Ernst Molden - WIEN

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ERNST MOLDEN HINWEISE ZUM UMGANG MIT EINER ALTEN SEELE MITFOTOGRAFIEN VON NIKOLAUS SIMILACHE

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Hinweise zum Umgang mit einer alten Seele.

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ERNST MOLDEN

HINWEISE ZUM UMGANGMIT EINER ALTEN SEELE

MIT FOTOGRAFIEN VONNIKOLAUS SIMILACHE

Jetzt, das ist zum Beispiel derZweite Distrikt.Man wollte hier einmal, vor gut fünfzehnJahren,, eine Weltausstellung veranstalten,mit Budapest als Partnerstadt. Die Wiener,von sich aus keine euphorischen Zeitgenos-sen, sagten die Weltausstellung per Plebiszitwieder ab. Aber die Spekulanten waren vor-her schon da gewesen und hatten den Zwei-

ten Distrikt, der dem geplanten Expositions-gelände gegenüberlag, auf- und durchein-andergekauft. Als es nichts wurde mit derWeltausstellung, gaben die Spekulanten ihreBeut,e zwar wieder her, aber schon hatte die

Stadf mit all ihren betroffenen Teilen undOrganen begonnen sich zu verändern. NeueMenschen bezogen einstmals gemiedenb

Viertel, ehedem verschriene Areale des Zwei-

ten Di$rikts bekamen neue kulturclle Zu-schreibungen. Der Distrikt, die Leopoldstadt,spielte im Zug€, der Öffnung des EisernenVorhangs seine Rolle als erster Westhafenfür Binnenmigranten so elegant wie schonvor 150 Jahren. Selbst das von den Nryls ver-triebene und ausgerottefe jüdische tl-eben,

das hier einmal sein Zentrum hatte, schien(und scheint) ganz langsam zurückzukehren.

Parallel zur Hebung des Donauspiegels im

Zuge der Staustufe Freudenau hob sich die

Stimmung der anrainenden Distrikte Leo-poldstadt und Donaustadt, und als man zehn

Jahre später die auf dem Expositionsgeländevon damals errichtete Satellitenstadt eröff-nete, war dies der späte Majestätsakt zurlängst vollzogenen Umwälzung.Wien verändert sich in Schüben. verändert

sich scheinbar selbstbestimmt, und nicht sosehr bedingt, als allerhöchstens leicht beein-flusst vom Willen derer, die es regieren.Und der Zweite Distrikt ist noch immer in

Umwälzung begriffen, an seiner Dynamiklässt sich täglich erme,ssen, was Jetzt in Wien

bedeutet. Während dieses Buch fertig wird,verschwindet der Praterstern, jener Platz, andem die Straßenbahnfahrt des vorigen Ka-pitels geendet hat, der wichtigste Verkehrs-knotenpunkt dieses Stadtteils. Das heißt, imZtge der U-Bahn-Verlängerung erhält er einneues Gesicht.Wenn Sie das hier lesen. ist der Platz schonweg.Abör ich bin hingegangen, um mir den Platzgenau anzuschauen. Ich schenke Ihnen jetzt

diesen Platz.Das Jetzt.

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Praterstern. So einfach geht eilrg geht es, wenn mannchnell ein bisschen Ruhe braur/ne braucht.Nur die Rolltreppe nach obeildlch oben muss mannohmen, und die abertausend huusend Stimmen. diewic in Babel abertausend Sprm=nd Sprachen spre-chcn, werden leise, murmelig$nrrmelig, beruhigend.Nur diese Rolltreppe brauchldüpraucht man. DieseIunge, steile und vor allem slndlllem schmale Roll-t rc ppe. Eine der letzten WieneruilnMiener Rolltreppen,rlic keine Überholspur habeiild haben. Die Roll_trcppeninnenwände in blasseruld blassem Blitzblau.Die fährt man hoch, und maruind man ist aus derl,tiwengrube draußen. Man ist ilinn.an ist im Freien, aufdem Bahnsteig, in plötzlichedrili:zlicher Ruhe. Der,,l]ahnhof Wien Nord,, steht wrldil.teht wie eine über_trrcite Brücke, wie ein enormejrlr,normer Couchtischlm ihn umgebenden Chaos. Er hlucs. Er hat drei dop_pelgleisige Bahnsteige. Auf den illu uf den Gleisen Einsünd Zwei geht es nach Norden, ,J[prden, auf Drei undVicr nach Süden, auf Fünf u$d tlmlnf und Sechs ratterndic Frachte nzüge durch.

