte zwischen den verschiedenen Gruppender herrschenden bürgerlich-feudalen Reaktion werden nicht mehr durch Kraft-proben im Parlament, sondern in der Form des Kuhhandels hinter den Kulissendes Parlaments ausgetragen. Was an bürgerlichen offenen Parlamentskämpfennoch übriggeblieben ist, sind nicht mehr Klassen- und Parteikonflikte, sondernhöchstens in zurückgebliebenen Ländern, wie Österreich, Nationalitäten-, d. h.Cliquenhader, dessen adäquate parlamentarische Form die Raufszene, der Skan-dal ist.(Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: GesammelteWerke, Bd. 1, Zweiter Halbband, a. a. O., S. 448 und 449)

19. Rosa Luxemburg über Parlamentarismus als Nährboden desOpportunismus (1904)

Die Erscheinungen im Leben der deutschen wie der französischen und der italie-nischen Sozialdemokratie, auf die sich Lenin beruft, sind aus einer ganz bestimm-ten sozialen Basis emporgewachsen, nämlich aus der des bürgerlichen Parlamen-

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tarismus. Wie dieser überhaupt der spezifische Nährboden der gegenwärtigenopportunistischen Strömung in der sozialistischen Bewegung Westeuropas ist, sosind auch die besonderen Tendenzen des Opportunismus zur Desorganisation ausihm entsprossen.Der Parlamentarismus unterstützt nicht nur all die bekannten Illusionen des jetzi-gen Opportunismus, wie wir sie in Frankreich, Italien und Deutschland kennen-gelernt haben: die Überschätzung der Reformarbeit, des Zusammenwirkens derKlassen und Parteien, der friedlichen Entwicklung usw., er bildet zugleich denBoden, auf dem sich diese Illusionen praktisch betätigen können, indem er dieAkademiker auch in der Sozialdemokratie als Parlamentarier von der proletari-schen Masse absondert, gewissermaßen über sie emporhebt. Endlich gestaltet der-selbe Parlamentarismus mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung diese letzterezum Sprungbrett politischen Emporkommens, weshalb er sie leicht zum Unter-schlupf für ehrgeizige und schiffbrüchige bürgerliche Existenzen macht.(Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in:Gesammelte Werke, Bd. 1, Zweiter Halbband, a. a. O., S. 437)

20. August Bebel über scharfe Opposition als Hauptmethode parla-mentarischer Arbeit (1908/1910)

Unser Ziel erringen wir nicht durch kleine Konzessionen, durch Kriechen amBoden, indem wir zu den Massen heruntersteigen, sondern indem wir die Massenzu uns emporheben, indem wir sie begeistern für unsere großen Ziele. (LebhafterBeifall.) Wenn wir in diesem Sinne arbeiten, bleibt uns der Sieg sicher, nicht aber,wenn wir glauben, wir müßten nach allen Richtungen Rechnungsträgerei treiben.(Sehr richtig!) Gewiß, kein Mensch kann mit dem Kopf durch die Wand. (Sehrrichtig.) Auch im Reichstage tun wir alles, was wir nur tun können, um eine Ver-besserung der Lage der Arbeiterklasse herbeizuführen. Wir tun es nicht in demGlauben, daß es in besonderem Maße geschehen wird. (Sehr wahr!) Wir tun es,um die Arbeiterklasse kampffähiger, leistungsfähiger für den Kampf um unsergroßes Ziel zu machen. (Lebhafte Zustimmung.)...Am 24. November 1884 gab es eine große Debatte im Reichstage darüber, wer derHaupturheber der Sozialpolitik sei, und unser verstorbener Genosse Auer erklär-te, das ist die Sozialdemokratie! Ohne sie wäre die Reform nicht vorhanden. Alsdas bürgerlicherseits bestritten wurde, trat Bismarck auf und antwortete: wenn eskeine Sozialdemokraten gäbe und nicht eine Menge sich vor ihnen fürchteten,würden die mäßigen Fortschritte, die wir bisher in der Sozialreform gemachthaben, nicht existieren. (Hört! Hört!) Bismarck erklärt also hier positiv und direktdie Sozialdemokratie als die Urheberin der Sozialpolitik. Und da spricht man aufunserer Seite von Negation, wie das Kolb getan hat.

