Erwerbsarbeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland … · Emmy Noether‐Programm • drei...
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Erwerbsarbeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland und Großbritannien
Quantitative und qualitative Befunde aus einem vergleichenden Projekt
Vortrag am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA)
Berlin
Simone Scherger Emmy Noether‐Nachwuchsforschungsgruppe „Erwerbsarbeit jenseits der Rentengrenze“
Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM) Universität Bremen
Überblick
1. Einführung und Projekthintergrund
2. Institutionelle Grundlagen
3. Strukturen von Erwerbstätigkeit jenseits derRentengrenze (v.a. Klasse und Geschlecht)
4. Die subjektive Erfahrung von Erwerbstätigkeitjenseits der Rentengrenze
5. Effekte des Arbeitens auf Lebenszufriedenheit
6. Abschließende Überlegungen
Das Projekt • „Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze im deutsch‐
britischen Vergleich“ • finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im
Emmy Noether‐Programm • drei Teilprojekte ‐ Teilprojekt 1: Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze im
deutsch‐britischen Vergleich: Vorkommen, Strukturen, Bedingungen und Folgen im Spiegel quantitativer Sekundärdatenanalysen
‐ Teilprojekt 2: Individuelle Erfahrung und biographische (Be‐)Deutung von Erwerbstätigkeit im Ruhestand (47 qualitative Interviews mit erwerbstätigen Rentnern/innen in D und GB)
‐ Teilprojekt 3: politische Diskurse zu Altersvorsorge und Arbeit im Alter: Normative Begründungen und Zuschreibungen von Verantwortlichkeit im Wohlfahrtsstaat (Experteninterviews, Dokumente)
Übergreifende Perspektiven
• individuelle Determinanten und Bedingungen von bezahlter Arbeit jenseits der Rentengrenze (insbesondere soziale Ungleichheiten)
• individuelle Lebenslauf‐Übergänge als Ergebnisse des Zusammenspiels von Institutionen und individuellem Handeln Ruhestands‐Erwerbstätigkeit als Abweichung vom standardisierten Lebenslauf und Anzeichen des Wandels der Lebensphase Alter
• Lebensphase Alter im gesellschaftlichen Wandel und darauf bezogene Debatten
• Wohlfahrtsstaaten als Sets von Regeln, Normen, Werten: Wohlfahrtskulturen
• im Folgenden präsentiert: wichtige quantitative und qualitative Befunde zu Erwerbstätigkeitjenseits der Rentengrenze im Überblick
Erwerbsquote 65+ (1984 bis 2014)
25
20
15 GB‐m: 13.3
D‐m: 8.2
D‐w: 3.9
GB‐w: 7.7 5
10
Prozen
t
0
65+ D Männer 65+ D Frauen 65+ GB Männer 65+ GB Frauen
Quelle: OECD‐Daten (bis 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991: Gesamtdeutschland)
Erwerbsquote 65‐69 (1984 bis 2014)
D‐m: 17.8
D‐w: 10.5
GB‐m: 25.0
GB‐w: 17.4
5
10
15
20
25
Prozen
t
0
65‐69 D Männer 65‐69 D Frauen
65‐69 GB Männer 65‐69 GB Frauen Quelle: OECD‐Daten (bis 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991: Gesamtdeutschland)
Institutionelle Grundlagen Deutschland Großbritannien
Rentensystem • starke 1. Säule der gesetzlichen Rentenversicherung, äquivalenz‐orientiert (+ Reihe von Zusatzsystemen)
• 2. Säule (betriebl. Absicherung) weniger bedeutsam, 3. (private Abs.) kaum (für gegenwärtige Rentner), außer Selbstst.
