ERSTE SCHRITTE - für Menschen mit Körperbehinderung · Mit dem Helikopter ums Matter-horn – Die...

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OKTOBER 2015 PERSÖNLICHES LIMIT Extremsport mit Behinderung AUSBILDUNGSREISE Hürden meistern in der bayrischen Metropole ERSTE SCHRITTE Grenzen überwinden im Praktikum

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OKTOBER 2015

PERSÖNLICHES LIMITExtremsport mit Behinderung

AUSBILDUNGSREISEHürden meistern in der bayrischen Metropole

ERSTE SCHRITTEGrenzen überwinden im Praktikum

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Jedes Jahr der gleiche Stress. Eigentlich sollte un-ser Lehrlingsmagazin «PAUSE» bereits im Druck sein und wir diskutieren immer noch über Titel und Spitzmarken – oder schreiben das Editorial. Ein Grund die «PAUSE» auf Eis zu legen und den Herausforderungen und Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen?

Beim Lesen der diesjährigen Pause-Artikel ist mir aufgefallen, dass es oft um das Thema «Hürden und Grenzen überwinden» geht. Manche Grenzen scheinen offensichtlich und sind dennoch nur scheinbar vorhanden, dies zeigen mir besonders die Extremsportler, die Pascal in seinem Artikel vorstellt. Mich fasziniert, was diese Athleten trotz ihrer körperlichen Einschränkungen leisten. Was mich ausserdem sehr beindruckt, ist, wie Pascal zu sich und zu seinen persönlichen Grenzen steht. Man kann Grenzen ziehen, überwinden, akzeptie-ren oder einreissen – und manchmal muss man Brücken bauen, um Grenzen zu überwinden. Der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist für viele Menschen mit Behinderung sehr schwierig. Im Artikel «Erste Schritte» berichten wir von unseren Praktika. Unsere Praktikumsbetriebe haben uns Brücken gebaut und uns geholfen, einen Einblick in den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen. Im Artikel «Auf der Stelle» zeigt uns Mateo, was passiert, wenn der Rollstuhl streikt. Der Tagesab-lauf ändert sich abrupt und ein grosser Teil der Selbstständigkeit ist dahin. Mir wurde mal wieder

GRENZEN ÜBERWINDEN

deutlich, welchen Einsatz es vom Umfeld und der Familie braucht, um eine solche Situation zu be-wältigen.

Ein Sprichwort sagt: Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen. Ich glaube, es ist wichtiger die Grenzen zu sehen und zu entscheiden, ob und wie wir diese überschreiten können. So werden wir uns auch im kommenden Jahr der Heraus-forderung «PAUSE» stellen und dabei wieder un-sere persönlichen Grenzen entdecken und über-schreiten.

Rahel EbneterLehrling

Liebe Praktikumsbetriebe, eure grosse Bereitschaft und

euer beherztes Engagement haben uns einen Einblick in den ersten Arbeitsmarkt ermöglicht. Wir bedanken uns

herzlich bei euch für die wertvollen Erfahrungen!

Möchten auch Sie uns eine Chance geben? Gerne gibt Ihnen Lukas Fischer Auskunft: Tel. 044 389 62 57

IHR MACHT’S MÖGLICH!

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MEIN HERZ FÜR DEN FCZ Jessica hat nie mit Barbies gespielt. Sie ist mit den Jungs vom FCZ aufgewachsen.

PAUSE – das MEH-Lehrlingsmagazin. Ausgabe Nr. 115, 33. Jahrgang Herausgeber: MEH, Lengghalde 1, 8008 Zürich, Tel. 044 389 62 00, www.meh.ch, [email protected] Fotos: Michael Groer, Steven Deblander, André BachmannKorrektorat: Iris Vettiger Litho: b+b repro AG Druck: Druckerei Albisrieden AG Auflage: 3'200 Exemplare Erscheint: 1 x pro Jahr

IMPRESSUM

AUF DER STELLENichts geht mehr. Mateo schildert die Auswirkungen von Pannen mit dem Elektro-Rollstuhl. 6 TATORT MÜNCHEN

Weissbier, Brezeln und ein Mord auf der Ausbildungsreise

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18 ERSTE SCHRITTE Vier Lernende blicken in die Arbeitswelt

25 GETESTET Handheizung für Rollstuhlfahrer

25 KURZ UND BÜNDIG Meldungen aus Sport und Freizeit

26 MATHILDES SÖHNE Zwei Pioniere schreiben Geschichte

28 JOSEF MÜLLER Der Geldwäscher im Rollstuhl

31 FOTOSTORY Optische Täuschung

GIPFELSTÜRMERMit dem Helikopter ums Matter-horn – Die Stiftung Sternschnuppe erfüllte Francescos Wunsch.

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TATORT MÜNCHENWürziger Reiseauflauf – à la MEH-Ausbildung: Man bringe 21 MEHler nach München, verwickle sie in einen Kriminalfall, füge eine Prise Fussball hinzu, schrecke sie mit der U-Bahn ab, füttere sie mit Brezeln, Weisswürsten, süssem Senf und Haxen und lösche anschliessend alles mit Bier ab. Von Tomislav Tomic

Ausbildungsreise 2014 Wie immer stimmten alle Teilnehmer der Ausbil-dung für die Destination der jährlichen AU-Reise ab. Zur Auswahl standen Mailand, Strassburg, Salzburg oder München. Der eindeutige Ge-winner… München. Hier, ein kleiner Auszug aus meinem Reisetagebuch aus der Stadt der Leder-hosen.

Freitag, 4. Juli:Mord in MünchenKaum in München angekommen, wurden wir in einen Mordfall verwickelt. Ein Münchner Haupt-kommissar übertrug uns die Ermittlungsarbeit im Mordfall Blieninger. Nun lag es an uns, den Täter ausfindig zu machen. Wir folgten einer heissen Spur durch die Sehenswürdigkeiten der Münch-ner Innenstadt und verhörten die Zeugen: von der kreischenden Maitresse bis zum psychopa-thischen Liebhaber der launischen Ehefrau des

Opfers. Blut, Kugeln, Waffen, Affären sowie ge-heimnisvolle Schliessfächer und Akten – alles war dabei. Natürlich konnte der Täter der Roll-stuhl-Kripo nicht entkommen. Ein Kriminalfall als Stadtführung: eine tolle Idee! Den Nachmittag verbrachten wir mit Shoppen – dafür ist diese Stadt super. Wir kamen mit dem Rollstuhl gut in die Läden und alle haben gefun-den, was er und vor allem sie suchte. Das Sport-geschäft war das beste, in dem ich jemals war. Es war riesengross und bot für jede Sportart etwas Passendes – sogar fürs Surfen. Wie die Männer im Sportgeschäft, so die Mädels im Kleiderladen. Shoppen, bis der Rollstuhl-Akku leer ist. Typisch! Die Einkaufs taschen wurden immer mehr, gefüllt mit Leder jacken, Schals, Kleidern, Schmuck, Ge-schenken für die Familie usw. Wir kauften so viele Sachen ein, dass wir am Schluss wie eine bela-dene Karawane aussahen.

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nicht nur der Lift, sondern die ganze Haltestelle ausser Betrieb ist. Das bedeutet dann Yo-Yo hoch ins blendende Tageslicht und dann auf der Stras-se weiter. Zum Trost endete der Tag wenigstens mit einem Höhepunkt. Das Tollwood-Festival lockte viele Be-sucher an, darunter auch unsere kleine Gruppe. Es gab Stände mit Kunsthandwerk, Gastronomie aus allen Kontinenten sowie diverse Stände für Kinder wie «Kochen und Probieren», «Basteln» oder einen Abenteuerspielplatz. Vom Graffitikurs über Akrobatik, Komiker und Tanz bis hin zum Puppentheater – es hatte für jeden Geschmack etwas dabei. Ausserdem gab es tolle Konzerte von deutschen wie auch von internationalen Künst-lern, die meisten sogar kostenlos. Das Beste? In den Bierzelten wurde die Fussball-WM 2014 live übertragen.

