Erwägungen an dem Kafka-Text: Ein Landarzt

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Erwagungen an dem Kafka-Text: Ein Landarzt Jouchim Miiller, Jenu .Kunst is das, wm den Sfoff iiber1ebt.c Karl Kraus nlch bin Ende oder Anfangcc - nDichtung ist irnrner nur eine Expedition nach der Wahrheit.u Kafka Wie man auch zu Kafka im einzelnen stehen mag, worin man seine Proble- matik sieht, an welcher Stelle der Forschung man sich zustandig fuhlt: sein Werk ist weder aus der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts noch aus der Weltliteratur der Gegenwart mehr wegzudenken. uber seinen hohen dichterischen Rang besteht kaum ein Zweifel. Wer sich von Kafkas dichterischer Welt nicht angesprochen fuhlt, vor ihr erschrickt, sie von sich wegruckt oder gar sie als erledigt ansieht, mag immerhin nachdenklich werden, wenn er spontane, aber hochst eindruckliche Urteile solcher Meister der Epik wie Thomas Mann und Hermann Hesse liest: In Berichten iiber neue deutsche Biicher fur ein schwedisches Magazin schreibt Hesse 1935 u. a.: PWer die Welt dieses Dichters zum erstenmal betritt . . . der findet sich in ein Reich VOR Visionen verirrt, welchen bald eine geisterhafte Unwjrklich- keit, bald eine dem Traum ahnliche, gluhende Ubenvirklichkeit eignet, dabei hat dieser deutschbbhmische Jude eine ganz meisterhafte, kluge, bewegliche deutsche Prosa geschrieben ... Alle diese Dichtungen malen mit prkisester Treue, ja Pedanterie eine Welt, in welcher Mensch und Kreatur sich heiligen. aber dunklen, nie ganz verstehbaren Gesetzen untertan wissen, sie spielen ein lebensgefahrliches und unentrinnbares Spiel mit wunderlichen, kompli- zierten, vermutlich sehr tiefen und sinnvollen Spielregeln, deren vollige Kenntnis aber in einem Menschenleben nicht erreichbar ist, und deren Gel- tung, je nach Laune der unbekannten herrschenden Machte, best5ndig schwankt. Man ist bestandig in nachster Niihe der groBten und gottlichsten Geheimnisse und kann sie doch nur ahnen, nicht sehen, nicht fassen, nicht 3’

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Erwagungen an dem Kafka-Text: Ein Landarzt Jouchim Miiller, Jenu

.Kunst is das, wm den S f o f f iiber1ebt.c Karl Kraus nlch bin Ende oder Anfangcc - nDichtung ist irnrner nur eine Expedition nach der Wahrheit.u

K a f k a

Wie man auch zu Kafka im einzelnen stehen mag, worin man seine Proble- matik sieht, an welcher Stelle der Forschung man sich zustandig fuhlt: sein Werk ist weder aus der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts noch aus der Weltliteratur der Gegenwart mehr wegzudenken. uber seinen hohen dichterischen Rang besteht kaum ein Zweifel. Wer sich von Kafkas dichterischer Welt nicht angesprochen fuhlt, vor ihr erschrickt, sie von sich wegruckt oder gar sie als erledigt ansieht, mag immerhin nachdenklich werden, wenn er spontane, aber hochst eindruckliche Urteile solcher Meister der Epik wie Thomas Mann und Hermann Hesse liest: In Berichten iiber neue deutsche Biicher fur ein schwedisches Magazin schreibt Hesse 1935 u. a.: PWer die Welt dieses Dichters zum erstenmal betritt . . . der findet sich in ein Reich VOR Visionen verirrt, welchen bald eine geisterhafte Unwjrklich- keit, bald eine dem Traum ahnliche, gluhende Ubenvirklichkeit eignet, dabei hat dieser deutschbbhmische Jude eine ganz meisterhafte, kluge, bewegliche deutsche Prosa geschrieben ... Alle diese Dichtungen malen mit prkisester Treue, ja Pedanterie eine Welt, in welcher Mensch und Kreatur sich heiligen. aber dunklen, nie ganz verstehbaren Gesetzen untertan wissen, sie spielen ein lebensgefahrliches und unentrinnbares Spiel mit wunderlichen, kompli- zierten, vermutlich sehr tiefen und sinnvollen Spielregeln, deren vollige Kenntnis aber in einem Menschenleben nicht erreichbar ist, und deren Gel- tung, je nach Laune der unbekannten herrschenden Machte, best5ndig schwankt. Man ist bestandig in nachster Niihe der groBten und gottlichsten Geheimnisse und kann sie doch nur ahnen, nicht sehen, nicht fassen, nicht

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verstehen. Und auch untereinander reden die Menschen auf eine tragische Art aneinander vorbei, MiRverstandnis scheint das Grundgesetz ihrer Welt zu sein. Eine Ahnung von Ordnung, von Heiniat und Sicherheit tragen sie in sich und irren doch hoffnungslos in der Frernde, niochten gehorchen und wissen nicht wem. miichten das Cute tun und finden den Weg versperrt, horen einen verborgenen Gott nach ihnen rufen und konnen ihn nie finden. Aus Minverstandnis und Angst besteht diese Welt, reich an Figuren, reich an Begebenheiten. reich an entzuckenden dichterischen Einfallen und an tief ruhrenden Gleichnissen fur das Unsagbare, denn irnmer ist dieser judische Kierkegaard, dieser talrnudisch denkende Gottsucher zugleich auch ein Dich- ter von lioher Potenz, seine Spekulationen werden zu Fleisch und Blut, seine Angsttraume zu holden, oft ganz und gar magischen Dichtungena. Zum )>Pro- zetk sagt Hesse: )>Das Urproblem Kafkas. die verzweifelte Verlorenheit des Einzelnen im Leben, der Konflikt zwischen der tiefen Sehnsucht nach einern Sinn des Lebcns und der Fragwurdigkeit jeder Sinngebung wird in diesern grohartigen und aufregenden Roman bis zur Verzweiflung abgehandelt . . . Aber in dieser beklemnienden und eigentlich trostlosen Erzahlung schwingt irn Detail so vie1 SchSnes, so vie1 wundersam Zartliches, fein Beobachtetes, atmet heinilich so vie1 Liebe und so vie1 Kunstlertum, daR aus dem bosen Zauber ein guter wird, die konsequente Tragodie der Sinnlosigkeit ist durch- setzt von so vie1 Ahnung der Gnade, daD sie nicht blasphemisch wirkt. son- dern fromm ... (( Kafkas Werk sei >>Dichtung einer leidenden, einer tief ge- storten und beanruhigten Generation, aber Zeugnis von intensivem Leben und Kampf, gestaltet rnit tiefer, genialer Symbolikc 20 Jah.re spater wendet sich Hesse einmal gegen allzu scharfsinnige intellektuelle Deutungen, Kafkas Erzahlucgen seien keine Abhandlungen. sondern Dichtungen, der Dichter ))gibt uns die Triiume und Visionen seines einsarnen, schweren Lebens, Gleich- nisse fur seine Erlebnisse, seine Note und Begluckungen, und diese Traunie und Visionen einzig sind es, die wir bei ihm zu suchen und von ihm anzuneh- men haben ...