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Die Negierer haben in der Welt oft mehr erreicht als die sogenannten positivenArbeiter. (Bewegung.) Scharfe Kritik, scharfe Opposition fällt alle Zeit auf frucht-baren Boden, wenn sie berechtigt ist, und unsere ist gewiß berechtigt. (Sehr rich-tig!)(August Bebel, SPD-Parteitag 1908 in Nürnberg, Protokoll und SPD-Parteitag1910 in Magdeburg, Protokoll, zit. nach H. Grimberg (Hrsg.), Schlag nach beiBebel!, Bremen 1980, S. 20 und 21)

21. Karl Kautsky über Ausnutzung der Differenzen zwischen denbürgerlichen Parteien. Ablehnung einer Koalitionsregierung(1909)

Andererseits aber hält man es für möglich, daß das Proletariat zur politischenMacht gelangt ohne Revolution, das heißt, ohne erhebliche Machtverschiebung imStaat, einfach durch eine kluge Taktik des Zusammenwirkens mit dem Proletariatnahestehenden bürgerlichen Parteien, mit denen man zusammen eine Koalitions-regierung bildet, zu der jede der beteiligten Parteien allein nicht ausreichenwürde.Auf diese Weise komme man um die Revolution herum, die ein ganz veraltetes,barbarisches Mittel darstelle, daß in unserem erleuchteten Jahrhundert der Demo-kratie, der Ethik und der Menschenliebe keinen Platz finde.Diese Auffassungen würden, wenn sie zum Durchbruch kämen, die ganze vonMarx und Engels begründete sozialdemokratische Taktik über den Haufen werfen.... Weiter handelt es sich nicht darum, ob wir Differenzen unter den bürgerlichenParteien nicht zugunsten des Proletariats ausnützen sollen. Nicht umsonst habenMarx und Engels stets das Wort von der „reaktionären Masse“ bekämpft, weil eszu sehr die Gegensätze verdeckt, die zwischen den verschiedenen Fraktionen derbesitzenden Klassen herrschen und die für den Fortschritt des Proletariats mitun-ter sehr wichtig wurden. Sowohl die Arbeiterschutzgesetze wie die Erweiterungender politischen Rechte hatte es meist solchen Gegensätzen zu verdanken.Bestritten wird bloß die Möglichkeit, daß eine proletarische Partei mit bürgerli-chen Parteien zusammen in normaler Weise eine R e g i e r u n g oder eineR e g i e r u n g s p a r t e i bilden kann, ohne dadurch in unüberwindlicheWidersprüche zu geraten, an denen sie scheitern muß.(Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M. 1972, S. 19 und 20)

22. Rosa Luxemburg über die Ohnmacht der rein parlamentarischenAktion (1912)

Indem das Proletariat auf diesen Liberalismus baut, auf die eigene Machtentfal-tung verzichtet und all sein Hoffen ausschließlich aufs Parlament setzt, begibt es

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sich selbst seines Einflusses und raubt auch seiner parlamentarischen Aktion dieKraft. Es ist eine Lebensfrage für die Arbeitermassen, sich darüber vollständigklarzuwerden, daß heutzutage keine ernste, fortschrittliche Reform mehr auf reinparlamentarischem Wege erreicht werden kann. Welche Gestalt und welcheBedeutung heute eine ausschließlich parlamentarische Opposition selbst beiäußerster Zuspitzung des Kampfes gewinnt, das zeigen die jüngsten Vorgänge inUngarn. Hier erleben wir gleichfalls eine Bündnispolitik und einen gemeinsamenFeldzug der Sozialdemokratie mit der Opposition. Was ist aus dem Feldzug im Par-lament geworden? Eine Hanswurstiade mit wüstem Geschrei, Tollhäuserszenenund einem blödsinnigen Revolverattentat als Höhepunkt. Die Kindertrompete istWaffe und Symbol zugleich dieses parlamentarischen Froschmäusekriegs. Undschließlich genügte die Handbewegung eines brutalen Kerls auf der Präsidenten-tribüne, um die ganze Opposition durch den „Leutnant mit zehn Mann“ aus demTempel der bürgerlichen Gesetzgebung wie Betrunkene aus der Schenke auf dieStraße zu werfen. In diesen traurigen und abstoßenden Hanswurstiaden offenbartsich eine sehr ernste Lehre der Zeitgeschichte: die Ohnmacht der rein parlamen-tarischen Aktion gegen die herrschende Reaktion.(Rosa Luxemburg, Schlag auf Schlag, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973,S. 170 und 171)