Sonntag, 6. Juli:Die Kathedrale des FussballsEs ist Sonntagmorgen und wir fahren in die Alli-anz Arena. Die sieht schon aus der Distanz sehr cool aus. Aus der Nähe erkennt man dann erst recht, was für ein wahres «Biest» dieses Stadion ist. Eine gigantische, glänzende Kathedrale des Fussballs. Ich staune jetzt noch vor Begeisterung! Vor allem die Führung durchs Stadion war toll – informativ und einfach zu verstehen. Sogar die Damen in unserer Gruppe haben was verstanden. Wir durften sogar in die Umkleidekabine der Spie-ler. Besonders imponierend war die grosse Zahl von Rollstuhlplätzen – obwohl diese meiner Mei-nung nach im VIP-Bereich besser platziert wären. Trotzdem super, dass sie auch auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen achten. Am Nachmittag gingen wir in den Englischen Gar-ten. Der liegt mitten in der Stadt und ist riesig.

Jemand erzählte uns, er gehöre weltweit zu den grössten innerstädtischen Parks. Radler, Jog ger und Spaziergänger können auf fast 80 km Weg- netz den Park erkunden. Es gibt vieles zu bestau-nen, Bäche, Biergärten, den Chinesischen Turm, Nudisten, Musiker, Seiltänzer in den Bäumen oder die Surf-Freaks im Eisbach. Da hat’s echt was für jeden. Am Abend besuchten wir einen riesigen Bierkeller. Was habe ich gelernt? Bier ist nicht gleich Bier. Ausserdem war das Essen trotz der Nähe zur Schweiz für einige Mitreisende recht exotisch. Es gab Brezeln, Weisswürste, süsser Senf, Haxen, Knödel, Sauerbraten, Sülze, Saures Lüngerl und vieles mehr. Die Grösse der Portionen verlief pro-portional zur Freundlichkeit der in Trachten ge-wandeten Kellnerinnen und Kellner. Ein Wunder, dass sich die Münchner trotz des vielen Essens und Biers erstaunlich schlank halten. •

Samstag, 5. Juli:Ich will kein Yo-Yo sein.Der heutige Tag fing leider ziemlich mies an. Nicht alles, was einem in München unter die Rä-der kommt, ist toll. Die Münchner U-Bahn ist für Rollstuhlfahrer ein «Mist». Man benötigt diverse Lifte um zu den Gleisen runter und wieder hoch zu kommen. Wie ein gigantisches Donkey Kong-Spiel. Nur an Stelle eines zornigen Gorillas wird man bei der Ankunft am Gleis von einem zornigen U-Bahn-Fahrer begrüsst. Muss man umsteigen, heisst das wieder mit dem Lift hoch, runter, hoch und runter bis zum nächsten Gleis. Tomislav, das menschliche Rollstuhl-Yo-Yo. Hat man Pech, steigt man bei der Ankunft aus dem Zug und der Lift ist kaputt. Das heisst dann in den nächsten Zug einsteigen und wieder Yo-Yo spielen. Am zornigen Fahrer vorbei in den nächsten Zug, der aber nicht dort hinfährt, wo man hin will – weil da

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AUF DER STELLEIch bin in einem Einkaufszentrum, als mein E-Rollstuhl den Dienst verweigert. Zum Glück bin ich mit der ganzen Familie unterwegs. Mein Va-ter muss mich bis zum Auto stossen. Das ist sehr anstrengend. Immerhin wiege ich zusammen mit dem Rollstuhl fast 200 Kilo. Mein Mechaniker kann heute nicht mehr kommen. Das ist ziemlich blöd, weil ich deshalb im Handrollstuhl zuhau-se bleiben muss. Da ich meine Arme nur wenig bewegen kann, muss ich gestossen werden. Mit dem Handrollstuhl komme ich nicht unter den Tisch und kann deshalb nicht selbstständig essen. Auch den Laptop und den Play Station Control-ler kann ich deshalb nicht bedienen. Mit anderen Worten: Ohne den Elektroantrieb geht nichts. Ich verbringe den Tag vor dem Fernseher.

StillstandAm nächsten Morgen die Diagnose: Motorscha-den! Der Mechaniker muss den E-Rollstuhl mit-nehmen. Ich habe es bereits befürchtet. Das wird wohl wieder ein Tag vor dem Fernseher. Lang-sam schmerzt mein Rücken. Der Handrollstuhl ist unbequem und verursacht Druckstellen, die ich nicht selbst entlasten kann wie bei meinem E-Rollstuhl. Die verstellbaren Rücken- und Fuss-stützen sind für mich wichtig, damit ich meinen Rücken und meine Hüften entspannen kann. Es ist anstrengend, den ganzen Tag im Handrollstuhl in der gleichen Stellung sitzen zu müssen. Eigentlich wäre ich jetzt schon seit einer Stunde in Zürich, an meiner Ausbildungsstelle im MEH. Ich würde wohl gerade mit Photoshop arbeiten und danach im Englischunterricht bei Steven über Politik diskutieren oder einen englischen Film an-schauen.

PositionswechselDer einzige Lichtblick, wenn ich zuhause bleiben muss, ist das Essen meiner Mutter. Sie kocht sehr fein. Endlich gibt es Mittagessen. Meine Mutter stösst mich zum Tisch und bringt das Essen. Dann gibt sie mir das Essen ein. Im MEH könnte ich jetzt selbstständig und in meinem eigenen Tempo mit der Gabel essen. Ich brauche nur Hilfe, wenn es Fleisch gibt, das geschnitten werden muss. Nach dem Essen schiebt mich meine Mutter zu-

Oh, nein! Nichts geht mehr. Die Steuerung zeigt eine Fehler-meldung an und der Elektro-Rollstuhl bewegt sich nicht vom Fleck. Pannen mit dem Rollstuhl haben weitreichende Auswirkungen für uns Rollstuhlfahrer und unser Umfeld. Von Mateo Tomic

Wenn der Rollstuhl streikt

rück ins Zimmer. Bis zum Abendessen ist wieder Gamen und Fernsehen angesagt. Eigentlich will meine Mutter einkaufen gehen, aber jetzt muss sie zuhause bleiben und mir helfen, falls ich etwas brauche. Wenn mein Rollstuhl kaputt ist, muss meine Mutter immer zuhause bleiben. Im Hand-rollstuhl bin ich auf noch mehr Hilfe angewiesen. Sie hat dann nur wenig Zeit für sich selbst und die Hausarbeit. Der Tag ist meist einseitig. Ich kann mich nicht umdrehen und schaue die ganze Zeit in eine Richtung. Somit weiss ich nicht, was um mich herum geschieht. Wenn meine Mutter putzen muss, kann ich nicht selbstständig wegfahren und Platz machen. Und dann stehe ich auch noch im Weg. Im MEH würde ich jetzt Kollegen tref-fen und mich in der Pause mit ihnen unterhalten. In der Ausbildung arbeite ich am Computer. Der Unterricht ist spannend und abwechslungsreich, man lernt viel. Vielleicht wäre ich auch in der Physiotherapie. Das Durchbewegen von Armen und Beinen bringt mir viel, dann fühle ich mich beweglicher.