Die Zugfrequenz ist hoch. Und nachdem inbeide Richtungen ein paar Garnituren durch-gefahren sind, erkennt man, wer noch alleshier herauf gekommen ist, um Ruhe zu ha-ben, statt wegzufahren. Ein Nomade imgrauen Arbeitsanzug und mit einem Schnau-zer, der tiefer hängt als sein Kinn; die beidenebenfalls grauen Hände umschließen wie imGebet eine Dose Ottakringer. Eine verstörteFrau mit ganz vielen Wanderabzeichen amzerschlissenen Steirerjopperl, die, auf und ab

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gehend, laut mit sich selbst oder einem Un-sichtbaren spricht. Hinter der offenen Türzum Stiegenhaus ein Bettler, ein schönerMann mit roten Haaren, der eine gerippte,Wollhaube mit ein,paar Cent darin vor sichund seine vielleicht fünfjährige Tochter zurGesellschaft mitgenommen hat. Er sprichtRussisch mit ihr, das ebenfalls feuerhaarigeMädchen kichert und reißt dem Vater einpaar weiße Haare aus.

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llic abertausend Stimmen aus der Löwen-glul)e kommen ganz gedämpft, fast wie einelrrrrc Einbildung hier oben an, und auch was

rrrirn ringsum sieht, ist ganz harmlos.I lbcr das Mäuerchen jenseits der Geleise,,t'ltaut man auf mittelhohe 'Hausfassaden,,lic, wie fast überall in Wien, aus der Zeitiwischen der vorletzten Jahrhundertwenderurcl den Sixties des vorigen Jahrhunderts', t iunmen. Ein schmaler hoher Turm von ei-rrrrn Gemeindebau erhebt sein rissig gewor-

rlcrres Haupt. Man sieht einpaar Kräne, aberrs sind hier nicht allzu viele.Irr Bronze gegossen, steht der lang verstor-lrcne Flottenkommandant Wilhelm vonl'cgethoff, Seeheld von Hepoland und Lissa,gct'rieterisch auf seiner Siegessäule, knappIrrrrrdert Meter von den Geleisen entfernt.Mirn kann ihm nicht recht ins Antlitz schau-lrr. die Sonne blendet, und;ine der vielenIrtrndert Tauben könnte die Chance nutzen,hicr stoffuephselmäßig zu punkten.l)ic blaue, zarte Luft ist durchzogen vomrlczenten Geruch alter Hundstrümmerln, diervciß werden und irgendwo zu Staub zerfal-le n. (,,seine rechte schuhsohle trat in sprö-t lcr-1, knochenweißen hundekot." H.C.Artmann, ,,how much, schatzl?")liin schöner, vorsommerlicher Tag ist es, einI'l'ingstmontag am $rr{3prsten Ende des Mai.

Die zahnlos aus SlidslJdwest lächelndeSonne wärmt die Luft über dem Zweiten

Wiener Distrikt auf.27 Grad an, so wenig-stens behauptet es die digitale Schautafel auf

einem Bürohaus der Bundesbahnen. Allezwei, drei Minuten könnte man in einenZlugsteigen und richtig Meter machen, mit denblau-cremefarbenen Schnellbahnzügen etwanach Norden, ins sicherlich hingebungsvollblühende Weinviertel fahren, nach Wolkers-'dorf oder Hollabrunn, oder mit den roten

Garnituren noch weiter rauf, gar bis Breslau.Oder soll es der Süden sein? Wiener Neu-stadt, wo jetzt die Föhren duften und dieHohe Wand grüßt?Aber aus solchen Gründen ist man nicht hier.Man gehört augenblicklich zum Schnauz-bärtigen, zur Jopperlträgerin, zum kupfer-haarigen Bettler aus Russland. Man ist nicht

der Zige, sondern des Bahnhofs wegpn hier.Eigentlich seines unteren Teils, jener tiefe-ren Ebene wegen, die man hier nur daran er-kennt, dass friedlich blühende Baumwipfelvon weiter unten emporragen. Man ist dieserLöwengrube wegen gekommen, die wie einHimmelskörper heißt. Praterstern.

