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ETAGENAUSSTELLUNGEN Etage Künstler Werk Westend 1, Eingangsbereich Marie-Jo Lafontaine Videoskulptur mit Klanginstallation: „Berauscht von Ewigkeit vergesse ich die Bedeutungslosigkeit der Welt“ Cityhaus II, Unterführung zum Westend 1 Robert Barry Wallpiece 01. Etage Jan Dibbets Ten Cupolas 02. Etage Laura Aguilar, Dieter Appelt, Wouter Deruytter, Peter Fink, Bill Jacobsen, Karola Löffler, Bettina Rheims, Miron Schmückle Der fotografierte Körper 03. Etage Gottfried Helnwein Faces 04. Etage Lynne Cohen, Jacqueline Hassink, Matthias Hoch Menschenleer 07. Etage Robert Longo Men in the Cities 08. Etage Clegg & Guttmann, Jürgen Klauke, Chema Madoz, Laurie Simmons Die Dinge des Alltags 12. Etage Laurenz Berges, Katharina Bosse Die Stimmung von Orten 13. Etage Emanuel Raab Blick - Wechsel 14. Etage Angelika Platen, Wilhelm Reinke Künstlerporträts 15. Etage John Chamberlain, John Hilliard, Andreas Müller-Pohle Bewegung 16. Etage Antoine D‘Agata, Bertram Kober, Jochen Lempert, Kerstin Matijasevic, William Wegman, Christina Zück Tierische Lebenswelten 17. Etage Jitka Hanzlová Bewohner 19. Etage Sibylle Bergemann, Jörg Brüggemann, Espen Eichhöfer, Annette Hauschild, Harald Hauswald, Pepa Hristova, Andrej Krementschouk uva. OSTKREUZ - Die Stadt. Vom Werden und Vergehen. 20. Etage Olafur Eliasson, Tiina Itkonen, Per Bak Jensen, Mette Tronvoll Nordland 21. Etage Stephen Shore Uncommon Places 22. Etage Virxilio Vieitez, Wolfgang Tillmans Familienbilder 23. Etage Walter Niedermayr Die bleichen Berge 24. Etage Lewis Koch, Emanuel Raab Heimat 26. Etage Tamara Grcic Die Bank 27. Etage Sebastiao Salgado Uncertain Grace 28. Etage Les Levine, Miguel Rothschild Paradiese 29. Etage Johannes Brus, Helmut Schweizer, Roman Signer, Erwin Wurm Die Zeit im Rahmen 30. Etage Gerd Kittel (Claes Oldenburg) Inverted collar and tie 31. Etage Tatjana Hallbaum, Sean Snyder Peripherie 33. Etage Nobuyoshi Araki, Imogen Cunningham, Joan Fontcuberta, Marie-Jo Lafontaine, Werner Pawlok, Sigrid Rothe, Dennis Stock Blumen 34. Etage Laura J. Padgett Städel Museum Neubau 2010-2011 35. Etage Axel Hütte Landschaft

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ETAGENAUSSTELLUNGEN

Etage Künstler Werk

Westend 1, Eingangsbereich Marie-Jo Lafontaine Videoskulptur mit Klanginstallation: „Berauscht von Ewigkeit vergesse ich die Bedeutungslosigkeit der Welt“

Cityhaus II, Unterführung zum Westend 1 Robert Barry Wallpiece

01. Etage Jan Dibbets Ten Cupolas

02. Etage Laura Aguilar, Dieter Appelt, Wouter Deruytter, Peter Fink, Bill Jacobsen, Karola Löffler,Bettina Rheims, Miron Schmückle

Der fotografierte Körper

03. Etage Gottfried Helnwein Faces

04. Etage Lynne Cohen, Jacqueline Hassink, Matthias Hoch Menschenleer

07. Etage Robert Longo Men in the Cities

08. Etage Clegg & Guttmann, Jürgen Klauke,Chema Madoz, Laurie Simmons

Die Dinge des Alltags

12. Etage Laurenz Berges, Katharina Bosse Die Stimmung von Orten

13. Etage Emanuel Raab Blick - Wechsel

14. Etage Angelika Platen, Wilhelm Reinke Künstlerporträts

15. Etage John Chamberlain, John Hilliard,Andreas Müller-Pohle

Bewegung

16. Etage Antoine D‘Agata, Bertram Kober, Jochen Lempert, Kerstin Matijasevic, William Wegman, Christina Zück

Tierische Lebenswelten

17. Etage Jitka Hanzlová Bewohner

19. Etage Sibylle Bergemann, Jörg Brüggemann,Espen Eichhöfer, Annette Hauschild,Harald Hauswald, Pepa Hristova,Andrej Krementschouk uva.

OSTKREUZ - Die Stadt. Vom Werden und Vergehen.

20. Etage Olafur Eliasson, Tiina Itkonen, Per Bak Jensen, Mette Tronvoll

Nordland

21. Etage Stephen Shore Uncommon Places

22. Etage Virxilio Vieitez, Wolfgang Tillmans Familienbilder

23. Etage Walter Niedermayr Die bleichen Berge

24. Etage Lewis Koch, Emanuel Raab Heimat

26. Etage Tamara Grcic Die Bank

27. Etage Sebastiao Salgado Uncertain Grace

28. Etage Les Levine, Miguel Rothschild Paradiese

29. Etage Johannes Brus, Helmut Schweizer, Roman Signer, Erwin Wurm

Die Zeit im Rahmen

30. Etage Gerd Kittel (Claes Oldenburg) Inverted collar and tie

31. Etage Tatjana Hallbaum, Sean Snyder Peripherie

33. Etage Nobuyoshi Araki, Imogen Cunningham,Joan Fontcuberta, Marie-Jo Lafontaine,Werner Pawlok, Sigrid Rothe, Dennis Stock

Blumen

34. Etage Laura J. Padgett Städel Museum Neubau 2010-2011

35. Etage Axel Hütte Landschaft

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Etage Künstler Werk

36. Etage Graciela Iturbide, Albrecht Tübke, Lars Tunbjörk Bürger

37. Etage Pietro Donzelli Ein neorealistischer Blick auf Italien

38. Etage, Foyer Robert Longo Monster Waves

38. Etage, Flurbereich Christian Boltanski Dennis Stock

La Chanteuse Jazzmusiker

Raum 38.01 Marc Lüders Objekt 629-3-8

Raum 38.02 Rudolf Bonvie Astrid Klein

Eniac I Gedankenchips

Raum 38.03 Angela Grauerholz Basel

Raum 38.04 Gottfried Helnwein Kinderhand und Kindergesichter

Raum 38.05 Clara Bausch Caine

Raum 38.06 John Baldessari Six Colour Coded Note Pads Six Colour Coded Lamps

Raum 38.08 Andreas Gefeller Supervisions

Raum 38.11 Mario Merz Isola della Frutta

Raum 38.13 Wouter Deruytter Three Forks (I), Montana

Raum 38.14 Jochen Gerz Your Art #3

Raum 38.15 Miklos Gaál Park BenchThe Western Wall

40. Etage Larry Fink, Arno Fischer, Gert Kittel Menschenbilder

42. Etage Luigi Ghirri

45. Etage Ralph Gibson Déjà-vu

46. Etage Timm Ulrichs, Heinrich Riebesehl Von Schnecken und anderem Getier

50. Etage James Turrell Skylobby-Bar

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WESTEND 1, EINGANGSBEREICH

MARIE-JO LAFONTAINE

BERAUSCHT VON EWIGKEIT VERGESSE ICH DIEBEDEUTUNGSLOSIGKEIT DER WELT, 1999

Marie-Jo Lafontaine, Berauscht von Ewigkeit vergesse ich die Bedeutungslosigkeit der Welt, 1999

Zum Gesamtkunstwerk aus Wolken und Tönen ist das Foyer des DZ BANK Turms in Frankfurt am Main gewor-den. „Berauscht von Ewigkeit vergesse ich die Bedeutungslosigkeit der Welt“ heißt die Videoskulptur mit Klang, die die belgische Künstlerin Marie-Jo Lafontaine für die Zentrale der DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossen-schaftsbank geschaffen hat.

Dramatisch bewegte Wolkenbilder rückte Marie-Jo Lafontaine ins Zentrum ihrer multimedialen Installation. Diese werden auf eine Scheibe aus gebürstetem Aluminium im Stahlrahmen von 3,60 Metern Durchmesser projiziert. Ein pinkfarbener Lichtkranz, erzeugt durch rückwärtige Beleuchtung, umgibt das Objekt. Das titelgebende Zitat entstammt dem „Buch der Unruhe“ des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa.

Obwohl 350 Kilogramm schwer, schwebt die Skulptur leicht nach vorne geneigt vor der Stirnwand im Eingangsbe-reich. So entsteht für den Betrachter der Eindruck unmittelbar unter einem faszinierenden Himmel zu stehen. Unterlegt von digitalen Klangwolken, die Michael Fahres komponierte, erfüllt das Kunstwerk den ganzen riesigen Raum. Im Einklang mit der Architektur strahlt das interaktive Audio-Video-Environment ästhetische Ruhe und Dynamik aus.

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Passanten verweilen in „Kamerafahrten durch Himmelswelten, Ausblicke gewissermaßen aus dieser Marmorhalle hinaus in eine Natur, von der wir manchmal träumen, die uns im Alltagsgeschäft aber höchstens durch das Sicher-heitsglas einer Flugzeugkabine begegnet“, beschrieb der Medienwissenschaftler Hans-Peter Schwarz (Zürich) die optische Kraft des Werkes anlässlich der Vernissage in Frankfurt. Dazu höre man, so Schwarz, „eine Raummusik, die den Klang des realen Raumes aufgenommen hat und ihn mit Hilfe diverser Sampling-Techniken zu einer akustischen Brücke transzendiert.“

Einer Reise zu den Wolken gleicht die vierjährige Entstehungsgeschichte der Arbeit. Auf der Suche nach selten auftretenden Wolkenformation fuhr Marie-Jo Lafontaine mit einem Filmteam durch Europa. In ständigem Kontakt mit meteorlogischen Instituten in Brüssel, Hamburg und München richteten sich die Ziele nach Wetter-prognosen und Sonnenständen. Die Aufnahmen stellten das Team mitunter hart auf die Probe. So mussten etwa in einer einsamen Landschaft in Irland 500 Meter Kabel ausgelegt werden, um die nächstgelegene Stromquelle anzusteuern.

Erste Videoinstallationen machte Marie-Jo Lafontaine bereits Anfang der 80er Jahre als Medienkünstlerin bekannt. 1987 trat sie mit einer spektakulären Arbeit auf der documenta 8 hervor. 1992 erhielt sie eine Professur für Plastik und Multimedia an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Die 1950 in Antwerpen geborene, heute in Brüssel lebende Künstlerin wurde international vielfach ausgezeichnet. Die DZ BANK erwarb für ihre Kunst-sammlung zeitgenössischer Fotografie bereits vor einigen Jahren das großformatige, vierteilige Werk „Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht“, das Marie-Jo Lafontaine 1989 realisierte.

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CITYHAUS II, UNTERFÜHRUNG ZUM WESTEND

ROBERT BARRY

WALLPIECE, 1997

Robert Barry, Wallpiece, 1997

Wer die künstlerische Produktion in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nicht miterlebt hat, kann sich kaum ein Bild von der Intensität der Auseinandersetzung mit dem, was als Concept Art die Gemüter bewegte, machen. Sie war die letzte, aus den USA stammende Kunstbewegung internationalen Ausmaßes, welche die Bezeichnung Avantgarde rechtfertigt.

Robert Barry hat nicht nur an allen wichtigen Ausstellungen der Konzeptkunst teilgenommen, er gehört auch zu deren Pionieren. Vor 1967 beschäftigte er sich mit systematischer Malerei. (Systematic Painting, Guggenheim Museum, New York 1966) Die Erkenntnis, dass die Bilder je nach Raum ihr Aussehen veränderten, ließ ihn schließlich Drahtskulpturen anfertigen, dergestalt, dass beispielsweise zwei Punkte in einem Raum durch eine Horizontale verbunden wurden. Die Wahl der Platzierung steht stellvertretend für eine unendliche Zahl von Möglichkeiten. Jedoch wird mit dieser Entscheidung der Raum ein für allemal definiert. Ein weiterer Schritt bestand 1969 darin, Edelgas, das unsichtbar ist, in die Atmosphäre zu entlassen. Das ausströmende Gas definierte ein nicht zu bestimmendes, von Fall zu Fall unterschiedliches Raumvolumen.