• Reformen in Richtung ‘liberaleren’ Systems (Abschaffung abschlagsfreier Möglichkeiten früherer Verrentung, Absenkung Niveau GRV, Anhebung Regelaltersgrenze, private Altersvorsorge)
• keine Hinzuverdienstgrenze nach Regelaltersgrenze (aber bei Frührente)
• bedarfsgeprüfte Sozialleistung für Ältere (Grundsicherung im Alter) mit strenger Hinzuverdienstgrenze
• Struktur des Rentensystems ist ausgeglichener über alle 3 Säulen; 1. Säule universale ‚flat‐rate‘ Rente (Basic State Pension) niedrig
• betriebliche und private Altersvorsorge sind anteilsmäßig sehr bedeutsam
• Reformen: erhöhte Regulierung betrieblicher und privater Rentenversicherungen, Anhebung Rentenalter, Pflicht betrieblicher Altersvorsorge, seit 2014: neue State Pension (höher und einheitlicher)
• keine Hinzuverdienstgrenze bei staatl. Rente
• bedarfsgeprüfte Sozialleistungen fürÄltere (pension credit) mit strenger Hinzuverdienstgrenze
Institutionelle Grundlagen
Deutschland Großbritannien
Erwerbssystem
• beruflich stratifizierter, weniger • polarisierte Qualifikationsstruktur, Mobilität und Flexibilität (aber mehr Flexibilität und (berufliche) ‚Aufholen‘ bzgl. Deregulierung, Mobilität, größerer Niedriglohn‐Flexibilisierung, Niedriglohn) (Service‐)Sektor
alles in allem flexibleres Lebenslaufregime
Lebenslaufregime (bisher) weniger flexibles
Alterseinkommen: mehr Ungleichheit, mehr Armut
weniger Ungleichheit, weniger Armut
Alterseinkommen (bisher):
Vgl. auch „Ruhestandskonzepte“ (Scherger & Hagemann 2015) – tendenziell ausgeprägter und weniger ökonomisch legitimiert in D
Einflüsse auf Erwerbstätigkeitjenseits der Rentengrenze
Individuelle Ebene 1) Arbeitsfähigkeit: Gesundheit, Qualifikation/Fertigkeiten 2) Wunsch zu arbeiten: nicht‐materielle Gründe, finanzielle Gründe geprägt durch private Lebens‐/Haushaltssituation und persönliche Netzwerke, aber auch durch Erwerbsverlauf
3) Arbeitsmarktchancen/‐gelegenheiten: Zusammenspiel individueller Fähigkeiten und Bedingungen auf Arbeitsmarkt bzw. auf Organisationsebene geprägt durch Erwerbsverlauf
Makroebene (u.a.): • Rentenpolitik • Arbeitsmarktregulierung und ‐situation
Mesoebene: Betriebe/Arbeitgeber/Organisation – hier vernachlässigt
Grundlegende Befunde
Im Alter noch Erwerbstätige • arbeiten meist in Teilzeit (D: häufig in Mini‐Jobs) in GB ist der Anteil Vollzeit‐Arbeitender etwas höher
• arbeiten oft in einfachen Dienstleistungstätigkeiten (und in den höheren Diensten, v.a. in D), seltener im industriellen Sektor
• empfangen überwiegend Rentenzahlungen in GB ist der Anteil der „Aufschieber“ höher (ohne Rentenempfang)