1940 schreibt Thomas Mann bei Gelegenheit arnerikanischer Ausgaben des Amerika-Romans und des SchloD-Romans: >>Fur mich gehort das einem kurzen, schrnerzensvollen Leben abgerungene Werk dieses hhmischen Juden seit langern zu den faszinierendsten Erscheinungen auf dem Gebiet kiinstlerischer Prosa. Tatsi-ichlich ist es mit nichts zu vergleichen. Die ver- wickelte und beklemmende Kornik dieser deni Traum nachgeahmten Dich- tungen mit ihren religiosen Obertonen, ihrer Mischung aus Groteske und

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tiefstem sittlichen Ernst mag einem an bequemere Unterhaltung gewohnten Lesepublikum zunachst wohl befremdlich und unzuganglich erscheinen . . . Der Schweizer Dichter Hermann Hesse hat ihn den ’heimlichen Konig der deut- schen Prosa’ genannt . . .<< (4.1 1.40). In den Bemerkungen zur amerikanischen Ausgabe von Kafkas ))SchloR<c von 1941 heifit es u. a.: >>Mitleid mit der Menschheit, die es so schwer hat, das Richtige zu tun, halb lachelnd, halb weinend. Die Welt der Gerechtigkeit Gottes und die Welt menschlicher Ethik klaffen auseinander ... Kafka ist darin und dadurch Humorist, daR er die Andersartigkeit der vollkommenen Welt mit negativem Vorzeichen ausstattet: kleinlich, zah, schnurrig-burokratisch - statt der grandiosen Hiob-Schmahung die satirische, komische - aber beide Male bleibt die Vollkommenheit un- angetastet. Zwischen Gott und Mensch nicht Heteronomie, sondern Undeut- lichkeitc Die Figur K. suche guten Willens von isolierter Position aus sowohl tatige und nutzliche Arbeit in der menschlichen Gesellschaft als auch die Verbindung mit der Gnade Gottes. Kafkas Ausdrucksfahigkeit fur die Cha- rakteristik des Himmlischen wie des Irdischen sei mnglaublich nuanciertcc. Es gabe nkeine oder die vieldeutigsten Antworten auf die ewige Frage nach Gut und Bose, wobei unaustilgbar auf dem Grunde der Seele die Hoffnung auf den einzigen guten Weg liegt ... <(

In der vollstandigen Fassung der Einleitung - ))Dem Dichter zu Ehren - Franz Kafka und das SchloRa - differenziert Thomas Mann diese Gedanken noch: )) ... Er war ein Traumer, und seine Dichtungen sind oft ganz und gar ini Charakter des Traumes konzipiert und gestaltet; sie ahmen die alogische und beklommene Narretei der Traume, dieser wunderlichen Schattenspiele des Lebens, zum Lachen genau nach. Aber sie sind erfullt von einer ver- nunftigen, wenn auch ironisch-, ja satirischen-vernunftigen, verzweifelt ver- nunftigen, nach bester Kraft auf das Gute, Rechte und Gottgewollte gerich- teten Sittlichkeit, welche sich schon in ihrem gewissenhaft-sachlichen, son- derbar ausfuhrlichen, korrekten und klaren, durch einen genauen und beinahe amtlichen Konservativismus oft geradezu an Adalbert Stifter erinnernden Vortragsstil malt; und die Sehnsucht d i m s Traumers ging nicht nach einer irgendwo im Mystischen bluhenden ’Blauen Blume’, sondern nach den ‘Won- nen der Gewohnlichkeit’ ... << Thomas Mann sieht im SchloR und seiner >>skurrilen Traumsymbolik<< vor allem die Fremdheit und Einsarnkeit des spatburgerlichen Kunstlers gestaltet, doch weitet er auch wiederum die Pro- blematik aus: )). .. das game Buch wird nicht mude, das groteske Unverhdt- nis zwischen Mensch und Transzendenz, die Inkommensurabilitiit des Gott-

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lichen, die Frerndheit, Unheirnlichkeit, koboldhafte Unlogik, das Nicht-sich- sprechenlassen, die Grausanikeit. ja Unsittlichkeit - nach menschlichen Begriffen - der oberen Machte - des 'Schlosses' - mit allen Mitteln zu kenn- zeichnen und in allen Farben spielen zu lassen. Es ist das fromm-verzwei- feltste, obstinateste 'Ringen mit dem Engel', das je vorgekommen, und dal3 es mit Humor geschieht, mit einem Geist heiliger Satire, der die Tatsache des Gottlichen, Absoluten vollkornrnen unangetastet laat, ist das ungeheuer Neue und ruhrend Gewagte daran. Kafka ist darin und dadurch religioser Humo- rist. daI3 er die Inkommensurabiiitat, das Unverstiindliche nach Menschen- rnacht nicht Beurteilbare der uberwelt nicht, wie es sonst wohl die Dichtung versucht, pathetisch-pomphaft, durch das Mittel grandioser Steigerung ins uberwaltigend Erhabene darstellt, - sondern indeni er es als ijsterreichisches 'Arar', als eine weitlaufig-kleinliche, zahe, unzugangliche und unberechenbare Burokratie und unabsehbare Akten- und Instanzenwirtschaft mit einer un- deutlichen Beamtenhierarchie von unauffindbarer Verantwortlichkeit sieht und beschreibt - satirisch also, wie ich sagte, dabei aber rnit der aufrichtigsten, glaubigsten. nach dem Eindringen in das unverstandliche Reich der Gnade unablassig ringenden Unterwurfigkeit, die sich eben nur in Satire statt in Pathos kleidet . . . a

1952 liest Thomas Mann wieder den Amerika-Roman, dessen korrekter Titel >>Der Verschollenexc ist, >>mit unbeschreiblicher Angeregtheit und Ver- wunderung, wenn nicht Bewunderung. Was fur ein grundsonderbares Ge- wachs, dieser Kafka, traum-komisch, be;ingstigend, religios-anspielungsreich und korrekt. Es gibt so etwas nicht zurn zweiten Mal. An Entwicklung und Variabilitat fehlt es freilich. Der 'Prozen' und das 'Schlofi', spater, sind auch nichts anderes als 'Amerika': traurnschnurrig-hintergrundig und korrektcc (1 1.3.1952). 1954 (22.8.) erinnert er an Kafka nmit seiner religiiisen Trauni- Vagheit, Komik, Unberechenbarkeit und Tiefe . . .a

Alle diese Bemerkungen boten eine Fulle von Ansatzen zu Diskussionen, wenn natiirlich auch betrachtliche kritische Abstriche an den begeistert zu- stimmenden und spontan bewundernden Urteilen Hesses und Manns not- wendig sein durften, es gibe wohl vor allem Bedenken gegen die bei beiden spatburgerlichen Dichtern starken Akzentuierungen der theologisch-religi- osen, metaphysisch-transzendenten Zuge, die mindestens im Sinn einer nega- tiven Theologie zweifellos vorhanden sind, die aber von dem in Kafkas ethischern Ernst wie seiner satirischen Scharfe sich bekundenden Wissen um die historische Bedingtheit und die gesellschaftliche Gegebenheit seiner

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))Weltcc uberholt werden - Thomas Mann hat inimerhin mit seinem klugen Hinweis auf die altosterreichische Burokratie durchaus das Richtige gesehen.