Die Fotos dieser Aktion zeigten jeweils den Ort, zum Beispiel die Mohave-Wüste, wobei einzig in der Bildlegende auf die Aktion und das verwendete Gas (etwa Argon, Zenon oder Neon) hingewiesen wurde. Ein wesentliches Element der Konzeptkunst stellt die Entgrenzung der Kunst (im Sinne ihrer Gattungen) schlechthin dar. In einem

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Interview der Zeitschrift Arts sagte Barry 1969: „Ich stelle nicht nur die Grenzen unserer Wahrnehmung in Frage, sondern auch den jeweils gültigen Charakter der Wahrnehmung.“ Im Katalog der Ausstellung Prospekt `69 in Düsseldorf geht er, was die Entgrenzung und Auflösung der Kunst angeht, soweit, dass er dem Interviewpartner gegenüber äußert, seine Arbeit bestünde in den Ideen und Vorstellungen der Leser des Interviews. In der Folge beschäftigte sich Robert Barry fast ausschließlich mit dem Medium Sprache, zum einem über Worte, die mittels Dias projiziert wurden, aber auch in Form von Textanordnungen, die in der Erscheinung an visuelle Poesie erin-nern. „Sprache“, sagt Barry, „fasziniert mich deshalb, weil sie jedem eigen ist. Sprache ist eine Ausdehnung unseres Seins; sie ist Ausdruck von Dingen. Sie bewegt uns innerhalb von Dingen, die räumlich und zeitlich nicht festge-legt sind. Sprache gibt uns die Möglichkeit, Raum- und Zeitgrenzen zu überschreiten.“ (Interview mit Achille Bonito Oliva, Domus, 525, 1973)

Nimmt man die in der DZ BANK wie Splitter weiträumig verteilten Worte, so entsteht auf den ersten Blick kein Sinnzusammenhang. Jedoch ist jedem Betrachter die Bedeutung der Worte bekannt. Zum Beispiel: ERWARTEN, BEDEUTUNG, FÜHLEN, WUNDERN, PERSÖNLICH, ERINNERN, OFFENHEIT, FORTSETZEN, LEISTUNG, FRAGEN, GEMEINSAM, VERBINDEN, BEDÜRFEN, NOTWENDIG, ZWECK, SETZEN. Alle diese Worte sind in Großbuchstaben gemalt und farblich so gehalten, dass man sich an die Farbgebung – grau – nicht erinnert, mit anderen Worten: Das farbspezifisch dekorative Moment ist bewusst unterlassen worden. Jedes dieser Worte kann einen Bewusstseinsraum im Betrachter/Leser öffnen, der ihn zum einen mit dem beruflichen, aber auch mit dem persönlichen Leben verbindet. Was Robert Barry in herausragender Weise, dank vieler Gesprä-che mit Mitarbeitern der Bank gelungen ist, ist die Verbindung beider Bereiche über Haupt-, Tätigkeits- und Eigen-schaftsworte. Denn was für das Unternehmen gilt, gilt auch zu Hause, in der Familie oder unter Freunden.

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01. ETAGE

JAN DIBBETS

TEN CUPOLAS, 1999

Jan Dibbets, Oudenbosch, St. Jan 1996, Aus der Serie: Ten Cupolas, 1999

Der 1941 in Holland geborene Künstler Jan Dibbets sieht sich in der Tradition der Malerei: „Ich bin kein Foto-künstler, sondern Maler. Was die Malerei vermag, nämlich Fantasie erzeugen und aus dem Geist zu schöpfen, das ist etwas, was ich mir als Aufgabe gestellt habe, aber mit Hilfe der Kamera.“ Und damit ist nicht nur die Foto-, son-dern auch die Videokamera gemeint. So ist Dibbets, der seine Wurzeln in der Land-Art und Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre hat, bereits in der legendären ersten Sammlung von Videoarbeiten der Berliner Fernsehga-lerie Gerry Schum mit dem Titel „Land Art“ (1969) mit einer Videoarbeit vertreten. Diese Generation von Künst-lern hat sich auf neue Weise mit Wahrnehmungsfragen auseinandergesetzt.

Auch in Dibbets’ fotografischer Serie der zehn Kuppeln stehen Fragen nach der Darstellung von Perspektive und Raum, Raum und Fläche im Mittelpunkt. Sie zeigt eine Auswahl von zehn berühmten Bauwerken von der Antike bis zur Gegenwart, vom Pantheon in Rom bis zu Frank Lloyd Wrights Betonspirale des Guggenheim-Museums (1959) in New York, wo Dibbets 1987 selbst eine große Ausstellung hatte. Der Blick des Fotografen, der keine gängige Architekturfotografie betreibt, geht nach oben, in die Kuppel. Der Künstler scheint zu versuchen, sowohl den genius loci des Bauwerks als auch das Prinzip Kuppel ins Bild zu bringen, wobei das Bild gleichzeitig eigenstän-dige ästhetische (zweidimensionale) Form und (fotografisches) Dokument sein soll. Dieses Spannungsverhältnis ist das eigentliche künstlerische Thema. Dadurch kann, wie man im Fall von Gaudís Palacio Güell in Barcelona (1888) beispielhaft erkennt, die Kuppel deutlich als das in Erscheinung treten, was sie in diesem Fall versinnbildli-

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chen soll: den Sternenhimmel. Das Observatorium von Paris (1666) steht dazu in wissenschaftlicher Beziehung und damit verweist diese Aufnahme von Jan Dibbets auch auf die Geschichte der Fotografie vor ihrer Anerkennung als Kunst.

Jan Dibbets wurde 1941 im Niederländischen Weert geboren. Er studierte Kunst in Tilburg, Eindhoven und London. 1972, 1977 und 1982 nahm der Künstler an der documenta teil. Von 1984 bis 2004 war Dibbets Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Er lebt in Amsterdam.

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02. ETAGE

LAURA AGUILAR, WOUTER DERUYTTER, PETER FINK, THOMAS FLORSCHUETZ, BILL JACOBSEN, KAROLA LÖFFLER, BETTINA RHEIMS, MIRON SCHMÜCKLE

DER FOTOGRAFIERTE KÖRPER

Bettina Rheims, 9 Aôut, Paris, o.J.

Miron Schmückle bezieht sich mit seiner Serie „Hortus conclusus“ (1996) sehr deutlich auf die Serialität der Kunst seit den 1960er und 1970er Jahren sowie auf die Tradition der Kunstgeschichte. Unverkennbar geht das Bildmuster, das er hier durchspielt, auf Dürers berühmtes Bildnis mit der Distel und Darstellungen des Leibes Christi zurück. Es ist aber sein eigener schmächtiger wie androgyner Oberkörper, vor dem er mit variierter Handhaltung die symbolträchtigen Blumen präsentiert. Dabei spielt er nicht nur auf die lange Tradition der Allegorie in der bilden-den Kunst an, sondern verweist auch auf die heutige Zeichenhaftigkeit des in Szene gesetzten Körpers.

Die Kalifornierin Laura Aguilar inszeniert sich selbst in Landschaften des amerikanischen Westens. Ihre fotografi-sche Schwarz-Weiß-Ästhetik feiner tonaler Abstufungen – hier aus der Serie „Stillness“,1999 – ist einerseits der Landschafts-Tradition eines Ansel Adams und Edward Weston verpflichtet. Andererseits sind ihre Körperbilder, mit für uns nicht sichtbarem Gesicht, von einer radikalen Subjektivität, die über die Anverwandlung an die Natur an uralte mythische Dimensionen von Bildern des Weiblichen und der Nacktheit anzuknüpfen scheinen.

Dieter Appelt beginnt schon in den frühen 1960er Jahren an der Hochschule für bildende Künste in Berlin ein Studium der experimentellen Fotografie bei Heinz Hajek-Halke. Wie in der Serie „Platz der Steine“, 1991-1995, die auf eine Performance aus dem Jahr 1980 zurückgeht, ist sein eigener Körper zentrales Motiv seines gesamten

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Werkes, stellvertretender Ausdrucksträger für eine Art ritueller Wiedervereinigung des Leibes mit Stein und Erde. Die Kamera wird dabei zum Vehikel einer Zeitreise zurück in den Mythos.

Die Serie „Cowboy Code“ aus den späten 1990er Jahren von Wouter Deruytter stellt eine Untersuchung des Western-Mythos als Refugium einer Macho-Welt dar. Die Rodeo-Reiter erscheinen in rituellen Haltungen vor dem physischen Zweikampf mit der Kreatur. Wir erkennen nicht nur, dass das Leben der Showstars aus harter Arbeit besteht, sondern auch einen spezifischen „Code“ des einsamen männlichen Körpers.

Einen klassischen Code des Körpers als Ausdrucksträger inszeniert Peter Fink. Seine Fotografien des schwarzen Tänzers Charles Moore aus den 1960er Jahren fangen die expressive Dynamik des Tanzes ein und nähern den Körper über die Fotografie der Kunst klassischer Skulpturen an.

In den Diptychen von Thomas Florschuetz aus den frühen 1990er Jahren kommt eine körperlose Körperlichkeit ins Spiel. Er geht mit der Kamera ganz nah an seinen Körper und gestaltet stark vergrößerte Fragmente vor farblich variierten Hintergründen zu abstrakt anmutenden Konfigurationen. So genau wir die Haut erkennen, so deutlich wird hier, dass in der wissenschaftlich-technischen Moderne der vielfach fragmentierte Körper nicht mehr recht zur seelisch-geistigen Ganzheit des „Leibes“ werden kann.

Bill Jacobson hat in seiner Serie „Songs of sentient Beings“ (1995) die Fokussierung als elementare Eigenschaft der Fotografie zum Prinzip der Unschärfe verkehrt. Seine „Lieder für empfindsame Wesen“ lassen an die Welt der Erinnerungen und Traumbilder denken und werden nicht zuletzt zu Gegenbildern zum aktuellen Körper- und Jugendkult, indem sie eben auch die Vergänglichkeit des Körpers zum Ausdruck bringen.

„Körperfragmente“ nennt die Thüringer Künstlerin Karola Löffler ihre in extremer Nahsicht aufgenommenen großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien von Körperteilen aus dem Jahr 1994. So erscheinen das (geschlossene) Auge und Ohr wie Landschaften und wir können kaum mehr auf den ganzen Körper rückschließen. Handelt es sich um ein männliches oder weibliches Ohr?

Körper und Raum stehen bei der Serie „Chambre close“ von Bettina Rheims in einem besonderen Verhältnis. Dafür hat die französische Künstlerin in den 1990er Jahren junge Frauen auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie bereit wären, sich in Hotelzimmern in provokanten, halbnackten Posen ablichten zu lassen. In diesen, mit allen Tricks der Werbefotografie inszenierten Bildern weiblicher Körper, erweist sich die Oberfläche als das eigent-lich Sprechende in der Ökonomie des Begehrens und der Selbstdarstellung.

Laura Aguilar, 1959 im kalifornischen San Gabriel geboren, lebt in Rosemead, Kalifornien.Dieter Appelt, 1935 in Niemegk bei Potsdam geboren, lebt in Berlin.Wouter Deruytter, 1967 in Roeselare Belgien geboren, lebt in Brügge und New York.Peter Fink, 1907-1984, lebte in New York.Thomas Florschuetz, 1957 in Zwickau geboren, lebt in Berlin.Bill Jacobson, 1955 in Norwich, Connecticut, geboren, lebt in New York.Karola Löffler, 1963 in Suhl geboren, 1995 verstorben.Bettina Rheims, 1952 in Paris geboren, lebt in Paris.Miron Schmückle 1966 in Sibiu Rumänien geboren, lebt in Kiel.

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03. ETAGE

GOTTFRIED HELNWEIN

FACES, 1981-1992

Gottfried Helnwein, Michael Jackson, Aus der Serie: Faces, 1988

Weil dieses Element so dominant ist, weil Helnweins Absicht, die Menschen über sich selbst, ihren Beruf, über ihr Geprägtsein von diesem Beruf und seinen Problemen erzählen zu lassen, so klar in allen Porträts zum Ausdruck kommt, sind sie alle keine Abbilder mehr, sondern Helnwein-Bilder, wird es mit einem Male irrelevant, ob sie gemalt oder fotografiert sind.

