Erinnerungen an Marie Steiner

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Gespräch zwischen Marie Steiner, der Frau Dr. Rudolf Steiners, und Lidia Gentilli-(Arenson)-Baratto in Dornach im Jahre 1947 hinsichtlich der Anthroposophischen Gesellschaft, insbesondere was deren Vorstand, den damaligen Vorsitzenden Albert Steffen sowie den Nachlass Rudolf Steiners betrifft. Außerdem wird gesprochen über Rudolf Steiners Vergiftung im Jahre 1923 und den Verlust der Fähigkeit eines Menschen, zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können, was durch einen unsachgemäß beschrittenen geistigen Schulungsweg und das Eingreifen dämonischer Mächte geschehen sei.Es handelt sich in diesem Gespräch um die persönlichen Ansichten Marie Steiners; die Aufgabe, sie innerlich nachzuvollziehen und zu prüfen - widerstreitende Sichtweisen gibt es zuhauf! - obliegt dem Leser.Der Text wurde im Selbstverlag veröffentlicht, eine Jahreszahl ist nicht genannt. Das vorliegende Dokument ist ungekürzt und nur in Bezug auf die Rechtschreibung revidiert. Faksimiles einiger Seiten sind enthalten.

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Eine Erinnerung an Marie Steiner1

Aus dem Jahre 1947niedergelegt durch Lidia Gentilli-Baratto

MOTTO

„Der Wahrheit Sinn liegt in der Liebe, der Liebe Wurzel suche in der Wahrheit.“

Rudolf Steiner

Vorwort des Herausgebers 

Das in geringer Auflage erschienene 30seitige Heft „Eine Erinnerung an Marie Steiner“ enthält eine Wiedergabe der Ansichten Marie Steiners (Dr. Rudolf Steiners Ehefrau) in Bezug auf die anthroposophische Gesellschaft, insbesondere deren Vorstand, sowie auf verschiedene Umstände um Rudolf Steiners Vergiftung, Krankheit, Tod und Nachlass, vor allem aber auch in Bezug auf Besitz und Verlust der Fähigkeit eines Menschen, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden; berichtet und erfragt durch Lidia Gentilli-Baratto bzw. Gentilli-Arenson-Baratto (1903-1996), die 1923/24 Mitarbeiterin der Dornacher Eurythmiegruppe wurde.2 Das Heft beinhaltete neben dem Genannten noch die „Erinnerungen an Adolf Arenson“ (Gentilli-Arenson-Barattos Schwiegervater), niedergelegt wohl durch dessen Tochter, sowie das Gedicht „Weihnachtslicht“, die separat herausgegeben sind.Der ursprüngliche Text wurde in der Rechtschreibung dem heutigen Gebrauch angepasst, ansonsten aber unverändert übernommen. Textstellen im Fettdruck, Fußnoten sowie Zusätze in eckigen Klammern stammen vom Herausgeber. Die Seiten über Rudolf Steiners Vergiftung und Marie Steiners Aussagen bezüglich des Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft und der Person Albert Steffens sind als Faksimiles angefügt.Es ist festzuhalten, dass es sich bei Folgendem um die Sichtweise Marie Steiners handelt – insofern die Wiedergabe durch Gentilli-Baratto als getreu anzusehen ist –, von welcher in vielerlei Punkten (etwa hinsichtlich der Tätigkeit der Nachlassverwaltung; der Folgen von Rudolf Steiners Vergiftung und der Ursachen seines Todes; des „rechten“ Handeln Marie Steiners und den „unrechten“ vonseiten Dr. Ita Wegmanns) die Ansichten anderer Persönlichkeiten in nicht unbedeutendem Maße abweichen. 

David Herzberg (Ps.), a.D. 2016

1 Ursprünglich erschienen in im Selbstverlag, beziehbar durch Ernst Meyer, 78 Freiburg i. Br., Kybfelsenstraße 50. Gesamtherstellung Rombach & Co GmbH, 78 Freiburg, Rosastraße 9.

2 Eine kurze Biographie Frau Gentilli-Arenson-Barattos findet sich auf folgender Seite:http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=811

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Eine Erinnerung an Marie Steiner

Von der niedrig gelegenen Terrasse fiel der Blick, nach aufwärts schauend, über die smaragdene Wiese des Hügelabhanges, auf die jungen Birken und Tannenbäume. Immer weiter aufwärts strebend erreichte er die plastische Fläche des Goethanumgebäudes. Der Betonbau ergänzte rötlich im Sonnenschau; lilablaue Schattenrisse fielen auf das Grün, und es entstand zwischen dem Menschenwerke und der sommerlichen Natur das friedliche Gespräch des farbig gebrochenen Lichtes. Seelenreichtum in Kunstform belebte die Gegend.