23. Wladimir I. Lenin über die Suche der reaktionären Parteiennach Rückhalt in den Massen (1913)

In jenen Staaten, wo die Grundpfeiler der Verfassung und die Teilnahme desVolkes an Staatsangelegenheiten gesichert sind, streben nicht nur die Sozialistendanach, die Massen zu organisieren (die einzige Stärke der Sozialisten besteht jain der Aufklärung und Organisierung der Massen), sondern auch die reaktionärenParteien. Ist die Staatsordnung demokratisiert, so müssen die Kapitalisten in denMassen Rückhalt suchen, und dafür ist es erforderlich, sie unter den Losungendes Klerikalismus (der Schwarzhundertreaktion und der Religion), des Nationa-lismus, Chauvinismus usw. zu organisieren.(Wladimir I. Lenin, Die Organisierung der Massen durch die Deutschen Katholi-ken, LW, Bd. 36, Berlin 1967, S. 218)

24. Rosa Luxemburg über außerparlamentarische Aktionen und Par-lamentarismus (1913)

Der jüngste, größte Wahlsieg unserer Partei hat jetzt vor aller Augen klargemacht,daß eine sozialdemokratische Fraktion von 110 Mann in der Ära der imperialisti-schen Delirien und der parlamentarischen Impotenz sozialreformerisch wie agita-torisch nicht mehr, sondern weniger herauszuholen imstande ist als früher eine

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Fraktion von einem Viertel dieser Stärke. Und der heutige Knotenpunkt der inner-politischen Entwicklung Deutschlands, das preußische Wahlrecht, hat durchseine hoffnungslose Versumpfung alle Aussichten auf eine durch bloßen Druckder Wahlaktionen erzwungene parlamentarische Reform vernichtet. In Preußenwie im Reiche stößt die Sozialdemokratie in ihrer ganzen Macht ohnmächtig andie Schranke, die Lassalle schon im Jahre 1851 in den Worten formulierte: „Niehat, nie wird eine (gesetzgebende) Versammlung den bestehenden Zustandumstürzen. Alles, was eine solche Versammlung je getan und gekonnt hat, ist, dendraußen bestehenden Zustand proklamieren, den draußen schon vollzogenenUmsturz der Gesellschaft sanktionieren und ihn in seine einzelnen Konsequenzen,Gesetze usw. auszuarbeiten. Aber ewig wird eine solche Versammlung impotentsein, die Gesellschaft selber umzustürzen, die sie vertritt.“ Wir sind aber an einerEntwicklungsstufe angelangt, wo die dringendsten und unabweisbarsten Abwehr-forderungen des Proletariats - das allgemeine Wahlrecht in Preußen, die allge-meine Volkswehr im Reich - einen tatsächlichen Umsturz der bestehendenpreußisch-deutschen Klassenverhältnisse bedeuten. Will die Arbeiterklasse heuteim Parlament ihre Lebensinteressen durchsetzen, dann muß sie erst „draußen“den tatsächlichen Umsturz vollziehen. Will sie dem Parlamentarismus wieder poli-tische Fruchtbarkeit verleihen, dann muß sie durch außerparlamentarische Aktio-nen die Masse selbst auf die politische Bühne führen.(Rosa Luxemburg, Lassalles Erbschaft, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin1973, S. 222 223)