Gottfried Helnweins Blick auf die Wirklichkeit war stets ein analytischer, kritischer, ja bissiger. Nicht umsonst kennt seine Kunst nur Anhänger oder Gegner, aber keine Indifferenz. In der gleichen Weise trat er in der Serie „Faces“ auch den prominenten Vertretern unserer Gesellschaft gegenüber, die überwiegend aus dem kulturellen Feld, der Literatur, der Kunst, der Musik und des Films stammen. Seine Bilder entlarven, obwohl sie nicht voyeu-ristisch sind. Aber es gelang ihm ganz offensichtlich, die Porträtierten dazu zu bringen, etwas von sich selbst preiszugeben.

Angesichts der Porträts von Gottfried Helnwein erleben wir wieder den Schock des Neuartigen, einer bisher noch nicht dagewesenen Sicht auf das Gegenüber. Ich habe zahlreiche Menschen beobachtet, die erstmals mit diesen Porträts konfrontiert wurden, und immer wieder Überraschung, intensives Empfinden und Faszination erlebt. Ihm geht es um den Menschen, um die Nähe zu den Personen, die ihre Selbstporträts als visuellen Diskurs mit ihrer Zeit am Beispiel ihrer eigenen Person sehen, oder mit Joel Peter Witkin, der die Verletzungen aufspürt, denen der

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Mensch begegnet ist.

Gottfried Helnwein verfolgt mit seinen Selbstporträts, seinen Bandagierungen und Verwundungen, ähnliche Themen und sucht auch in seinen „Faces“ nicht die Oberfläche, sondern die Auseinandersetzung mit dem Indivi-duum. Wir begegnen in dieser Serie Menschen, die wir unzählige Male in Bildern gesehen haben, und meinen doch, ihnen hier zum ersten Mal zu begegnen, sie zumindest noch nie in dieser Nähe erlebt zu haben.

Da finden wir Andy Warhol, den Selbstdarsteller, der vor seinem Tod ungezählte „letzte Bilder“ von sich hat schießen lassen, in einer Pose, die wahrhaftig an ein Endstadium denken lässt; William S. Burroughs blickt mal gefährlich lauernd, mal wie sein eigenes Opfer hinter der vorgehaltenen Pistole hervor; Roland Topor schaut rätselhaft mit riesengroßen Augen gen Himmel und Lech Walesa, rechts angeschnitten, passt in seiner fetten, selbstzufriedenen Aufgedunsenheit nicht mehr ins Bild.

Diese Beschreibungen ließen sich beliebig fortsetzten. Jedes der gezeigten Gesichter enthüllt etwas von dem Menschen, zu dem es gehört. Gottfried Helnwein gelang es, Eigenheiten der Personen und mit ihrem Namen verbundene Klischees in ihren Gesichtern aufzuspüren und sichtbar zu machen.

Wenn man angesichts Keith Richards‘ dramatischem Hell-Dunkel bereits meint, die Gitarre zu hören, dann wird deutlich, wie sehr Gottfried Helnwein in seinen Porträts charakterisiert und analysiert. Dies ist sein - Helnweins - Teil, der in diesen „Faces“ steckt und die Gesichter prägt.

Jedoch hat die Fotografie vor der Malerei die Eigenart, dass sie Authentizität verströmt. Gerade wenn eine solche expressive, dramatische Fotografie mit technischer Perfektion verbunden ist, wenn man glaubt, Andy Warhol die Haare aus dem Gesicht streichen zu müssen, wenn dies alles fast dreidimensional greifbar ist, dann kommt zur Expressivität das Dokumentarische, das der Fotografie stets anhängende Wahrhaftige doch wieder zur Hintertüre herein. Dann wird Fotografie spannend. Denn selbst wo sie Fiktion ist, ist sie nie nur Fiktion, lässt sich die alte Idee des „in unnachahmlicher Treue“ nicht ganz abschütteln, baut sich das Spannungsfeld zwischen „Dokument und Erfindung“ stets wieder von neuem auf.

Gerade in der Porträtfotografie wird dies immer wieder deutlich. Sie ist nicht nur Darstellung, sie ist gleichzeitig Selbstdarstellung. So gibt sie nicht nur das Bild wieder, das der Dargestellte von sich selbst hat, sondern auch das, was der Fotografierende von ihm als Person und als Vertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe hat.

Gottfried Helnwein, 1948 in Wien geboren, lebt in Zürich, bei Köln und in Irland.

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04. ETAGE

LYNNE COHEN, JAQUELINE HASSINK, MATTHIAS HOCH

MENSCHENLEER

Lynne Cohen, Ohne Titel, 1971-2004

Die Künstler auf dieser Etage verbindet ein Interesse an der Darstellung von Innenräumen, die menschenleer sind. „The Table of Power“ von Jacqueline Hassink ist eine fotografische Anthologie der Vorstandszimmer der größeren europäischen Unternehmen. Anhand der Forbes-Liste des Jahres 1993 arbeitet die Künstlerin von Mitte 1993 bis Mitte 1995 an diesem Projekt. Ein später zu einer Publikation verarbeitetes Tagebuch datiert die Aufnahmen und gibt Auskunft über die Herkunft der Tische, die Sitzordnung, die Geschichte der Raumausstattung und die Frage, ob ihr während der Arbeit Kaffee angeboten wurde. Keine triviale Frage, wenn man bedenkt, dass ihr in einer ganzen Reihe von Fällen kein Zugang zum Allerheiligsten gewährt wurde. Wenn Jacqueline Hassink die Mächtigen selbst nicht zeigt, macht sie sowohl auf die strukturelle Seite von Macht aufmerksam als auch auf die Leere als Element jeder Darstellung von Macht. Vor allem aber stellt sic die fundamentale Bedeutung des Tisches in unserer Kultur heraus. Am Tisch lernen wir zu essen, zu sprechen und gesellschaftliche Hierarchien anzuerkennen.

Matthias Hochs Fotografien von normalerweise unserem Blick entzogenen funktionalen Räumen aus der Serie „Netzwerk“ (1996/97) erscheinen wie eine präzisionistische Version einer Fritz Langschen Metropolis-Unterwelt in Farbe. Die technischen Anlagen wie Schaltschränke oder Verdrahtungskonstuktionen, die der Künstler fotografiert hat, sind aber keine simple Anklage gegen das kalte Immergleiche unserer Zweckarchitekt und ihrer maschinellen Infrastruktur. Entscheidend ist wohl der Gestus des Anhaltens in den Räumen der Vernetzung, der Blick des

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Flaneurs, der die soziale Belebung ausblendet und die technischen Funktionen und Oberflächen – als seinen sie Skulpturen – sprechen sieht.

Die individuellen Rahmen der Schwarzweiß-Fotografien von Lynne Cohen sind integraler Bestandteil ihrer Werke. Im Fall der Interieurs von Schwimmbädern, Foyers und Lobbys, die hier zu sehen sind, bringen diese Rahmen aus Kunststoff etwas von der im Foto dargestellten Stofflichkeit in unseren Raum der Betrachtung. Auffallend an dieser Auswahl sind die frontale Perspektive und vertikale Lichtdynamik sowie das Stuhl-Motiv. Cohen nähert sich mit diesen Arbeiten dem Thema Wohnen. Da aber das malerisch bildhafte Auge der Künstlerin die Funktion in ästhetische Form überführt, erscheinen die banalen Dinge, die ins Visier genommen sind, zunehmend unheimlich.

Lynne Cohen, 1944 in Racine, Wisconsin geboren, lebt in Montreal. Kanada.Jacqueline Hassink, 1966 im niederländischen Enschede geboren, lebt in New York.Matthias Hoch, 1958 in Radebeul bei Dresden geboren, lebt in Leipzig.

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07. ETAGE

ROBERT LONGO

MEN IN THE CITIES, 1978-1981/2005

Robert Longo, Ohne Titel, Aus der Serie: Men in the Cities, 1979-1981/2005

Das Werk des 1953 in New York geborenen Künstlers Robert Longo ist stark vom Zeichnerischen und Skulpturalen geprägt. Gleichzeitig ist es eminent fotografisch. Longos auf dem Dach seines Ateliers in Brooklyn aufgenommene Pathosformeln der Männer und Frauen in den Städten lassen sich als Sinnbilder der unsichtbaren Entfremdungs-macht der Großstadt lesen.

Aufschlussreich ist, dass die ursprüngliche Idee für diese Serie, mit der Longo in den 1980er Jahren berühmt wurde, von der Schlussszene in Rainer Werner Fassbinders Schwarz-Weiß-Film „Der amerikanische Soldat“ (1970) stammte. Am Ende des Films wird der Protagonist, ein „contract killer“ in Anzug und Krawatte, erschossen. In Zeitlupe ist zu sehen wie er, sich vor Schmerzen krümmend, in der theatralischen Manier der amerikanischen Filme der Schwarzen Serie, zu Boden sinkt. So denkt man bei den „Men in the Cites“ auch an Robert Capas ikonisches Foto des fallenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg. Hatte Longo in den späten 1970er Jahren nach den fotografischen Schnappschüssen auf den Dächern Brooklyns überlebensgroße Zeichnungen gemacht, kehrt er mit der hier gezeigten Version wieder zu den fotografischen Vorlagen zurück, auch wenn die IRIS-Prints die stoffliche und haptische Anmutung von Zeichnungen betonen.

Die Figuren bei Longo fallen jedoch nicht. Ihre konvulsivischen Bewegungen sind erstarrt als seien sie Skulpturen. In der Serie spiegeln sich auch Elemente der New Yorker „New Wave“. Diese neue Subkultur jener Zeit war eine

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aufregende Mischung aus Tanz, Graffiti, Mode, Kunst, Clubs, Musik und Entertainment, das, was heute mit einem Wort als „Style“ bezeichnet wird. In den Worten von Grace Jones, jener rätselhaften Stil-Ikone der Zeit, wäre die jeweilige Figur dann ein „Slave to the Rhythm“.

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08. ETAGE

CLEGG & GUTTMANN, JÜRGEN KLAUKE, CHEMA MADOZ, LAURIE SIMMONS

DIE DINGE DES ALLTAGS

Laurie Simmons, Lying Objects, 1992

Scheinbare Wirklichkeiten, wie wir sie bei den Surrealisten des beginnenden 20. Jh. entdecken, finden sich in den Fotografien des spanischen Fotokünstlers Chema Madoz wieder. Geht der Betrachter an ihnen vorbei und wirft nur einen flüchtigen Blick auf die Aufnahmen, nimmt er zunächst lediglich den abgebildeten Gegen-stand, einen Tisch, eine Waage, eine Kerze oder einen Koffer wahr. Erst bei wiederholter Betrachtung entsteht die Irritation: Benötigt der barocke Tisch wirklich ein Fußbad? Kann man die Kirschen eines Paares gegeneinander aufwiegen? Dinge werden von Menschen erfunden, haben einen Sinn, erfüllen einen bestimmten Zweck. Doch Madoz nimmt darauf keine Rücksicht. Der Betrachter ist gefangen im fantastischen Irr-Sinn der Alltagsgegenstände, er spürt die Ironie und den Witz, mit dem der Künstler ans Werk geht und die Dinge der Welt in neue Kontexte stellt.

Die Dinge des Alltags waren schon Gegenstand der niederländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts. Das amerikanische Künstlerduo Clegg & Guttmann konzentriert sich in seinen Arbeiten, wie auch ihre niederländi-schen Vorbilder, thematisch auf das Portrait, das Stillleben und die Landschaft. Die Entwicklung zur heutigen Wohlstandsgesellschaft hat die Bildsprache jedoch stark verändert. Die fotografierten Stillleben mit Dingen aus dem 20. Jahrhundert wirken nicht natürlich. Das frisch erlegte Tier des historischen Jagdstilllebens wird von ihnen in ein in Plastik eingeschweißtes Stück Fleisch übersetzt und durch künstliches Licht in Szene gesetzt.Das Künstlerduo ist in der Sammlung mit der Arbeit „Museum for the Workplace“ ein weiteres Mal vertreten. In Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der damaligen DG Bank wurde diese 1995 realisiert.

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Laurie Simmons setzt sich mit der Dingwelt auseinander. Die Objekte ihrer Arbeiten stehen im Rampenlicht, können sprechen („Talking Objects“), laufen („Walking Objects“) oder liegen („Lying Objects“) und haben ein Eigenleben entwickelt. Inspiriert zu dieser konzeptuellen Arbeit wurde Simmons durch die Werbewelt der Nach-kriegszeit, in der sich beworbene Artikel auf Beinen bewegten und tanzten. Mit ihren Arbeiten hinterfragt sie die Beziehung zwischen Ding und Mensch und wie beide zueinander finden. Auf den ersten Blick scheint sie durch die Vermischung der Ding- und Menschenwelt zu provozieren. Dennoch kann man nicht abstreiten, dass der Mensch als Konsument sich Dinge aneignet, die seiner Persönlichkeit entsprechen, doch sind diese bloße Accessoires oder haucht der Mensch dem Ding Leben ein? Die Künstlerin bietet uns eine philosophische und persönliche Reflekti-on über das Ding als solches an.