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Doch bevor man wiedcr abwärts muss,schaut man doch noch nach Norden, uncl clasind sie jetzt, die Baustellen. Richtung La-sallestraße verharrt sie, die Legion der Kränetind Baumaschinen. Hier schaufelt man derverlängerten Zweiten U-Bahnlinie ihreGrube. Hier sieht man, dass der platz sichbald verändern wird, dass auf dem prater-

$tern eine Spätzeit herrscht. Sozusaseneine Sternendämmerung.Wieder unten: Hier sind die berühmt-be-rüchtigten Durchgänge, die aus diesem Ortjenes ebenso romantische wie spannungsge-ladene urban-soziale Knisterfeld machen,das angeblich - wie die unsympdthischerenStadtpolitiker unter reichlicher Verwendungvon Mistkübel-Vokabular gern behaupten -nach stadtplanerischer Begradigung undÜbersichtlichkeit verlangt. Der platz selbst

. besteht ja ntnächst aus einem riesenhaften1' Kreisverkehr, in den die Straßen des Um-

landes (Prater-, Franzensbrücken-, Ausstel-lungs-, Lasalle-, Norwestbahn-, Dresdner

. und Heinestraße) sternförmig einmünden.tf Über diese stellare Schablone ist mächtig die

Nordbahn gelegt. Und unter den Geleisengibt es diese Durchgänge. Für die knappenWege der Menschen, für die neben denWegen der Kraftfahrzeuge und der Eisen-bahnen gerade noch Platz wbr.

Diese Durchgänge - es sind inklusiveStraßenbahndurchfahrt und geschlossenerBahnhofshalle nicht einmal ein halbesDutzend - v'erleihen dieser Inner-City-Sze-nerie dennoch ihren labyrinthischen Cha-rakter. Einen dieser Inspektor-Clouseau-Filme mit Peter Sellers hätte man hier dre-hen können, eine jener vor Witz geradqzu

'-physisch anstrengenden Kriminalkomödien,in denen ständig alle aneinander vorbeilau-fen. Die Szenerie wäre wie geschaffen gewe-sen. Und zu Peter-Sellers-Hochzeiten, An-fang der sechziger Jahre des vergangenenJahrhunderts, noch dazu hochmodern.Wie SchWalbennester in staubige Felswinkelhat sich das Leben in die Durchgänge unterdem Praterstern eingenistet. ,,Rupp's .fm-biss" hier, zwei Trafiken da und dort, eineMitnehmpizzeria, ein Kebab, zwei,, dreiBranntweiner, und die größten Lokale sind,wie derzeit gerade häufig.in Wien, die Sport-wetten-Cafös.Aber an den Rändern des Sterns gibt es auchlängst tote Zonen, die bereits vorab derErneuerung entgegengestorben sind: EinKücheneinrichtungshaus auf der nordwest-lichen Seite hat schon lange zugesperrt;gegenüber verrottet das Jugends p eis ehaus der

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.lttgendgästehäuser I und II des Bundes-ntinisteriums für Unteruicht und Kunst,Wien-Aktion. Man rechnet nach, wie langetlicses Ministerium, zumindest unter diesemNamen, nicht mehr existiert.Anlage alarmgesichert'! steht da auch nochiruf dem düsteren Objekt.liin paar Meter weiter, jenseits des Radwegs,Itrandet schon wieder Leben. alles ist inllewegung.An dieser Bewegung, wie man sie in diesenwirnmelnden Durchgängen beobachten kann,ist schließlich auch zu erkennen, wer denPraterstern benützt und wer ihn braucht.Die Schnellsten wollen einfach durch. Siestreben in die oder aus den Illusionen desWurstelpraters, ingden oder aus dem Kas-tanienschatten derHauptallee, sie zerren ih-le Nachkommenschaft rasch und bestimmthinter sich her, sie setzen in den Durch-gängen folgerichtig den Tunnelblick auf. DieMittelschnellen sirl'd]ene. die hier das Ver-kehrsmittel tauschen, von der Tiamway aufclie U- oder Schnellbahn wechseln.

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Aber die Langsamen erst sind die wahrenBesitzer des Pratersterns. Die Flaneure, dieBrustgeschwellten und Schmähführer, derenWeg sich auf jenen vom Branntweiner zumStehtisch des Pizzabäckers beschränkt.Wir sehen hier alte Tfinker und junge Kiffer,Hippies und Schläger, katholische Nonnenund Hare Krishnas, Kampfhundebesitzerund Punks mit Ratten, wir sehen Künstlervor dem ,,Fluc" und Krieger vor dem Kebäb:Wir sehen Söhne und Töchter aller HerrenLänder, die durchs schlichte Sein auf diesemPlatz zu supergenuinen Wienern werden-Wir sehen gelassene Greise und amüsierteKinder, die so wie alle Kinder am liebstendort ins Getümmel glotzen, wo es am un-übersichtlichsten ist.Draußen auf dem Platz, der, wie man hört,bald ein großes, zeltartiges Dach tragen soll,da verläuft sich alles ein wenig.Tauben fliegen darüber hin, auf den altenÄdmiral zu, und mit ihnen zwei Nebelkrä-hen, die stahlgrauen, die auch im Sommerbleiben. 119

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