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Ich versuche nun einen eigenen Ansatz von der empirischen Analyse einer noch nicht allzu sehr strapazierten Erzahlung her. Die im Kriegswinter 1916/ 17 entstandene Dichtung >>Ein Landarzta, die 1919 zusammen mit 13 anderen kleinen Erzahlungen als Titelnovelle bei Kurt Wolf in Leipzig und Munchen erschien, ist eine Ich-Erzahlung, worin sich die Spannung zwischen Erzahlen und Erleben, Gegenwart und Erinnerung, erinnerndem und erinnertem Ich bekundet. Wie weit das erzahlende Ich mehr eine - mit den Kategorien F. K. Stanzels - auktoriale Erzahlsituation konstituiert, d. h. mit dem realen Autor identisch ist, wieweit die Icherzahlung quasi autobiographisch ist oder wie weit das Erzahl-Ich sich als eine vom Autor scharf getrennte Person objek- tiviert - nach Stanzel personale Erzahlperspektive -, ist eine fur das Kafka- Verstandnis durchaus relevante Frage. Im ganzen neigt Kafka zu einem per- sonalen Erzahlstil: der Autor tritt in der Erzahlung nicht eigentlich reflek- tierend oder dirigierend in Erscheinung; Friedrich BeiRner hat die konse- quente ja rigorose Einsinnigkeit des Kafkaschen Erzahlens nachdrucklich betont; Kafkas erzahlte Welt sei einheitlich in sich geschlossen; Kafka er- zahle stets aus der Perspektive und in der Blickrichtung der MitteIpunkts- gestalt. Doch wird neuerdings von Walter H. Sokel einleuchtend argumen- tiert, daR sich Kafka in der zweiten Phase seines Erzahlens, in die auch >)Ein Landarztcc fallt, mehrfach der auktorialen Erzahlsituation nahert. Im allgemeinen uberwiegt in Kafkas Erzahlungen die Er-Form, doch auch wo ein Ich erzahlt, kann man von einer Rollenfigur sprechen, d. h. es wird sogleich mit dem erzahlerischen Einsatz eine Grundsituation geschaffen, die keinen unmittelbar einsichtigen autobiographischen Bezug heraufruft. Das gilt be- sonders fur die parabolische Verfremdung in den Tiergestalten. Andrerseits deutet vieles daraufhin, daR paradoxerweise die verschiedenartigsten E r ~ h l - situationen, ob von einem Ich oder von einem Er aus, einen mehr oder weniger versteckten oder verdeckten Bezug zum Autor selbst haben - in den beiden spateren Romanen nDer ProzeR<< und >,Das SchloRc erscheint die Hauptperson unter den eindeutig auf den Autor zielenden Chiffren Josef K. und K. Wenn allerdings Kafkas Erzahlfiguren nur die Selbstaussage des

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Dichters verhullten, so ginge das uber die uns gelaufige Tatsache hinaus, daD fast jeder Dichter in einem meist unverkennbaren Personalstil mehr oder minder komplexe Zentralthemen und Kernproblenie gestaltet, die in allen Einzelniodifikationen erkennbar sind. Das gilt gewin fur Kafka auch. und um die exakte wissenschaftliche Analyse der Grundthematik in Kafkas Werk geht ja die immer noch in extremen Behauptungen sich bewegende Kafka- Forschung. Aber in den schockierenden, seltsamen, paradoxen. grotesken, ja absurden Situationen, in denen eine Kafkasche Figur, als Er oder Ich, sich darstellt, scheint der Dichter, weil er die eigene Situation sich auszusagen gedrangt fuhlt und doch zugleich von sich abrucken, objektivieren rnochte, sie so extrem wie nioglich verfremden zu wollen.

Ob ein Landarzt als Ich oder Er von einem nachtlichen Abenteuer er- zahlt, ist demnach fur die Frage der dichterischen Selbstauseinandersetzung nicht gravierend. Entscheidend aber ist, dal3 der ihr eigenes Erlebnis erzah- lenden Figur alles aufgeladen wird, was im dramatisch gedrangten, oft sprung- haften Geschehen einem einzelnen Menschen nur immer an Unerhortem - durchaus irn Sinn der klassischen Novellentheorie, insbesonders der Kleist- schen Aktionskette - begegnen kann. Es ist zunachst keineswegs ungewohn- lich, dal3 ein Landarzt in einer Winternacht zu einem entfernt wohnenden Schvierkranken gerufen wird - Kafka kannte von seinen Besuchen bei seineni Onkel, Landarzt in Triesch, den man als Modell fur die dichterische Figur nehmen darf, die harten Anforderungen dieses Berufes. Aber die norrnale berufliche Beanspruchung wird sofort in eine Ausnahrnesituation geriickt, die ebenso durch vorangehende, dem Einsatz der Erchlung vorausliegende Umstande bedingt ist, wie sich in ihr sogleich Unerwartetes ereignet. Der eisige Winter - das wird irn epischen Riickgriff berichtet - liel3 das Herd in der letzten Nacht verenden - was nutzen stabiler Wagen, Pelz, Instrumen- tentnsche, wenn das Herd fehlt. Bemerkenswert genug, wie diese Situation aufgebaut wird: liickenlos folgen aufeinander Grund des Aufbruchs, Wagen, Pelz, Tasche - der Arzt ist reisefertig, naber das Herd fehlte, das Herd(< - die emphatixhe Reduplizierung unterstreicht die scharfe Zasur. Da es aus- sichtslos ist, ein Herd auszuleihen, sieht sich der Arzt ~~zwecklos<c dastehen. Da kriecht vollig unerwartet aus einem unbenutzen Schweinestall ein Knecht mit zwei Pferden. Das Dienstmiidchen Rosa kommentiert diesen erstaun- lichen, die zunachst hoffnungslose Situation wendenden Vorgang: >>Man weiD nicht, was fur Dinge man irn eigenen Hause vorratig hat<<. Und der Arzt gesteht spater schuldbewufit, da8 er das schone Madchen in seinern Hause

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jahrelang kaum beachtete. Offensichtlich ist damit abgewehrt, daR etwa M%r- chenzauber im Spiel sei, so seltsam auch das Erscheinen der Pferde anmutet und so sehr sie auch in der Folge wenigstens momentweise den Charakter von Zauberpferden - nichtmenschlichen Wesen mit iibermenschlichen Kraf- ten (Heinz Politzer) - annehmen. Zwar werden sie nach einem durchaus iiblichen Verfahren in realem Ablauf an den Wagen geschirrt, aber schon geschieht unvermutet Schreckliches: das hilfsbereite Madchen Rosa wird von den1 Knecht, dessen Herkunft unerklart ist, unvermittelt und brutal in die Wange gebissen, sodat3 man die roten Spuren der Zahnreihen sieht. Der Ant , so wiitend er iiber die Untat ist, fiihlt sich dem plotzlich aufgetauchten Frem- den gegeniiber gebunden. der nicht mitfahren, sondern bei Rosa bleiben will; diese lauft entsetzt >>im richtigen Vorgefuhl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins Haus<<. Der Arzt, eben noch, im Kontrast zu seinem Zorn, frohlich eingestiegen, will nunmehr auf die Fahrt verzichten, weil er fur sie nicht das Madchen als Kaufpreis geben will, aber er braucht die Alternative, die arztliche Pflicht zu versaumen oder das Madchen einem schrecklichen Geschick zu iiberlassen, nicht selbst auszufechten: er wird im Wagen mit den Pferden fortgerissen, im Augenblick, da der Knecht nMunter!<c ruft und in die Hande klascht. Fast j d e Situation bringt in traumartiger Verkiirzung eine neue Pramisse, an die sich dann einige Vorgange in kausaler Folge anschlie- Ren. Mit neuen Pramissen eroffnet sich meist eine neue Dimension, in der andere Gesetze, insbesondere im Hinblick auf Raum und Zeit. zu gelten scheinen als in der im ganzen gewahrten epischen Realitat, in die alles Ge- schehen doch immer wieder zuriickbiegt.