25. Wladimir I. Lenin über die Unvermeidlichkeit der „bürgerlichenArbeiterpartei“ (1916)

Damals (in England um 1890 - E. L.) konnte sich die „bürgerliche Arbeiterpartei“,um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einemeinzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaßeine Monopolstellung. Jetzt ist die „bürgerliche Arbeiterpartei“ unvermeidlich undtypisch für alle imperialistischen Länder.(Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, LW,Bd. 23, Berlin 1957, S. 113)

26. Wladimir I. Lenin über die Republik als beste politische Hülledes Kapitalismus. Vertretungsköperschaften, aber keinen Parla-mentarismus (1917)

Die demokratische Republik ist die denkbar beste politische Hülle des Kapitalis-mus, und daher begründet das Kapital, nachdem es (durch Paltschinski, Tscher-now, Zereteli und Co.) von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seine Macht

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derart zuverlässig, derart sicher, daß kein Wechsel, weder der Personen noch derInstitutionen, noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, dieseMacht erschüttern kann.Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in der Aufhebung derVertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zu suchen, sondern in derUmwandlung der Vertretungskörperschaften aus Schwatzbuden in „arbeitende“Körperschaften. ...Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber den Parlamentarismus als besonde-res System, als Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Tätigkeit, alsVorzugsstellung für Abgeordnete gibt es hier nicht. Ohne Vertretungskörperschaf-ten können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demo-kratie nicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns denken, solldie Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nicht ein leeres Gerede sein.(Wladimir I. Lenin, Staat und Revolution, LW, Bd. 25, Berlin 1981, S. 405 und436)

27. Rosa Luxemburg über das Parlament und die Erfahrungen derbürgerlichen Revolutionen. Bürgerlicher Parlamentarismus undKlassenherrschaft haben ihr Daseinsrecht verwirkt (1918)

Wie standen die Dinge in England? Dort ist die Wiege des bürgerlichen Parla-mentarismus, dort hat er sich am frühesten, am kraftvollsten entfaltet. Als imJahre 1649 die Stunde der ersten modernen bürgerlichen Revolution in Englandgeschlagen hatte, blickte das englische Parlament bereits auf eine mehr als drei-hundertjährige Geschichte zurück. Das Parlament wurde denn auch vom erstenAugenblick der Revolution an zu ihrem Mittelpunkt, Bollwerk, ihrem Hauptquar-tier. Das berühmte Lange Parlament, das alle Phasen der englischen Revolution,vom ersten Geplänkel zwischen der Opposition und der königlichen Macht biszum Prozeß und zur Hinrichtung Karl Stuarts, im eigenen Schoße ausgetragen hat,dieses Parlament war ein unübertreffliches, gefügiges Werkzeug in den Händender aufstrebenden Bourgeoisie.Und was ergab sich? Dieses selbe Parlament mußte sich ein besonderes „parla-mentarisches Heer“ schaffen, das von ihm aus seinem Schoße gewählte Parla-mentsgenerale ins Feld führten.Und in Frankreich? Dort ward der Gedanke der Nationalversammlung zuerst gebo-ren. Es war eine geniale welthistorische Eingebung des Klasseninstinkts, als dieMirabeau und die anderen im Jahre 1789 erklärten: Die bis dahin stets getrenntgewesnen drei „Stände“, Adel, Klerus und „der dritte Stand“, müßten von nun angemeinsam als Nationalversammlung tagen. Diese Versammlung war nämlichgerade durch die gemeinsame Tagung der Stände ein Werkzeug des bürgerlichen

