Ernst Müller. Portrait eines Mitteleuropäers.

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Erschienen in NOVALIS 2/3, 1994, S. 16 - 20;Biographical sketch of Dr. Ernst Müller (1880-1954)

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  • 5/16/2018 Ernst M ller. Portrait eines Mitteleurop ers.

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    Ernst MIU IllerPortrait e ines M itte leuropaers

    1994 jahrt sich zum vierzigsten Malder Todestag des Wiener luden undanthroposophischen Kabbala-For-schers Ernst Muller. Seine Hauptwer-ke, .Der Sohar und seine Lehre' unddas Ubersetzungswerk .Der Sohar",zuerst 1920 bzw. 1932 in Wien er-schienen, Iiegen zur Zeit in vierterbzw. siebter Auflage vor.' Trotz dieses.Erfolgs" ist Muller ein Unbekanntergeblieben - unter Anthroposophenebenso wie unter Kennern der judi-schen Esoterik.

    Beheimatet und gleichzeitig ver-kannt war Ernst Muller in seinen bei-den lebenskreisen: Anthroposophieund Judentum. Hier galt er als zu an-throposophisch, da als zu judisch.Dieses Nichtverstandenwerden warfu r einen sensiblen Menschen wieMyller ein dauernder, bisweilenqualender Seelendruck. Mochte manihm von der einen oder anderen Seite"Untreue" oder ungenOgendes Enga-gement vorwerfen, ihm war dasBruckenbauen, die Synthese und Ver-bindung von Judentum und Anthropo-sophie, eine immer heilige Pflicht, derer sein Leben lang nachzukommenstrebte. Deutlich stellt sich ihm an die-ser Stelle die zentrale Frage nach derAnerkennung derMenschwerdungChristi und der Tatsache des Mysteri-ums von Goigatha.

    Betrachtenwir nun Moilers Lebens-wege,dieihri zu seiner doch unge-wohnlichen .Stellung fuhrten..Der fruhcste religiose Eindruck

    meines Lebens, den ich im Cedachtnishabe, war es, als am Versohnungstagyom nahen Tempel Chorgesange zuunserem Hause herObertbnten undmeine Mutter irgendwie dasWort Gottaussprach.

    Meine Eltern, beide Rabbinerskin-der, hegten dem traditionellen Juden-tum gegenuber pietatvolle Erinnerun-gen, ohne selbsttraditionell eingestelltzu sein. 1mElternhause meiner Mutterin Kojetein erfuhr ich durch ihren Va-ter Jakob Broil, einen jOdischen Ge-16

    VON HANS-JURGEN BRACKER

    Ernst Mu Ilerein Iahr vor seinem Tod

    lehrten und eine geniale Persbnlich-keit, deren Sterben ich mit neun Jahrenmiterlebte, tief mein Gernut bestim-mende Eindrucke.:"

    In seinen Kindheits- und Jugender-innerungen "Geistige Spuren in Le-benserinnerungen" (unverbffentl ich-tes Manuskript im Leo-Baeck-Institut,New York und bei der Rudolf-Steiner-NachlaE.verwaltung, Dornach), die biszum Ausbruch des ersten WeltkriegsfUhren, beschreibt Muller, der am 21.11.1880 geboren wurde, die human i-stisch gebildete Atrnosphare seines EI-ternhauses in Misslitz (heute Miro-slav), die Fahrten mit dem Vater, demLandarzt Dr. Isidor MUlier, durch dieheimatliche HOgellandschaft Sud-rnahrens. das hausliche Klavierspielder Mutter Johanna ("Meine Mutterwar die Vvarrne meines l.ebens"), dieRezitationen und Lesungen der klassi-schen deutschen Literatur durch denVater sowie die gemeinsarne hebrai-sche LektOre des Alten Testaments.Sehr fruh, und ohne aufsere Veranlas-sung, begann Ernst MOiler, ein Frommj ud isches, tiefrel igios gepragtes Leben

    zu fuhren, mit standigem Tempelbe-such und strenger Beachtu ng der Sab-bat- und anderer religibser Vorschrif-ten. Bis zu seinem siebzehnten Le-bensjahr war ihm der Beruf des Rabbi-ners der einzig vorstellbare, wasdurchaus der Familientradition ent-sprach, waren doch beide -Grofsvaterund zwei Onkel bedeutende Gelehrte,Rabbiner und Theologen gewesen.