Auf der breiten Terrasse, die den Betonbau rings umgibt, wandelte die Menge, den Beginn der Kunstvorstellung erwartend. Wie einen von vielen Menschen gebildeten Strom sah man die Besucher des Goetheanums hin und wieder vorbeigleiten, heiterbunt, glückströmend, kunsteratmend.

Friede und Ruhe wohnten in der stillen Ecke der Rudolf-Steiner-Halde, auf der einsamen Terrasse. Wie wenn die Luft die tätige Meditationskraft dieses Hauses empfangen hätte, schien sie starkbewusst und ichhaft zu sein. Draußen, das Bild des Lebens, schien weltenweit entfernt sich abzuspielen, während zwei Menschen, mit ihrem inneren Blick in die Vergangenheit versenkt, Rätselschleier von dem gewaltigsten Drama unseres Jahrhunderts zu entfernen versuchten.

Die achtzigjährige Arbeiterin am Geisteswerk des dort draußen sich erhebenden Baues saß, von sich losgelöst, in der Tatsachenbetrachtung ihres Lebens vertieft, durchsichtig innen wie in ihrer zarten Erscheinung. Ein Mensch ohne Alter, rosig die Haut, wie Kindeshaut, frisch der Geist, zeitlos. Die Dame saß weißgekleidet, aufrecht wie immer in ihrer bewusstseinsfördernden klaren Haltung; die schien ein Urbild des Anthropos3, des aufrechten Wesens. Vor ihr ein kleiner Tisch, auf dem Vasen mit bunten Blumensträußen standen. Ihre Hand ruhte gelassen auf einigen weißen Blättern, auf denen in klaren Zügen etwas hingeschrieben war; die andere Hand lag auf dem Schoß. Unbeweglich streifte ihr Blick in die Ferne, während sie, auf die Frage der Schülerin antwortend, ein inneres Bild wahrzunehmen schien. Das Bild eines Wintertages, weit zurück entfernt, wie von ihrer Seele losgelöst, stand vor beiden.

„... Ja, Rudolf Steiner wurde vergiftet, am letzten Tag der Weihnachtstagung, bei dem Rout4, der in der Schreinerei stattfand. Lange Zeit war ich auch in dem Saal gesessen, während die anderen, um den Doktor herum kamen und gingen. Ich konnte auf keinen Menschen achtgeben, grüßte die Herannahmenden mit größter Mühe, denn ein Unbegreifliches, ein Furchtbares stand vor meiner Seele. Es war mir, als ob ich etwas abwehren sollte, und ich wusste nicht wie und nicht was. Da hielt ich es so ruhig sitzend nicht mehr aus und ging in meinen Raum nach hinten...“

Ein Blatt war vom Strauß auf das weiße Papier gefallen. Sie nahm das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt den Atem an, wie wenn ihr das innere Bild unaussprechlich schien. Dann, mit dem gewohnten selbstlosen Zug ihres starken Wesens, schob sie das Leib beiseite: „... Ich war in ein Gespräch mit Dr. Wachsmuth vertieft, als der Doktor plötzlich hereinkam, grün wie dieses Blatt. Er lehnte sich an den Türpfosten, schaute uns verzweifelt an und sagte: ‚Wir sind vergiftet!’

Ich war vom Schrecken wie gelähmt. Er fragte uns sofort, ob wir etwas getrunken hätten, und als ich verneinte und er bemerkte, dass Dr. Wachsmuth nichts widerfahren war, atmete er erleichtert auf: ‚Also nur ich, das ist gut’, hauchte er und trat wankend in das Zimmer hinein. Dr. Wachsmuth wollte sofort eilen und einen Arzt rufen, aber Dr.

3 Einige erklären das griechische Wort ánthropos „Mensch“ etymologisch als „der Aufgerichtete“.4 „Abendgesellschaft, Abendempfang“

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Steiner verbot es ihm mit allem Nachdruck. Dr. Wachsmuth entfernte sich mit dem Versprechen, dass kein Mensch etwas davon erfahren dürfte, dass kein Arzt gerufen werden dürfte. Der Doktor ließ sich dann alle Milch geben, die im Raume vorhanden war, und unternahm damit selber eine Magenspülung, während andere Milch aus der Villa Hansi geholt wurde. Alle vorhandene Milch wurde herbeigeschafft, und den ganzen Abend und die ganze Nacht setzte er diese Spülung fort...