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Klassenkampfes. Zusammen mit starken Minderheiten der beiden oberen Ständehatte der „dritte Stand“, das heißt das revolutionäre Bürgertum, in der National-versammlung von vornherein eine kompakte Majorität.Und was ergab sich wiederum? Die Vendee, die Emigration, Verrat der Generale,Zettelungen des Klerus, Aufstand von fünfzig Departements, Koalitionskriege desfeudalen Europas, schließlich als das einzige Mittel, den Sieg der Revolution zusichern, die Diktatur und als deren Abschluß die Schreckensherrschaft!So wenig taugte die parlamentarische Majorität, um die bürgerlichen Revolutionenauszufechten! Und doch, was ist der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Feuda-lismus, gemessen an dem gähnenden Abgrund, der heute zwischen Arbeit undKapital sich aufgetan!...Und dieser letzte Kampf, der an Gewaltigkeit der Aufgabe alles Dagewesene über-trifft, soll fertigbringen, was kein Klassenkampf, keine Revolution je fertigge-bracht: das Todesringen zweier Welten in ein lindes Säuseln parlamentarischerRedeschlachten und Majoritätsbeschlüsse auflösen!Auch der Parlamentarismus war eine Arena des Klassenkampfes für das Proleta-riat, solange der ruhige Alltag der bürgerlichen Gesellschaft dauerte: Er war dieTribüne, von der aus die Massen um die Fahne des Sozialismus gesammelt, für denKampf geschult werden konnten. Heute stehen wir mitten in der proletarischenRevolution, und es gilt heute, an den Baum der kapitalistischen Ausbeutungselbst Axt zu legen. Der bürgerliche Parlamentarismus hat, wie die bürgerlicheKlassenherrschaft, deren vornehmstes politische Ziel er ist, sein Daseinsrechtverwirkt. Jetzt tritt der Klassenkampf in seiner unverhüllten, nackten Gestalt indie Schranken. Kapital und Arbeit haben sich nichts mehr zu sagen, sie habeneinander nur mit eiserner Umarmung zu packen und im Endkampf zu entschei-den, wer zu Boden geworfen wird.(Rosa Luxemburg, Nationalversammlung oder Räteregierung, in: GesammelteWerke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 462, 463 und 464)

28. Karl Kautsky über die Nationalversammlung und A- und S-Räte(1919)

Bisher sah unsere Partei ihre Aufgabe in der Revolutionierung der Köpfe, dennnur mit solchen läßt sich der Sozialismus durchführen. Die Spartakusse dagegensehen ihre Aufgabe darin, eine Einrichtung zu erfinden, die uns diese mühsameArbeit erspart, die uns den Sieg und die Herrschaft unter allen Umständensichert, mögen die Massen für uns sein oder gegen uns. ...Die Nationalversammlung ist auf dem Marsch und nichts vermag sie aufzuhalten.Die Sozialisten, die sich ihr entgegenstellen, können nur eines erreichen: die Ver-

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kleinerung der sozialistischen Mehrheit in ihr. Die Schuld dieser Sozialisten wärees, wenn die Nationalversammlung gar eine gegenrevolutionäre Mehrheit aufwies.Gerade weil diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, müssen wir um so drin-gender fordern, daß an Stelle des Kampfes gegen die Nationalversammlung derKampf um sie mit voller Kraft aufgenommen wird.(Karl Kautsky, Nationalversammlung und Räteversammlung, Berlin 1919, S. 14und 16)