VeränderungenIch habe noch einen älteren Bruder, der auch im E-Rollstuhl ist. Wenn wir beide zuhause sind, be-deutet das sehr viel Arbeit für unsere Eltern. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mal alleine Ferien hatten. Wenn unsere Mutter ein-kaufen geht, ist mein Vater mit uns zu Hause. Wenn sie zu Besuch gehen, kümmert sich un-ser Onkel um uns. Mein Bruder wird demnächst ins MEH einziehen. Er hat sich fürs MEH entschieden, weil er in der Werkstätte des MEH arbeiten kann. Er möchte dort gerne an Webseiten mitarbeiten. Der Ent-schluss ist ihm schwergefallen, weil er gerne zu Hause ist. Er hat mit den Leuten vom MEH und den Eltern darüber gesprochen. Sie mein-ten, dass er selbst entscheiden soll, was für ihn besser ist. Das hat ihm Mut gegeben. Ich bin gerne mit meinem Bruder zusammen. Wir ver-stehen uns gut. Ich werde darum auch ins MEH ziehen, wenn wieder ein Zimmer frei ist. Hof-fentlich haben unsere Eltern dann wieder ein-mal Zeit für sich. •

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GIPFELSTÜRMERMit dem Rollstuhl auf hohe Berge? Jungfraujoch, Pilatus, Bürgenstock, Titlis, Säntis und Schilthorn habe ich schon be-zwungen. Nun möchte ich aufs Matterhorn. Alles dröhnt und vibriert. Ich bin aufgeregt. Endlich startet der Helikopter. Von Francesco Tunzi

Mit dem Heli ums Matterhorn

Es ist so weit. In fünf Stunden sitze ich im Heli-kopter. Der Tag sieht vielversprechend aus, die Sonne scheint und keine Wolke ist am Himmel zu sehen: perfektes Flugwetter. Ich freue mich sehr auf diesen Tag. Ich geniesse die Landschaft, die an meinem Zugfenster vorbeizieht. Kurz vor Zer-matt sehe ich meinen Berg. Bald geht es los.

Bereit für den Start!Ein Pilot trägt mich vom Rollstuhl in den Helikop-ter. Ich sitze hinten am Fenster neben meiner

Mutter. Mit dabei sind auch der Partner meiner Mutter, ein Kameramann und ein Mitarbeiter der Sternschnuppe. Wir erhalten alle Kopfhörer ge-gen den Lärm und zum Kommunizieren. Dieser stört mich etwas, aber ich habe keine Zeit, darü-ber zu diskutieren. Mein Herz schlägt höher. Ich weiss nicht, was mich erwartet. Ich bin schon in einem Flugzeug geflogen, aber noch nie in einem Helikopter. Beim Start vibriert alles, es ist sehr laut und ich bin nun froh, die Kopfhörer zu tragen. Nach wenigen Sekunden macht der Helikopter die

erste Kurve und ich bin erleichtert, die Hand mei-ner Mutter halten zu können. Mit der Zeit kann ich mich entspannen und geniesse die Aussicht aus dem Helikopter. Wir fliegen ganz nah an der Spitze des Matterhorns vorbei. Der Gipfel beein-druckt mich: Mit seinen 4ꞌ478 Metern überragt er alle anderen Berge.

Landung bei der Hörnlihütte Nach einem halbstündigen Rundflug landen wir in der Nähe der Hörnlihütte. Der Landeplatz ist sehr eng und liegt unglaublich nah am Berg. Ein kurzer, steiniger Weg führt zur Hörnlihütte hinun-ter. Ich bin froh, dass mich ein Sherpa auf dem Rücken bis zur Hütte trägt. Er sagt mir, dass er normalerweise schwerere Lasten trage und ich für ihn ein Fliegengewicht sei. Daher mache ich mir keine Sorgen. Auf der Terrasse der Hörnlihütte er-halte ich einen prachtvollen Schokoladenkuchen als Überraschung. Wir geniessen den Kuchen und die Sonne. Später macht das Filmteam noch Auf-nahmen, ohne die wir gar nicht auf der Hörnli-

hütte hätten landen dürfen. Ich bin glücklich und zufrieden, dass alles so gut geklappt hat! Wir fliegen direkt nach Zermatt zurück. Nach dem Helikopterflug schenken mir die Piloten der Air Zermatt einen Sonnenhut als Erinnerung. Am Abend essen wir in einem Restaurant in Zer-matt gemeinsam mit dem Kamerateam und den Wunschbegleitern von der Sternschnuppe.

Wie alles begannWenig später liege ich bereits erschöpft im Bett und überlege, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass ich hier in Zermatt gelandet bin. Ange-fangen hat alles mit einem Schlüsselanhänger. Ein Arzt schenkte mir vor ungefähr zwei Jahren bei einem Untersuch einen Schlüsselanhänger von der Stiftung Sternschnuppe. Er erklärte mir, dass ich mir bei der Stiftung etwas wünschen könnte, bevor ich 18 Jahre alt bin. Ich war schon auf vielen rollstuhlgängigen Bergen wie zum Bei-spiel Jungfraujoch, Rigi, Pilatus, Bürgenstock, Tit-lis, Säntis, Schilthorn. Deshalb überlegte ich mir einen besonderen Wunsch, den ich mir ohne die Sternschnuppe nicht hätte erfüllen können. Ich meldete meinen Herzenswunsch online an und schrieb der Sternschnuppe, dass ich so hoch wie möglich auf das Matterhorn möchte. Nach ein paar Wochen bekam ich einen Anruf von der Sternschnuppe und die Zusage, dass sie meinen Wunsch organisieren wollten. Das Problem war die Landeerlaubnis auf der Hörnlihütte. Man ent-schied sich dafür, einen Film zu drehen, um so eine Landeerlaubnis zu bekommen. Die Sternschnup-pe hatte eine Sendung von Star TV geschenkt bekommen und beschloss, meinen Wunsch mit dieser Sendung zu kombinieren. Ich hatte wirklich Glück, dass alles so gut klappte. Ich werde diesen Tag nie vergessen. •

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PERSÖNLICHES LIMIT

Viele denken, Rollstuhlfahrer können keinen Extremsport betreiben. Wer hätte gedacht, dass man im Rollstuhl einen Back-flip machen oder als Blinder Berge besteigen kann. Ohne Arme und Beine den Ärmelkanal durchschwimmen! Unmöglich? Von Pascal Degonda

Extremsport mit Behinderung

Ich selbst spiele E-Rollstuhl-Hockey und gebe da mein Bestes. Da ich wenig Kraft in den Armen habe, ist es nicht mehr möglich, denn Hockey-schläger zu halten. Darum spiele ich mit einem Schläger, der am Rollstuhl befestigt ist. Er sieht aus wie ein T, darum heisst er T-Stick. Ich finde es cool, dass E-Hockey ein schneller Sport ist. Ich bin ein Typ, der nicht gerne verliert. Die Natio-nalmannschaft ist mein grosses Ziel. Es wäre ein Erlebnis, dort zu spielen. Dann weiss man erst, ob man top ist. E-Hockey ist eigentlich recht sicher. Eine der Ge-fahren ist, dass der Rollstuhl kippt. Ich hoffe, dass ich nie umkippen werde, das könnte zu schwe-ren Verletzungen führen. Aber das passiert nur sehr selten und ich fahre so, dass es hoffentlich nicht dazu kommen wird. Ich kenne meine Gren-zen. Für mich ist es schwer nachvollziehbar, was Menschen mit Behinderung motiviert, Extrem-sport zu betreiben und hohe Risiken einzugehen. Gleichzeitig fasziniert mich ihr Mut.