Jenseits der Rentengrenze noch Erwerbstätige sind (im Durchschnitt) • gesünder (und jünger) • eher männlich • besser gebildet • häufiger geschieden (und seltener verwitwet) • häufiger selbständig (gewesen) • und wohnen häufiger in Regionen mit niedrigerer Arbeitslosigkeit
Multivariate Befunde
• da viele der genannten Faktoren eng zusammenhängen (etwa Alter, Bildung, Gesundheit, Einkommen), helfen multivariate Modelle, die zentralen Faktoren herauszuarbeiten
• Daten: ‐ Deutscher Alterssurvey (DEAS), 2011 ‐ English Longitudinal Study of Ageing (ELSA), 2010‐11
• einbezogen: 65‐ bis 85jährige
• logistische Regressionen, abhängige Variable: Wahrscheinlichkeit, in bezahlter Erwerbstätigkeit zu sein
• Modell mit Geschlecht, Alter, subj. Gesundheit, Familienstand, Bildung, Klasse vor Ruhestand, individ. Renteneinkommen (Quintile), Haushaltsschulden
Logistisches Regressionsmodell – Teil I(Average Marginal Effects)
Alterssurvey (Deutschland) ELSA (England) Alter ‐ 0.003° Alter ‐ 0.01*** Geschlecht – weiblich ‐ 0.03* Geschlecht – weiblich ‐ 0.07*** subj. Gesundheit (Ref. (sehr gut) gut) mittel (sehr) schlecht
‐ 0.04*** ‐ 0.06***
subjective health (Ref. exzellent/(sehr) gut) mittel schlecht
‐ 0.07*** ‐ 0.08***
Familienstand (Ref. verheiratet) geschieden verwitwet ledig
0.05° ‐ 0.01 0.00
Familienstand (Ref. verheiratet) geschieden verwitwet ledig
0.04* 0.01 ‐ 0.01
Bildung (ISCED) (Ref.1‐2) mittel (3/4) hoch (5/6)
‐ 0.01 0.01
Bildung (ISCED) (Ref.1‐2) mittel (3/4) hoch (5/6)
0.02* 0.07***
*** p<0.001; **p<0.01; *p<0.05; ° p<0.10
Logistisches Regressionsmodell – Teil II (Average Marginal Effects)
Alterssurvey (Germany) ELSA (England) Klasse vor Ruhestand (ESeC, Ref.: höhere Dienstklasse)
Klasse vor Ruhestand (NSSeC, Ref.: höhere Dienstklasse)
niedere Dienstklasse ‐ 0.05** niedere Dienstklasse 0.01 intermediäre Kl. ‐ 0.05* intermediäre Kl. 0.01 kleine Selbstständige 0.07° kleine Selbstständige 0.11*** Fach‐/Vorarbeiter, einfache Dienstl., Un‐/Angelernte
‐ 0.05* Fach‐/Vorarbeiter, einfache Dienstl., Un‐/Angelernte
0.03°
Haushaltsschulden (Ref.: keine) Haushaltsschulden (Ref.: keine) ja 0.07** unter £4400 0.03° Angaben fehlend ‐ 0.01 £ 4400 ‐ unter 22.000 0.08**
£ 22.000+ 0.20* Individuelles Renteneinkommen Quintile (Ref.: 1/niedrigstes) 2 3 4 5 fehlend
‐ 0,01 ‐ 0,05° ‐ 0,03 ‐ 0,06* ‐ 0,02
Individuelles Renteneinkommen Quintile (Ref.: 1/niedrigstes) 2 3 4 5 fehlend
0.01 ‐0.02 ‐0.03° ‐0.03 0.12**
n=1594, Log likelihood = ‐291.48, Pseudo r2=0.1646 n=4376, Log likelihood= ‐1179.92, Pseudo r2=0.1836
Frühere Klasse
0.2
0.15
0.1
0.05
0 obere Dienstkl. niedere Dienstkl. intermediäre Kl. kleine alle anderen
Selbständige (Un‐/Angelernte, Facharbeiter, einf. Dienstl….)