    In den ersten Jahren seiner Schulzeitgenof er Hausunterricht, erteilt voneinem Volksschullehrer, spater vorneigenen Vater; die alljahrlicben Ab-schlufsprufungen in der nachstliegen-den Stadt Nikolsburg (heute Mikulov)bestand er - ein Externer - immer alsJahrgangsbester. Erst ab der funftenGymnasialklasse besuchte er ebendortdas uralte Piaristengymnasium, dieletzten Schuljahre bis zur Matura ver-brachte er in der nahen mahrischenLandeshauptstadt BrOnn. Neben er-sten schriftstellerischen Versuchenfallt auch eine vorObergehendeBeruhrung mit okkult-ubersinnlichenLebensaspekten in Form des Spiritis-mus in diese Jahre.

    Nach bestandener Matura ubersie-delte die Familie 1898 nach Wien.Das Haus Dittesgasse 6 im 18. Bezirksollte f u r die folgenden vierzig JahreErnst MOilers Hauptadresse werden.Die kulturelle Metropole Wien zogden gerade lBjahrigen ganz und gar inihren Bann; neben einen orientie-rungslosen Studienbeginn ("ich sturztemich in aile Gebiete des Universitats-wissens") trat der Besuch zahlreicherkultureller Veranstaltungen, so aucheines Vortrags des Theosophen FranzHartmann, der ihn wenig beeindruck-te o

    Die Haltlosigkeit MOilers in seinemersten Studienjahr (er schrieb sich ander juristischen Faku l ta t ein) wurdenoch vermehrt durch die l.ekture vonDostojewskis "Schuld und Suhne" undvon Nietzsches Werken. Heraus auseinem Zustand !linnerer V vir rnis" fu hr -te ihn der Aufenthalt in einer Kaltwas-

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    1907 in Palastina

    serheilanstalt. Wie ern Heilmittelwirkte auch die LektUre von Feucht-erslebens .Distetik der Seele". Mullerberichtet: "Schon als ich in dem klei-nen Kurort in der Nahe von Wien an-kam, bildete sich mir wie ein Ent-scheidungspunkt der Heilung der Ge-danke: der grobte Mensch ist Christus.Und aus Feuchtersleben ergaben sich,ohne daf ich. je davon gehbrt hatte,meditationsartige Willenskonzentra-tionen.( ...) Diese bedeutungsvolle Kri-se meiner lugend fiel in das geistigeSchicksalsjahr 1899."3

    Nach der Wiederaufnahme des Stu-::::iumsentwickelte Muller ein reicheszesellschaftliches Leben innerhalb der-:,jischen Kreise-Wiens. So war erI.nbt~grund~r eines nicht politisch,s:Ji."1dernm Sinne Martin Bubers gei-= " = orientierten zionistischen Studen-;;;::-_-.ereins.Der nur zwei Jahre altere:::'_::.erwar damals Redakteur von---=-::.:ior Herzls zionistischem Zentral-::~- .Die Welt", in dem nun auch~neine ersten Beitrage veroffent-= - ~ _ Die erste Begegnung mit Buber-::;-.;: - Jahr 1900 statt. Eine lebens-" : : - ~ = ~egenseitige vvertschatzung,;:r :;,=- cine funfzig Jahre umspan-

    :: xorrespondenz zeugt, schloG= - --~"l an. Auch in anderen judi-'3r -:9illngen und Zeitschriften

    : : : : : . : = ler nun zahl reiche Beitra-=-=~-'2'dener Art: politisch-aktuel-

    r. 2/3 1994

    Ie, literarisch-poetische, auch histo-risch-rei igionswissenschaftl iche, nichtzuletzt Obersetzungen aus dem liddi-schen und Neuhebraischen. lJiesePhaseganz und gar jUdischer Aktivita-ten, die sich in der Mitwirkung in wei-teren jUdischen Vereinen entfalteten,war zunachst von einer naheren Be-schaftigung mit der HartmannschenTheosophie begleitet; diese trat aberbald wieder in den Hintergrund. Einefur sein ganzes Leben bedeutsame Be-gegnung fallt auch in diese an Be-kanntschaften reiche Studentenzeit:im luni 1903 lernt er, inzwischen22jahrig, den erst 19jahrigen PragerHugo Bergmann kennen.