Salto im Rollstuhl Drei Ausnahme athleten mit Behinderung beein-drucken mich besonders. Einer von ihnen ist Aaron Wheelz. Er macht mit dem Rollstuhl Backflips und Doublebackflips. Dabei dreht er sich rückwärts in der Luft um 360° und landet mit viel Glück wieder auf den Rädern. Bei einem Doublebackflip dreht er sich sogar zweimal in der Luft, bevor er auf-knallt. Das ist extrem schwierig. Im Internet kann man seine Sprünge und seine Ausdauer bewun-dern. Wenn er stürzt, probiert er es weiter, bis er den Sprung schafft. Er zeigt keine Angst und ist der absolute Draufgänger. Mit meinem E-Rollstuhl würde das nicht gehen, er wäre viel zu langsam.

Dem Echo folgen Ein anderer Extremsportler ist Andy Holzer. Er be-steigt weltweit die höchsten Berge, und das ob-wohl er blind ist! Unfassbar. Holzer hat ein sehr gutes Gehör. Er kann sich am Ton der Begleiter orientieren, zudem stösst er Schnalzlaute mit der Zunge aus. Durch das Echo der Laute findet er heraus, wie es um ihn herum aussieht. Er hat schon sechs der sieben höchsten Berge bestie-

gen. Ihm fehlt allerdings noch der Mount Everest. Er ist bereits einmal gescheitert und wird es wie-der probieren. Wenn ich ihn etwas fragen könnte, dann dies: Hast du keine Angst vor dem Sterben? Zurück ins Leben schwimmenDer dritte Ausnahme athlet ist Phillipe Croizon. Er überlebte einen Stromschlag von 20‘000 Volt. Normalerweise ist man tot. Es mussten ihm Arme und Beine amputiert werden. Danach wollte er nicht mehr leben. Über eine Fernsehdokumenta-tion entdeckte er das Schwimmen. Mittlerweile ist Phillipe Croizon Langstreckenschwimmer. Er nutzt beim Schwimmen Prothesen mit langen Flossen. Damit überquerte er bereits einmal den Ärmel-kanal. Um die 30 Kilometer zu überwinden, trai-nierte er zwei Jahre lang hart.

Auf mich hören Das Extremste, was ich je gemacht habe, war mit dem E-Rollstuhl auf die Eisfläche einer Kunst-eisbahn zu gehen. Am Anfang fand ich das nicht lus tig, aber nach einer Weile hat es richtig Spass gemacht. Manche Menschen wünschen sich, dass ich mir mehr zutraue und mutiger werde. Ich bin aber eher der vorsichtige Typ und finde das nicht schlimm. Jeder muss selbst entscheiden, was er sich zutraut. Wenn ich mit der Rampe in den Bus fahre, gebe ich nicht Vollgas. Ich fahre nur im Schritttempo, damit ich nicht von der Rampe flie-ge. Im E-Hockey wünsche ich mir manchmal, mu-tiger zu werden. Für mich ist es meist in Ordnung, vorsichtig zu sein. Es passieren weniger Unfälle, ich kassiere im Hockey keine Karten. Wenn ich über Fussgängerschwellen fahre, gebe ich acht, dass es mich nicht durchschüttelt. Ich passe auf mich und meinen Rollstuhl auf. •

Aaron Wheelz: aaronfotheringham.comAndy Holzer: andyholzer.comPhillipe Croizon: philippe-croizon-consulting.com

INFOS ZU DEN PERSONEN

(v.l.n.r) Francesco Tunzi, Sarmed Hussain, Mateo Tomic, Loris Lang (llan), Steven Deblander, Rahel Ebneter, Michael Groer, Dave Inhelder, Tomislav Tomic, Leslie Weiss, Annete Plammoottil (apla), Pascal Degonda, Frank Grüninger, Lukas Fischer, Jessica Mone

DAS REDAKTIONSTEAM

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ERSTE SCHRITTE

Alle Lernenden, die ein zweites Ausbildungsjahr finanziert bekommen, machen mindestens vierzig Tage lang ein Praktikum ausserhalb des MEH. Das ist eine Herausforderung für alle Lernenden sowie für das Ausbildnerteam. Es ist nicht einfach, ein Praktikum im ersten Arbeitsmarkt zu finden. Wir müssen einige Hürden überwinden. Erstens muss der Arbeitsbetrieb rollstuhlgängig sein. Zweitens benötigen viele von uns einen Computerarbeits-platz, was die Praktikumssuche weiter erschwert. Diese Probleme sind jedoch oft sekundär, meist

Von der Armee über die Fachhochschule, den Verein Behinderten- Reisen Zürich bis zur Agentur für Webdesign: Vier Lernende der MEH-Ausbildung zeigen, dass ihre Arbeitskraft in jeder Branche einsetzbar ist.Von Annete Plammoottil

Praktikum im ersten Arbeitsmarkt

gibt es mehr Möglichkeiten als gedacht. Wenn man uns lässt, leisten wir tolle Arbeit, ob wir etwas recherchieren, Daten erfassen oder telefo-nieren. In fast jedem Betrieb gibt es Arbeit, die wir Menschen im Rollstuhl erledigen können. Ich hatte ein spannendes Praktikumsjahr und hoffe, dass auch künftige Lehrlinge die Möglichkeit ha-ben werden, im ersten Arbeitsmarkt ein Prakti-kum zu machen. Ich berichte mit drei weiteren Lernenden über die Erfahrungen, die wir in un-seren Betrieben sammeln konnten.

Name: Rahel Ebne ter

Praktikumsort: ArmeelogistikcenterDauer: 12 MonatePensum: 1 Tag pro Woche

«MEINE ARBEIT WIRD GESCHÄTZT.»

Ich bin dank Vitamin B zu meiner Praktikumsstelle gekommen. Mein Vater arbeitet im Armeelogistik-center Othmarsingen und hatte dort seinen Chef gefragt. Meine Arbeitszeiten sind flexibel. Meist arbeite ich einen Tag pro Woche. Ich darf meine Pausen selbst einteilen. Das ist für mich manch-mal schwierig, weil ich es vergesse, Pause zu ma-chen. Meine Arbeitskollegen erinnern mich immer wieder daran. Sie sind sehr hilfsbereit. Die weiter-gehende Betreuung wird durch meinen Vater ab-gedeckt. Ich arbeite in einer riesigen Halle. Bevor

ich zu meinem Arbeitsplatz komme, werde ich von einem Schild gefragt, ob mein Gewehr gesichert ist. Ich sortiere verschiedene Ausrüstungsgegen-stände, z. B. Uniformen, welche die ehemaligen Rekruten abgegeben haben. Diese kontrolliere ich auf vergessene Gegenstände. Zudem sortiere ich Abzeichen nach Gebrauchszustand und bereite sie für eine erneute Ausgabe vor. Im Moment ist meine Arbeit sehr leicht, das macht mir Spass, weil ich dann schnell arbeiten kann. Ich sehe, was ich gemacht habe. Meine Arbeit ist wichtig, wäre ich nicht da, würde sie von Mitarbeitern ohne Behinderung erledigt. Ich weiss, dass es nicht bloss eine Beschäftigung ist, sondern dass meine Arbeit auch geschätzt wird. Das gibt mir ein gutes Gefühl.

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beitsplatz aussieht. In den ersten paar Tagen durfte ich zuschauen, wie sie Bestellungen ent-gegennehmen und richtig eintragen, worauf ich achten muss etc. Als ich erfuhr, dass noch zwei weitere Mitarbeiter im Rollstuhl im Büro arbeiten, war ich sehr erleichtert. Ich wuss-te nun, dass ich als Rollstuhlfahrerin keine Schwierigkeiten haben würde. Meine Arbeits-

«DIE AUFGABEN SIND VIELSEITIG.»