England Deutschland
Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten, im Rentenalter zu arbeiten nach früherer Klasse (NSSeC, ESeC)
Rolle von Geschlecht
• einerseits: Frauen haben geringe (eigene) Alterseinkommen
• andererseits: Frauen haben geringere Erwerbschancen wegen unterbrochener Karrieren und geringerer beruflicher Klasse
Frauen arbeiten (viel) seltener im Alter
• Geschlechterunterschiede werden kleiner nach Einbezug von Bildung und beruflicher Klasse vor Ruhestand dass Frauen seltener arbeiten, ist v.a. ein Effekt der früheren beruflichen Klasse und damit der tatsächlichen Erwerbskarrieren (deutlicher in D als in GB)
• Ausnahme: Geschiedene Frauen
0.00
Geschlecht und Familienstand
0.05
0.10
0.15
England, w England, m
0.05
0.10
0.15 Deutschl., w
Deutschl., m
0.00
Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten nach Familienstand und Geschlecht
Weitere Befunde und Länderunterschiede
Genauere Analysen zeigen… • dass die Haushaltskonstellation (alleinlebend/Paarhaushalt)
auch wichtig ist ( geschiedene Frauen leben meist allein) Haushaltseinkommen (vor Erwerbseinkommen) • ist (nach Kontrolle anderer Variablen) auch ein wichtiger Einfluss
(vgl. Hokema & Lux 2015)
Länderunterschiede eher in Details • Klassenprofil erwerbstätiger Älterer • Unterschied zwischen geschiedenen und verheirateten Frauen
(in D größer) • aber: Dynamik über die Zeit
Qualitative Perspektivenauf Arbeit jenseits der Rentengrenze
• Datengrundlage: 47 Interviews mit arbeitenden RentnerInnen inDeutschland und Großbritannien
• Leitende Frage: Wie erfahren Erwerbstätige jenseits der Rentengrenzeihre Tätigkeit (vor dem Hintergrund ihrer Biographie) und welchesubjektiven Motive nennen sie?
• problemzentrierte Interviews auf Basis eines Leitfadens mit fünfThemenschwerpunkten, sowie Kurzfragebogen und Interviewprotokoll
• Sampling: ‐ nur Rentenempfänger ab 65 (mit Ausnahme britischer Frauen) ‐ gleichmäßig nach Land und Geschlecht ‐ zusätzlich: Qualifikationserfordernis aktueller Tätigkeit ‐ ausgeschlossen: Personen mit durchgehender Selbstständigkeit u. Beamte( Rente aus gesetzlicher Rentenversicherung muss vorhanden sein)
• im Folgenden: einige Teilergebnisse(Hauptergebnis: Typologie A. Hokema)
Qualitative Befunde: Rentenplanung und subjektive Motive
• finanzielle Rentenplanung in beiden Ländern schichtabhängig: Besser Gebildete haben in Bezug auf ihr Alterseinkommen viel bewusster geplant und gehandelt als weniger Gebildete (v.a. bzgl. betrieblicher Renten und in GB)
• große Vielfalt subjektiver Motive für Arbeit im Rentenalter ‐ Arbeit überwiegend positiv erfahren und nicht‐finanzielle Motive vorrangig genannt: Spaß, Freude, Sinn, Inhalt der Arbeit, soziale Kontakte, soziale Anerkennung, Tagesstrukturierung, fit bleiben biographische Kontinuität und Arbeit als Quelle sozialer Identität oder
sozialen Prestiges spielen eine große Rolle ‐ meist werden mehrere Gründe genannt, manchmal auch in gegensätzlichen/ambivalenten Kombinationen ‐ häufig positive Erfahrung auch bei schlechten Arbeitsbedingungen keine eindeutige Dichotomie „finanzielle Gründe“ versus „Spaß“
auffindbar, ebenso keine eindeutige Entsprechung zu (früherer) beruflicher Klasse oder Qualifikation
Motive – zwei Beispiele
„(…) Und ich hab’s, hab so weitergearbeitet wie vorher auch und weil’s mir son Spaß macht, und ich das gerne mach, hab ich auch gesagt warum sollich aufhören, es tut mir gut ich (.) kann mich da verwirklichen, und ich, ich kann anderen ja, Gutes tun und ich habe die Chance (2) ich kann mir das einteilen.“ Susanne, selbstständige Physiotherapeuten, 66 (verheiratet, 3 Kinder, kurzefamilienbedingte Unterbrechung, sonst erwerbstätig in Teilzeit/Vollzeit, alsAngestellte/selbstständig)