    1903 erhalt MUller die Lehramtsbe-fahigung fur Mathematik, Physik undPhilosophie. Nach einer einjahrigenMilitarausbildung promoviert er 1905mitder Dissertation "BewuGtseinspro-bleme". Eine l.ehrtatigkeit an einemjUdischen Gymnasium in Ungarisch-Brod in Mahren ist nur von kurzerDauer. 1907 beschlieGt MUlier, der in-zwischen die Redaktion einer zionisti-schen Jugendzeitschrift Ubernommenhat, als Lehrer am ersten hebraisch-sprachigen Gymnasium Palastinas inJaffazu unterrichten.

    Nur ein halbes lahr wahrt seine dor-tige Anstellung, die nachsten andert-halb Jahre verdient er sich durch Pri-vatlektionen und Berichterstattungenseinen Lebensunterhalt. War ihm auchschon vorher die nationalistischeRichtung im Zionismus, die auf eineStaatsgrUndung zielte, fremd gewesen,sotrat ihm nun die Unmbglichkeit ei-nes judischen Nationalstaats in Pala-stina angesichts der arabischen Bevol-

    kerungsmehrheit klar ins Bewubtsein.Uberhaupt waren es allgemein-menschliche Erlebnisseund insbeson-dere die Atrnosphare der christlichenStatten, die er im Lande aufsuchte, dieam tiefsten in seine Seele hineinwirk-ten. Sofuhlte er sich ganz als .Palasti-nenser", angekommen in einermenschlich-geistigen und auGerdemauch judischen Heimat. Ein abschlie-Gender Hohepunkt dieser knapp zweiJahre dauernden Epoche 'war ein ge-meinsamer Besuch mit dem spaterenLiteraturnobelpreistrager S. J. Agnonin der :"kabbalistischen Hbhenstadt"Safed in Galilaa. Hier wurde auch dererste Keim fur seine Arbeiten uber dieKabbala, und vor allern uber derenZentralwerk, den Sohar, gelegt. Eineschwere Malariaerkrankung zwangden .Palastinenser" MUller jedochbald, nach Wien zurUckzukehren.

    In Wien schlofs sich er sich bald ei-ner "sympathischen kleinen theoso-phischen Gesellschaft" an, in die ihnsein Bruder Ed~und einfuhrte, DieseCruppe um Frau Reif-Busse sollte zurUrzelle der Anthroposophischen Ge-sellschaft in Wien werden. 1m Fruh-jahr des folgenden Jahres 1910,wahrend der Vortragsreihe "Makro-kosmos und Mikrokosmos" (GA 119),kam eszur ersten persbnlichen Begeg-nung mit Rudolf Steiner. MUller hatte"das erschUtternde Erlebnis, daG einMann vor mir stand, der gerade um in-time ZUge meines bisherigen Lebensnach der geistigen Seite hin wubte undmich zunachst in ernsten Erkenntnis-fragen beriet."4Ein freundliches5chicksal erlaubte ihm in den folgen-den Monaten, nahezu ohne Unterbre-

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    London, 9, Holmda!e Road

    chung sich )n die universell ver-zweigten und doch wesentlich zusarn-menstimmenden Gebiete all dessen,was hier als ,Theosophie' bezeichnetwurde:" zu vertiefen. Ais Redakteurder Zeitschrift .Palastina" wirkte erweiter fur die zionistische Sache.