Ich mache das Praktikum in der Zürcher Hoch-schule für Angewandte Wissenschaften im Toni Areal. Leslie, meine Praktikumsbegleiterin des MEH, hat bei der ZHAW angefragt, ob es eine Praktikumstelle gibt. Mein Vorstellungsgespräch

lief gut, obwohl ich sehr nervös war. Am ersten Arbeitstag haben sie mit mir zuerst meinen Ar-beitsplatz eingerichtet. Ich brauche vor allem Hilfe beim Einschalten des Computers und beim Öffnen der Türen, sonst kann ich selbstständig arbeiten. Eine meiner Aufgaben ist es, Adressen und Kon-takte zu aktualisieren, zu recherchieren und zu ergänzen. Ich bearbeite die Rückläufer, das sind Briefe, die von der Post nicht zugestellt werden konnten. Wenn die Adresse nicht stimmt, dann schaue ich zuerst bei uns im System nach, ob die Adresse bereits angepasst wurde. Wenn das nicht der Fall ist, muss ich die neue Adresse recherchie-ren. Zudem gestalte ich die Geburtstagskarten für die neuen Mitarbeiter oder bearbeite Bilder. Das macht mir sehr viel Spass. Die Arbeit ist vielseitig und ich arbeite in verschie-denen Programmen: CRM (Datenbank), Photo-shop, InDesign, Adobe Acrobat und Microsoft Out-look. Ich freue mich sehr, dass ich das Praktikum machen kann.

Ich mache mein Praktikum bei Bestview, einem Unternehmen, das Websites und Intranet-Lösun-gen designt und erstellt. Am Anfang konnte ich mir noch nicht vorstellen, was auf mich zukom-men würde. Dementsprechend war ich an mei nem ersten Tag ein wenig nervös. Ich wusste nicht, welche Aufgaben man mir geben würde und ob ich die Erwartungen erfüllen kann. Die Nervosität legte sich schnell, weil die Leute der Firma von Anfang an super mit mir umgegangen sind. Mein Arbeitsplatz ist perfekt für mich. Alle Tische im Büro sind elektrisch höhenverstellbar, auch ich kann sie selbstständig bedienen. Die anderen Mit ar bei ter können so auch im Stehen arbeiten. Bis jetzt klappt alles gut. Ich darf sogar an den Kunden-Websites mitarbeiten. Ich arbeite viel mit CSS-Code, einer Computersprache, mit der die Ge staltung eines Webprojekts umgesetzt wird.

«ICH WUSSTE NICHT, OB ICH DIE ERWARTUNGEN ERFÜLLEN KANN.»

Ich hatte riesen Glück bei meiner Praktikums-suche. Seit 2013 fahre ich mit dem Verein Behinderten-Reisen Zürich (VBRZ) zur Ausbil-dung und als ich von meiner Praktikumssuche erzählte, machte mir ein Fahrer den Vorschlag, den Geschäftsführer des VBRZ zu kontaktie-ren. Daraufhin rief ich den Geschäftsführer an, schickte ihm meine Bewerbungsunterlagen und bekam so meine Praktikumsstelle. Im August 2014 habe ich beim VBRZ mein Praktikum begonnen. Zu meinen Aufgaben ge-hören unter anderem das Schreiben und Kon-trollieren von Bestellungen, das Eintragen ins Dispo-Programm, das Beantworten der Mails. Am ersten Praktikumstag war ich ein bisschen aufgeregt, da ich nicht wusste, wie mein Ar-

«DAS PRAKTIKUM IST ERST DER ANFANG.»

Name: Annete Plammoot til Praktikumsort: VBRZDauer: 12 MonatePensum: 2 halbe Tage pro Woche

Name: Dave Inhe lder

Praktikumsort: BestviewDauer: 12 MonatePensum: 2 halbe Tage pro Woche

Name: Loris Lang

Praktikumsort: ZHAWDauer: 9 MonatePensum: 2 halbe Tage pro Woche

Ein Vorteil ist, dass ich im Praktikum mit dem gleichen Programm arbeiten darf wie in der Aus-bildung, es heisst Dreamweaver. Ich freue mich darüber, wenn ich etwas Neues hinzulerne. Ich setze mich gerade mit einer weiteren Computer-sprache namens ColdFusion auseinander. Diese ist zwar kompliziert, aber sehr spannend. Mein Praktikum gefällt mir sehr, ich kann so eine Er-fahrung nur weiterempfehlen.

kollegen sind sehr freundlich und hilfsbereit. Ich brauche beim Einrichten meines Arbeits-platzes Hilfe, d.h. zum Ein- und Ausschalten des PCs, zum Einrichten des Tastaturtischs und zum Bereitlegen von Unterlagen, Bestell-schein, Block und Stift. Bevor das Praktikum anfing, musste ich einige Dinge organisieren. So habe ich die Spitex aufgeboten, damit sie mich während der Pause unterstützen, die Fi-nanzierung des Praktikumswegs geklärt und den Arbeitsplatz so eingerichtet, dass ich mög-lichst selbstständig arbeiten kann. Die Arbeit im Büro macht mir sehr viel Freude, daher habe ich mich entschlossen, nach mei-ner Ausbildung in MEH, eine kaufmännische Ausbildung zu machen und Fuss im ersten Ar-beitsmarkt zu fassen. Ich bin jetzt auf der Su-che nach einer Lehrstelle und hoffe, dass ich für den Sommer 2016 einen Ausbildungsplatz finde. •

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EIN BUND FÜRS LEBEN

Wenn andere baden gehen, kann ich nicht mit-gehen. Aber im Stadion live dabei sein, das geht. Ich wurde vor 18 Jahren mit einer Cerebralen Lähmung geboren. Daher bin ich auf einen Hand-rollstuhl angewiesen. Als kleines Kind habe ich meinen Rollstuhl gehasst. Ich habe am Anfang sogar geweint, wenn ich in den Rollstuhl muss-te. Ich war noch keine zwei Jahre alt, als ich das erste Mal ins Letzigrund durfte. Mein Bruder hat beim FCZ gespielt und mich immer ins Training mitgenommen. Wir haben neben der Familie von Ricardo Rodríguez gewohnt. Ich bin mit den drei Rodríguez-Brüdern aufgewachsen und mein Bru-der absolvierte mit Ricardo die Nachwuchsabtei-lung. Beim Fussball haben sie mich rumgetragen oder aufs Spielfeld gesetzt. Meine Mutter hat mir alte Kleider angezogen, damit sie mich ins Tor setzen konnten. Ich sah nach jedem Spiel aus wie ein kleines dreckiges Schweinchen. Manch-mal kam ich auch mit einem blauen Auge nach Hause, weil ich den Ball an den Kopf bekommen

Frauen können nicht einparken, brauchen Schuhe, um glücklich zu sein. Frauen sind immer am Quatschen, interessieren sich nicht für Fussball, kennen die Regeln nicht und haben keine Ahnung, was Abseits ist. Doofe Klischees! Mit Barbies habe ich nie gespielt. Ich bin mit den Jungs vom FCZ aufgewachsen. Von Jessica Mone

hatte. Ich fand es trotzdem immer sehr lustig. Meine Mutter musste mich danach immer in die Badewanne setzen. Eines Tages habe ich mit den drei Rodriguez-Brüdern «Fangis» gespielt. Dabei hat mich Francisco aus Versehen von der Treppe geschubst. Ricardo wurde sehr wütend und hat ihm eine Lektion erteilt. Ihre Mutter hat mir da-raufhin mein Lieblingsessen gekocht.