„(I)ch bin Putzfrau und arbeite, erst mal des Geldes wegen, (.) ja, und zum andern (.) weil ich auch alleine bin und (2) da fällt einem ja die Decke aufnKopf ich bin nicht der Typ der jetzt aufsteht [morgens], sich in Sessel setztund da sitzen bleibt bis abends, ich muss n bisschen Beschäftigung haben. Auch aus gesundheitlichen Gründen, muss ich immer in Bewegung sein, nich.“ Renate, Raumpflegerin, 70 (verwitwet, kein Partner, 2 Kinder, sehr diskontinuierlicheErwerbsbiografie, längere familien‐ und krankheitsbedingte Unterbrechungen, Schulden durch Ex‐Partner)
[rot= Hervorhebung für diesen Vortrag]
Vielfalt finanzieller Motive
Finanzielle Motive umfassen ein ganzes Spektrum von Motiven • häufig: zusätzliches Einkommen für kleine Extras (Reisen, teures Hobby u.ä.) • finanzielle Unterstützung Familienangehöriger (Kinder oder Enkel) • aber auch (in unserem Sample seltener): finanzielle Armut – häufiger bei
(geschiedenen) Frauen Lebensstil, finanzielle Ansprüche sowie relative Einkommensverluste im
Übergang in den Ruhestand sind wichtig
• (…) „und dann ist es eben halt auch so gewesen dass es auch ne kleine Taschengeldaufbesserung [ist] aber das Geld ist eigentlich der zu vernachlässigende Faktor.“ Joachim, früher Lehrer, heute Schul‐AG‐Leiter, 68 (geschieden, Partnerin, 3 Kinder)
• “(…) so it was primarily for financial reasons. But also because I enjoy my work and get a lot out of it and work with nice colleagues and nice people. So (.) I’m kind of, (.)I said primarily [for financial reasons], probably not because (.) I sometimes thinkeven if financially it wasn’t necessary I'd still would've carried on working because °I want to and enjoy it°.” Judy, früher Lehrerin, heute Sprachlehrerin, 68 (geschieden, alleinlebend, 1 Kind)
Geschlecht • keine auffälligen Unterschiede in den Motiven zwischen Männern und
Frauen (aber arbeitende Frauen = besondere Gruppe von Frauen) • für Frauen hat die Rentengrenze weniger Bedeutung als Lebenslauf‐
‚Marker‘, da sie meist ohnehin diskontinuierliche Erwerbsverläufe hatten • nach Einbezug Familienstand: besondere Problemlage und Deutung
geschiedener Frauen – diese Gruppe eint eine Reihe von Eigenheiten: ‐ längere Erwerbsunterbrechungen (besonders in D) oder längere Phasen der geringfügigen Erwerbstätigkeit vor der Scheidung ‐ keine eigene Rentenplanung (oder Finanzplanung allg.) vor der Scheidung ‐ Scheidung als wichtiger Wendepunkt ‐ nach der Scheidung aktives ‚Managen‘ der eigenen Lebenssituation, hohe Arbeitsorientierung, positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit ‐ finanzielle Gründe für die Erwerbstätigkeit im Rentenalter wichtig ‐ (positive) symbolische Bedeutung des selbstverdienten Geldes und finanzieller Unabhängigkeit (z.B. auch wenn man Anspruch auf staatl. Unterstützung hätte)
Beispiel (geschiedene Frau) „Nee das [Rentenplanung] hat mir gar nicht auf der Seele gelegen und das war mir auch überhaupt nicht klar (…),weil das war noch so diese altmodische @Einstellung@ damals, ich hatte ja nun einen gut verdienenden Ehemann, und da konnte eigentlich gar nichts weiter schiefgehen. […] ja jetzt weiß ich [es wieder] genau als ich diesen, ich hatte ja einen Halbtagsjob, und das war aber praktisch auch ein Ein‐Mann‐Betrieb und der Chef war auch schon etwas älter und da hab ich mir dann einmal ganz klar überlegt, der hört vielleicht in ein paar Jahren auf dann bist du 50 oder ein bisschen über 50 ähm und dann kriegst du vielleicht nicht mehr einen richtigen Job und was wird dann mit deiner Rente ähm kümmer dich mal um was anderes“. Monika, Sekretärin und Korrekturleserin, 68 (geschieden, alleinlebend, 1 Kind)