    1mSommer desselben Jahresfindenwir Muller in Munchen bei der Auf-fUhrung der Mysteriendramen und alsZuhorer der Vortragsreihe .Die Ge-heimnisse der biblischen Schopiungs-geschichte" (Ga 122). - .Der ganzegewaltige Duktus der Darstellungschien ausdem unmittelbaren Kontaktmit althebraischen Mysterien ernpor-gewachsen. Erstam letzten Tage be-suchte ich Dr. Steiner, und geradedie-seAussprache wurde fur mich schick-salhaft.:" Ererhalt erste Obungen undbald darauf lebensrichtungweisendenRat: Der Empfehlung Steiners, einenBibliotheksdienst anzustreben, folgteumgehend die Anfrage eines Vetfers,eine Stelle in der Bibliothek der Judi-schen Kultusgemeinde in Wien anzu-nehmen. Muller willigte ein und ver-blieb dann bis 1939 in dieser Anstel-lung. Die Bibliothek-damals eine dergrofsten und bedeutendsten judischenBibliotheken Europas - bot ihm dieideale Voraussetzung fur seine nunbald einsetzende Beschaftigung mitder judischen Esoterik.Auf diesemwieauchaufmathematischen Felde er-hielt er Anregungen und Forschungs-hinweise Steiners, die ihn zu uner-18

    mudlichen vielfaltigsten Studien ver-anlafsten. Tiefe geistige Erkenntniser-lebnisse stellen sich ein. Es.Jagen indiesem einen Jahre (1910/11) die Kei-me fur fast alles, was auf geistmathe-matischem und kabbalistisdiem Ge-biete in der Folgezeit gewonnen wer-den konnte, letzteres vor allem aufGrundlage der bibl ischen Schopfungs-geschichte.:"

    Nun beginnt auch seine lehrendeTatigkeit im Rahmenvon Studien- undArbeitsgruppen innerhalb der Theoso-phischen, ab 1913 Anthroposophi-schen Gesellschaft. Besonders be-freundet waren ihm die Bruder Robertund Richard Lissau. Ein an anthropo-sophischen Begegnungen reiches Le-ben entwicklet sich fur den irnrner anMenschenschicksalen warm interes-sierten ErnstMuller. (1mLondoner Exilab 1939 hat er im Gedenken an vieleseiner damaligen Freunde und Be-kannten Erinnerungen niedergeschrie-ben, von denen nur sehr wenige ver-affentlicht wurden. Emil Bock, derMu lIer sehr schatzte, hat d iese ge-kannt uno hatte sie gerne veroffent-licht gesehen, doch kam es nie dazu.Die umfangreichen Manuskripte, vondenen ein gror?,erTeil als verschollengelten mu~, wurden nur von wenigeneinzelnen gelesen. Aulser Bock besalsauch George Adams, der Muller oft indessen Londoner Wohnung zu ge-meinsamer mathematischer Arbeit be-suchte, Abzuge dieser Aufzeichnun-gen, die leider nicht mehr zu findensind.) Muller trat unter anderem inVerbindung mit SteinersJugendfreundFriedrich Eckstein und anderen Per-sonlichkeiten ausSteinersUmkreis derWiener Zeit.

    Die Frage nach dem Christus, diefur Muller ein Problem war, und vonder Steiner lachelnd.gesagt hatte, dafsie doch fur ihh kein Problem sein 5011-tel er ){annte der Bedeutung jenes Er-eignisses durch astronomische Be-rechnungen nachgeherr". hatte MUl-Ier fur .sich zunachst im Sinne einesEinsehens in die Tatsache des Chri-stuswirkens im Entwicklungsgange derabendlandischen Kulturzu beantwor-ten versucht. So sah er selbst im Zio-nismus als einem .Ausdruck innererAssimilation, narnlich als Weg vorn in-neren Ghetto zu freiem, wenn auchnational gerichtetem Menschentum"ein Beispiel fur den christlichen, dieganze Menschheit zum Menschentum

    hinfUhrenwollenden Entwickl ungsirn-puis in der Geschichte, der sichzunachst vor allem in Europa manife-stierte. "Gewisse Fragen freilich, wiedenn doch wieder das erlebte ludischemit dem schwer errungenen Christli-chen in Verbindung gebracht werdenkonne, vermied ich vorzeitig zu losen,ehe die eigene Entwicklung und dasZeitschicksal solche l.osung heran-fuhrte.:"