Er war seitdem dem Tode geweiht. Nur seine übermenschliche, ganz im Geiste verwurzelte Kraft erlaubte seinem Leib, noch 15 Monate zu leben...

Er schonte sich nicht, wissend, dass der Tod an der Tür stand, bis er – zu Michaeli – ganz zusammenbrach...

Ja, nach seinem Tode hätte ich die Pflicht gehabt, das der Gesellschaft zu sagen, aber schon die Andeutung, die ich später am Ende des ‚Lebensganges’ darüber machte, stieß auf Widerstand seitens des Vorstandes... Man wollte nicht darüber die Wahrheit erfahren... Dieser Vorgang war gefürchtet wie sein Testament. So musste ich darüber fast schweigen.“

Wie in einen entsetzlichen Abgrund schauend, erschien der Schülerin die ganze Not der letzten 15 Monate des Lebens ihres Lehrers, und in ihrer spontanen, vertrauensvollen Art, ohne den Vorwurf ihrer Worte zu ermessen, rief sie aus: „Aber wir gingen damals auf Reisen, Frau Doktor! Und sie wussten, dass er sterben würde, Sie wussten, dass er allein blieb. Warum haben Sie ihn so allein gelassen?“ (Es war damals, auf Wunsch Rudolf Steiners, eine längere Eurythmie-Tournee in Deutschland unternommen worden.)

Die Qual der Seele des jungen Menschen wahrnehmend, lächelte müde die weise Frau: „Dr. Steiner hat es so gewollt. Sein Leib war nicht mehr zu retten, er war dem Tode geweiht. Aber sein Werk war zu rennet!“ – Die eisenfeste Seelenhaltung der Mitarbeiterin Rudolf Steiners, die unermessliche Pflicht, die ihr vom Schicksal erteilt worden war, erschien in ihrer ganzen Größe. – Sanfter setzte sie das Gespräch fort: „Öfter hatte mir Dr. Steiner gesagt, dass die anthroposophische Arbeit, die mir oblag, sein Werk retten würde, wenigstens so lange, bis das Bewusstsein seiner Schüler herangereift sein würde. Nur durch mein Wirken, meinte er, würde sein Werk für die Menschheit voll und ganz gerettet werden. Seinem Werk hatten wir beide alles geopfert. So erbat er von mir auch das letzte Opfer. Er blieb stark trotz meiner Tränen, denn all unser persönliches Lebens galt der Menschheit, nicht uns. Dieses letzte Opfer aber, ihn so verlassen zu müssen, ist mir das Ärgste im Leben gewesen... In der anthroposophischen Kunst sah er die Brücke zu einer neuen esoterischen Gesinnung.“

Nun senkte sie das Haupt. Teile einer Blume lagen verstreut auf ihren Knien. Wie wenn sie etwas von sich entfernen wollte, vielleicht die Bedrückung eines fernen Bildes, wischte sie einige Male mit der Hand die Blumenreste hinweg von ihrem Kleid. Eine hilflose Geste, die sie der Begleiterin umso teurer machte durch die karge Erscheinung ihrer inneren Geschlossenheit. Eine so starke und so selbstlose Persönlichkeit erlaubt sich keine Schwäche, daher war sofort die drückende Stimmung überbrückt, und sie sprach, wie wenn sie aus dem Leben eines Dritten erzählen würde: „Auf meine Bitte hin, versprach mir der Doktor, mich rechtzeitig zu sich zu rufen, wenn er den Tod kommen fühlte. Er tat es auch. Seine Bitte wurde aber nicht sofort ausgeführt, und so war es nicht unsere Schuld, wenn ich ferne war, als er die Augen schloss...“

Es ging der Seele der Schülerin ein blasser Schimmer einer jener Welt-zusammenhänge auf, welche den Fortschritt einer kleinen Gruppe geistiger Poniere durch das Leidmeer ihrer Führer bewirken sollte. Unermesslich groß stand die Realität des Opfers da, durch die Tatsachen des geschichtlichen Ganges der Ereignisse nun

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gestählt und gehämmert. Wie Wogen im Wellengang wiederholte ihre Seele immerfort im Innern: „Sein Leib war nicht mehr zu retten; aber sein Werk war zu retten...“

Sentimentalität war wahrhaft nicht bei Frau Dr. Steiner am Platz. Ihre Worte gingen in das Heiter-Humorvolle über, wie bei jemandem, der weiß, wie die Dinge sind, und der das Geistig-Wirksame turmhoch über dem irdisch Schwankenden, zeitlich Sterbenden, wahrnimmt. „Und so ist es heute“, sagte sie heiter. „Nachdem wir alles der Gesellschaft gaben, behandelte diese ihn wie einen Idioten, der über seinen Nachlass nicht testieren durfte, und mich wie eine Diebin, welche der Gesellschaft des Lehrers Hab und Gut rauben will... So gehen ja die Dinge!“