SüdkurveRandalieren und prügeln, Pyros im Stadion zünden – typisch Südkurve? Für mich ist das vor allem ein Klischee. Ich nehme die Südkurve anders war. Sie nehmen mich, so wie ich bin, und stellen meine Behinderung nicht in den Vordergrund. Ich kann mich normal fühlen. Manchmal habe ich trotzdem den «Behindi-Bonus». Wenn ich mit den Fans der Südkurve nach dem Spiel an der Halltestelle auf den Bus warte, machen sie mir Platz, damit ich zuerst einsteigen kann, bevor sie sich in den Bus zwängen. Sie sind sehr hilfsbereit. Wenn mir ir-

Der FCZ und sein treuster Fan

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gendwo Treppen in die Quere kommen, tragen sie mich. Bei den Feiern zu Meistertiteln oder Cup-siegen setzen sie sich ein, dass ich vorne dabei sein kann. Manchmal darf ich auch bei der Cho-reographie mitreden. Sie finden es toll, dass ich mich so für Fussball interessiere. Leider darf ich im Letzigrund nicht bei der Kurve sitzen, weil es laut Polizei zu gefährlich ist. Man schiebt mich in den Familiensektor ab.

Immer dabeiIch mache im Moment eine schwierige Phase durch und bin recht frustriert, weil meine Cere-brale Lähmung immer schlimmer wird und ich starke Schmerzen habe. Die Ärzte wissen nicht, woher die Schmerzen kommen. Das Spital ist mein zweites Zuhause. In dieser schwierigen Zeit helfen mir der Fussball und der FCZ sehr. Wenn ich Fussball schaue, kann ich meine Schmerzen und meine Sorgen für 90 Minuten vergessen. Ich freue mich jede Woche aufs Neue, wenn ich weiss, dass mein Verein am Wochenende spielt. Ich bin jedes Mal so aufgeregt wie ein kleines Kind. Am Morgen vor dem Match stehe ich früh auf und sitze nervös vor dem Kleiderschrank. Ich überlege mir genau, was ich anziehen möch-te. Manchmal ziehe ich mich fünfmal um, bis es passt. Mir gehen dabei tausend Sachen durch den

Kopf. Wer ist in der Startaufstellung? Was wird die Südkurve heute wohl singen? Welche Choreos haben sie vorbereitet? Welcher meiner Jungs wird ein Tor schiessen? Wie wird das Spiel ausgehen? Dabei werde ich nur noch nervöser und kann den Anpfiff kaum erwarten. Manchmal darf ich bei der Mannschaft auf der Bank sitzen. Ich bin trotz Roll-stuhl überall dabei, ich war sogar in Madrid. Auch in München war es toll. Dort bin ich mit den Fans vom Bahnhof zum Stadion gegangen und habe Party gemacht. Wir sorgten für Stimmung und haben auf dem Marienplatz gesungen. Die Fans haben mir mit dem ÖV geholfen. Auch der Cup-Sieg 2014 war ein Erlebnis. Bei der Cup-Feier ha-ben sie mir Platz gemacht. Ich durfte ganz nach vorne, damit ich alles sehen konnte. Die Mann-schaft hat mir zugewinkt und dann haben wir alle mit der Mannschaft den Titel gefeiert. Ich war voll dabei.

Leidenschaft Auf der Wohngruppe gibt es immer wieder Dis-kussionen und Streit wegen meiner grossen Lei-denschaft, dem Fussball. Bei mir fliessen auch mal die Tränen. Meine Zimmernachbarin interes-siert sich leider nicht für Fussball. Manchmal flie-gen die Fetzen! Wir mussten sogar Zimmerregeln einführen. Auch mit den Betreuern meiner Grup-pe habe ich oft hitzige Diskussionen. Sie finden es nicht gut, wenn ich unter der Woche an einen Fussball-Match gehe. Sie haben das Gefühl, dass es für mich gefährlich werden könnte oder ich mit den falschen Leuten «abhänge»... Ich darf nur im Ausnahmefall später ins Bett gehen. Ich versuche immer, mich durchzusetzen – mit meinem Dick-kopf oder meinem Charme. Verbieten mir die Be-treuer oder die Gruppenleiterin an den FCZ-Match zu gehen, ist das für mich der Weltuntergang.

Mein grosser TraumIch träume davon, mit den Spielern ins Trainings-lager zu gehen. Ich habe schon sehr viel mit der Mannschaft erlebt, aber im Trainingslager war ich noch nie. Ich würde die Spieler bei ihren schweiss-treibenden Trainingseinheiten mental unterstüt-zen. Manchmal komme ich mit einem Lächeln und meinen grossen Augen weiter, vielleicht hilft es mir auch diesmal. •

Jessica, die Autorin des oben stehenden Artikels, begann im Au-gust 2015 ein einjähriges Praktikum beim FCZ. Sie freut sich sehr auf die neuen Aufgaben. Zwischen der Werkstätte des MEH und dem FCZ besteht bereits eine Partnerschaft. Seit 2014 verkauft der FCZ im Fanshop créa-tion handicap-Produkte aus der Werkstätte des MEH. Der Erlös kommt zu 100% dem MEH zugute.

www.creation-handicap.chwww.fcz.ch

PARTNERSCHAFT ZWISCHEN FCZ UND MEH

llan – E-Hockey ist eine der wenigen Sportar-ten, die für E-Rollstuhlfahrer geeignet ist. Für viele Menschen mit Muskeldystrophie vom Typ Duchenne stellt E-Hockey die einzige Möglichkeit dar, einen Mannschaftssport auszuüben. Für die Spieler ist dieser Sport ein Mittelpunkt im ihrem Leben. Die Sportart hat sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Es gibt sogar Europa- und Welt-meisterschaften. Unsere Iron Cats-Mannschaft Zürich mischt auch international mit. Viele E-Rollstühle sind dafür jedoch ungeeignet. Um gut spielen zu können, benötigt man Sportrollstühle. Diese werden jedoch von der IV nicht finanziert. Die hohen Kosten müssen zu grossen Teilen von den Spielern und ihren Familien übernommen werden. Daher braucht es auch Sponsoren, die einen Beitrag leisten. Weitere Informationen fin-den Sie unter: www.iron-cats.ch.

IRON CATS: SPORT AUF HÖCHSTEM NIVEAU

EIN ABENTEUERPARK FÜR ROLLSTUHLFAHRER

Bei kaltem Wetter können E-Rollstuhlfahrer mit der Steue-rung ihres Rollstuhls Probleme bekommen, weil die Hände vor Kälte steif werden. Dies führt so weit, dass manche die Kontrolle über den Rollstuhl verlieren oder nicht mehr fah ren können. Zum Glück gibt es eine Handheizung für E-Rollstuhlfahrer. Diese kann direkt an die Stromversorgung des Rollstuhls angeschlossen werden. Sie produziert einen warmen Luftstrom, der die Hand warm halten soll. Tomislav verwendet die Handheizung regelmässig. Seiner Meinung nach könnte sie noch verbessert werden: «Wenn man mit dem E-Rollstuhl schnell fährt, ist die Heizung überfordert, weil kalte Luft an die Hand kommt.» Auch bei starkem Wind nütze sie nicht viel. Auch die Steuerung der Heizung ist laut Tomislav ein Kritikpunkt. «Wenn man die Heizstufen verstellen will, muss man das manuell an der Heizung machen. Die Heizung kann also nicht vom E-Roll-stuhl aus gesteuert werden. Darum brauche ich jemanden, der mir hilft. Es wäre gut, wenn man die Heizung mit der E-Rollstuhl-Steuerung kontrollieren könnte, damit man die Heizstufen auch selbstständig verstellen kann.» Gerade hier sei noch grosser Entwicklungsbedarf nötig. Tomislavs Fazit: «Die Hand heizung ist für mich dennoch ein unverzichtbares Hilfsmittel in der kalten Jahreszeit.» •

Kurz und bündig

DAS KLEINESCHWARZE Von Loris Lang

apla – In Luzern wurde 2014 der Rodter Park er-öffnet – ein Natur- und Abenteuerpark für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behin-derung. Die Initiative für diesen Park ergriff die Stiftung Rodtegg für Menschen mit körperlichen Behinderungen. Der neue Park ist barrierefrei und soll als Ort der Begegnung für Menschen mit und ohne Behinderung dienen. Im Rodter Park kann man gemeinsam spielen und Spass haben. Es gibt unter anderem eine Nestschaukel, Rampen, eine Hängebrücke und ein Planschbecken, welches auf der einen Seite nur wenige Zentimeter tief ist, damit auch Rollstuhlfahrer selbstständig durch-fahren können. Der Park ist etwa so gross wie zehn Tennisfelder und wurde durch die Rodtegg Stiftung und Spenden finanziert.