    vvahrend des ErstenWeltkrieges er-gab sich eine gewisse Entfernung vornanthroposophischen Leben,mitverur-sacht durch antisemitische Aur?,erun-gen einzelner Mitglieder. Seine 1911mit Hugo Bergmann begonnenenUbersetzungen von Stucken ausdemSohar setzte er im Felde fort, sie er-schienen neben anderen Beitragen ausseiner Federab 1916 in Martin Bubersneu gegrUndeter Zeitschrift .DerJude". Hier wies Muller immer wiederauf die Anthroposophie Rudolf Stei-hers hin und versuchte so, die Anthro-posophie an diejenigen Menschen

    . heranzubringen, uber die Rudolf Stei-ner sich einmal dahingehend geaufserthatte, "dar?,die wertvollsten judischenMenschen in der zionistischen Bewe-gung zu finden seien.:" Muller kannteweitere Au~erungen Stainers gegen-uber Robert Lissau; in ihnen war vonder Aufgabe des Judentums die Rede,das Christentum 2: U spiritualisieren.Auch hatte Rudolf Steiner gesagt: "DieJuden erhalten wieder veinrnal eineMission in bezug auf den Christus.:?Muller .setzteseine Hoffnung in einespirituelle Erneuerung und Weiterent-wicklung des Iuderitums, mit Jerusa-lem als geistigem Zentrum. E r ging da-von aus, daf die Trennung 'ZwischenJuden undChristenuberwunden wer-den konne. lrn sozialistisch, abergleichwohl riicht materialistisch aus-gerichteten Zionismus eines MartinBuber saher einen Anknupfungspunktfur menschheitlich-christliche Sozial-gestaltungen, wie sie durch dieDreigliederung des Sozialen Organis-mus von Rudolf Steiner beschriebenworden waren. (Mochte Suber auchdie Anthroposophie nicht akzeptieren- uber die Dreigliederungsidee auf-er-te er sich positiv.") Muller setzte sichnach 1919 sogleich fur eine 0berset-zung der "Kernpunkte der SozialenFrage" Steinersins Hebraische ein undfragte bei diesem um dessen Einwilli-gung nachoLeider ist keine Anti ort er-

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    halten. Uber die Mbglichkeit einerpraktischen Umsetzung der Dreiglie-derung in P alastina a ulse rte sich Stei-ner positiv, sofern es nicht zu einer

    ationalstaatsgrundung kame.In den Jahren nach dem ErstenWelt-

    rieg, als sein Soharbuch erschien, indessen Vorwort er Steiner, Buber.undHugo Bergmann dankbar erwahnt,entfaltete Muller in Wi en eine rege

    urs- und Vortragstat igkeit , vor allemin Kreisen junger, YOmZionismus her-cornrnender Menschen, die er behut-sam an die Anthroposophie heran-fuhren wollte. Teilnehmer waren unteranderem Otto Frankl, Norbert Glas,Egon Lustgarten. Mehrere Reisen fuhr-ten MUller nach Stuttgart (dort besuch-te er im Marz1920 die neugegrunde-te Waldorfschule und nahm am 2. Na-turwissenschaftlichen Kurs teil), Dorn-ach, Freiburg, wo er neben Max Wolff-hugel auch die junge Else Klink ken-nenlernte, und nach Berlin. Teilweisereiste er von einer Besprechung mit

    sen Andeutungen scheint es Muller"klar, daf die dort (in besagtem Auf-satz) niedergelegten Anschauungen(...) zurn grofsen Teile nicht heute dieIhrigen sind."" Er beendet den Brief:"Jedenfalls werde ich es, falls Ihnendies nicht mbglich scheint, fur meinePfl icht erkennen (...) f u r das Tief-menschliche im Zionismus Zeugnisabzulegen .""