„Etwas möchte ich Sie noch fragen, Frau Doktor“, sagte die Schülerin. „Sie sind doch nie aus dem Vorstand zurückgetreten, nicht wahr?“

Frau Marie Steiner blickte amüsiert und verneinte. „Also“, setzte die Schülerin fort, „wenn Sie nicht zurückgetreten sind, sind Sie Vorstand, auch wenn Sie nicht der Vorsitzende sind, und haben alle rechte gleich den übrigen Vorstandsmitgliedern. Sie müssten über einen Teil des Mitteilungsblattes verfügen und als Vorstand Ihre Meinung sagen können. Warum verlangen Sie nicht eine der vier Seiten des Blattes ‚Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht’? Wie sollen die Mitglieder wissen, was Sie sagen, wenn Sie nicht als Vorstand zu ihnen sprechen, sondern an einer winzigen Ecke, mit eigenen Mitteln, sich ein [Mitteilungs-]Blatt unterhalten müssen? Das ist unwürdig. Das geht nicht. Sie gehören zum Zentrum. Sie sind doch die Mitbegründerin der Bewegung, wie Dr. Steiner sagt.“

„Das ist es eben, aber ... man hat mich hinweggestoßen, und nicht nur mich, auch Dr. Steiner. Haben Sie ... das gelesen? Ich bin behandelt wie ein Fremder im eigenen Land. Sie reden von Recht und Unrecht! Recht ist, was der übrige Vorstand tut, sagt, verbreitet, will. Ich habe keine Rechte mehr. Ich bin völlig entrechtet. Wäre ich noch jung, ich würde wohl kämpfen. Aber ich bin zu alt ... reif für das Exilium.“

„Nun, Frau Doktor, was geschieht, ist eine Gemeinheit! Aber jedes Mitglied hat Rechte, Pflichten und Rechte, individuell, nicht als eine neue Gruppe, wo man sich doch dem Anderen verpflichtet fühlt, sondern ganz individuell, einfach als einzelnes Mitglied, wir werden für Sie eintreten. So kann es nicht weitergehen, dass ein Mitglied des Vorstandes so behandelt wird!“

„Versuchen Sie es. Um individuell zu handeln, muss man sehr stark sein. Sie sind eine Italienerin. Das Gefühl für das Recht ist im italienischen Volksgeist verwurzelt...“

„Um das zu tun, muss ich zwei Dinge wissen. Das erste ist, was Sie unter dem ‚Vorstandsgedanken’ verstehen. Sie schrieben in einem Brief an Albert Steffen, schon 1942, also bevor Sie den Nachlassverein gründeten, er habe ‚den Vorstandsgedanken’ verraten. Ein Verrat ist wohl ein Grund, um das Vertrauen in einen Menschen zu verlieren. Aber was ist dieser Vorstandsgedanke, den er verraten hat?“

„Es ist gut, dass Sie fragen. Die Mitglieder sollten diese Dinge wissen, nur wenige wissen davon, und die sterben aus. Und wie sollten die, die in der blinden Verehrung zur ‚Vorstandsmehrheit’ erzogen worden sind, die Geschehnisse erkennen, wenn nicht durch die Erzählung des wahren Tatbestandes? Und wer [Anderes] soll ihnen diesen erzählen, als der, der eben von Anfang an dabei war? Aber mich will heute niemand mehr hören, außer einer Handvoll Menschen... Zu wenige Mitglieder kennen die Wahrheit, und von diesen hat kaum jemand den Mut, sie laut zu sagen. Daran krankt die Bewegung, dadurch versagt die Gesellschaft, dass Wahrheitsmut mangelt an allen Ecken und Enden. Es wäre dieser Riss nicht so furchtbar geworden, wenn die Menschen das auch sagen würden, was sie wissen und denken. Aber die Angstdämonen herrschen hier über dem Dornacher Hügel und erdrücken die Seelen mit ihrer furchtbaren Last. Vielleicht erwacht die Gesellschaft an meinem Tod. Aber dieses Erwachen sollte keine

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neue Trennung, sondern Neugeburt bringen. Nicht den Fehler mit Frau Dr. Wegmann wieder machen. Keiner schneidet sich eine Hand ab, nur weil sie Falsches tat. Vorwärts, vorwärts müssen wir schauen, Heilung und nicht Trennung, das ist das Losungswort. Die Weisheit ist nur in der Wahrheit...