Jürgen Klauke greift Tagesereignisse, Gedanken, Erlebnisse und Assoziationen auf und entwickelt sie weiter. So bringt er den Hut und den Spazierstock mit „Sonntagsneurosen“ in Verbindung. Aus der Performancekunst der 1970er Jahre kommend, sind seine Fotoarbeiten zunächst als Dokumentation seiner Inszenierungen zusehen. Die Einzelbilder seiner Serien sind jedoch bis ins Detail durchdacht und komponiert, die Spontanität der frühen Performancekunst ist nicht mehr festzustellen. Seine Bilderfolgen lassen vielmehr an Stills eines Kurzfilms denken.

Michael Clegg (* 1957 in Dublin) und Martin Guttmann (* 1957 in Jerusalem) leben in New York und San Francisco.Jürgen Klauke wurde 1943 in Kliding/Cochem an der Mosel geboren, lebt und arbeitet seit 1968 in Köln.Chema Madoz wurde 1958 in Madrid geboren, wo er auch heute lebt.Laurie Simmons wurde 1949 auf Long Island, New York geboren, lebt und arbeitet in New York.

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12. ETAGE

LAURENZ BERGES, KATHARINA BOSSE

DIE STIMMUNG VON ORTEN

Katharina Bosse, Ohne Titel (Düsseldorf), Aus der Serie: Von innen/von außen, 1992

Auf dieser Etage sind Werke einer Künstlerin und eines Künstlers aus der gleichen Generation dialogisch präsen-tiert. Die Arbeiten erhellen sich gegenseitig in ihren Eigenarten. Katharina Bosse kommt von der Werbefotografie, Laurenz Berges ist von der wirklichkeitsgetreuen Bildästhetik von Bernd und Hilla Becher geprägt. Bosse ist mit ihrer Serie „von innen – von außen“ (1994) vertreten, Berges mit Interieur-Aufnahmen aus Ostdeutschland (90er Jahre) und Fotografien unscheinbarer Orte in der weiteren Umgebung von Düsseldorf (späte 90er und frühe 2000er Jahre). Die Innen- und Außenräume auf den Fotografien beider sind weitgehend menschenleer.

Bei Katharina Bosse stehen halb-öffentliche Räume des Transits (etwa Zugabteile) im Mittelpunkt, die normaler-weise belebt sind. Und der Blick der Künstlerin geht in der Tat zumeist „von innen nach außen“. Bosse scheint aber eher an der Sprache der Dinge und Oberflächen als an den Räumen selbst interessiert zu sein. Sie fotografiert hauptsächlich das Dekor: den kommerziellen Kitsch der designten Atmosphäre, die an Orten der Zerstreuung (Café, Sauna etc.) durch die Ansammlung von Versatzstücken des bürgerlichen Interieurs des 19. Jahrhunderts geschaffen wird. Das immer wiederkehrende Fenstermotiv und seine Vervielfältigung in den Spiegelungen lösen die Räume dann auch wieder auf, weil der Betrachter nicht erkennen kann, was real und was gespiegelt ist. Mit Hilfe der Fotografie ist hier am Medium Inneneinrichtung gezeigt, wie Medien immer auch Stimmungen sind, in die wir uns durch sie versetzen lassen.

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Nicht nur leer, sondern im wörtlichen Sinn verlassen sind die Innenräume, die Laurenz Berges zeigt. Anfang der 90er Jahre hat er in gerade von der Roten Armee verlassenen Kasernen in Ostdeutschland fotografiert.

Einige dieser aus der Kaiserzeit bzw. dem Dritten Reich stammenden Gebäude waren besenrein gesäubert, in anderen fand der Künstler Restspuren, die noch etwas mehr von den dortigen Lebensumständen erahnen lassen. In diesen Interieurs herrscht einerseits die beklemmende Atmosphäre von Un-Orten, andererseits findet Berges dort auch poetische Momente einer Übergangszeit (das Transitorische). Zu dieser poetischen Lichtstimmung trägt auch bei, dass der Künstler sich bei diesen Aufnahmen weitgehend auf das verfügbare Tageslicht verlässt. Seine Außen-raum-Aufnahmen zeigen formal erstaunlich vielfältige Variationen eines bestimmten Typus von Bildraum, der im wesentlichen durch seine Flachheit – oft sind nur Hauswände mit Gebüsch davor zu sehen – und Ausschnitthaftig-keit gekennzeichnet ist. In der literarischen Form des Romans geht es um die Handlung, die konkreten Figuren und die Orte, sie sind das eigentlich Sprechende, viel mehr als das direkt Gesagte. In den Werkgruppen beider Künstler ist die Atmosphäre oder die Stimmung das Wesentliche. Bei Berges ist es vor allem die formale Strenge, welche bei aller Sprödigkeit der Darstellungen und dem durchgehenden „Mangel“ an Sehenswürdigkeiten eine zugleich rätselhafte wie poetische Spannung erzeugt.

Laurenz Berges, 1966 in Cloppenburg geboren, lebt in Düsseldorf und Cloppenburg.Katharina Bosse, 1968 in Finnland, geboren und in Süddeutschland aufgewachsen, lebt in New York und Bielefeld.

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13. ETAGE

EMANUEL RAAB

BLICK - WECHSEL

Emanuel Raab, Blick-Wechsel #6, Aus der Serie: Blick - Wechsel, 1997

Emanuel Raab bevorzugt nach eigenen Angaben die analoge Fotografie, da sie seinen persönlichen Blick am direktesten wiedergibt. Er ist als Künstler immer auf der Suche nach etwas Neuem, Spannendem - eben nach Blick-Wechseln. Emanuel Raabs Arbeit „Abbildung #2“ zeigt eine androgyne nackte Person vor einem strahlend blauen Hinter-grund. Es scheint eine Schwimmerin zu sein. Durch die extreme Unschärfe gelingt es dem Künstler die Körperlich-keit der Figur nahezu aufzuheben und ein auratisches Wesen entstehen zu lassen. Hier zeigt sich, dass Emanuel Raab in seinen frühen Arbeiten nach Schnittstellen zu anderen Gattungen der Kunst sucht. So erinnert diese Fotografie an die Gemälde von Gerhard Richter, der sich der Grenze zwischen Fotografie und Malerei ebenfalls nähert. Seine Malerei, die stets nach Vorbild eines Lichtbildes entsteht, mutet sehr fotorealistisch an. In der Serie „Blick – Wechsel“ bedient sich Raab einer besonderen Entwicklungstechnik der Filmstreifen. Er belichtet ein Fotopapier mit zwei unterschiedlichen Aufnahmen. Durch die beiden Bildausschnitte, die immer jeweils durch einen schwarzen Balken getrennt bleiben, entsteht eine ganz neue Bildansicht. Durch die zahlrei-chen Horizontalen und Vertikalen, die das Bild der städtischen Orte gliedern, wird dies erst bei genauerem Hinse-hen deutlich. Was den Betrachter aufgrund seiner Sehgewohnheit im ersten Moment irritiert und neugierig macht, sind die zwei Ansichten, die im neuen Bild enthalten sind.

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Auch die Natur ist bei Raab stark durch Horizontale und Vertikale gegliedert. Wir befinden uns im Unterholz des Waldes. Der „Winterwald“ erscheint zum Teil lichtbeschienen und doch undurchlässig mystisch, schon fast märchenhaft. Auffällig und ungewöhnlich für eine Landschaftsfotografie ist die Wahl des Ausschnittes, der auf keinem der Bilder einen Blick auf den Horizont zulässt.

In der Serie „Gebilde“ aus den Jahren 2007/2008 steht die Materialität von Dingen im Vordergrund, während die Funktion des Fotografierten vollkommen nebensächlich ist. Der Betrachter sieht eine Wand aus glänzendem Wellblech. Davor stapeln sich auf einem wackeligen Holztisch Töpfe und dazugehöriges Vorlegebesteck. Ein weiterer leerer Holztisch steht links daneben. Alle weiteren Details der Umgebung werden vom schwarzen Fond des Bildes verschluckt. Der Kontext der objekthaften Konstrukte tritt dabei völlig in den Hintergrund. Durch die Art und Weise der Präsentation lässt Raab die Dinge zu Skulpturen oder Installationen werden, die außerhalb von Zeit und Raum zu existieren scheinen.

Emanuel Raab, 1957 in Bautzen geboren, lebt in Wiesbaden.

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14. ETAGE

ANGELIKA PLATEN, WILHELM REINKE

KÜNSTLERPORTRÄTS

Angelika Platen, Anton Corbijn, Frankfurt, Aus der Serie: Angelika Platen Artists, 1999

Wenn Künstler Künstler porträtieren, ganz gleich in welchem Medium auch immer, dann geschieht etwas, das man in den Darstellungen menschlicher DNA veranschaulicht findet – an der Stelle, wo sich im Bild (nicht in Wirklich-keit) die zwei Stränge der Doppelhelix überschneiden. Für den porträtierenden Künstler besteht die Herausforde-rung darin, dass das Porträt die Unterschriften zweier Künstler tragen können muss. So wie sich auch die DNA- Helices nicht treffen, bleibt auch die doppelte Unterschrift reine Fiktion.

Doch wenn es jemand gelungen ist, sich dieser Fiktion wie niemand sonst zu nähern, dann ist das zweifellos Angelika Platen. Es gibt kaum einen Künstler, den sie noch nicht porträtiert hat. Jürgen Klauke hält sich eine Hand vors Gesicht, Anton Corbijn signiert gerade eines seiner Bücher, Hanne Darboven steht statuesk vor einer ihrer Serien, Marie Jo Lafontaine posiert im Profil vor dem monumentalen Foto eines Mädchens, Jeff Koons blickt grinsend in den Himmel, hinter sich eines seiner Gemälde, Sigmar Polke springt durch die Luft und von Günther Uecker sieht man nur Füße und bestrumpfte Waden auf einem kleinen Nagelhügel.

In ihren Schwarzweiß-Fotos vermeidet Platen jedes überflüssige Attribut, jede Ablenkung von den Personen, die sie mit der Kamera fixiert. Sie konzentriert sich so vollständig auf die Charakterisierung von deren Persönlichkeit, dass sich, wie auch im Porträt von Piotr Uklanski vor seiner Serie „Die Nazis“, etwas vom Wesen der Protagonisten offenbart.

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Platens Geheimnis für die allürenfreie Ungekünsteltheit ihrer Porträts: „Ich war nur die, die ihnen ins Gesicht und in die Seele schauen wollte“.

Wilhelm Reinke ist ein Multitalent. Denn er wurde nicht nur mit den Porträts prominenter Schauspieler und Künstler bekannt, sondern auch mit Familien- und Kinderbildnissen, Akten und als Loriot- Stimmenimitator. Nicht die Fotografie als Fotografie ist sein Anliegen, sondern, „die Vermittlung eines Augenblicks der Begegnung mit einem Menschen, welchem in diesem Moment meine volle Aufmerksamkeit gehört“. So ist Reinke ein klassi-scher Porträtist im besten Sinne, jemand, der den Menschen, die ihn faszinieren, in ihrer Einzigartigkeit huldigt. Für sein von kurzen, selbst geführten Interviews begleitetes Buch „Das Auge des Künstlers“ fotografierte er Anfang der neunziger Jahre Künstler wie den Architekten Julius Posener, die Regisseure Rosa von Praunheim und George Tabori oder die Schauspieler Bernhard Minetti und Heinz Rühmann. Stets fokussiert er Augen und Hände seines Gegenübers, und immer offenbaren sie sich ihm privat, jenseits der Masken und Allüren ihrer professionellen Images. Reinke vermag es, das Vertrauen zu schaffen, in dem Intimität entsteht und jener kostbare, von Voyeuris-mus befreite Raum, in dem zu sehen ist, was große Künstler ausmacht, wie es Peter Ustinov im Vorwort des Bandes formuliert: „die Unabhängigkeit ihres Geistes“.

Angelika Platen, 1942 in Heidelberg geboren, lebt in Paris, Berlin und Südfrankreich.Wilhelm Reinke, 1963 in Braunschweig geboren, lebt und arbeitet in Braunschweig und Berlin.