    Steiner ermuntert ihn gelegentlicheiner Begegnung auf dem WienerWest-Ost-KongreS zu einer Entgeg-nung, scheint aber seiber nichts unter-nom men zu haben. UnterWiener An-throposophen verspurt Mu Iler zuneh-mend Ablehnung und sieht sich undsein um Begegnung und Vermittlungbernuhtes Engagement vollig miSver-standen. ErWhit sich aus der Zweigar-beit herausgedrangt und vom anthro-posophischen Leben wie abgeschnit-ten, obwohl Steiner selbst ihn ver-schiedentlich in seinen vortragen po-sitiv erwahnt." Die Hoffnung. wie

    1.946 in London mit Ehefrau Frieda

    ~Ii Steiner direkt zu einer Bespre-,-- -gmit Martin Buber. Ein Brucken-s-- 2g karn jedoch nicht zustande.= - - .-ederabdruck eines fruhen, zio-_";:;.s ilischen Aufsatzes Steiners in

    arter Dreigl iederu ngszeitu ng'2::a.-da[:te Liller, Steiner brieflichum eine larstellung zu bitten im Sin-ne "der. ndeutungen (...), die Sie mirpersbnlich mehrfach uber diesenGe-genstand gemacht haben"." Aus die-j 0 'ALiS r. 2 / 3 1994

    manche jungere Wiener in Stuttgart ander Waldorfschule oder in Dornacheine Aufgabe in Steiners unmittelba-rem Umfeld zu finden, erfullt sichnicht.

    So bleibt er in Wi en ein mehr oderweniger geduldeter Aulsenseiter.Uberlegungen, aus der Anthroposo-phischen .Gesellschaft auszutreten,realisiert er nicht, doch sucht und fin-det er Menschen innerhalb und aulser-

    halb der Gesellschaft, mit denen ereine freie anthroposophische Arbeitaufbaut. Sein besonderes Anliegenbleibt das Gesprach zwischen luden-tum und Christentum. Von den ver-schiedenen Arbeitsgruppen, die aufseine Initiative hin entstehen, widme-

    . te sich besonders der .Phoenixhof"-Kreis, der seit Endeder zwanziger Jah-re im gleichnamigen Kaffeehauswbchentlich zusammentraf,' dieserAufgabe. Neben all diesen Aktivitatenging er weiter seiner Bibliothekstatig-keit nach, schrieb Aufsatze in anthro-posophischen, jUdischen und anderenZeitschriften zu soverschiedenen The-men wieMusikz'ahlen, Psychologie,Spinoza, Otto Weininger, Polyeder,Oskar Simony.Auch erstellte er zu-sammen mit einem Freund eine Dra-matisierung Yon Platos "Symposion"in eigener Ubersetzung. Erschrieb Er-zahlungen zu kabbalistischen und an-deren Themen und - schon seit seinerIugend - eine grolse Anzahl von Ge-dichten. Erunterrichtete neben seinemHauptberuf Naturwissenschaften am.Padagogiurn", einer judischen Schu-Ie, spater auch Gesang an der WienerRudolf-Steiner-Schule, dichtete undkomponierte dort auch pentatonischeLieder. AuSerdem besuchte er weiterVorlesungen- an den Wiener Univer-sitaten und hielt selbst in verschiede-nen Zusarnmenhangen , z. B. der Ma-thematischen Gesellschaft, Vortrageuber seine mathematischen .Forschun-gen. Estrat auch wieder eine Entspan-nung und ein freundliches Verhaltniszu den Wiener Anthroposophen ein;so bezeichnet ihn sein Freund H. E.Lauer in seinen Erinnerungen" als ei-nen der hauptsachlichen anthroposo-phischen Vortragsredner. Kontakte zuRudolf Frieling, dem Priester der Wie-ner Christengemeinschaft, ergebensich durch Muliers Ubersetzungen ausdem Hebraischen und Ararnaischen -seine Soharubersetzung erscheint1932 - ; und so lebt er ein bescheide-nes, aber nicht unzufriedenes Leben,mittlerweile schon uber SOjahrig. ZurMathematisch-Astronomischen Sekti-on der Freien Hochschule fu r Geistes-wissenschaft am Coetheanum inDornach besteht ein gutes Verhaltnis,er nimmt regelrnalsig an deren Tagun-gen teil und tragt seine Arbeiten vor. InIta Wegmans Zeitschrift , atura" ver-offentlicht er Aufsatze uber verborge-ne Zusarnrnenhange von Or anen,

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    Krankheiten und Heilmitteln, die sichim Hebraischen aus kabbalistischenWortbetrachtungen ergeben. Nachdem Tod des Vaters 1915 und derMutter 1922 ist ihm sein Bruder Ed"mund - abgesehen von einigen Cousi-nen - das einzige verbliebene Famili-enmitglied.