29. Wolfgang Abendroth über den Funktionsverlust der Parlamenteim Gesetzgebungsprozeß (1959)

Das Ziel der kapitalistischen Oberschichten in der liberalen Entwicklungsperiodedes vorigen Jahrhunderts - die Verdrängung der Staatsgewalt aus dem gesell-schaftlichen Leben, soweit sie nicht zur polizeilichen Unterdrückung des Proleta-riats unentbehrlich war - ist deshalb in allen kapitalistischen Ländern durch dieAusdehnung der öffentlichen Gewalt zwecks Regelung fast aller Lebensbereiche -jedoch unter der Kontrolle und im Interesse der Inhaber der ökonomischen Macht- ersetzt worden.Damit haben gleichzeitig Umfang und Kompliziertheit der Gesetzgebung erheb-lich zugenommen. Die Parlamente - einst das wichtigste Mittel, durch ihre legis-lative Gewalt den vorkapitalistischen Obrigkeitsstaat zur Anerkennung der libera-len Interessen der modernen kapitalistischen Klassen zu zwingen - haben infolgedieser Entwicklungstendenz die Fähigkeit zur Einbringung neuer Gesetze weitge-hend an die hohe Bürokratie abtreten müssen. Diese kontrolliert gleichzeitig dieAnwendung der Gesetze als administrative Bürokratie durch ihre Verordnungenoder als richterliche Bürokratie durch ihre Urteile. Bürokratie und Richterschafthaben, durch zahllose Generalklauseln der neuen Gesetze begünstigt, die frühereAufgabe des Parlaments, durch seine Normierungen konkrete Tatbestände klar zuregeln, an sich gezogen. Die Macht der Bürokratie, die in immer stärkerem Maßemit der Manager-Schicht der Konzerne, Trusts und Kartelle auswechselbar wirdund verschmilzt, ist dadurch gewaltig gewachsen.(Wolfgang Abendroth, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, Pro-grammentwurf 1959, in: W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politi-sche Demokratie, Neuwied und Berlin 1967, S. 412)

30. Wolfgang Abendroth über Konsequenzen der Entwicklung desParteienkampfes als Auswahl von Führungskadern (1962)

Wird nämlich die politische Auseinandersetzung zwischen den Parteien nichtmehr um wichtige inhaltliche Fragen, sondern nur noch um die Auswahl vonFührungskadern, geführt, so ist die notwendige Folge, daß sich die qualitativ bes-

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seren und politisch interessierten Teile des Volkes für diese Auseinandersetzungnicht mehr so stark engagieren, daß sie noch bereit wären, ihre Zeit für die Tätig-keit in einer Partei zu opfern. Dadurch wird dann unvermeidlich die von OssipFlechtheim geschilderte Tendenz verstärkt, daß sich die Parteimitgliedschaft (undvor allem die Schicht, die die Mitgliederversammlungen besucht) nicht mehr ausWählern ergänzt, die in der politischen Betätigung ein sachliches Anliegen sehen,sondern aus „Anhängern, die die Partei vor allem als Stellenvermittlung betrach-ten“. Als weitere Folge ist die Transformation der Verhaltensweisen der Wähler ineine bloße Konsumentenreaktion, die sich auf Akklamtion auswechselbarer (aberam Ende in Krisensituationen nicht mehr auswechselbarer), mehr oder minderdemagogischer „Führer“ beschränkt, unvermeidlich, die selbstverständlich stetsfür einen großen Teil der Wähler charakteristisch gewesen ist. So galt es bisher alsAufgabe der politischen Parteien, diese Konsumentenreaktion zurückzudrängen.Jetzt wird es ihr Hauptzweck, sie auszunutzen und also auch zu verstärken. Dienotwendige weitere Folge dieser „Entideologisierung“, die in Wirklichkeit diemonopolistische Beherrschung der Gesellschaft durch die jede Gesellschaftskri-tik negierende Ideologie der Ideologielosigkeit zum Inhalt hat, ist deshalb dieUmwandlung der Wahlkämpfe in eine Konkurrenz von Werbetechnikern, die unterVerwendung aller modernen Informationsmittel (und gleichzeitig Manipulations-mittel) in Anpassung an das niedrigmögliche geistige und politische Niveau desWählers die Wortführer der Parteien als Stars aufbauen.(Wolfgang Abendroth, Das Problem der innerparteilichen und innerverbandlichenDemokratie in der Bundesrepublik, a. a. O., S. 306)