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15. ETAGE

JOHN CHAMBERLAIN, JOHN HILLIARD, ANDREAS MÜLLER-POHLE

BEWEGUNG

John Chamberlain, Close Blue, 1991

Der berühmte amerikanische Bildhauer John Chamberlain, bekannt für seine dynamischen Skulpturen aus sehr buntem Autoblech, hat immer auch fotografiert. 1977 beginnt er mit einer Panoramakamera zu experimentieren. Bewegung in Chamberlains Fotografien basiert auf den eigenen Bewegungen des Künstlers, sei es als Flaneur in Paris, in seiner Stadt New York oder in privaten und öffentlichen Interieurs. Im Grunde sind seine hier zu sehenden Arbeiten, die zwischen 1989 und 1991 entstanden und wie f ließende Energiespuren erscheinen, Farb- und Licht-zeichnungen – was der Wortbedeutung von Fotografie entspricht. Auch der englische Künstler John Hilliard kam ursprünglich als Bildhauer zur Fotografie. Seine zweidimensiona-len Arbeiten sind zum einen analytische Reflexionen über die Defizite und Grenzen des fotografischen Mediums, zum anderen Erkundungen seiner optischen und physischen Qualitäten. So hinterfragt Hilliard mit seinen beiden Diptychen aus den frühen achtziger Jahren, „Facade“ und „Flight of Happiness“, die fotografische Darstellbarkeit von Bewegung. Wir sehen jeweils eine Bildpaarung, in der sich eine junge Japanerin Luft zufächelt. Die eine bedient sich eines Faltfächers, dessen Dekor drei weiße Vögel im Flug zeigt – ein Verweis auf die frühen wissen-schaftlich fotografischen Bewegungsstudien von Etienne Marey und Eadweard Muybridge. Die andere junge Frau verwendet einen Spannfächer, der mit einem klassischen Gesichtsporträt einer Japanerin verziert ist. Bei beiden Arbeiten ist das eine Bild durch Mitschwenken der Kamera zustande gekommen, mit dem paradoxen Ergebnis, dass alles, was sich nicht bewegt, verschwommen erscheint. Die Pendants der jeweiligen Bilder sind mit einer fest

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stehenden Kamera aufgenommen, was dazu führte, dass, wie zu erwarten, alles Bewegte unscharf dargestellt ist. Mit dem Medium Fotografie darüber nachzudenken, was die Eigenschaften von Bildern sind, ist das Anliegen von Andreas Müller-Pohle, das ihn mit Chamberlain und Hilliard verbindet. Der Künstler ist mit seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen an einer konventionellen „realistischen“ Darstellung der Dinge nicht interessiert. Seine Fotogra-fien stellt er mit willkürlichen Kamerabewegungen und langsamen Verschlusszeiten her. Mit den dadurch entste-henden fließenden und verschwommenen Formen bringt er die Unwirklichkeit von Traumbildern ins Bild. So dreht sich seine Serie der „Perlasca Pictures“ um historische Zeit und innere psychische

Bewegtheit. Sie ist Giorgio Perlasca, einem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Retter zahlrei-cher Menschenleben, gewidmet. Die Fotografien, auf denen schemenhaft Menschen zu sehen sind, vermitteln ein Gefühl für das, was die angstvollen Blicke von Verfolgten auf der Flucht sein könnten. Müller-Pohle macht hier einen grundsätzlichen Unterschied deutlich, nämlich den zwischen dem, was ein Bild darstellt, und dem, wovon es handelt.

John Chamberlain, 1927 in Rochester, Indiana, geboren, lebt in New York und Florida.John Hilliard, 1945 in Lancaster geboren, lebt in London.Andreas Müller-Pohle, 1951 in Braunschweig geboren, lebt in Berlin.

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16. ETAGE

ANTOINE D‘AGATA, BERTRAM KOBER, JOCHEN LEMPERT, KERSTIN MATIJASEVIC, WILLIAM WEGMAN, CHRISTINA ZÜCK

TIERISCHE LEBENSWELTEN

Kerstin Matijaševic, Ohne Titel, 2000, Aus der Serie: Paradiese

Schon vor 30.000 Jahren war das Tier ein beliebtes Motiv, damals auf Höhlenwänden. Albrecht Dürers 1502 entstandenes Aquarell „Junger Feldhase“ gehört unumstritten zu den bekanntesten Bildern des Genres. Bis heute setzen sich Künstler mit der Darstellung des Tieres auseinander, wobei häufig der Umgang des Menschen mit dem Tier im Fokus steht:Im ehemaligen DDR-Schulungsraum des Lipanum in Leipzig hängt das Poster eines frei lebenden, jungen Hasen an der Wand. Die Aufnahme von Bertram Kober aus der Serie „Kulpoche“ (Zusammenführung von Kultur und Epoche) zeigt ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Als die DDR noch existierte, war das unbefugte Betreten und Übertreten der innerdeutschen Grenze für den Menschen tödlich. Für den Hasen hingegen bildete der Todes-streifen einen neuen Lebensraum. Der Hahnenkampf, wie ihn die Bilder Antoine D’Agatas einfangen, stellt auf Haiti (und anderen Ländern) ein traditionelles und nur den Männern vorbehaltenes Schauspiel dar. Genauso umstritten wie der Stierkampf und von Ritualen und komplexen Zuchtmethoden geprägt, zeigt D’Agatas Serie in ihrer bewegten Optik das ungleichmäßi-ge Verhältnis zwischen einer langen und sorgfältigen Aufzucht und dem sekundenschnellen Tod dieser Tiere.Seit den 70er Jahren sind William Wegmans bevorzugte Fotomodelle seine Weimaraner. Für die Serie „Punctuati-on“ bringt der Künstler ein ganzes Rudel so in Pose, dass die Hunde zu „Zeichen“ werden. Nach Roland Barthes, einem bedeutenden Fototheoretiker, ist eine Fotografie als ein System von Zeichen zu verstehen. Der Betrachter

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„liest“ die Zeichen innerhalb einer Fotografie und interpretiert diese. Wegman ironisiert diese Vorstellung, indem er seine Hunde in der Fotografie buchstäblich zu Zeichen, nämlich Satzzeichen, werden lässt, die grundsätzlich keine direkte Verbindung mit den Tieren haben und daher innerhalb des Bildes keine sinnvolle Interpretation zulassen. Jochen Lempert ist nicht nur Künstler, sondern auch ausgebildeter Biologe. Bei seinen Streifzügen durch die Tierwelt beschäftigt er sich mit so alltäglichen Erscheinungen wie dem Vogelzug der Gänse und dem Nestbau der Elstern. Die mit der Kamera einge-fangenen Forschungsergebnisse fasst Jochen Lempert dann beispielsweise in der Serie „Vogel in der Hand“ zusammen. In der Art eines Wissenschaftlers führt er die ver-schiedenen Vogelarten vor, wobei die Hand hier als Staffagefigur dem Betrachter die Größenverhältnisse deutlich macht.Christina Zück fotografiert Tiere nicht in ihrem natürlichen Umfeld, sondern in zoologischen Gärten. Orte, die von Menschen angelegt wurden und den natürlichen Lebensraum der Tiere simulieren. Orte, die der Mensch ursprünglich aus Forschungs-zwecken anlegte, aber auch, um einem Massenpublikum die Möglichkeit zu bieten, vor den Glasscheiben und Gitterstäben zu stehen und diese teils exotischen Lebewesen zu betrachten.Ähnliches bieten Dioramen in naturkundlichen Museen: Löwen in der Savanne, Affen im Dschungel und Nilpfer-de am Flussufer: Kerstin Matijašević fotografiert ausgestopfte Tiere in ihrem Biotop nachempfundenen, teils gemalten Kulissen. Das Lichtbild lässt dabei kaum mehr erkennen, ob es sich bei der Abbildung um ein lebendiges Tier handelt oder eine präparierte Tier-Skulptur und welche Anteile des Bildes Malerei sind.

Antoine D’Agata, 1961 in Marseille geboren, ist als Magnum-Fotograf auf der ganzen Welt unterwegs und hat derzeit keinen festen Wohnsitz.Bertram Kober wurde 1961 in Leipzig geboren, lebt und arbeitet in Berlin und Leipzig. Jochen Lempert wurde 1958 in Moers in Nordrhein-Westfalen geboren, lebt und arbeitet in Hamburg.Kerstin Matijašević wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren, lebt und arbeitet in Frankfurt.William Wegman wurde 1943 in Holyoke, USA, geboren, lebt und arbeitet in New York und Maine.Christina Zück wurde 1969 in Giessen geboren, lebt und arbeitet in Berlin.

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17. ETAGE

JITKA HANZLOVÁ

BEWOHNER, 1994-1996

Jitka Hanzlová, Ohne Titel, Aus der Serie: bewohner, 1996

Der 25teilige Fotozyklus „bewohner“ von Jitka Hanzlová beginnt mit der Ansicht eines winterlichen Stadtplatzes aus erhöhter Perspektive. Es ist in mehrerer Hinsicht bezeichnend für diese Serie, dass man erst auf den zweiten Blick erkennt, dass es sich um den Berliner Alexanderplatz handelt, denn der Fernsehturm ist durch den Hochnebel mehr zu erahnen als genau zu erkennen. Zum einen wird damit ein spezifischer Blick auf die Stadt, auf Orte eingeleitet, der mit Hilfe atmosphärischer und jahreszeitlicher Filter nach Naturbildlichkeit sucht, zum anderen geht es, darauf verweist bereits der Titel, mehr um Bewohner als um Orte, wenn eine solche Trennung überhaupt möglich ist. Dabei liegt die kulturelle und soziopolitische Symbolträchtigkeit dieses besonderen Platzes auf der Hand; Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West mag allerdings für die Künstlerin, die 1983 aus der ehemali-gen CSSR nach Deutschland kam, nicht zuletzt auch eine biographische Bedeutung haben.

Andererseits fällt bei mehreren Architekturmotiven des Zyklus auf, wie eng sie mit der Ästhetik der Becher-Schule verwandt scheinen. Insbesondere zwei Fotos, die Giebelseiten von Mehrfamilienhäusern zeigen, scheinen sich an den Häuser- und Hallen-Typologien von Hilla und Bernd Becher zu orientieren. Von der bei Hanzlová „fehlenden“ Bildparallelität der Hauswände und dem tieferen Betrachterstandort einmal abgesehen, liegt der Unterschied vor allem darin, dass die (in dem einem Fall) ins Bild ragenden Äste eines Baumes zarte Frühlingsblätter tragen. Genau solche Naturbildlichkeit blenden die Bechers gezielt aus.

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Viel weiter trägt der Vergleich dann auch nicht, denn die Farbfotografien Hanzlovás sind von einer eminent malerischen Ausprägung. Kaum einem Gemälde steht ihre Fotoserie näher als Edward Hoppers „Approaching a City“ (1946). An dem Foto des Ausflugsdampfers im Gegenlicht des Sonnenuntergangs wird Hanzlovás malerische Sicht besonders deutlich. Diese Aufnahme erinnert auch am stärksten an die Farbfotografie William Egglestons.

Gehörte die Farbe bei Eggleston eher zur Landschaft und Region, letztlich zum „Amerikanischen“, weniger zu den Figuren, ist es hier die Farbe der Dinge (Tiere, oft Hunde) und der Kleidung der „bewohner“, die im übrigen in der Mehrzahl Frauen sind. Die Farbe erscheint in diesen Bildern nicht nur als analytisches oder formales, sondern vor allem als subjektives Prinzip. Dabei sind die Menschen, die die Künstlerin nach zufälligen Begegnungen aufnimmt, wie die Dinge inszeniert, die Figuren sitzen oder stehen meistens allein in Ecken, in Nischen privater, gleichsam ortloser Räume, die aber zum Raum des Sozialen hin offen erscheinen. Verknüpfungen von innen und außen finden hauptsächlich im vom Betrachter zu füllenden Raum zwischen den Motiven statt. So endet die Serie mit dem Frontalbild einer Frau im Schnee und der aufgrund der Abfolge anthropomorphisierten verwelkenden Sonnen-blume im Blumentopf in der Zimmerecke als melancholisches wie verhalten ironisches Schlussbild. Diese Bilder sind Zeugnisse einer Suchbewegung. Diese gilt explizit den „bewohnern“, aber auch dem künstlerischen Selbst. Die räumliche Bewegung der Künstlerin durch die Stadt ist Ausdruck einer inneren, emotionalen „Bewegung“, die durch die Statuarik der dargestellten Figuren und Dinge für einen Augenblick gebannt scheint. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Die Orte in diesen Fotografien sind seltsam spurenlos. Es sind die Farben und die Kleider, die die Figuren tragen, als könnten sie (wie eine Uniform) ihre Geschichte erzählen oder verschweigen, die bewohnt werden. Die Bewohner wohnen in den Erscheinungen ihrer und unserer kollektiven Ängste und Hoffnungen.