    Von nicht grolser Gestalt, mit rotli-chem Haar und einer von jugend anzarten Konstitution hatte sein Auftre-ten vermutJich wenig Imponierendesan sich. Auchwar ihm eine Fremdheitund Unbeholfenheit in praktisch-hauslichen Dingen eigen. - So ist esnicht verwunderlich, dar, die Ge-sangslehrertatigkeit an der Waldorf-schule nach zwei bis drei jahren we-gen Disziplinschwierigkeiten, - gegenden eigenen Wunsch - von der Schu-Ie wieder beendet wird.1938 bricht mit dem sogenanntenAnschluf; Osterreichs an Deutschlanddie Katastrophe uberdie Wiener judenherein. Am 11. Marz, dem Tag vordem Einzug Hitlers in Wi en, fandabends in den Raumen der .TanteMizzi" - der Anthroposophin Frau Dr.josephine Hertz-Frankel - der Jetzte"esoterische Abend" statt. Mit diesemAusdruck bezeichnet Muller in seinenErinnerungen die Zusarnrnenkunftemit Graf Polzer-Hoditz. Polzer hieltdie Klassenstunden der Ersten Klasseder Freien Hochschule seit der Spal-tung der Anthroposophischen Gesell-schaft 1935 nicht im Rahmen des"dornachtreuen" Wiener Zweiges,sondern bei FrauHertz, die eine grolseWohnung im Zentrum Wiens, am"Graben", besals. .Ein schicksalhaft

    I schwerster Tag war es dann, als am11. Marz 1938 Graf Polzer die letztedieser Stunden abhielt, wahrend vonder Strabe her das Wogen und rna-schinenartige Brullen der eben zurMacht gelangten Nationalsozialistenheraufdrang. Oben konnte esder wei-hevolle Zweck der Zusammenkunftnicht hindern, daf die Mitgliederselbst, die einen vorahnend zu Todegetroffen, die anderen vorn Taumelder Ereignisseselbst ergriffen, in zweiParteien auseinanderfielen. Aber dasgastliche Heim der .Tante Mizzi", dasschon seit langerer Zeit fur Freunde,Verwandte, Geistgenossen an wa-chentl ichen Abenden offen stand,wurde jetzt ein Mittelpunkt von ge-meinsamen Abenden furAnthroposo-phen, Phonixhofler, Verwandte und20

    Freunde, ohne U,nterschied der Rasseund ohne Rucksicht auf das Verbot derkleinsten derartigen Zusammenkunfte.Wah rend ich selbst noch eine Zeitlangeinen vorher begonnenen Hebraisch-kurs auf geistiger Basis weiterfuhrte,entstand hier alsbald ein Zentrum furdie Besprechung der taglichen schwe-ren Ereignisse und Zukunttssorgen.""Am 1O . November 1938 wird MuliersArbeitsstelle, die Bibliothek der judi-schen Kultusgemeinde, von den Nazisgeschlossen. Muller, der im 58.. l.e-bensjahr steht, wird nun vorzeitig Ru-hestandler. Er bernuht sich in ver-schiedenen Richtungen um eine Emi-grationsmbglichkeit. Die Hoffnung,durch die Vermittlung seines FreundesHugo Bergmann, der 1920 nach jeru-salem gegangen und dort inzwischenRektor der Hebrew University gewor-den war, eine Bibliothekarsanstellungund somit eine EinreisegenehmigungfUr das unter britischern Mandat ste-hende Palastina zu erhalten, erfulltsich nicht. Durch die Hilfe bereits emi-grierter Freunde ist es ihm jedochrnoglich. am 21. [uni 1939 Wien inRichtung London zu verlassen. Nochin Wien, dann aber auch von Londonaus, gelingt es ihm, fur einige Freundeund Bekannte ein "Permit", eine Ein-reisegenehmigung, zu erwirken undIhnen so das Leben zu retten.