Pause 2015 Pause 201526 27

den Übergang der Heimleitung als reibungslos erlebte, war der Wechsel für Ueli anspruchsvoll. «Man muss sich den Veränderungen stellen», sagte er dazu. Als das MEH 1997 zustimmt, neben Duchenne auch Klienten mit anderen Körperbe-hinderungen aufzunehmen, werden in Deutsch-land gerade die Weichen für den Euro gestellt. Ruedi dachte schon damals: «Das klappt nicht.» Im selben Jahr zog das MEH ins Kasernenareal um und Ueli bekam für die Ergotherapie end-lich einen angemessenen Raum. Der Weg dahin war allerdings abwechslungsreich, man traf auf Hundekot und auf gebrauchte Spritzen. Auch die Technik machte Fortschritte. 1997 benutzte der erste Bewohner im MEH ein Atemhilfsgerät. In Japan erschien der Game Boy.

InformationswegeDas MEH kam in Mode. Viele wollten einziehen und ab 2001 gab es eine Warteliste für den Wohn-bereich. Im gleichen Jahr geschah 6323 km ent-fernt etwas ganz Schlimmes. Beim Anschlag auf das World Trade Center starben 2994 Menschen. Wie viele im MEH erfuhr auch Ueli von der Phy-sio, was in New York geschehen war. Im Bereich Technik hingegen war es Ueli, der das MEH stets zuverlässig über Innovationen informierte. Eine davon war der iPod, der einen Monat nach dem Anschlag von Steve Jobs vorgestellt wurde. Ruedi beschäftigte sich damals noch nicht mit dem iPod, sondern mit seinem ersten Handy.

DankeMit schönen Erinnerungen blicken wir zurück und sagen Danke. Ueli, der du auch schon als zer-streuter Professor wahrgenommen wurdest. Du warst deinen Prinzipien treu und standhaft; auch wenn du Gegenwehr bekamst, hast du dich im-mer für die Interessen von uns Klienten einge-setzt. Ruedi, du warst immer der Dreh- und An-gelpunkt des MEH, man konnte dich immer um etwas bitten und du versuchtest stets zu helfen. Nach dem Motto: «Wenn Sie einen Platten haben, rufen Sie einfach unseren hauseigenen Pannen-dienst an.» Tag und Nacht standest du uns immer zur Verfügung. Getreu deiner Devise: «Wenn du etwas in Angriff nimmst, lass dir genug Zeit und mach es ordentlich.» •

Schon fast eine Ewigkeit her starteten zwei jun-ge Männer ihre Karriere im MEH. Einige munkeln sogar, dass sie Mathilde noch persönlich kannten. Alles begann im Jahr 1985. In der Ukraine war gerade der Kernreaktor in Tschernobyl explodiert und Michael Jackson veröffentlichte sein Album Thriller, als Ueli Schären ein Praktikum als Ergo-therapeut im MEH begann. Kam er noch mit der Kutsche zur Arbeit oder gab es schon Fahrräder? Fast gleichzeitig fand die Eröffnung der Ausbil-dungsabteilung statt. Diese wurde damals noch als Pilotprojekt bezeichnet, weshalb man die Teil-nehmenden Piloten nannte. Ueli hatte zu jener Zeit einen braunen Lockenkopf. Die Suche nach Fotos verlief leider erfolglos. Vermutlich wurde das Beweismaterial verbrannt.

Hasen, Hühner und ein MacIm Jahr 1990, als sich das MEH gerade auf Muskel-dystrophie vom Typ Duchenne spezialisiert hatte, nahm Ruedi Hons seine Arbeit beim technischen Dienst auf. Erst 25 Jahre später wird Ruedi mit seiner Pensionierung in die Freiheit entlassen. Er musste fast ebenso lange darauf «verzichten» wie Nelson Mandela, der im Jahr von Ruedis Stel-lenantritt 9078 km von Zürich entfernt nach 28 Jahren Haft freigelassen wurde. Ruedi hatte zu Beginn weder eine Werkstätte noch ausreichend Werkzeug. Er musste sich sogar sein Büro selbst suchen und einrichten. Seither wechselte er fünf-mal sein Büro. In den ersten Jahren machte er viel Gartenarbeit, eine Weile kam er sich vor wie ein Landwirt. Er setzte Obstbäume, fütterte die Hasen und die Hühner im MEH.Auch für Ueli sollte 1990 ein prägendes Jahr wer-den. Er musste einem Klienten den ersten Mac im MEH einrichten, damit er selbstständig arbeiten konnte. Etwa ein Jahr später verstarb der Klient und niemand wusste, was man mit dem Mac an-fangen sollte. Das war der Moment, als Ueli be-schloss, sich bezüglich Computer weiterzubilden. Das MEH profitiert bis heute davon.

AbwechslungIm August 1996 übernahm Jürg Roffler die Lei-tung des MEH. Nach 18 Jahren in seinem Amt als Heimleiter erzählte er mir, dass Ueli und Ruedi sehr korrekte Menschen seien. Während Ruedi

Sie wissen, wie es in einer Welt ohne Computer war. Sie sahen Präsidenten kommen und gehen. Sie erlebten Katastrophen und neue Erfindungen. Nach über einem Vierteljahrhundert im Einsatz für das MEH verabschieden wir zwei treue Seelen in ihren wohlverdienten Ruhestand. Von Dave Inhelder

Ruedi

Ueli

MATHILDES SÖHNE

Zwei Pioniere schreiben Geschichte

Ruedis Neben -

beschäftig

ung

Uelis Spielzeug!

War damit der Erste:

Uelis iPod.

Der grosse Charmeur...

Boxenstopp beim

hauseigenen Pannendienst

Immer ganz für die Klienten da...

Der vielseitig talentierte «Professor»

Frank Zappa?

Wer ist hier der Chef?

Pause 2015 29

FILMREIF

Was, denken Sie, wäre anders gewesen, wenn Sie nicht im Rollstuhl sitzen würden?Das kann ich nicht beantworten. Was wäre, wenn ich keinen Unfall gehabt hätte? Was wäre, wenn du nicht mit deiner Behinderung auf die Welt ge-kommen wärst? Wir wissen es nicht. Ohne Roll-stuhl hätte ich sicher weniger Abenteuer und Er-lebnisse gehabt.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie andere Leute um ihr Geld brachten?Ich habe nicht absichtlich jemanden betrogen und nie eine Bank überfallen. Ich habe es billigend in Kauf genommen! Als mir bewusst wurde, wie schlimm dies war, habe ich mich bei der Staatsan-waltschaft selbst angezeigt, um für meine Schul-den geradezustehen. Es ist mir wichtig, mich nicht nur zu entschuldigen, sondern den Schaden soweit wie möglich wieder gutzumachen. Darum trete ich die Autorenhonorare meines Buches an die Gläubiger ab.