Zur Wahrheit aber gehört vor allem Mut! Sie sind Waschlappen, die Mitglieder, und die besten Männer werden in Gegenwart der Herren des Vorstandes wie geschlagene Hunde. Sie lassen es zu, dass ich und Dr. Steiner angegriffen werden, ohne zu mucksen. Das ist, weil die Dämonen hier überstark geworden sind... Sie kommen frisch aus Italien. Da haben Sie keine Ahnung, was hier wirkt. Ich werde selbst von Dornach weggehen müssen. Und es wird mir leid tun, diesen Anblick – (sie deutete mit der Hand auf das glänzende Goetheanumgebäude) – nicht mehr haben zu können... Aber auch daran werden sie nicht erwachen. Sie werden froh sein, dass die unbequeme Frau ferne ist...

Der Vorstandsgedanke, er ist ein Teil der Vorgeschichte der Weihnachtstagung. Als 1922 die deutsche Gesellschaft durch die Folgen des Krieges in die Brüche ging, das alte Goetheanum verbrannt war und die Gewalt der Gegenmächte alles zu zerstören drohte, wollten wir, Dr. Steiner und ich, uns von der Gesellschaft zurückziehen und wieder, frei von jeder gesellschaftlichen Bindung, uns der Bewegung widmen. Die vielen Fehler der Mitglieder hatten einen Stacheldraht um Dr. Steiner gelegt, er konnte sich nicht mehr bewegen, all seine Kräfte waren damit in Anspruch genommen... Jedoch, die Mitglieder dauerten uns. Wir entschlossen uns, sehr, sehr kurz vor der Weihnachtstagung, zu einer Neugestaltung der Gesellschaft. Das ging aber nur, wenn er die Leitung der Gesellschaft auf sich nehmen würde. Dass dies sein Leben kosten würde, das war wohl ihm, nicht mir bewusst. Alles packte er ganz neu an, und wir hielten Ausschau, wer bei diesem Werk mit uns verbunden dienen durfte. Unger war von vorneherein ausgeschlossen. Er hatte sein Karma in Deutschland. Und Dr. Steiner wusste wohl, dass er bald nach ihm sterben würde. Sie wissen, Unger war einmal vorgesehen, unser Erbe anzutreten, im Falle unseres Todes. Das wurde aber dann geändert. Unger hatte ein schweres Los... Neue, jüngere, frische Kräfte wurden von Dr. Steiner gesucht, und ich und andere Freunde sollten Vorschläge machen. Es sollten Schweizer sein oder Menschen, die in der Schweiz lebten und somit Kunde ihres Karmas brachten. Bei solchen Fällen ließ sich Dr. Steiner immer von mir Vorschläge unterbreiten. Miss Marion, welche krank lag und Dr. Steiner das Leben gerettet hatte, war von jeher ein wichtiges Glied dieser Gründung. Frau Dr. Wegmann, unsere liebe Freundin, welche Rudolf Steiner mit größter Seelenhingebung in die Schweiz gefolgt, ja, vorangegangen war, wurde von mir vorgeschlagen. Sie war von Dr. Steiner auch als ein Finanzgenie anerkannt, er war ihr sehr dankbar, sie hatte ihm wichtige Ratschläge beim Verfall des Futurums5 gegeben. Damals, aus Dankbarkeit, hatten wir ihr meinen Rosenkreuzring geschenkt. Sie hatte schon eine eigene gute Arbeit in der Klinik. Er schätzte sie sehr, auch als praktische Kraft, die in solch einem Unternehmen sehr wichtig war, und nahm meinen Vorschlag freudig entgegen. Auch Albert Steffen, der begabte Dichter, den Dr. Steiner ganz besonders schätzte und der als Schweizer eine sehr günstige Note brachte, wurde von mir vorgeschlagen. Da sagte mir Dr. Steiner, das sei karmisch. Wir hatten Herrn Steffen sehr schätzen gelernt.

Zwar fürchtete Dr. Steiner, dass es zu früh sei, diesen jungen Menschen so viel Verantwortung aufzuladen, aber er hoffte, Zeit genug zu haben, ihnen behilflich zu sein und sich allmählich diese junge Schar heranzuziehen. Dr. Wachsmuth wurde erst später, vielleicht von Frau von Vacano, vorgeschlagen. Ich kannte ihn zu wenig.