31. Reinhard Opitz über Monopolmacht, antimonopolistische Strate-gie und Parlamente (1969)

Antimonopolistische Alternativen haben demnach nichts mit gesellschaftlichenEndvisionen zu tun, sie sind vielmehr Kampfalternativen, mit deren Durchsetzungder Prozeß der Gesellschaftsveränderung nicht abgeschlossen, sondern forciertbzw. überhaupt erst ausgelöst wird. Hinter den ersten Reformen, die gegen denWillen des Monopolkapitals durchgesetzt werden und der Gesellschaft reale Ein-flußpositionen verschaffen, liegt nicht Ruhe, sondern verschärfter, die Entwick-lung immer weiter treibender Klassenkampf.Die Beschaffenheit der von der Opposition jeweils zum aktuellen Kampfziel zuerhebenden Alternativen muß folglich so sein, daß sie die in einer konkretenSituation notwendigen Entwicklungsprozesse einzuleiten vermögen. Alternativen,die nicht die Massen ergreifen, helfen nichts. Ergriffene Massen aber, die fürReformen kämpfen, mit denen der Allmacht der Monopole in Wahrheit keinerleiAbbruch getan wird, helfen auch nichts. Dies sind die beiden Abwege, auf die dieoppositionelle Strategie leicht geraten kann. ...

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Wenn es gelingt, bewußt zu machen, welche Inhalte durch Mitbestimmung durch-gesetzt werden sollen, dann verwandeln sich selbst bei ungünstigerem Zahlenver-hältnis die Aufsichtsräte und Vorstände von Kooperationsgremien in Stätten desKlassenkampfes.Das aber ist auch der entscheidende Punkt in der Parlamentarismusfrage. Für dieMehrheit der Bevölkerung ist die Demokratie mit der parlamentarischen Demo-kratie identisch. Die Entfunktionalisierung der Parlamente ist in allen kapitalisti-schen Ländern eine Folgeerscheinung der Verschmelzung von Monopolmacht undStaatsmacht. Diesen Vorgang der Entmachtung der Parlamente als verursachtdurch das Monopolsystem der Bevölkerung erklärlich zu machen und daraus dieNotwendigkeit der Entmachtung der Monopole abzuleiten, wäre wirkliche Auf-klärungsarbeit, weil sie Einsicht in die Herkunft der Entdemokratisierung vermit-telt und eine klare Auskunft darüber gibt, gegen wen man sich wenden muß, umihr Einhalt zu gebieten.(Reinhard Opitz, Grundfragen oppositioneller Alternative und Strategie, in: Alter-nativen der Opposition, Köln 1969, S. 399 und 404)

32. Wolfgang Abendroth über Ursachen oppositioneller Strömungenin der Sozialdemokratie (1977)

Innerhalb der Sozialdemokratie entstehen immer wieder oppositionelle Strömun-gen gegen eine Politik der Führung, die sich mehr oder weniger bewußt in dieInteressenlagen des realistischen Flügels des Monopolkapitals einordnet. Zwar istdas industrielle Proletariat nicht mehr in der Partei aktiv; die Mehrheit der unte-ren ehrenamtlichen Funktionäre der SPD besteht aus Angestellten und Beamtender Kommunen und Länder. Gleichwohl wirken Belastungen des industriellenProletariats schon deshalb auf die SPD zurück, weil sie auf dessen Stimmen ange-wiesen ist. So werden in der Partei immer wieder oppositionelle Regungen entste-hen, die an ihre Tradition als Partei des proletarischen Klassenbewußtseinsanknüpfen, wenn der Widerspruch zwischen den aktuellen Tagesinteressen derabhängig Arbeitenden und der Politik der Führung der SPD allzu groß wird.(Wolfgang Abendroth, Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und diePerspektive ihrer Linken, in: Das Argument, Juli/August 1977, S. 474 f.)

33. Ernest Mandel gegen Reduzierung des Klassenkampfes auf sei-nen politisch-parlamentarischen Aspekt (1978)

Hinter der gesamten eurokommunistischen Strategie, genau wie hinter der„Ermattungsstrategie“ Kautskys, steht eine manipulatorische und bürokratischeAuffassung von der Arbeiterbewegung, der Arbeiterpolitik und der Politik im all-gemeinen, die es aufzuzeigen gilt. Der Klassenkampf ist allein auf seinen politi-