Jitka Hanzlová, geboren 1958 in Náchod / Tschechische Republik, lebt in Essen.

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19. ETAGE

DIVERSE KÜNSTLER

OSTKREUZ - DIE STADT.VOM WERDEN UND VERGEHEN

Julian Röder, Central business district on Lagos Island, 2009

Der Berliner Bahnhof „Ostkreuz“, nachdem sich die erfolgreichste deutsche Bildagentur 1990 benannte, ist auch heute noch der hochfrequentierteste Nahverkehrsbahnhof im Osten von Berlin. Hier treffen sich Reisende und Pendler die symbolisch gesprochen aus allen Himmelsrichtungen kommen.

Die meisten der Ostkreuz-Fotografen haben sich in den letzten Jahren – in eigenem Auftrag – in alle Richtungen auf die Reise gemacht, um nach der Stadt von heute zu suchen, jener „global city“.

So wurden aus der ganzen Welt Bilder unterschiedlichster Orte zusammen getragen, die vom Werden und Verge-hen dieser Städte berichten. 2010 entstand unter eben diesem Titel „Die Stadt – Werden und Vergehen“ eine Ausstellung, in der die 18 Mitglieder von Ostkreuz eine Auswahl ihrer Arbeiten präsentierten:„Sie zeigen, wie sie als Prypjat in der Ukraine von der Natur zurückgeholt wird. Wie sie als Lagos in Nigeria unkontrollierbar ineinander verwächst, sich in den Slums von Manila zu Klumpen ballt und als Detroit in den USA aus der Mitte heraus zerfällt. Wie sie als Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten über sich hinaus-wächst und als Gaza in Palästina dem Erdboden gleichgemacht wird. Wie sie als Las Vegas ganz vom Anschein, als Auroville aus dem Ideal und als Atlantis vom Mythos lebt“ so fasst Marcus Jauer die Ansichten der Ausstellung im Katalog zusammen. Die ausgestellten Arbeiten entstammen jeweils mehrteiligen Fotostrecken. Trotz dieser Begren-

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zung und der unterschiedlichen Sichtweisen der Künstler lässt sich zusammenfassend sagen, dass sie alle dem Geist der Reportage verpflichtet bleiben, die stets bemüht ist, das Vorgefundene so objektiv wie möglich darzustellen. Zudem erinnern sie an die lange Geschichte der Großstadt als Versprechen eines besseren Lebens. In den Bildern vom Werden und Vergehen zeigt sich nicht zuletzt, dass unser Verhältnis zur Stadt von widersprüchlichen Gefühlen geprägt ist.

Sibylle Bergemann war eine der sieben Gründungsmitglieder der Agentur Ostkreuz. Mit der Gründung im Jahr der deutschen Wiedervereinigung wurde ein Zeichen für die Redefreiheit und den freien Journalismus gesetzt. Doch auch zu DDR Zeiten haben Fotografen Wege gefunden ihre Meinung bildnerisch auszudrücken. Insbesondere Sybille Bergemann, die beispielsweise den staatlichen Auftrag zur Dokumentation des Entstehungsprozesses des Marx und Engels Denkmals ausführte, schaffte es durch ihre Bildgestaltung unentdeckt regimekritische Statements abzugeben. Sie fotografierte, wie auch ihr Lehrer und Ehemann Arno Fischer und die Ostkreuz Kollegin Ute Mahler, für die Modezeitschrift „Sibylle“, die von der Staatssicherheit überwacht wurde und als visuell auffällig galt. Redaktion und Fotografen waren sich der Überwachung bewusst, doch sie beherrschten nicht nur das Schrei-ben zwischen den Zeilen, sondern auch wie man im Bild brisante Themen vermittelt. Beispielsweise widersprachen die Modelle dem offiziellen Frauenbild der DDR, indem sie nicht lächelten. Durch die Modefotografie wurde es möglich die allgegenwärtige Tristesse der DDR zu zeigen und das darin dennoch vorhandene individuelle Selbst-verständnis der Frau selbstbewusst zu transportieren und zu stärken. Die Modeszene der DDR, die in der Zeitung „Sybille“ abgebildet wurde, zeigt selbstgemachte Mode aus allem, was irgendwie nähbar war und den einheitlichen Kleidern von der Stange die Stirn bot. Mit dieser Modebewegung waren auch Auftritte und Modeperfomances verbunden. Die Kleider der Gruppe Allerleirauh waren so extravagant, dass sie vielmehr Bühnenkostüme waren als Alltagskleidung. Die Modelle verwandelten sich in märchenhafte Phantasiewesen die sich in den Fotografien Bergemanns auf den Straßen Ost-Berlins bewegen.

Sibylle Bergemann, 1941 geboren in Berlin. Gestorben 2010 ebenda.Jörg Brüggemann, 1979 in Herne geboren, lebt in Berlin. Espen Eichhöfer, 1966 in Nesbyen/Norwegen geboren, lebt in Berlin. Annette Hauschild, 1969 in Gießen geboren, lebt in Berlin. Harald Hauswald, 1954 in Radebeul geboren, lebt in Berlin. Pepa Hristova, 1977 in Sevlievo/Bulgarien geboren, lebt in Hamburg.Andrej Krementschouk, 1973 in Gorki/Russland geboren, lebt in Leipzig. Ute Mahler, 1949 in Berka geboren, lebt in Hamburg.Werner Mahler, 1950 in Boßdorf geboren, lebt in Berlin. Dawin Meckel, 1977 in Lich geboren, lebt in Berlin. Thomas Meyer, 1967 in Delmenhorst geboren, lebt in Berlin. Julian Röder, 1981 in Erfurt geboren, lebt in Berlin. Frank Schinski, 1975 in Prenzlau geboren, lebt in Hannover. Jordis Antonia Schlösser, 1967 in Göttingen geboren, lebt in Paris und Berlin. Anne Schönharting, 1973 in Meißen geboren, lebt in Berlin. Linn Schröder, 1977 in Hamburg geboren, lebt in Hamburg und Berlin. Heinrich Völkel, 1974 in Moskau/Russland geboren, lebt in Barcelona und Berlin. Maurice Weiss, 1964 in Perpignan geboren, lebt in Berlin.

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20. ETAGE

OLAFUR ELIASSON, TIINA ITKONEN, PER BAK JENSEN, METTE TRONVOLL

NORDLAND

Mette Tronvoll, Isortoq Unartoq #14, 1999

Die Liste der Künstler, die unter dem Etikett „Helsinki School“ in der DZ BANK Kunstsammlung vertreten sind, ist lang. Von den auf dieser Etage versammelten skandinavischen Künstlern, die nordische Landschaften fotogra-fieren, wird nur Itkonen zu dieser Kunstbewegung um die University of Art and Design in Helsinki, Finnland, gezählt.

Tiina Itkonens Faszination für den hohen Norden Grönlands besteht schon seit Anfang der 1990er Jahre. Für ihre Eisbergbilder (2007), mit denen sie hier vertreten ist, drängt sich der Begriff „icescapes“ auf. Ein Jahrhundert zuvor haben Maler und Fotografen die landschaftliche Schönheit und Erhabenheit, die überraschend vielfältigen Formen und Farben von Eis und Schnee in den Alpen gefunden. Nicht nur aus diesen ästhetischen Gründen ist der Eisberg ein sehr nahe liegendes, um nicht zu sagen symbolisches Motiv für die Fotografie. Hat man ihr doch immer vorgeworfen alles in Bewegungslosigkeit und Zeitlosigkeit „einzufrieren“. Und man vergisst leicht, dass sich 90% des Eisbergs unter Wasser befinden: Fotografie macht sichtbar, handelt aber immer auch von Unsichtbarem.

Mette Tronvoll ist hier mit Landschaftsdarstellungen aus ihrer Serie Inlandice (1999) vertreten. Mit dem Titel verweist sie auf ein zentrales geologisches Faktum Grönlands, der größten und eisreichsten Insel der Erde. Tronvolls Interesse am hohen Norden gilt aber ebenso den Menschen. So befindet sich in der DZ BANK Kunstsammlung auch eine Porträtserie Tronvolls von Grönländern im Wasser einer heißen Quelle. In ihren eher dokumentarischen

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Landschaften erscheint Eis gerade auch als geschmolzenes Wasser. Sie betont die „fließenden“ Übergänge. In ihren Gletschern scheinen „lebendige“ Formen von Tieren oder Menschen auf.

Per Bak Jensen ist Norweger. Norway heißt seine 24-teilige Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Jahr 1994, die auf den ersten Blick aussehen, als seien sie im 19. Jahrhundert entstanden. Doch Wald und Feld sowie Landwirtschaft und Industrie bilden zusammen ein zeitgenössisches Porträt dieses Landes, der Heimat des Künst-lers. Doch bei aller Poesie und Schönheit der Landschaften und trotz der Tendenz zum Dokumentarischen zeugt das sehr kleine Format nicht nur von der Frühgeschichte der Fotografie, sondern auch von einer stark subjektiven Annäherung an das Thema, als seien es Traum- bzw. Erinnerungsbilder einer verlorenen Zeit.

Der dänische Künstler Olafur Eliasson stammt aus Island. Er arbeitet bei seinen großen Arbeiten im öffentlichen Raum wie zuletzt den künstlichen Wasserfällen in New York meistens mit den Elementen. Alljährlich macht er eine Wanderung durch Island. Daher stammen die hier gezeigten Arbeiten seiner Iceland Series. Als Schatten ist der Fotograf im Bild und betont so die Weite der Landschaft sowie die Tatsache, dass ein Jemand sie aufgenommen hat und das Bild präsentiert.

Insbesondere die Arbeiten von Jensen, aber letztlich alle auf dieser Etage erinnern an einen mythischen Norden, wie wir ihn schon von den Werken des schwedischen Dichters Henrik Ibsen und den Filmen des 20. Jahrhunderts seines Landsmanns Ingmar Bergmann über die Bilder des norwegischen Malers Edvard Munch bis zu denen des zeitgenössischen finnischen Filmemachers Aki Kaurismäki kennen.

Olafur Eliasson, 1967 in Kopenhagen geboren, lebt in New York und Berlin.Tiina Itkonen, 1968 in Finnland geboren, lebt in Helsinki.Per Bak Jensen, 1949 in Kopenhagen geboren, lebt in Kopenhagen.Mette Tronvoll, 1965 im norwegischen Trondheim geboren, lebt in New York.

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21. ETAGE

STEPHEN SHORE

UNCOMMON PLACES

Stephen Shore, Merced River, Yosemite Nat. Park, California, August 13, 1979

Auf dieser Etage sind Beispiele der wesentlichen Etappen des künstlerischen Schaffens des aus New York stammen-den Stephen Shore (*1947) versammelt. Diese Fotografien gehören zweifellos zu den Highlights der Sammlung. Shore und William Eggleston haben maßgeblich dazu beigetragen, die Farbfotografie in den siebziger Jahren kunst-würdig zu machen. Für Paul Strand und Walker Evans, denen Shore – längst selber ein Klassiker der Fotografiege-schichte wie jene vor ihm - viel verdankt, war Farbfotografie noch „vulgär“. Das Besondere des Lichts im Verhältnis zur Farbe und ein starker Sinn für die Integrität des Gegenstands rücken Shore dann auch in die Nähe eines anderen Klassikers der amerikanischen Kunst, nämlich des Malers Edward Hopper.

Der New Yorker Shore entdeckt in den siebziger Jahren den nordamerikanischen Kontinent, und in den achtziger Jahren insbesondere die Landschaften des amerikanischen Südwestens. Er bewegt sich wie ein Tourist im eigenen Land. Die soziale Wirklichkeit kommt bei ihm nur indirekt ins Bild. Seine Straßenecken, Passanten, Häuserfron-ten, „main streets“ und einsame Telefonzellen sind einerseits absolut gewöhnlich. Das immer ganz besondere Licht und eine zum Teil dramatische Komposition, bei denen die Schatten eine wichtige Rolle spielen, machen anderer-seits jedes Bild von Shore zu einer Entdeckung des Ungewöhnlichen, ja Unheimlichen im Banalen. Er ist eher auf der Suche nach der, wenn auch prekären, Identität des Bildes als nach der vordergründigen „Realität“.