(Um‐)Deutung der Arbeit Bedeutung von Arbeit stark abhängig von
• Form der Erwerbstätigkeit (‚Rentner‐Job‘ vs. Fortsetzung früherer Tätigkeit) und
• Selbsterfahrung als RentnerIn oder Erwerbstätige(r) Bedeutung der institutionellen Rahmung des Ruhestands
(1) bei ‚RentnerInnen‐Jobs‘, informeller Arbeit bzw. Schwarzarbeit: ‐ Veränderung der Bedeutung von Arbeit ‐ (relative) Abwesenheit finanziellen Zwangs macht Arbeit zu etwas
‚Anderem‘ als frühere Erwerbstätigkeit (vor Rentengrenze), das sehr positiv erfahren wird – man ist vorrangig RentnerIn
‐ teilweise mehr Spielraum bei Arbeitsgestaltung (‐zeiten, ‐inhalte…)
„Die Arbeit mach ich hier gerne. Die andere Arbeit musst ich machen. Ich musst ja Geld verdienen.Das is also nen großer Unterschied (.) nich also ich bin sehr gerne hier und (.) äh f‐ man versteht sich hier auch gut.“ In1: „also das soziale Drumherum nochmal“ Ip4: „Ja ja und das is ja nich nen Zwang(...) ” In1: „Also hat das hier eher schon so nen befreiendes E‐„ Ip4: „ja natürlich is überhaupt nich zuvergleichen ich kann ja jederzeit sagen nein nich jetzt is Schluss und Feierabend aber äh das konnt ich beim während meines Berufes nich °ne°.“ Erika, früher Reiseverkehrskauffrau, heute Besucherbetreuerin im Museum, 70 (geschieden,alleinlebend, 1 Kind, nur kurze familienbedingte Unterbrechung, sonst kontinuierliche Erwerbstätigkeit in Voll‐ und Teilzeit, frühverrentet)
(Um‐)Deutung der Arbeit (2) Weiterführung Tätigkeit Hauptkarriere oder früherer Nebentätigkeit ‐ keine klare Umdeutung oder Abgrenzung von der Tätigkeit vor
Rentengrenze (Selbsterfahrung: Erwerbstätige(r)) ‐ Finanzen sind wichtiger, aber vor allem, weil es sich um eine
‚normale‘ entlohnte Tätigkeit handelt ‐ trotzdem meist sehr positive Erfahrung der Arbeit
• bei einigen: enge Verzahnung oder Verschwimmen der Grenzen zwischen Ehrenamt und Erwerbsarbeit – besonders bei Hochqualifizierten
„Und Beratung heißt einerseits ähm (.) je nachdem wie die Bedingung sind, dass ichdann mit nem (.) Werkvertrag Beratervertrag arbeite (…) also bezahlt arbeite, aber meinen Rentenstatus und mein Renteneinkommen erlaubt mir Gott sei Dank, dassich das nicht muss sondern dass ich eben auch (.) in andern Gruppen in andern Initiativen oder bei nem andern Projekt sagen kann, ich kann das ehrenamtlich machen also insofern ist das ne Kombination von ehrenamtlicher Tätigkeit undfreiberuflicher Tätigkeit.“ Werner, heute Projektberater, früher Angestellter eineröffentl. Einrichtung im Bereich Arbeit, 66 (verheiratet, 1 Kind)
Länderunterschiede in Bedeutung und Motiven
• grundsätzliche Motive unterscheiden sich kaum
• eher indirekte Unterschiede in Verweisen auf institutionelle Rahmung und Rentenplanung
• britische Gesprächspartner erzählen häufiger (explizit und ausführlich) davon, wie sie aufgrund ihres Alters ihre frühere Tätigkeit gegen ihren Willen aufgeben mussten Hintergrund: britische Diskussion um Abschaffung des
Default Retirement Age (im Jahr 2012) und explizitere Debatten um Altersdiskriminierung
• ähnliche Erzählungen in D allenfalls von Frühverrenteten
Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit >65:Effekte auf Lebenszufriedenheit
• Querschnitt: Arbeitende zufriedener als nicht‐arbeitende RentnerInnen
• Richtung des Zusammenhangs? Nehmen Zufriedenere Arbeit wieder auf oder macht Arbeit zufriedener?