Hartnäckig wollte Dr. Steiner, dass ich den Vorsitz mit ihm übernähme. Ich hätte aber nicht beides, die Gesellschaft und die Kunst, mit meinen schwachen Kräften

5 Im Jahre 1920 trotz Bedenken Rudolf Steiners gegründete AG zur Eingliederung der Dornacher medizinisch-therapeutischen Einrichtungen und des Verlags am Goetheanum; aufgelöst 1922.

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verantwortlich tragen können. Ich ahnte damals nicht die Tragik, die ihm widerfuhr, und war voll Vertrauen, er würde lange noch leben... Ich nahm es nicht genügend wahr, was er mir öfter sagte und später schrien, dass seine physischen Widerstandskräfte durch das furchtbare Erlebnis der Silvesternacht abgeschwächt waren, weswegen er nicht mehr wie früher alles ertragen und überwinden konnte.* * (Silvesternacht: Brand des Ersten Goetheanums am 23.12.1922.)

So kam es zu einer wichtigen ersten Sitzung zu dritt: er, Herr Steffen und ich. Das war ganz kurz vor der Weihnachtstagung, vielleicht war es der 19. Dezember, wie Herr Steffen schreibt. Das weiß ich nicht mehr. Es war ein tiefes Schicksal, das uns drei zu einer Einheit verband. Wenige Menschen haben vom Inhalt dieser Sitzung gewusst; Arenson und Unger wussten aber davon. Bei dieser Sitzung sagte uns der Doktor, dass, im Einklange mit dem Willen der geistigen Welt, er den ersten Vorsitz der Gesellschaft übernehmen würde und ich von der geistigen Welt aus als der zweite Vorsitzende und sein Stellvertreter bezeichnet worden sei. Das alles wusste ich schon, dennoch bat ich ihn erneut, eine jüngere Kraft zu dieser Arbeit sich zu nehmen, da ich die letzte Jahres meines Lebens meiner Schicksalsaufgabe, der anthroposophischen Kunst, widmen wollte. – Ich dachte öfter, vor Dr. Steiner zu sterben. Er war immer so gesund und stark, ich immer so krank!

Diese Absage nahm Dr. Steiner nicht entgegen. Nur als ich ihm den Einwand machte, dass es vor der Außenwelt nicht günstig sei, wenn in einer solchen Weltgesellschaft, wie die anthroposophische nun werden sollte, das Ehepaar Steiner als erster und zweiter Vorsitzender figurierten, nahm er diesen meinen zweiten Vorschlag an, Herrn Steffen als den zweiten, stellvertretenden Vorsitzenden zu ernennen. Er betonte aber, dass, im Einklage mit der geistigen Welt, Herr Steffen nur mit mir zusammen diese Stellung bekleidete. Herr Steffen versprach damals dem Doktor, sein Leben lang – seinem Karma entsprechend – immer mein Ritter und Beschützer zu sein.

Dies wurde bei uns der ‚Vorstandsgedanke’ genannt, da er ohne mich nicht volle Gültigkeit vor der geistigen Welt hat als zweiter Vorsitzender. Auf dieses Versprechen von Herrn Steffen baute sich auf die Weihnachtstagung als Neubildung der alten Anthroposophischen Gesellschaft, die immerhin das erste Goetheanum erbaut hatte. In vollster Anerkennung dieser Tatsache, dass er immer mit mir vereint sein Amt in der Gesellschaft zurecht bekleide, versprach Albert Steffen unsere Arbeit stützen zu wollen. Bei der Sommertagung 1942 hat er dieses sein Versprechen völlig verraten. Von da an hat er nur sich selbst als ‚der Vorstand’ gefühlt. Ich war völlig ausgeschaltet. Ich wurde als eine unangenehme alte Frau und Feindin der Gesellschaft hingestellt. Der wahre Feind seiner Gesellschaft war aber eigentlich Dr. Steiner, der mich durch sein Testament an seine Seite stellte vor aller Welt. Das kann Herr Steffen dem Doktor nicht verzeihen. Daher wurde ich von der Mitgliedschaft entfernt, und mein Wort konnte nicht mehr zu ihr dringen. Denn Herr aller Rechte im Vorstand blieb Herr Steffen allein. Das also war der Vorstandsgedanke, wovon ich 1942 Herrn Steffen schrieb: Sie haben den Vorstandsgedanken verraten. – Und Ihre zweite Frage?“

„Nach dem Kriege“ – begann die Schülerin – „kam Lina Schwarz nach Italien zurück mit all den unangenehmen Nachrichten von Dornach. Wir dachten, endlich sei der Krieg zu Ende, endlich könnten alle Anthroposophen über die Grenzen nach diesem geliebten Land kommen, und siehe da, der Krieg im Vorstand durchwühlte die Gesellschaft bis ins Mark.