Noch hort der davongerissene Arzt das Splittern der vom Knecht ein- geschlagenen Tiir, dann vergehen ihm die Sinne. und schon ist er im Hof des Kranken - in parataktisch harter Fugung, adaquat der dichten Ereignis- kette und analog einem schon oft bei Kafka festgestellten Albtraumzwang ersteht die Situation, in der Zustand mit Vorgang wechselt: )>ruhig stehen die Pferde; der Schneefall hat

aufgehort; Mondlicht ringsum; die Eltern des Kranken eilen aus dem Haus; seine Schwester hinter ihnen; man hebt mich fast aus dem Wagen; den verwirr- ten Reden entnehme ich nichts; im Krankenzimmer ist die Luft kaum atembar; der vernachksigte Herdofen raucht; ich werde das Fenster aufstol3en; zuerst aber will ich den Kranken sehenx

Auffallend der Tempuswechsel in den letzten beiden Satzen: von der bis dahin prasentischen Passivitat sol1 sich offenbar eine sogleich einsetzende

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futurische Aktivitiit abheben. Der kranke Junge - erst jetzt erfahren wir, dafi es sich um einen solchen handelt - bittet den Arzt lei% - in euphorischer Somnolenz oder infolge unertraglicher Schmerzen? nach Simulieren sieht es doch nicht aus -, ihn sterben zu lassen. Der Arzt untersucht den mageren, nicht fiebrigen, doch apathischen Jungen, nachdem er die Instrumente be- reitet, und halt ihn zunachst fur gesund. wenn auch )>ein wenig schlecht durchbluteta; grob denkt er, am besten, man treibe ihn mit einem StoR aus dem Bett, aber - und das klingt nun wieder fast zynisch: d c h bin kein Welt- verbesserer und lasse ihn liegenc - solche lassige Gebarde kann Menschen- verachtung sein. Man hat auch aus dieser Situation geschlossen, Kafka lasse deil A n t versagen, weil er nur beamteter Mediziner sei, nur eine auRere Pflicht erfulle und die tiefe Wunde des Menschseins. die der Dichter im Zustand des Jungen symbolisierte, nicht sehen konnte. Doch damit ist das Geschehen nicht erschopft, es ist alles vie1 komplizierter. Es dauert nicht lange, so ent- deckt der Arzt, duR der Junge krank ist. GewiR, er betont mehrfach seine Amtspflicht, die aber offenbar mit seiner Menschenpflicht nicht identisch ist, denn er distanziert sich in befremdlicher Weise von den ))Leuten<<, fuhlt sich nicht wohl >>in dem engen Denkkreis des Alten<<, der ihm ein Glas Rum bietet, das er unmutig ablehnt. und fragt sich, als er die Familie enttauscht sieht, unwillig-uberheblich: D... ja, was will denn das Volk?<< - am SchluR der Erzahlung spricht er gar vom n... Gesindel der Patienten<< - ich komme darauf zuruck. Zweifellos ringt es in ihm zwischen der Amtsperson und den Regungen einfachen menschlichen Mitgefuhls. Er weiR das selbst genau - nicht nur verteidigt er sich vor sich selbst: als schlecht bezahlter Bezirksarzt tu t er seine Pflicht, ))freigebig und hilfsbereit gegenuber den Armena, und: 1,Rezepte schreiben ist leicht, aber im ubrigen sich mit den Leuten verstan- digen, ist schwerc Auf das Schwere aber, das Schwerzumachende eines zwischenmenxhlichen Kontaktes kommt es an. Dazu ist dem im Dilemma zwischen Helfenwollen und Nichthelfenkonnen unsicher Werdenden vorher, als die Pferde, die, ~18stemd<r gesagt, die )>Giittcr<c schickten, das Fenster aufstofien und den Jungen betrachten, Rosa wider eingefallen: wie kann er sic retten, an der er menschliches Verdumnis wieder gutzumachen hat, und jetzt kommt ein depressiver Tiefpunkt, aus seiner wohl immer latenten, aber nun erst aktivierten Gewissenhaftigkeit und Gewissensverantwortung: er will erst noch fur Rosa sorgen, dann mag der Junge recht haben: nahmlich, dub er zum Sterben krank ist, dann will auch er, der Ant , sterben. Die ihn be- druckende nienschliche Pflicht dem Madchen gegenuber macht ihn nun

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auch empfindlich gegenuber dem leidenden Jungen, auch wenn er bisher noch keine eigentlichen Krankheitssymptome diagnostizierte. Noch eben glaubt er, man habe ihn wieder einmal umsonst bemuht, und da ware die Opferung Rosas zuviel, die Familie, die ihn rief, kann ihm das Madchen nicht zuruckgeben, nur >>mit Spitzfindigkeiten aushilfsweixx konnte er sich alles in seinem Kopf zurechtlegen, doch was nutzt provisorische Sophistik, er will einfach wieder davon, da entdeckt er, nachdem die Schwester des Jungen ein >>schwa blutiges Handtuch<< schwenkte, doch noch, dal3 der Junge krank ist: er hat eine handtellergrone Huftwunde, rosafarben: zwischen ihr und dem Madchen Rosa besteht offenbar eine uber die epische Asso- ziation hinausgehende metaphorische Beziehung: die unheilbare Wunde des Jungen schwart im Arzt als Wunde des Gewissens, als Schuld, dafi er einen Menschen nicht beachtete. Sind wir n i t der Wunde etwa im Kern der Ge- schichte? Das Wundrosa zielt auf die Entfremdung von Mensch zu Mensch, die in der wenn auch ungewollten MiBachtung des Madchens wie in der bloB handwerklich-mechanischen Behandlung des kranken Jungen zum Ausdruck kommt. Die Wunde wird mit allen Details - ekelhafte Wiirmer winden sich daraus - vergegenwartigt. Der Arzt apostrophiert den Jungen in Gedanken - anders ists kaum zu verstehen: >>Armer Junge, dir ist nicht zu helfen. Ich habe.deine grofie Wunde aufgefunden, an dieser Blume in deiner Seite gehst du zugrundec - Blume, welch bittere Metapher. Doch die Familie mit den hinzukommenden Gasten ist glucklich, weil sie den Arzt in Tatigkeit sieht, er behandelt die Wunde >>mit seiner zarten chirurgischen Hand<<, wie es einige Satze weiter heiBt. Der kurz zuvor noch nach Sterben verlangende Junge flustert jetzt schluchzend: >>Wirst du mich retten?<< War der Todes- wunsch vermutlich Ausdruck verzweifelter Schmerzen, die der Arzt nicht erkannte, so erregt dessen Tun jetzt Hoffnung - der Junge ist nganz geblendet durch das Leben in seiner Wundec - wie doppelsinnig: Leben ist, weil es in der Wunde arbeitet - aber im schauerlichen Wuhlen der Wurmer. Bewirkt die ausdrucklich zart genannte. also nicht nur kunstfertige, sondern sorgfaltig- behutsame arztliche Bemuhung, daB die fortschreitende Zerstorung noch als Lebensfunktion angesehen werden kann? Im monologischen Bericht, den ja das erzahlerische Ganze darstellt, beklagt sich der Arzt, daB die Leute in seiner Gegend das Unmogliche von ihm verlangen - den alten, wohl christ- lichen Glauben haben sie verloren, der Pfarrer wird nicht geholt, der A n t sol1 alles leisten, .sie meinen garnicht so sehr sein medizinisches Konnen, sondern trauen ihm magische Krafte zu, verbrauchen ihn nzu heiligen