    In London, wohin ihm im letztenmoglichen Moment seine spatere FrauFrieda - sie heiraten 1941 - folgt, ver-bringt er die letzten 15 lahreseines Le-bens in bescheidensten und rnuhselig-stenVerhaltnissen. Schon in Wien warer seit den Zwanzigerjahren irnmerwieder aufgrund eines anhaltendenLungenleidens zu Kuren und Sanatori-umsaufenthalten gezwungen gewe-sen. Dieses verschlimmerte sich mitzunehmendem Lebensalter, weitereKrankheiten kamen hinzu, so dafl,Krankenhaus und Sanatorium immerotter aufgesucht werden mulsten.Gleichwohl behielt er eine gelasseneSeelenstimmung. Vielen Menschenwurde er ein Trost und RatspendenderFreund. Mit tiefer Anteilnahme ver-folgte er die Schicksale seiner WienerFreunde. Von seinem Bruder Edmundhatte er noch bis 1944 Nachricht,doch verlor sich dessen Spur, wie dievieler anderer Freunde, in den Kon-zentrations- und Vernichtungslagern.

    Esbegann aber auch eine Zeit uner-rnudlicher Korrespondenz und

    Schreibarbeit. Ein letztes Buch ent-stand." und auf die Anregung EmilBocks hin verfafste er ausfuhrliche Er-innerungen. Er unterrichtete einzelneChristengemeinschaftspriester in He-braisch und besuchte und initiiertewiederum Gesprachskreise zu seinemGeneralthema judentum und Chri-stentum. Seine Erkenntnisse, Fragen,Uberlegungen und Antworten dazuhat er jedoch kaum schriftl ich festge-halten. Es5011 aber sparer einmal ver-sucht werden, aus den wenigen erhal-tenen Manuskripten seine Stellung indieser Frage darzustellen.

    Was Ernst Muller von den meistenAnthroposophen judischer Herkunftunterschied, die ihr judentum gewis-serrnaben ablegten, indem sie Anthro-posophen wurden, ist die .Treue" zuseiner Iudischkeit. Zwei Beispiele rno-gen dies abschl ielsend dokumentie-ren. Seine Trauung nahrn ein ihmnoch aus seinem Heimatort Misslitzbekannter Rabbiner in der LondonerAbbey Road Synagoge vor. Er fuhrdorthin unmittelbar im Anschlu f andie .Klassenstunde" im Steinerhouse.Nach seinem Tode am 5. August 1954wurde er auf dem judischen Friedhofin Golders Green in London beige-setzt; es folgte ein Totengedenken inder Kirche der Christengemeinschaft.Ais Rudolf Steiner einst von einemjungen Priester der gerade entstande-nen Christengemeinschaft die .Er-folgsmeldung" von der Taufeeines ju-dischen Mitglieds der Anthroposophi-schen Gesellschaft harte, reagierte erernport: Was denn der Unsinn solie,der Mann sei doch Anthroposoph:"ErnstMuller mag als Beispiel gelten fureinen Menschen, der den Christusim-puis nicht in Form einer Religion insich aufzuriehmen suchte, sondern ihnals uber und in allen Religionen wir-kenden in seinen Schicksalszusam-menhang hineinzutragen strebte. Seinhier skizziertes Lebensbild soli als Ver-such verstanden werden, zu deSchicksalsfragen desjudischen Volkesvorzudringen, die sich heute den in I~rael lebenden Anthroposophen, aberauch allen wac hen Zeitgenossen m.grolser Dri nglichkeit steilen.

    Hans Iurgen Brader lebt als Waldorfienrer. if, Witten-Annen.Die Anmerkungen finden Sie aufS. 82

    @NOVALIS 1994Nr. 2/3 199..,. ""0 ut:

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