Frau Doktor, ich möchte den Unterschied wissen zwischen jemandem, der sich irrt aus begreiflicher Unreife, aus den Mängeln seiner Charaktereigenschaften, und jemandem, der den Irrweg begeht, weil er ‚esoterisch versagt’. Als Lina Schwarz das von Herrn Steffen sagte, zog ich sie zur Verantwortung. Ich dachte, es sei Dornacher Klatsch. Sie aber sagte mir, dass Sie, Frau Doktor, dies gesagt hätten. Sie haben es gesagt von

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einem Vorstandskollegen. Mir ist auch in all dem Geschehen soviel Unbegreifliches, was mich quält. Die Rätsel dieser Tragödie in Dornach gehen tatsächlich über Menschenkräfte. Und eben, ich verstehe nicht, was das sei, jemand habe esoterisch versagt. In diesen Worten aber, von Ihnen gesagt, ahne ich den Kern der Dornacher Tragödie, denn ich weiß, dass Sie ein hoher Eingeweihter sind.“

„Ja, ich habe es gesagt. Damit entschuldigte ich die beiden Herren. Denn es ist ein Schweres, so früh und unerfahren die Verantwortung für die ganze Gesellschaft tragen zu müssen. Würde ich das nicht sagen, so müsste ich sagen, es sind Gangster, die mir alles rauben und Dr. Steiner zuwiderhandeln wollen. Ich müsste sagen, es sind böse Menschen, die wissend Böses tun. Das ist aber nicht der Fall. Sie sind „nicht selbstlose“ Menschen, da konnten die Gegenmächte durch sie eingreifen. Sie stellen sich selbst über Dr. Steiner, über mich, aber wissen nicht, dass sie dieses tun.“

„Es ist so, wie wenn jemand verrückt ist, und sein Bewusstsein anderer Natur ist?“Eine Weile lag eine drückende Stille auf der Seele der Schülerin. Dann sprach die edle

Mitbegründerin der anthroposophischen Bewegung die gewichtigen Worte: „Ja, Lidia, Sie werden es selbst erfahren: Herr Steffen hat das moralische Gehört verloren, er unterscheidet nicht mehr, was recht und unrecht ist...“

Wie Blei fielen diese Worte in die Atmosphäre, schicksalsschwer, unbeugsam, während leise, schmerzbeladen und nachdenklich die Stimme der ehrwürdigen Frau weiterfuhr: „So kann ein Mensch durch einen einseitigen geistigen Fortschritt dahin kommen, wie ein Gefangener seiner selbst der Versuchung der Gegenmächte zu verfallen, nicht als gewöhnlicher Mensch allein, sondern als Geistesschüler.6 Die Mysteriendramen kennen Sie ja. Das wirkt sich im Leben so aus, dass er der Sinn für das Rechte, für das Wahre verliert. Ein gewöhnlicher Mensch lügt; aber er weiß, dass es Lüge ist, dass die Wahrheit ganz anders ist. Hier ist es ganz anders. Hier glaubt ein Mensch, etwas sei gut, edel, wahr, weil er es sagt, und er kann nicht fehlen. Sein Denken verlässt jede Tatsachenwahrnehmung und lebt in der Einbildung. Ist er aber eine Individualität auf dem Wege zur Einweihung, so trägt er in seinem Niederfall auch die karmisch mit ihm Verbundenen. Denn, wäre er ein gewöhnlicher Mensch, nun, es gibt so was, und es schadet weniger. Hier dehnt sich sein Wesen über Andere. Sie werden es selbst erfahren: Beste Menschen, begabte, gute Menschen werden nicht mehr selbständig denken können, ihre Moralität versinkt dadurch weit tiefer als die eines gewöhnlichen Lügners. Sie verbreiten Angstquellen. Selten kann jemand ihnen widerstehen. Es ist ein okkulter Vorgang, der sich in Schulen, welche dem esoterischen Wirken dienen wollen, wiederholt und sie zugrunde richtet. Auch unsere Schule, die Michael-Schule auf Erden, ist davon zugrunde gerichtet. Denn ihr Wesen ist Wahrheit. Ihr Tod ist Lüge und Wahn.“

„Und tun, was kann man tun dagegen?“ sprach in Seelennot die Schülerin.„Wahrheit, Wahrheit und nochmals Wahrheit laut und vernehmlich sagen.