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Zweckemc, was wohl im alteren Wortsinn heilende Zwecke meint: er sagt das von seinem verstehenden Standpunkt aus, den er ausdrucklich als allen uber- legen bezeichnet. So 1a;Dt er es stoisch gefaat geschehen, dal3 sie ihn unter Absingung quasi-ritueller Verse mit der alternativen Drohung: nund heilt er nicht, so totet ihn!<< entkleiden und dem Jungen ins Bett, an die Seite der Wunde legen. Zwischen den beiden Alleingelassenen entspinnt sich ein ma- kaber-lakonischer Dialog: Feindselig der Junge: S t a t t zu helfen, engst du rnir mein Sterbebett ein<c, der An t : ))... Was sol1 ich tun?<< Der Junge: D... Immer muR ich mich begniigen. Mit einer schonen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine game Ausstattungcc. Der A n t : D... dein Fehler ist: du hast keinen Uberblick ... Deine Wunde ist so ubel nicht. Irn spitzen Winkel rnit zwei Hieben der Hacke geschaffen. Viele bieten ihre Seite an und horen kaum die Hacke im Forst, geschweige denn daR sie ihnen naher kommtcc. Schon und nicht iibel sind bittere Euphemismen, sarkastische Ver- fremdungen: Einmal ist, so versuche ich zu deuten, die Verwundbarkeit des Menschen von Geburt an gemeint, zum andern aber die gewaltsam zugefugte, buchstablich eingekerbte Wunde - die Erzahlung ist in der blutigsten Phase des 1. Weltkriegs geschrieben, und die ihre Seite Darbietenden, doch nicht Getroffenen konnten auf die unverwundet bleibenden Soldaten deuten. DaR es >>wirklich<< so mit der Wunde ist. daR sie dem verwundbaren Menschen gewaltsam zugefugt wurde, versichert der A n t dem Sterbenden mit dem ))Ehrenwort eines Amtsarztescc. Wer den Uberblick hat, erkennt das Unerbitt- lich-Irreversible der Wunde, die eine morderische Wunde ist - eine metapho- rische Reminiszenz an die Christuswunde ist nicht ausgeschlossen (dagegen findet sich nicht eine Spur etwa patriotischen Sterbens). Der Junge wird still, heat wohl: er stirbt. Die Sammlung mit dem Titel nEin Landarzk hat der Dichter seinem Vater gewidmet. Man weiB, wie gespannt und ambivalent Kafkas Verhaltnis zu seinem Vater war. Durchaus moglich, da13 die unbe- stirnrnte, zwischen Abstoaung und Anziehung schwankende Beziehung des Antes zum kranken Jungen eine epische Chiffre fur die autobiographische Realitat bedeutet. Der Arzt legt sich zu dem Sterbenden, weil er ihm an Ver- wundbarkeit gleich ist; er sucht den Kontakt, obwohl er, der selbst an der Menschheitswunde Krankende, den kranken Jungen nicht heilen kann, aber er mochte dem ohne sein Verschulden - er ist ja noch ein Kind - todlich Getroffenen seine menschliche Solidaritiit bekunden. Darnach denkt der Arzt nur an seine Rettung. Er hat den Jungen nicht retten konnen, sondern konnte dem Sterbenden nur noch im solidarischen Bezeugen der gleichen mensch-

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lichen Verwundbarkeit einen Augenblick nahe sein - ob der Junge dies wahrnahm, bleibt offen. Nunmehr geht es um die Heimkehr nach der nacht- lichen Dienstfahrt, die zur schmerzlichen Begegnung mit unheilbarem Men- schenleid wurde. Mit jedem Satz wird das Geschehen phantastischer, ohne der Kausalitit zu ermangeln. Nach der Erfahrung der Herreise m a t e n den Arzt die ))treu<< harrenden Pferde so schnell tragen, dal3 sie ihn aus dem Sterbebett ins eigene Bett zuruckbringen. Aber es kommt anders: er vermag sich nur noch schnell auf das eine Herd zu schwingen. das kaum mit dem anderen verbunden ist, >>der Wagen irrend hinterhew, rnit der Tasche und dem hineingeschleuderten, an einem Haken hangenbleibenden Pelz. Der Ant ruft wie beim Aufbruch der Knecht: aMunter<< - aber dies quasi-Zauberwort verfangt jetzt nicht, im Gegensatz zu der damals bewirkten reifienden Be- wegung und einer nach den hastigen h'antierungen zu erwartenden jahen Schnelle gehts jetzt garnicht munter, nlangsam wie alte Manner zogen wir durch die Schneewuste . . .<<, hinter ihnen klingt der neue Gesang der Kinder: nFreuet euch. ihr Patienten, Der Arzt ist euch ins Bett gelegt!<< Doch der Gesang ist >>irrtiimlich<<: der Wahnglaube hat sich nicht bestatigt. Der A n t hat den Patienten, zu dem er ins Bett gelegt wurde, durch Beruhrung nicht heilen konnen. Der SchluB hammert parataktisch fugenlos, mkorrekt<< nach Thomas Mann, das unerbittliche Fazit:

Niemals komme ich so nach Hause; meine bliihende Praxis ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht ersetzen; in meinem Hause wiitet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses ungliickseligsten Zeitalters ausgesetzt, rnit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz kngt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienien riihrt den Finger. Betrogen! Be- trogen! Einmal dem Fehlluten dcr Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gut- zumachen.

Dieser Schlufipassus mit seiner parataktischen Wucht ist in auffallender architektonischer Symmetrie gebaut: Man konnte die Rahmensiitze, am An- fang und am Ende, rnit dem emphatischen wiemals<< kausal beziehen: Weil es niemals gutzumachen ist, daR ich einmal dem Fehllauten der Nachtglocke gefolgt bin, komme ich so, im Schnee umherirrend, niemals nach Hause. Der zweite Satz entspricht dem vorletzten: Praxis verloren - Betrogen; der dritte und der zweitvorletzte korrespondieren ebenfalls in etwa: der Nachfolger

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bestiehlt niich - keiner der Patienten riihrt den Finger - spricht ein A n t von Gesindel, wenn er die Patienten meint? Aber sie sind wohl ebenso als die Lei- denden wie die ihn ijberfordernden apostrophiert (vielleicht auch als die Aberglaubischen kritisiert) ; dann stehen noch der wutende Pferdeknecht und der umhergetriebene alte Mann gegeneinander. Dadurch rucken dicht aufein- ander: das Opfer Rosa und der Kernsatz: >>Nackt, dem Froste dieses ungluck- seligsten Zeitalters ausgesetzt<c - der Superlativ ist bemerkenswert - dazu: irdischer Wagen und unirdische Pferde, die Relation real und irreal, im Rah- men des enahlerischen Geschehens, vielleicht ebenso symbolisch wie Nackt- heit und Frost: Winternacht und Schneegestober stehen fur das Zeitalter, das ein >>ungluckseligstes< ist - ein Absolutes, AuRerstes an Ungluckselig- keit ist in diesem Zeitalter Wirklichkeit geworden. In einem Brief an Kurt Wolff voni 11. Oktober 1916, in der Entstehungszeit der Landarzt-Erzah- lung, spricht Kafka vorn Peinlichen einer anderen damals entstandenen Er- zahlung, >>In der Strafkolonieq und fugt zur Erklarung hinzu, ,daR nicht nur sie peinlich ist, daf3 vielmehr unsere allgerneine und nieine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch langer peinlich als die allgerneine<<. Allgemeine und besondere Zeit diirften sich hier zueinander verhalten wie die Epoche, in der Kafka lebt, als Games und seine subjektive schmenliche Epochenerfahrung. Die Erzahlfigur will das Geschehen nicht weiter ausdenken, aushilfsweise Spitzfindigkeiten verfangen nicht rnehr, der Ich-Erziihler steht vor der nackten Wahrheit. Es ist nicht so sehr nur eine allgemeine menschliche Existenznot, wie man Kafka nieist deutet. die den A n t an seiner helfenden, rettenden Tatigkeit hindert, sondern das ungliickseligste Zeitalter, seine Epoche, nicht das Sakulum allgeniein. Die tatige Hilfsbereitschaft des Arztes wird einmal gehemrnt durch Naturgewalten und scheitert zum andern an der Lebensgefahrlichkeit einer Wunde, die dem stets verletzlichen Menschen gewaltsam zugefugt wurde. Die menschliche Passion, die fur Kafka gewiR in seiner Anfalligkeit und steten Todesge- fahrd ung besteht, wird erst durch den Frost des ungluckseligsten Zeitalters verscharft, der den A n t fortwahrend vor Alternativen stellt, die ins Dilemma und in die Aporie fiihren mussen: der Bezug zwischen dem Madchen Rosa, das dem als deus oder vielmehr diabolus ex machina auftretenden Pferde- knecht ausgeliefert ist, und der Rosa-Wunde meint offenbar die Verkettung zweier Beanspruchungen, die nicht simultan erfiillbar sind: ergreift der A n t nicht die unvermittelt gebotene Moglichkeit, mit den beiden Pferden zu fahren, so vermag er seine arztliche Pflicht nicht zu erfiillen und dem Ruf der Nacht-