So bekommt die Aufnahme der Holden Street in North Adams, Massachusetts aus dem Jahr 1974, die eine virtuel-

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le Passage vom Dunkeln ins Licht zeigt, die metaphysische Qualität eines Sinnbilds. Sowohl die Passanten, die in „small town America“ auf das Grün der Fußgängerampel warten, als auch die Menschen an dem See im Yosemite Nationalpark sehen aus, als seien sie gerade auf einem fremden Planeten gelandet. Shores Bilder sind geprägt von einer Spannung zwischen Bewegung und Konzentration; sein Blick sieht quasi die Stille zwischen Mensch und Ding.

Dies lässt sich auch noch von den Yucatan-Bildern aus Mexiko und den Schwarzweißfotografien aus Luzzara in der Po-Ebene (alle aus den neunziger Jahren) sagen. Sind erstere indirekt auf Walker Evans bezogen und zeigen unter anderem, dass diese Art von Fotografie immer auch ihren Gegenstand nobilitiert, versteht Shore seine Italien-Bilder als direkte Bezugnahme auf Strands in den fünfziger Jahren publiziertes Fotobuch „Un Paese“. Die Kleinstadt Luzzara erscheint dort als Mikrokosmos einer ganzen (verschwindenden) Kultur.

Insgesamt könnte man Stephen Shores zugleich sezierenden und distanzierten Blick auf die Formel bringen: Je näher man einen Ort anschaut, desto ferner schaut er zurück.

Stephen Shore, geboren 1947 in New York, lebt in New York.

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22. ETAGE

VIRXILIO VIEITEZ, WOLFGANG TILLMANS

FAMILIENBILDER

Virxilio Vieitez, Ohne Titel (Familienfeier), Aus der Serie: Album, o.J.

Im Zuge der zunehmenden Erforschung regionaler Fotografiegeschichte in den letzten Jahrzehnten wurde auch das Werk von Virxilio Vieitez entdeckt. Es entstand im ländlichen Galizien der fünfziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Seit jeher eine der ärmsten Regionen Europas, sind diese Jahrzehnte von besonders hohen Auswande-rungswellen geprägt. Fließendes Wasser und Fotoapparate, Radio und Auto gehören noch nicht zum Allgemeingut. Als Sohn armer Bauern arbeitet Virxilio schon als Jugendlicher als Bauarbeiter. Im Alter von 18 Jahren beginnt er in den Pyrenäen Landschaften und Arbeitskollegen zu fotografieren, denen er später die Porträts verkauft. Nach einigen Lehrjahren bei etablierten kommerziellen Fotografen arbeitet er selbst in diesem Beruf und gelegentlich als Fotojournalist in der Region seines Geburtsortes Soutelo de Montes.Der Straßenkreuzer des Rückkehrers auf der Dorfstraße, die Ziege und das Sonntagskleid sind einerseits Doku-mente einer Ökonomie der Emigration. Man möchte den Verwandten in Caracas oder San Francisco zeigen, dass man das von ihnen erhaltene Geld richtig verwendet hat. Andererseits sind es vor allem solche Motive, die Vieitez in die Nähe großer Fotografen wie etwa Richard Avedon oder Diane Arbus rücken. Sein Werk, das in erster Linie ein historisches Gesamtporträt einer bestimmten Zeit und eines Raums darstellt, macht aber gerade auf eine aktuelle Thematik aufmerksam: die Konstruktion von Wirklichkeit. Wie sehr das, was wir Realität nennen, etwas Gemachtes ist.

Seit 1990 erschienen Fotos von Wolfgang Tillmans in führenden Mode- und Musikzeitschriften und werden in

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Museen und Galerien in Europa und den USA ausgestellt. Zeitlich und sozial liegen offensichtlich Welten zwischen den schwarzweißen Auftragsarbeiten von Vieitez und den nur vermeintlich kunstlosen Farbaufnahmen seiner Freunde, Umgebung und Generation in jungen Jahren von Tillmans. Sind hier vor allem Porträts von Paaren, Gruppen und Einzelnen zu sehen, ist Tillmans insbesondere für die installationsartige Präsentationsform seiner Arbeiten berühmt geworden, bei der er alle möglichen Genres (auch Stillleben, Landschaften und „gefundenes“ Material), Formate und fotografische Techniken mischt. So ist eben heute auch die Grenze zwischen Kunstfotogra-fie und Gebrauchsfotografie kaum mehr wirksam. Tillmans war Teil dieser popkulturellen Jugendszene der westlichen Metropolen der neunziger Jahre, die im Schatten der wirtschaftlichen Rezession und der Auflösung aller Grenzen auf Identitätssuche war. Diese kreist vor allem um den Körper und seine sprechenden Hüllen. In diesem Sinn präsentiert Tillmans hier deren „Familien“-Album. Das nächtliche Foto der verknoteten Jungmänner ist bezeichnenderweise auf einem Kinderspielplatz aufgenommen. Die Leute bei Tillmans haben quasi immer Sonn-tagskleider an. Bei Vieitez geht es zwar auch um die Vorstellungen, welche die Dargestellten von sich und ihrem eigenen Bild in sich tragen, aber ein subjektiver Anteil an den Bildern, der bei Tillmans entscheidend ist, bleibt bei ihm unsichtbar. Bezeugen die Bilder des galizischen Dorffotografen noch den Glauben an die Objektivität der Fotografie, ist dieser Glaube bei dem urbanen Wanderer zwischen den Welten gerade in Frage gestellt. Die Bilder von Wolfgang Tillmans bezeugen viel mehr unseren Glauben, dass Fotografien (Medien) in gewissem Sinn unsere Wirklichkeit SIND. So gesehen erweist sich Vieitez´ Foto der alten Bäuerin mit dem Radio als Familienersatz als seltsam prophetisch.

Virxilio Vieitez wurde 1930 in dem Dorf Soutelo de Montes zwischen Pontevedra und Ourense geboren. Vom Centro de Estudos Fotograficos der Fundación Caixa Galicia in Vigo wurde 1998 ein „Album“ seiner Arbeiten herausgegeben.Wolfgang Tillmans wurde 1968 in Remscheid geboren. In den neunziger Jahren lebte er in London und New York. Seit kurzem lehrt er Interdisziplinäre Kunst an der Frankfurter Städelschule.

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23. ETAGE

WALTER NIEDERMAYR

DIE BLEICHEN BERGE

Walter Niedermeyer, Die bleichen Berge, 1992/94

Das Thema Berge/Alpen besitzt eine erstaunliche Präsenz in der Gegenwartskunst, wobei dem Medium Fotografie seit den achtziger Jahren eine virulente Position zukommt. Die Komplexität dieser Thematik lässt sich dabei nicht nur an den sehr divergierenden künstlerischen Haltungen und Positionen erkennen, sondern auch an den speziellen Verfahrensweisen und Methoden.

Der Südtiroler Künstler Walter Niedermayr arbeitet seit 1989/90 am Dolomiten-Projekt „Die bleichen Berge“. Der Gesamttitel nimmt Bezug auf eine Südtiroler Sage, welche die Entstehung der farblichen Charakteristika der Dolomiten (eben ihre bleiche, fahle Erscheinung) erzählt, während die Titel der verschiedenen Tableaus sich auf geographische Bezeichnungen der Dolomiten beziehen. Zugleich sind „Die bleichen Berge“ ein thematischer Verweis auf die touristische Industrialisierung der Alpenwelt mit all ihren verheerenden ökologischen Folgen. So wurde im Sommer 1995 erstmals ernsthaft die Sperrung der Dolomitener Alpenstraße in Südtirol erwogen. Dem Künstler geht es allerdings nicht um eine unmittelbare ökologisch-politische Kritik, sondern um eine subtile Wahrnehmungsarbeit in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen und Befindlichkeiten in dieser Region.

Realisiert wird das als ’Work in Progress’ beabsichtigte Projekt in Form von Sequenzen und Tableaus, mit denen Niedermayr eine differenziertere Bildaussage zu realisieren vermag als mit Einzelbildern. Dabei lassen sich mehrere Bild- und Realitätsebenen herausfiltern: die Beziehung zwischen Bild und referierter Wirklichkeit; die Bildwirk-

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lichkeit der einzelnen Fotografien; die Bezüge der Bilder zueinander in Sequenzen sowie die Form der Vernetzung dieser Sequenzen zu fotografischen Tableaus. Meist wird ein Panorama konstruiert, in dem allerdings bei genauem Hinsehen die Bildanschlüsse verschoben, die Nahtstellen versetzt, die Perspektiven (teilweise) unmerklich verrückt sind.

Die so bewirkten pikturalen „Verletzungen“ des Panoramas entsprechen den Verletzungen der alpinen Landschaft selbst: ihren durch technische Eingriffe und skrupellose Nutzung zugefügten Rissen und Aufwerfungen, die en detail zu studieren die großformatigen Abzüge uns einladen. Michel Guerrin bemerkt zu Recht, dass man die „bleichen Berge“ wie eine magische Aufführung, sanft und erschreckend zugleich wahrnehme. Dem Künstler geht es eben nicht um die Vermittlung einer bildexternen Wahrheit, sondern um die Intensivierung des Sehens.

Auch die spezifische Farbästhetik der „bleichen Berge“ korrespondiert insofern mit den genannten Bauprinzipien, als sie unsere klischeebesetzte Wahrnehmung der Alpenwelt in ein neues - anderes - Licht rückt: Nicht eine vergan-gene und verlogene Schönheit wollen diese Bilder vorzeigen - und nicht als schön wollen sie selbst angesehen werden -, sondern sie möchten, im Gegenteil, das Verschwinden der Schönheit in dieser einstigen Naturwelt sichtbar machen. Das Dolomiten-Projekt von Walter Niedermayr macht damit auch unser Wahrnehmen sichtbar und die Notwendigkeit, es immer wieder auf seine Subtilität und Differenziertheit hin zu reflektieren. Es themati-siert aber auch die Frage nach der Sichtbarkeit dieser alpinen Wirklichkeit selbst. Immer wieder geht es in den „bleichen Bergen“ also um Blicke, um Erblickbarkeit und um Blickrelationen, die im Akt der Wahrnehmung als montane Dispositve erkennbar werden. Wenn wir Fotografien als eine Form der Materialisierung von Blicken beschreiben, können wir im Dolomiten-Projekt eine jahrzehntelange (autobiographische) Seherfahrung von Niedermayr erblicken, die im Spannungsfeld von mythischer Unvergänglichkeit und radikaler Transformation eingebettet ist. „Die bleichen Berge“ können so auch als eine visuelle Trauerarbeit über das Verschwinden von Blicken gesehen werden.

Carl Aigner

Walter Niedermayr wurde 1952 in Bozen geboren, wo er bis heute lebt und arbeitet.

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24. ETAGE

LEWIS KOCH, EMANUEL RAAB

HEIMAT

Lewis Koch, 8617.1, Madison, Wisconsin, USA (mailboxes and tree), 1986

In den Motiven sind sich der deutsche Künstler Emanuel Raab und der Amerikaner Lewis Koch ähnlich. Bei der Serie der wie verwaschen erscheinenden Farbfotografien von Raab aus den neunziger Jahren ist es das Nicht-Städti-sche und Austauschbare seiner Aufnahmen von Wohnsiedlungen, welche als erstes ins Auge fallen. Bei den schwarzweißen Einzelaufnahmen von Lewis Koch aus den achtziger Jahren sind zwar die Orte (zum Großteil in Wisconsin, aber auch in Paris und Südschweden) genannt, der Künstler scheint aber eher an den Dingen als den Orten interessiert zu sein. Man kann bei seinen in der Tradition des „fine print“ stehenden Schwarzweißfotografien von einer regelrechten Dingmagie sprechen. Diese zeigt sich in den durchweg dunkel gehaltenen und meist ohne Blitz gemachten Aufnahmen im Allgemeinen an der an den expressionistischen Film erinnernden Lichtregie und im Besonderen an dem Bild der Birke, die ein Auge zu haben scheint: Die Dinge schauen zurück. Die vorwiegend nächtlichen Orte erwecken den Eindruck des Kleinstädtischen. Selbst das Bild des Polizisten vor der Pariser Nationalversammlung vermittelt nichts von der Urbanität der französischen Metropole. Kochs Bilder sind Stim-mungsbilder wie die des amerikanischen Malers Edward Hopper, das Foto des „einsamen“ Hauses im Zwielicht ist ein klassisches Hopper-Motiv.