Wenn die dem Wahn verfallenen Seelen aufwachen können, wachen sie nur an der Wahrheit auf. Die Wahrheit verschweigen ist das schlimmste, was man tun kann. Im übrigen, seinen eigenen Weg allein, auch ganz allein gehen, im Dienste der Wahrheit.“

„Aber, wenn jemand die Wahrheit nicht wahrnehmen kann, wie soll er sie hören?“

6 Hier sei verwiesen auf den „Abschiedsvortrag“ Manfred Schmidt Brabants zur Michaelitagung 2000, kurz vor seinem Tode, veröffentlicht im Nachrichten Blatt für Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft am 19.11.2000; dort steht abgedruckt: „Die Anthroposophische Gesellschaft könne in okkulte Gefangenschaft geraten sein. Ihr geistiges Streben werde wie von Mauern zurückgeworfen. [...] ‚Der Zusammenschluss geistig fruchtbarer Menschen fehlt’.“ Siehe hierzu auch die ausführliche Besprechung des Vortrags von Thomas Meyer in „Der Europäer“ (Jg. 5, Nr. 6, 2001): http://www.perseus.ch/wp-content/uploads/2012/02/okkulten-Gefangenschaft-der-AAG.pdf

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„Das esoterische Leben ist eine Tatsache, im Esoterischen wirkt die Wahrheit, wirkt das Rechte, wirkt die Güte. Dort reinigt sich die Atmosphäre, die Dämonen werden verscheucht. Um einen Lügner sammeln sich Dämonen. Sie werden ernährt und saugen Seelenkraft und werden stärker. Aber auch das Gegenteil ist wahr. Unsere Seelenkraft ist Nahrung in der geistigen Welt. Ernst soll man nehmen, was Dr. Steiner darüber sagt. Nicht nur denken, bequem denken und schweigen, sondern sofort, am gleichen Ort, an der gleichen Stelle, wo einem die Lüge entgegentritt, soll man die Wahrheit hinstellen. Tut man das nicht, wird es immer zu spät. Zu spät. Nachher ist es doppelt schwer...

Der Kraußbrief7 ist von Ahriman geschrieben worden. Albert Steffen sagt, er habe diesen Brief nicht gekannt. Er hat ihn aber gewollt, wie sein Salomo den Tod von Hieram wollte. Er tat daher nichts, gar nichts, um den Lügengang abzustoppen, den dieses Meisterwerk Ahrimans auslöste, weil er eben diesen Brief und die darin enthaltenen Unwahrheiten mit ganzer Seele wünschte. Man wird gegen das Testament von Dr. Steiner vorgehen, man wird mich mürbe machen bis in den Tod, um mir das Testament und einen bestimmten Brief aus den Händen zu reißen. Es wird ihnen aber nicht gelingen.

Wenn man ganz selbstlos wird und die Individualität stärkt im Dienste der Sache, aber bereit ist, reell auf alles, alles Persönliche zu verzichten, dann wird es gelingen. Glauben Sie nicht, diese Dinge seien bei mir selbstverständlich, auch ich habe zu spät gesprochen. Auch ich musste mir den Mut schwer erwerben. Die Dämonen fürchten entsetzlich die Wahrheit, da sie dagegen keine Waffen haben. Sie werden mächtig stark, bis wir gelähmt werden. Willenslahm machen uns die Dämonen. Sie haben es ja selbst erfahren: Die moralische Reaktion auf eine erkannte Untat ist heute eine Seltenheit, wenigstens bei uns. Man ist immer böse mit denen, die Recht haben, und voll Mitleid und Sentimentalität mit denen, die Unrecht haben. Von mir verlangt man, ich soll immer nachgeben. Aber meine Pflicht lasse ich mir nicht nehmen!“

Die Stärke des Ausdruckes eröffnete vor den Augen der Schülerin ein Leben der Pflicht gewidmet. Wer diese Worte sagte, hatte sie durch Lebenstaten besiegelt.

Rötlich in der untergehenden Sonne erglänzte dort das Gebäude, das als Denkmal des ersten Goetheanums auf dem gleichen Hügel stand. Ringsum war es still geworden, die Besucher hatten die Terrasse dort droben verlassen, und der ganze Hügel war menschenleer. Im herannahenden Schatten des Abends lag die Trauer eines Abschieds, dem Tode entgegen. Jedoch mit beflügeltem Gang nahte Geistvertrauen heran.

7 Im sogenannten Kraußbrief von 1945 wurde bestritten, dass Marie Steiner „die alleinige Eigentümeruin aller Rechte am gesamten Werk Rudolf Steiners“ sei, sie stünden vielmehr „ausschließlich der [Anthroposophischen] Gesellschaft zu“. Nähere Informationen: http://www.anthroweb.info/geschichte/geschichte-ag/verhaertete-fronten-kuenftige-versoehnung.html

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