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glocke nicht zu folgen - als Fehllauten stellt es sich heraus -, weil er unter dem Druck des Dilemmas in die Irre fuhren mu8, wodurch sich der Aufbruch als irreversibel erweisen mu8te. Bleibt der Gerufene aber, um das hilflos dem brutalen Zugriff des Knechts ausgesetzte Madchen zu retten, so ist der Schwerkranke verloren - da8 er wirklich verloren ist, ergibt ja erst die Kon- sultation -; das askulapische Ethos verlangt. da8 der Arzt auch im hoffnungs- losesten Fall noch ein Moglichstes tut, das oft ein Unmogliches ist, und wenn schon sorgsam gebrauchte chirurgische Kunst versagt, die im ubrigen vollig ernst genommen wird, wie sollen dann atavistische Riten, Altweiberglaube und Quacksalberei noch helfen. Dem bitteren Vorwurf des Sterbenden vermag der A n t nur mit dem beruflich-amtlichen Trost, der armselig erscheinen mag, zu begegnen: es ist Menschenlos, zum Sterben geboren zu sein, was freilich nie- mals morderische Gewaltsamkeit oder unverschuldetes Martyrium - soweit mochte ich durchaus Kafkas Intention interpretieren - rechtfertigen kann. Aber: sieh nicht Dein Einzelgeschick, sondern habe den Uberblick, der Dich gefaat machen mu8te. Kann man das von einem Jungen verlangen? Zumal man ihm sagt, andre seien nicht getroffen. Das Instrumentarium, so wenig es geringgeschatzt wird, ist fur den Arzt nur e i n Mittel, es geht ihm um den Uberblick. Spitzfindigkeit verwirft er, gegen die aberglaubischen Riten setzt er die Vernunft, er ist sich trotz mancher Gefahrdung seiner Menschlichkeit doch seiner menschlichen Verpflichtungen bewuRt, sonst geriete er nicht in das Dilemma zwischen dem Madchen und dem Jungen: Wo er herkommt, ist Wunde; wo er hingeht, ist Wunde; in ihm selbst ist das Wissen um Wunden, um die Wunden des Menschseins im ungluckseligsten Zeitalter. GewiB bleiben viele Fragen, aber als Kern der zwieschichtigen und zwielichtigen Eniihlung durfte sich etwa herausschaen: Wenn wir schon mit der BWunde<< des Menschseins geboren. gezeichnet, gekerbt sind und das nicht leicht erkennen wollen, so fuhrt erst der Frost des ungluckseligsten Zeitalters durch einen Gewaltakt zu vorzeitigem Sterben, wie es im qualvollen Tod des Jungen para- bolisiert ist, und d i m s Zeitalter ist frostig, weil es menschenfeindlich ist, ohne Uberblick, weil es den k t mit magischen Gebrauchen uberfordert und damit die Wahrheit verhehlt. Im Zeitalter der Brutalitat und der Unvernunft wird daher auch der Ruf nach arztlicha Hilfe zum Fehllauten und fiihrt zu irre- ver siblem Umherirren.

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Aufbruch und Fehlgehen sind haufige Motive in Kafkas Dichtung. Doch erscheint es mir zu einseitig und undialektisch, wenn Friedrich Beinner apo- diktisch konstatiert: Kafkas durchgehendes Thema sei >)die mialingende An- kunft oder das verfehlte Ziel, resultiert aus der Grunderfahrung einer aus- weglosen Einsxnkeitc (K., der Dichter, 1958, S. 13/14). Eine paradigmatische Parabel wie nDer Aufbruch<c sagt doch differenzierter aus: Das Ziel heifit weg- von-hier, der Weg dahin ist neine wahrhaft ungeheure Reiseq sodaR Efivor- rat mitzunehmen nicht retten kann. Man mul3 das Risiko auf sich nehmen, auf dem langen Weg etwas zu bekomnien oder nichts, d.h. der Weg muR sich in sich selbst rechtfertigen. Oder die fast aphoristische Parabel ~ D a s nachste Dorf<c: der EntschluR des jungen Menschen, ins nachste Dorf zu reiten, ist fur den Grofivater kaum zu begreifen, da mchon die Zeit des gewohnlichen, glucklich ablaufenden Lebens fur einen solchen Ritt bei weitem nicht hin- reichta - in der Intensitat des gelebten erscheinen alle weitgespannten Plane uferlos und unerfiillbar. Eine andere Modifikation: Meine Uhr geht nach, ich verspate mich, ich werde unsicher. finde den Weg zum Bahnhof nicht in der mir noch nicht sehr vertrauten Stadt, frage einen Schutzmann. der mich auslacht: >>Van mir willst du den Weg erfahren?a >)Ja,<< sagte ich, >Aa ich ihn selbst nicht finden kannc ))Gibs auf, gibs auf<<, sagte er . . . nGibs aufc ist der Titel der lakonischen Parabel: Wer ein aufgegebenes oder er- wahltes Ziel nicht selbst finden kann. sol1 es aufgeben - wer sich nicht selbst zurechtfindet in der ihm aufgegebenen Welt, kapituliere. Aber man muB doch in diesen Fallen Kafkascher Paradoxie hinzufugen: nicht urn die Kapitulation ist es dem Dichter zu tun, sondern urn das Zurechtfinden. Die vielberufene Parabel vom Turhuter vor dem Gesetz I%Bt den Harrenden scheitern, weil er sich selbst nicht erkennt, sich selbst nichts zutraut, seiner selbst zu spat gewiO wird. Freilich hat jedes Unternehmen. jeder Aufbruch unabsehbare Folgen - >>Ein Schlag ans Hoftorc Selbst wenn es nur ein potentieller Schlag ist, kann er ins Uferlose fuhren, labyrinthische Venvirrung bewirken. Den- noch wagen es die Menschen imnier von neuem zu handeln und aufzu- brechen, willkurlich genug mag ein Handeln, ein Aufbruch ohne ijberblick auch erscheinen. Weil alles Leben in Zeit und Raum ist, so sehr sich oft wie im Traum die Koordinaten verschieben mogen - wul3te vielleicht Kafka schon etwas vom Bezugssystem der Relativitatstheorie, die ja eine Errungenschaft seiner Epoche? -, bewegt es sich, bewegt es den Menschen, bewegt sich der