Aufnahme Tätigkeit allgemeine Lebenszufriedenheit (‚niedrige‘ Klasse‘ vs. andere Klassen) • Annäherung nur durch Längsschnittdaten möglich • Lux/Scherger 2015: Fixed‐Effects‐Modelle betrachten nur interindividuelle
Veränderungen • Datenbasis: SOEP (1996‐2011), BHPS (1996‐2000/2002‐08) • Rollentheorie, subj. Belohnung, Handlungsspielraum/Kontrolle • Annahme: kein oder negativer Effekt in niedriger Kl., positiver Effekt in
anderen Klassen • kontrolliert für Alter, Periode, Veränderung Familienstand • Bereichszufriedenheiten (Gesundh., Finanzen) als moderierende Größen • nur die, die nach Phase der Inaktivität wieder erwerbstätig werden
Ergebnisse – Deutschland (Koeffizienten FE‐Modelle) Ve
ränd
erun
g Le
bens
zufri
eden
heit
mit
90%
CI
0.7
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
-0.3
-0.2
-0.1
0.0
Arbeit niedrige Klasse Arbeit andere Klasse
Einfaches Modell mit Zufriedenheit HH-Einkommen mit Zufriedenheit Gesundheit
n= 6042 Personen (33.927 Personenjahre), 390 mit Arbeitsaufnahme
Ergebnisse – Großbritannien (Koeffizienten FE‐Modelle) Ve
ränd
erun
g Le
bens
zufri
eden
heit
mit
90%
CI
0.7
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
-0.3
-0.2
-0.1
0.0
Arbeit niedrige Klasse Arbeit andere Klasse
Einfaches Modell mit Zufriedenheit HH-Einkommen mit Zufriedenheit Gesundheit
n= 2941 Personen (14.032 Personenjahre), 129 mit Arbeitsaufnahme
Zusammenfassung und Interpretation
• positive Effekte überwiegen, Klasse kaum relevant • kaum Länderunterschied, aber: positiver Effekt hängt in GB in
niedrigerer Klasse mit verbessertem Einkommen zusammen
• Abwesenheit von negativen Effekten und Klassenunterschied ‐ Arbeitende sind eine selektive Gruppe (auch hinsichtlich
Bedeutung von Arbeit) ‐ hier betrachtete Gruppe ist zusätzlich selektiv (Wiederaufnahme
Tätigkeit nach Pause – evtl. v.a. aus ‚positiven‘ Gründen) ‐ Umdeutung von Arbeit vor dem Hintergrund des
institutionalisierten Ruhestands (s. qualitative Befunde)
• bessere Daten und mehr Differenzierung notwendig
Zusammenfassung
• selektive Gruppe derer, jenseits der Rentengrenze noch erwerbstätig sind ‚Mittelschichtenphänomen‘
• viele Ärmere können (schon länger) gar nicht mehr arbeiten
• Länderunterschiede v.a. in Klassenprofilen und ferner Geschlecht geringere Renteneinkommen GB, andere Arbeitsgelegenheiten auf deregulierte(re)m Arbeitsmarkt
• Aber: Momentaufnahme – kann/wird sich wahrscheinlich ändern Rentenreformen, zunehmende Ungleichheiten destandardisierterer Übergang in den Ruhestand, veränderte
Alterskultur
Gründe für Zunahme von Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze?