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III. Literaturverzeichnis

Wolfgang Abendroth, Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie, Pro-grammentwurf 1959, in: W. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politi-sche Demokratie, Neuwied und Berlin 1967Wolfgang Abendroth, Das Problem der innerparteilichen und innerverbandlichenDemokratie in der Bundesrepublik, a. a. O.Wolfgang Abendroth, Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und diePerspektive ihrer Linken, in: Das Argument, Juli/August 1977August Bebel, SPD-Parteitag 1908 in Nürnberg, Protokoll und SPD-Parteitag1910 in Magdeburg, Protokoll, zit. nach H. Grimberg (Hrsg.), Schlag nach beiBebel!, Bremen 1980Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben derSozialdemokratie, Berlin 1991Friedrich Engels, Marx und die „Neue Rheinische Zeitung“ 1848-49, MEW,Bd. 21, Berlin 1984Friedrich Engels an Wilhelm Liebknecht in Berlin vom 29. Dezember 1884,MEW, Bd. 36, Berlin 1967Friedrich Engels, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Einleitung, MEW, Bd. 22, Ber-lin 1963Friedrich Engels an Victor Adler, 30. August 1992, MEW, Bd. 38, Berlin 1968Friedrich Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der „Lage der arbeitendenKlasse in England“, MEW, Bd. 22, Berlin 1972Friedrich Engels an Laura Lafargne, 20. Juni 1893, MEW, Bd. 39, Berlin 1978

Literaturverzeichnis58

schen, besser: politisch-parlamentarischen Aspekt reduziert. Die Beziehungenzwischen politischen Klassen sind im wesentlichen auf alleinige Beziehungen zwi-schen politischen Parteien, besser: zwischen den Führungen dieser Parteien redu-ziert. Eine Handvoll „Führer“ ist dazu ausersehen, die sozialen Interessen vonMillionen Menschen, mit all ihren hochkomplexen Verwicklungen, zu repräsentie-ren und gültig zu artikulieren, und das einzig aufgrund von Wahlergebnissen.Diese gesellschaftlichen Klassen - d. h. Millionen, in den größeren Ländern Dut-zende Millionen von Menschen - sind gehalten, Hab-acht-Stellung vor den all-wissenden Führern einzunehmen, nach Kommando zu marschieren oder stehen-zubleiben, wie Marionetten, die von einer Mechanik manipuliert werden, die siestrikt kontrolliert.(Ernest Mandel, Kritik des Eurokommunismus, Berlin 1978, S. 139)

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Friedrich Engels, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Einleitung,MEW, Bd. 22, Berlin 1963Karl Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, Stuttgart 1911Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M. 1972Karl Kautsky, Nationalversammlung und RäteversammlungWladimir I. Lenin, Die Organisierung der Massen durch die Deutschen Katholi-ken, LW, Bd. 36, Berlin 1967Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, LW, Bd.23, Berlin 1957Wladimir I. Lenin, Staat und Revolution, LW, Bd. 25, Berlin 1981Rosa Luxemburg, Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Gesammelte Werke,Bd. 1, Zweiter Halbband, Berlin 1970Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus, in: GesammelteWerke, Bd. 1, Zweiter HalbbandRosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in:Gesammelte Werke, Bd. 1, Zweiter HalbbandRosa Luxemburg, Schlag auf Schlag, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973Rosa Luxemburg, Lassalles Erbschaft, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1973Rosa Luxemburg, Nationalversammlung oder Räteregierung, in: GesammelteWerke, Bd. 4, Berlin 1974Ernest Mandel, Kritik des Eurokommunismus, Berlin 1978Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW, Bd. 1, Berlin 1978Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW, Bd. 7, Berlin 1960Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, Berlin 1960Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, Berlin 1963Karl Marx, Aus dem Protokoll der Sitzung der Londoner Konferenz der Interna-tionalen Arbeiterassoziation vom 20. September 1871, MEW, Bd. 17, Berlin1962Karl Marx, Friedrich Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht u. a., MEW,Bd. 34, Berlin 1966Reinhard Opitz, Grundfragen oppositioneller Alternative und Strategie, in:Alternativen der Opposition, Köln 1969Wilhelm Wolff, Der preußische Landtag und das Proletariat in Preußen wie über-haupt in Deutschland, in: Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materia-lien, Bd. 1, Berlin 1983

Literaturverze ichnis 59