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Mensch, damit antizipierend, mwas mit ihm geschiehtcc, mu8 er sich schlienlich angeklagt im Gefangnis sehen, ohne Aussicht auf Entlassung. Wir sind, heifit es in einer anderen Parabel, >>in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verungluckt sindcc, Anfang und Ende sind kaum noch sichtbar, ja nicht einmal sicher, wir sind in einem Zustand, da >>Verwirrung der Sinnecc und >)Hochstempfindlichkeit der Sinne<< in eins fallen, um uns dauter Ungeheuer<c und ein )>entzuckendes oder ermudendes kaleidosko- pisches Spiel(<. Der Schlu8 klingt tief resignierend, ja fatalistisch: >>Was sol1 ich tun? oder: Wozu sol1 ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegendem. Kapituliert Kafka in der Frage der Sinngebung des Lebens? Ld3t er den Men- schen in einem ausweglosen Dunkel verharren? Eine Fugung zu Beginn der Parabel >>Eisenbahnreisende<< wurde ausgelassen: unsere Situation ist >)mit dem irdisch befleckten Auge gesehn<< - eine konditionale Pramisse: wenn wir unsere Situation nur rnit dem irdisch befleckten Auge sehn, d. h. mit der Un- zulanglichkeit unserer Organe - und verwirrte Sinne sind zugleich hochst empfindliche Sinne -, ohne Uberblick uber das Ganze. So ist die Frage nach dem Was oder Wozu unsres Tuns zwar nicht eine Frage der Tunnelgegend. der Ungluckssituation, doch eine Frage in dem vermifiten, aber ersehnten und gesuchten Licht. Jeder Mensch muR sein Leben rechtfertigen konnen, hei8t eine Notiz Kafkas. ,Eine alltagliche Verwirrungcc scheint zunachst nichts weiter als eine Steigerung der trivialen Tucke des Objekts. A wird durch eine Kette unglucklicher Zufalle am endgultigen GeschaftsabschluR niit B gehindert. Vor lauter Eifer verpa8t A den B, der ihn seinerseits sucht. Die Zeit spielt eine entscheidende Rolle. Der gleiche Weg wird einmal in zehn Minuten, einmal in mehreren Stunden, dann in einem Augenblick zuruckgelegt. Es sind ZeitmaRe subjektiver Vorstellungen, Erwartungen wie Befurchtungen. Vor Eile und Angst erkennt schliefilich A den B nicht, als er ihn trifft, und als er ihn dar- nach fast erreicht, stolpert er, fallt verletzt ins Treppendunkel und kann, vor Schmerz unfahig zu schreien, den wutend hinunterstampfenden B nicht mehr aufhalten, sodaR der endgultig verschwindet. Ein alltaglicher Vorfall - eine alltagliche Verwirrung: alltagliches Geschick kann es sein, da13 trotz allen Eifers, der allzuleicht blinder Eifer wird, eine Aktion nicht vollendet, ein Ziel nicht erreicht wird. Ich mochte in dieser Parabel eher einen didaktischen Zug sehen, als sie nur fatalistisch verstehen. Hier wird etwas getan, und der Zweck ist deutlich. Aber auch das alltagliche Geschaft ist gebunden an Besonnenheit und Uberblick. Hinter dern grotesken Paradox, daB die Vertragspartner auf- einander zugehen, indem sie sich verfehlen, sich verfehlen, indem sie auf-

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einander zugehen, verhiillt und enthiillt sich Kafkas allzu skeptische Enva- gung, daB auch eine geplante alltagliche Aktion die FuDangeln selbstver- schuldeten Mifilingens birgt. Es steht also allenthalben die Frage: Was sol1 ich tun? SOU ich uberhaupt etwas tun? Hat der Mensch in einer deterrninierten und antinomisch pervertierten Welt uberhaupt einen Spielraum, eine Chance, seinen Lebenssinn zu finden und ein Daseinsziel zu erreichen?

Es ergeben sich hieraus einige Thesen, die Kafkas Konzeptionen aus den epischen Modifikationen begreifen wollen.

1. Der Mensch ist das Wesen. das denken und handeln m a . Zeit und Raurn sind seine Wesensrnerkmale. Sie sind nicht starr, selbst wenn er ver- meint auf der Stelle zu treten und die Zeit aufzuhalten. Der Mensch ist ob- jektiv gesehen - und so sieht ihn der Erzahler Kafka nun doch - immer in Be- wegung und in Venvandlung. Eben deshalb aber ruckt ein Ziel imnier wieder ins Ferne. Doch: )>Van einern gewissen Punkt an gibt es keine Ruckkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen. Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwahrend. Darurn sind die revolutionaren geistigen Bewegungen, welche alles Friihere fur nichtig erklaren, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen. Die Menschengeschichte ist die Sekunde zwischen zwei schritten eines Wanderers<< (1)Hochzeitsvorbereitungen auf dern Landea). 1st hier nicht Progression? Die revolutionaren Bewegungen bedeuten eine radikale tabula rasa irn Nullpunkt, von dem aus noch alles geschehen kann. Sornit ist Kafkas Blick dem Prospektiven offen, und wenn der Welt- wanderer nur einen Schritt weiter tut, dann ist die Sekunde der Menschheits- geschichte - freilich, weichen Inhalts Ausgangspunkt, Bewegung und Ge- schichte sind, daruber sagt Kafkas erstaunlicher Aphorismus nichts.

2. Weil jedes Tun des Menschen, auch das scheinbar passivste, in Raum und Zeit geschieht, muB der Mensch jeden Gedanken, jedes Handeln. jeden imaginaren oder realen Schritt veranhvorten. DIch stand niemals unter dern Druck einer anderen Verantwortung als jener, welche das Dasein. der Blick, das Urteil anderer Menschen mir auferlegtencc (€3.)

3. Ein Aufbruch. ob auf ein relativ nahes konkretes oder weiteres unbe- stimrntes Ziel hin unternommen, gerat bei Kafka oft gleichsam in eine Kreis- bahn, die urn ein unbekannt bleibendes, aber ersehntes Zentrurn lauft: DES gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zijgm<< (H.). Bei aller ungeheuren Anstrengung, es zu erreichen, hat der Suchende das schmerz- liche oder zornige Bewul3tsein es nicht zu erreichen. Man kann das eine Tantalussituation nennen. Wenn Kafka sich selbst als verschrecktes Wald-

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tier sieht, zum Basen gehetzt, von Unruhe und Angst zerrissen, so Mlt er dsch an der Wahrheit der Sehnsucht im Wirklichkeitsgeflecht der Luge fest.

4. In den beiden nicht vollendeten Romanen >>Der ProzeR<< und sDas Schlok finden sich sehr gegensatzliche Modifikationen der Grundthematik menschlichen Strebens und Scheiterns. Es geht zweifellos um die Bewahrung des Menschlichen in einer unmenschlichen Welt, zugleich um die Verschul- dung der Isoliertheit und Egozentrik - durch diese Lebenssituation der Selbst- und Weltentfremdung ist der Einzelne einer ihm undurchschaubaren >>Orga- nisation<< wehrlos ausgeliefert. Der plotzlich verhaftete, aber nicht eingesperrte Josef K. versucht vergeblich, sich vor einer ihni unzuganglichen, menschen- feindlichen Gerichtsbiirokratie zu rechtfertigen und seinerseits gegen sie einen Prozel3 zu fuhren. Doch vernachlassigt er zugunsten seiner beruflichen wie rechtlichen Position alle menschlichen Beziehungen. In seinen schauerlichen Hinrichtungstod fallt zwar ein schwacher StrahI des Trostes, die Gebarde eines teilnehmenden, helfenden Menschen, aber sie bleibt fraglich, und das letzte ist die Scham, wie ein Hund ermordet zu werden. Auch im >>Schlol3<< kann der Protagonist, der wiederum die autobiographische Chiffre K. tragt. als Fremder ins Dorf kommt und durch eine Anstellung als Landvermesser ein Hiesiger werden mochte, nicht ganz den Bannkreis seines Ichs durchbrechen. Immerhin ringt er, angesichts eines vollig funktionalisierten hierarchischen Apparats ehrlich darum, zur Erkenntnis seiner Lage zu gelangen und den labyrinthi- schen Teufelskreis zu durchbrechen. Er vertrotz sich nicht, sondern sucht immer neue menschliche Kontakte. Heinz Politzer hat die Symbolik seines Berufs erschlossen: es ist Vermessenheit, die von ihm erstrebte Arbeitswelt zu ermessen. Dem Roman fehlt zwar der SchluR, aber Brod berichtet, Kafka habe zuletzt dem bis zu todlicher Erschopfung um die Erlaubnis zur Nieder- lassung kampfenden Helden die Genugtuung- gewahren wollen, dal3 an seinem Sterbebette die Entscheidung vom SchloR eintrifft: wenn auch kein Rechts- anspruch K.s besteht, im Dorf zu wohnen, so gestatte man ihm doch, xni t Rucksicht auf gewisse Nebenumst2nde<<, hier zu leben und zu arbeiten. Im Sterben die Erlaubnis zum Leben zu erhalten, ahnlich wie in der Turhuter- legende am Ende des Lebens zu erfahren, daR der Eingang zum Gesetz fur den Wartenden bestimrnt war, ist gewiR eine tragische Paradoxie, aber wie alles Tragische in der Dichtung eine iibertreibung, die dem klassischen Para- digma der Vision Fausts im Moment seines Sterbens nicht sehr nachsteht: Kafkas Held kommt sehr spat zum Ziel, das zu erreichen aber ein Leben wert ist. Die in der SchloBhierarchie ebenso symbolisierte wie satirisierte Kom-