• letzte Rentenzugangskohorten sind (durchschnittlich) gesünder u. besser gebildet als frühere Rentenzugänge
• nach oben verschobenes tatsächliches Rentenalter (mit ‚Überschwappen‘ in Zeit jenseits der Rentengrenze)
• stärkerer Wunsch nach Erwerbstätigkeit als früher - andere Ansprüche an Lebensphase Alter (Lebensstil, Selbstverwirklichung) - aber auch: sinkende durchschnittliche Rentenzahlungen,
(langsam) steigende Altersarmut
• Arbeitsmarkt - bessere Arbeitsmarktlage - Nachfrage nach bestimmten (höheren) Qualifikationen - (D) veränderte Arbeitsmarktstrukturen: z.B. Minijobs
Faktoren wirken jeweils unterschiedlich stark in D und GB
Forschungsbedarf
• Entwicklung der Zusammensetzung erwerbstätiger RentnerInnen über die Zeit (vgl. Hofäcker & Naumann 2014)
• betriebliche Ebene
• Erwerbssequenzen im Übergang in den Ruhestand (von Hauptkarriere in „nachberufliche“ Erwerbstätigkeit) (Erfahrung von) Abwärtsmobilität (?)
• Rolle von Einkommensverläufen im Übergang in den Ruhestand (Annahme: Bedeutung relativer Einkommensverluste)
• Wissen und Prozesse der Entscheidung zwischen staatlicher Unterstützung (z.B. Grundsicherung im Alter) vs. Erwerbstätigkeit im Alter
Sozialpolitische Schlussfolgerungen
• Rentenpolitik (Höhe Renten, Hinzuverdienst (bei Frührente), Teilrenten)
• Arbeitsmarkpolitik und ‐regulierung (Altersgrenzen/Altersdiskriminierung, Sozialversicherung, Befristungsrecht)
aufeinander abstimmen
Balance zwischen • ‚Recht‘ auf (Weiter‐)Arbeiten und
• Schutzfunktion des Ruhestands (einschl. angemessener Renten) längere Arbeit (u. flexibleren Ausstieg) denjenigen ermöglichen,
die wollen – ohne es zur Norm zu machen
diejenigen (heute und vor allem zukünftig) besser absichern, die wegen niedriger Alterseinkommen länger arbeiten (müssen)
Literatur aus dem Projekt (weitere in Vorbereitung)
• Scherger, Simone (Hrsg.) (2015): Paid work beyond pension age. Comparative perspectives. Basingstoke: Palgrave Macmillan. mit mehreren Beiträgen der Gruppe
• Lux, Thomas; Scherger, Simone (2015/im Erscheinen): By the sweat of their brow? The effects of starting work again after pension age on life satisfaction in Germany and the UK, in: Ageing & Society.
• Hokema, Anna; Scherger, Simone (2015/online first): Working pensioners in Germany and the UK: Quantitative and qualitative evidence on gender, marital status and the reasons for working, in: Journal of Population Ageing.
• Scherger, Simone; Hokema, Anna (2014): Arbeiten müssen, können oder wollen? Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland, in: Kaudelka, Karin; Insenbort, Gregor (Hg.), Altern ist Zukunft. Leben und Arbeiten in einer alternden Gesellschaft, Bielefeld: Transcript, S. 143 – 158.
• Scherger, Simone; Hagemann, Steffen (2014): Concepts of retirement and the evaluation of post‐retirement work. Positions of political actors in Germany and the UK (Arbeitspapiere des Zentrums für Sozialpolitik, 4/2014), Bremen: Zentrum für Sozialpolitik. Herunterladbar hier: http://www.zes.uni‐bremen.de/veroeffentlichungen/arbeitspapiere/?publ=5023
• Scherger, Simone (2013): Zwischen Privileg und Bürde. Erwerbstätigkeit jenseits der Rentengrenze in Deutschland und Großbritannien, in: Zeitschrift für Sozialreform, 59 (2), S. 137 – 166.
• Scherger, Simone; Hagemann, Steffen; Hokema, Anna; Lux, Thomas (2012): Between privilege and burden. Work past retirement age in Germany and the UK (Arbeitspapiere des Zentrums für Sozialpolitik, 4/2012), Bremen: Zentrum für Sozialpolitik. Herunterladbar hier: http://www.zes.uni‐bremen.de/veroeffentlichungen/arbeitspapiere/?publ=435&page=2