Sie hatten Bargeld im grossen Stil geschmuggelt. War das nicht heikel?Klar hatte ich Angst, die Koffer könnten abhan-denkommen. Ich war dafür nicht geeignet, weil ich viel zu nervös war! Ich bin immer mit vier Millionen gereist, in jeden Koffer ging eine Million. Mit den vier Koffern bin ich immer von Miami nach München gereist. Früher gab es kein Geldwäsche-reigesetz, weshalb ich damals keine Gesetze ge-brochen habe.

Seit einem tragischen Autounfall ist Josef Müller querschnitts-gelähmt. Doch er liess sich nicht bremsen und schaffte es in die Kreise der Schönen und Reichen. Dann kam der Absturz. Er verspekulierte Geld seiner Mandanten, unter anderem der Mafia. Im Gefängnis wurde ihm klar, dass Reichtum nicht alles ist. Von Rahel Ebneter

Josef Müller im Interview

Wovor hatten Sie am meisten Angst?Angst hatte ich, als sich herausstellte, dass ich 40 Millionen US Dollar an der Börse verzockt hat-te, und herausfand, dass ich diese 40 Millionen nicht einer Person schulde, sondern einem Dro-gen- und Waffenkartell. Ich versuchte, es ihnen in Ruhe beizubringen. Sie haben mir mit dem Tode gedroht. Ich hatte wirklich Angst um mein Leben.

Als alles aufflog, mussten Sie vor dem FBI flüchten? Geht das im Rollstuhl überhaupt?Ja, freilich geht‘s! Es ist für Menschen unvorstell-bar. Fliehen heisst nicht, jemand rennt mir nach. Ich bin von Deutschland über Wien nach London und New York geflogen und von dort bis Miami gefahren. Das FBI und damals das bayerische Landeskriminalamt wussten nicht, wo ich war. Ich hatte Angst, dass sie nach mir fahnden. Ich konn-te das Land verlassen, in England und in die USA einreisen und mich dort verstecken, um meine Unschuld zu beweisen. Dies ist mir gelungen.

Sie haben sich dann gestellt und sind ins Gefängnis gekommen. Wie hat Ihre Gefängniszelle ausgesehen?Es gab damals in Wien keine behindertengerechte Zelle. Es war schwierig, auf die Toilette zu gehen. Duschen war einfacher. Ich wurde nach München Stadelheim verlegt, welches auch nicht behinder-tengerecht war. Ich war der erste Querschnitts-gelähmte in ganz Bayern, der im Gefängnis war. Sie waren nicht darauf vorbereitet. Es wurde eine

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Josef Müller wuchs in Deutschland in einer bürgerlichen Familie auf. Sein Vater war Kriminalbeamter. Mit 17 Jahren hatte er einen schweren Autounfall und ist seitdem quer-schnittsgelähmt. Er machte den-noch den Pilotenschein und wagte den Sprung in die Tiefe beim Bun-gee Jumping. Er wurde erfolgreicher Steuerberater und umgab sich mit Luxus. Nach dem Aufstieg kam der

Fall. Er landete im Gefängnis. Dort studierte er Theologie und fand den Weg zu Gott. Das erste Mal habe ich Josef Müller in einer Fernsehsendung gesehen. Seine Geschichte faszinierte mich. Ich habe ihm eine E-Mail geschrie-ben und ihn gefragt, ob ich ihn in-terviewen könnte. Bereits fünf Tage später trafen wir uns in einem Zür-cher Hotel zum Interview.

Zelle für mich gebaut. Die Zelle war so klein, dass ich mich im Handrollstuhl kaum umdrehen konn-te. Mit dem Rollstuhl in einer Gefängniszelle ist es noch extremer als ohne.

Wie lange sassen Sie?Sitzen tue ich schon seit 41 Jahren, aber im Ge-fängnis war ich fünf Jahre und vier Monate!

Wie war die Zeit für Sie im Gefängnis?Wenn man im Gefängnis sitzt, bekommt man nor-malerweise eine Arbeit zugeteilt. Bei mir war das nicht möglich, weil die Werkstatt nicht behinder-tengerecht war. Deshalb habe ich ein Theologie-Fernstudium absolviert. Es war in gewisser Weise

die schönste Zeit meines Lebens. Ich hatte viel Zeit ohne Verpflichtungen. Ich hatte drei Schreib-tische, einen Flatscreen-Fernseher, eine Kaffee-maschine, einen Computer, ein höhenverstell-bares Bett. Mir ging‘s relativ gut. Ich war nicht in einer Zelle, sondern in einem Haftraum.

Wie haben die anderen Häftlinge auf Sie reagiert?Es war natürlich so, wie wenn ich ein Mensch von einem anderen Stern wäre. Eine Behinderung ist im Gefängnis sehr ungewöhnlich. Ich habe mich verhalten wie sonst auch. Die anderen waren of-fen und sehr hilfsbereit, aber es war sehr unge-wöhnlich.

Also es war nicht so, dass Sie ausgegrenzt wurden?Nein, überhaupt nicht, ich hätte mich überall ein-geklinkt. In Josef Müllers Leben gab‘s nie Aus-grenzung.

Wenn Sie Theologie studiert haben, welche Bedeutung hat dann Gott in Ihrem Leben?Früher gar keine, weil du mit viel Geld dein eige-ner Gott bist! Ich dachte, ich muss mich selber lieben, damit mich wenigstens einer liebt. Jetzt habe ich erfahren, dass Gott mich liebt. Es gibt nichts Schöneres, als immer von jemandem ge-liebt zu werden, auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Trotzdem weiss ich, er ist da. Viele Leute suchen Liebe, wie ich damals, in Sex, Drogen, Alkohol, Ehre und Luxus, wo ich sie nicht gefun-den habe. Umso mehr ich besass, umso leerer wurde es in mir. Diese Lücke konnte ich mit nichts füllen. In welcher Situation fällt es Ihnen schwer, mit dem Rollstuhl umzugehen? Ich fahre alleine Auto und warte dann auf je-manden, der mir den Rollstuhl aus dem Koffer-raum hebt. Es fällt mir schwer, da ich ein ziemlich ungeduldiger Mensch bin und alles sofort erledigt werden muss. Wartezeit ist das Schlimmste!

Was wollten Sie schon immer einmal gefragt werden?Ich bin schon alles gefragt worden, (grins) scham-los in jeder Weise. Aber ich habe auch kein Problem damit. Wie es mir gesundheitlich geht, ist eine selten gestellte Frage. Das finde ich schade. •

Vernissage

OPTISCHE TÄUSCHUNGVon Francesco Tunzi

Kurz darauf

Gefällt mir auch. Ich habe eine Handtasche mit einem

ähnlichem Muster.

Wow, cooles Bild!

Armer Behinderter. Denkst du, der ver-

steht überhaupt, was er da sieht?

Wahrscheinlich nicht. Meinst du?Ha, ha!

Vielleicht hat ihn jemand hier vergessen?

Dann sollten wir das dem Fundbüro

melden.

Hey...Ciao Francesco!

Schön, dich an meiner Vernissage

zu sehen.

Und, wie ge-fällt dir mein neues Bild?

Das habe ich vermutet.Wusstest du, dass der Stil dem analytischen

Kubismus entlehnt ist?Sehr, Sandro! Wie immer,

ein grosser Wurf.

Ja, klar! Das Spiel mit den Illusionen.

Verstehst du das?

Genau! Das Phänomen rückt konzeptuell in die Nähe des Trompe-l’œil im Barock, mit arkadischen Aussichten …

VOM FBI GEJAGT, VON GOTT BEKEHRT

Ich hab mich vom Dazzle-Stil

inspirieren lassen.

Äh …

??