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plexitiit der Welt eines ungluckseligsten Zeitalters laat immerhin diesen epi- schen Hoffnungsschininier aufblitzen. Der Figur des Biirgel ini ))SchloRc wird einmal der Ausspruch in den Mund gelegt: )>So korrigiert sich selbst die Welt in ihreni Lauf und behalt das Gleichgewicht<<. dies sei eine ebenso vorziigliche wie trostlose Einrichtung. Aus der Antinomie konimt Kafka nicht heraus. Er fand keinen Ausweg aus dem Labyrinth, aber er horte nicht auf, ihn zu suchen. Abgesehen davon, daR das Wort vom Gleichgewicht in der Welt keine Transzendenz erlaubt, wollte Kafka eine determinierte und pervertierte Welt negieren, ohne einer dialektischen Negation der Negation fiihig zu sein. Im- merhin heifit es einnial: ))Das Negative zu tun ist uns noch auferlegt; das Po- sitive ist uns schon gegebencc (H.), und an anderer Stelle: aIch habe das Nega- tive meiner Zeit, die niir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekampfen, sondern gewissermallen ZI! vertreten das Recht habe. kriiftig aufgenommen. An dem geringen Positiven sowie an den1 aunersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen ererbten Anteilcc (H.) Kafka bleibt zwar in den klaffenden Widerspruchen befangen, aber man sollte nicht wie Politzer von metaphysischer Anarchie sprechen. Tm Tagebuch stehen zwei ergreifende Satze, die auf den immer nioglichen Umschlag in der fur Kafka bestehenden Paradoxie des Menschseins venveisen: ))Bin ich verurteilt, so bin ich nicht nur verurteilt Zuni Ende, sondern auch verurteilt, mich bis ins Ende hinein zu wehrencc. >>Niemand singt so rein als die, welche in der tiefsten Holle sind; was wir fur den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesangc.

5. Vielleicht darf man noch in folgender Richtung diskutieren: Kafkas Menschen sind fur den Weltzustand, an dem sie bitter leiden, dennoch selbst verantwortlich. Der Dichter weiR das genau, so einsinnig geschlossen er die Welt seiner Figiiren aus deren Perspektive aufbaut. Aber er wein nicht. wie er den von Menschen verschuldeten und verantworteten Zustand gegensei- tiger Verhartung ini ungluckseligsten Zeitalter andern kann. Ininierhin war der Zeitgenosse Kafka, der Versicherungsjurist, einigemale der Einsicht nahe. daf3 man den Menschen aus der Befangenheit, aus deni Gefangensein in einer unuberblickbaren Welt durch eine radikale Umorientierung, ein neues Hand- lungssysteni herausbringen konnte - ich denke etwa an den hochst bemer- kenswerten von Brod uberlieferten Ausspruch uber die durch Unfall verletzten Arbeiter: >>Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu sturmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten<<. Man sol1 gewiR diese, Kafkas mitfiihlende Menschlichkeit bezeu- gende vereinzelte AuRerung nicht uberbetonen, und es ist auch mehr der

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Gedanke eines spontanen Bildersturms als einer organisierten Sozialrevolution, aber er ehrt nicht nur den Beamten Kafka, der seinen nicht geleibten Beruf doch mit tiefem Ernst ausubte, sondern den Dichter, der sich aufgerufen fuhlt, ebenso unverschuldetes k i d wie selbstverschuldetes Verfehlen des Lebens- sinnes parabolisch oder satirisch, metaphorisch oder symbolisch, im mikro- skopisch korrekten Detail unbeschonigt darzustellen.

6 . Kafka hat das Bewuntsein von seinem Zeitalter als der dem Zeitge- nossen aufgegebenen Wirklichkeit, aber seine Figuren irren in ihr auf Wegen, die ihr Ziel verfehlen, weil auch ihr Dichter nicht zu einem dialektischen Uberblick durchstoBt. Wohl steht er soweit auRerhalb seiner Erzahlsituation. daR er sich zu fragen vermag: warum zerschlagt der Mensch nicht den laby- rinthischen Bau seiner Pseudogesichertheit, die in Wirklichkeit ein Zersto- rungsapparat ist. Aber Kafkas Figuren vermogen ihre Situation nicht distan- ziert zu sehen.

7. Kafka versucht den Menschen zu retten, weil er in Zeit, Umwelt und Beruf erfahren zu haben glaubt, dal3 man den Menschen aus dem Labyrinth seiner Verirrungen und Angsttraume retten musse. Kafka lebte als Dichter in der Paradoxie, dal3 er die Wahrheit des Menschen erzahlen wollte, indem er seine Unwahrheit erzahlen muRte, die hauptsiichlich darin bestand, dal3 er sich nicht selbst fand, daR er seine eigene Position nicht erkannte. Aber weil er die Wahrheit des Menschen erzahlen wollte, stieR er an die Grenze des Erzahlbaren, da Kafkas Menschen im Paradox ihrer Wahrheit aus dem La- byrinth ihrer eigenen Entstellung und Verirrung hinausstrebten, ohne zu wissen, daR sie hinausstrebten. So wird ihnen ihre eigene Situation nicht ein- sichtig, und dem Dichter wird die Unmoglichkeit, die Wahrheit des Men- schen in der Periode der Unwahrheit zu erzahlen, nicht einsichtig. Deshalb wohl zweifelt er an der dichterischen Moglichkeit uberhaupt, die Wahrheit uber den Menschen seines Zeitalters zu erzahlen, verzweifelt an seinem dich- terischen Tun, das er erzahlend lebte und als alleinigen Sinn seines Lebens erachtete, und wollte es vernichtet wissen, aber er war sich einer Zwiespal- tigkeit bewuDt, die ihn auch den Gedanken an die Bewahrung seiner dichte- rischen Zeugnisse erlaubte.

Kafka ist - man verzeihe den kuhnen Sprung - mit den Definitionen der 9. und 10. Feuerbachthese aus dern anschauenden Standpunkt der Einzel- individuen und der burgerlichen Gesellschaft nicht hinausgekommen - in seiner korrekten Empirie darf man ihn wohl einen Materialisten nennen-, er hat den verandernden Standpunkt einer neuen menschlichen Gesellschaft

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oder gesellschaftlichen Menschheit in der Gebundenheit seiner besonderen tragischen Lebensumstande - patriarchalischer Zwang und friihe Krankheit - und seiner Prager Umwelt nicht erreichen kiinnen. Aber hier und da ist die Ahnung, wo die Enge durchbrechbar und die paradoxe Antinomie iiberholbar ist - so wenn ein Aphorismus lautet: >>Wenn auch keine Erlosung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer wurdig %in<<. Diese ebenso bedingte wie humane Fugung, weist sie nicht - so frage ich - doch in die Richtung einer Negation der Negation?