Wo bei Koch über die poetisierten Dinge die Orte zum Ereignis werden, herrscht in Raabs Bildern der äußeren Haut von Wohnsiedlungen eine alltägliche Ereignislosigkeit vor. Diese kommt beispielhaft in der Nahaufnahme des leeren Aschenbechers auf der karierten roten Tischdecke zum Ausdruck.

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Obwohl der Blick des Künstlers gelegentlich auch in das Innenleben der Vorstädte vordringt, findet er auch dort vor allem eine Art ortlose Einsamkeit. „heimat.de“ lautet der Titel der Bilder-Serie von Emanuel Raab, aus der die hier gezeigten Arbeiten stammen. Die einzelnen Orte werden nicht benannt – sie bleiben anonym. Daher entspricht die Form der Serie dem Gegenstand der Betrachtung. Nicht zuletzt an den vielen Grenz-Motiven (Vorhänge, Zäune, Glasscheiben, Lärmschutzwände) wird dann auch deutlich, dass dieses Milieu nicht die Heimat des Künst-lers ist. Seine Kamera ist immer entweder zu nah an oder zu fern von den Dingen. Nicht nur in diesem Sinn sprechen diese Fotografien eher von Heimatlosigkeit. Allerdings erhebt sich der Fotograf nicht über die Dinge und Personen, die er zeigt. Er liefert vielmehr eine taktvoll impressionistische Bestandsaufnahme einer kollektiven Befindlichkeit. So wie das (wie auch immer spießige) Dekor, dem sich die Figuren in den Bildern angleichen, Wohn- und Heimatlichkeit schaffen soll, so sehr zeigt diese Serie, dass Heimat vor allem eine Fiktion ist, die mit unser aller Erinnerung zu tun hat.

So unterschiedlich die Bildauffassungen der beiden Künstler auch sind - Kochs Kunst der Aufladung und Raabs Kunst des Beiläufigen -, erwecken beide doch den Eindruck einer romantisch zu nennenden Sehnsucht, mit dem Bild etwas zu finden.

In dem Lieferwagen in dem einen Bild von Lewis Koch hat der abwesende Fahrer etwas Ähnliches, wenn auch buchstäblich zum Ausdruck gebracht: „looking for love“.

Lewis Koch, 1949 in New York City geboren, lebt in Madison, Wisconsin.Emanuel Raab, 1957 in Bautzen geboren, lebt in Wiesbaden.

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26. ETAGE

TAMARA GRCIC

DIE BANK, FRANKFURT, 1999

Tamara Grcic, Die Bank, Frankfurt, 1999

Das Dialogprinzip bestimmt in der DZ BANK nicht nur den Umgang mit den Kunden und Geschäftspartnern, die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Kunst. Kunst in der DZ BANK ist ein markanter Teil der Unternehmenskultur und bietet den Mitarbeitern als Kommunikationsange-bot Anregungen, Stoff zur Diskussion und neue Sichtweisen, die über die unternehmensspezifischen Fragen hinaus-gehen. Teil der „Corporate Collection“, die sich der Fotografie in der zeitgenössischen Kunst widmet, sind Kunst-projekte, die die Mitarbeiter von Anfang an in die Entstehung der Werke einbinden. Ein Dialog findet so nicht erst angesichts der fertigen Werke statt, sondern schon im Vorfeld – im Gespräch mit den Künstlern und den beteilig-ten Kollegen.

Das hier präsentierte Kunstprojekt von Tamara Grčić besteht aus einer Serie von 48 Arbeiten, die in verschiedenen Bereichen der Bank entstanden. Zu sehen sind vertraute Gegenstände des Arbeitsalltags: Schreibzeug, Kugelschrei-ber, Bildschirme und Tastaturen, aber auch Proviant für die Pausen, Pflanzen und Kleidungsstücke. Auffallend ist, dass die Dinge in Nahsicht aufgenommen sind, die Kleinbildkamera rückt in unmittelbare Nähe. Durch diese Nähe werden die normalerweise meist unbeachteten persönlichen Anordnungen am Arbeitsplatz erst bewusst und erhalten eine neue Bedeutung.

Tamara Grčić sucht die materialen Spuren, in denen sich unbewusste Routinen und Gewohnheiten am Arbeitsplatz

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niederschlagen. Diese Spuren wurden Ausgangspunkt einer ästhetischen Transformation. Die formalen und sinnlichen Qualitäten der einzelnen Gegenstände traten in den Mittelpunkt und wurden neu organisiert: Farben und ihre Eigenschaften, Formen, Oberflächen wurden zum Thema und nach dem Maßstab ihrer „visuellen Energie“ in jedem Bild neu geordnet.

Die eindringlichen Kompositionen erlauben einen neuen Einblick in die unterschiedlichen Strategien, mit denen individuelle Lebensrhythmen und Ordnungsvorstellungen mit den sachlich bestimmten Handlungsabläufen im Alltagsleben abgestimmt werden.

Tamara Grčić wurde 1964 in München geboren. Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte und der Kulturanthro-pologie studierte sie bei Peter Kubelka an der Städelschule in Frankfurt am Main. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und in New York.

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27. ETAGE

SEBASTIAO SALGADO

UNCERTAIN GRACE, 1981-1991

Sebastiao Salgado, Dürre im Sahel. Korem, Äthiopien, Aus der Serie: Uncertain Grace, 1984

Im gesichtslosen Kreislauf mehrerer tausend Goldminenarbeiter entdeckt der Augenzeuge Sebastião Salgado die Zahl Acht (1986) als Bedeutungsziffer für die endlose Schleife bedrückender Massenbeschäftigung. Fern seines Herkunftslandes bewegt sich der „Reporter ohne Grenzen“ schon lange von Paris aus auf geographischen Scheideli-nien. Von dort her erweitert er den Bildjournalismus in eine mythische Dimension. Wo menschliche Existenz in Not und Verzweiflung, in Kriegen und Naturkatastrophen unter dem Blick der Kamera noch einen letzten erster-benden Ausdruck von Würde zu wahren scheint, operiert er mit seiner Leica jenseits der Leidens- und Armutsgren-zen.

Durch namenloses Elend in einen Bewusstseinszustand zwischen Angst und Trance versetzt, verharren Menschen wie gebannt in den Albträumen ihrer Realität, einander nur noch verbunden durch die Erwartung der letalen Erlösung.

Bereits die Momentaufnahme fixiert das unwiderrufliche Schicksal. Als es noch keine Fotografie gab, sorgten Callot und Goya mit ihren grafischen Zyklen von den Schrecken des Krieges für vergleichbare Berichterstattung. Da auch Salgados Objektiv eine existenzielle Ikonographie anstrebt, spürt es in den Folgen der Gewalt und in Szenen der Erbärmlichkeit einen letzten Funken Selbstbehauptung auf. Die künstlerisch erweiterte Perspektive des Reporters führt unwillkürlich auf die frühe Linie sozial engagierter Bildniskunst zwischen Jean-François Millet

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(1814-1875) und dem Frühwerk des armen Vincent van Gogh (1853-1890).

Fotos von Zusammenkünften peruanischer Campesinos, die sich 1977 erstmals organisierten, weisen frappierende Verwandtschaft auf mit Vincents Gruppengemälden der Kartoffelesser. Kommunionkinder und religiös organisier-te Bauernfamilien, die sich im brasilianischen Bundesstaat Ceara auf dürren Feldern unter bewölktem Himmel auf erste und letzte Hoffnungen konzentrieren, teilen die Andachtshaltung der Milletschen Feldarbeiter beim Mittags-läuten. Der ordnende Blick des Fotografen würdigt im Kollektiv der Überlebensgemeinschaft die verbindende Zuversicht. Hingegen verliert sich der Glaube an Erlösung vollständig angesichts des kreatürlichen Gewimmels der Goldminenarbeiter in der Serra Pelada. Der verzweifelt engagierte Journalist kann nichts anderes tun, als unter den amputierten Minenopfern in den Dörfern Kambodschas, in den Massenlagern der ruandischen Flüchtlinge, zwischen 15.000 Menschen aus der kroatischen Enklave Bihac mit seiner Leica gegen das schreiende Elend zu schießen. Aber plötzlich, bei einer Thunfischjagd vor Sizilien, gerät eine Fischergruppe ähnlich Jesus und seinen Jüngern auf dem See Genezareth ins Visier. Und Kinder bauen sich im Nordosten Brasiliens aus den Knochen verdursteter Tiere ihre ersehnte Welt. Der Elendsbotschafter Sebastião Salgado gibt auch der Hoffnung Ausdruck.

Sebastião Salgado ist 1944 in Brasilien geboren und lebt und arbeitet heute in Paris.

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28. ETAGE

LES LEVINE, MIGUEL ROTHSCHILD

PARADIESE

Miguel Rothschild, Ohne Titel (011), Aus der Serie: Paradiese, 1998/2000

„Kaufen ist viel amerikanischer als Denken, und ich bin durch und durch Amerikaner“, hatte Andy Warhol, der Prophet der Popkultur und Verkünder der „Business Art“, gesagt. Les Levine gehört fast noch der Generation von Warhol und Joseph Beuys an. Und Beuys hatte gesagt: „Wer nicht denken will, f liegt raus.“ Der selbst ernannte „media sculptor“ Levine hat in gewissem Sinn beide beerbt. Wie Warhol hatte er anfangs in der angewandten Kunst gearbeitet. Das Material seiner Kunst sind die Medien, ihr Ort der durchkommerzialisierte öffentliche Raum. Levines Farbfotografien aus den 1980er und 90er Jahren in dieser Sammlung dokumentieren seine auch in der Tradition der Konzeptkunst stehenden Plakatprojekte. Einfache Bild-Text-Gestaltungen in den Farben des Pop und mit kurzen Imperativ-Formulierungen wie in der Werbung präsentiert er auf Plakatwänden, Straßenbahnen, an Parkplätzen oder in der U-Bahn unmittelbar neben den üblichen Werbebildern und -botschaften. „IMITATE TOUCH“; „CONSUME OR PERISH“; „GET MORE“ bringen die Sache auf den Punkt: Es ist das Wesen der Massenmedien Berührung nachzuahmen. Die Rolle des glücklichen Konsumenten, des ewigen Kunden, ist die einzige Form der Erlösung, die uns zugänglich scheint. Es gibt immer noch mehr. Levines Kunst nutzt die Prinzipi-en der Werbung, um die Wohlstandsgesellschaft in Frage zu stellen und zum Nachdenken zu verführen. Die Bildmotive, einerseits oft comicartig kindlich, greifen andererseits nicht selten kunsthistorische Klassiker auf. So zitiert IMITATE TOUCH das entscheidende Detail der sich fast berührenden Finger aus Michelangelos berühmter „Erschaffung des Menschen“ in der Sixtinischen Kapelle.

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Das erste Menschenpaar lebte im Paradies, im abgegrenzten Bezirk des Gartens Eden. Angesichts der ironischen wie tiefsinnigen Foto- Serie von Miguel Rothschild mit dem Titel „Paradiese“ wird, nicht zuletzt weil sie global angelegt ist, deutlich, dass das Paradies heute auf Erden, trivial und überall ist: als grenzenloser Markt.

Noch an dem kleinen „Pascal“, der bei IKEA „aus dem Kinderparadies abgeholt werden möchte“, zeigt sich, dass es daraus kein Entrinnen, keine Vertreibung gibt. Bei Rothschild ist Paradies eben nur ein Wort, ein Etikett, das er überall findet: „Paradise Now“. Levine und Rothschild zeigen uns dokumentarische Fotos von alltäglichen Orten. Wobei Rothschild bei der Präsentation dieser Werke noch einen Schritt weitergeht, bei Ausstellungen füllt er ganze Wände mit seinen kleinformatigen Fotos (aus den Jahren 1998-2004), vor denen er nicht selten reale Produkte mit dem Paradiesbegriff aufbaut. Es gibt immer noch mehr. Beide Künstler, aus unterschiedlichen Generationen, arbeiten mit Bild und Text. Wo Levine noch in gewissem Sinn Einspruch erhebt, vertraut Rothschild der Abbil-dung und der Serie. Im Kontext der Sammlung steht Les Levine in der Nähe einer Barbara Kruger und bei Miguel Rothschild besteht eine Parallele zu Katharina Bosse.

Schon für Flaubert im 19. Jahrhundert war die Idee des Paradieses infernalischer als die Hölle, ganz im Zeichen der heutigen Zeit nennt der tiefsinnige Komiker Helge Schneider sein neues Programm „Akopalüze Nau!“

Les Levine, 1935 in Dublin geboren, ging 1958 nach Kanada. Er lebt in New York.Miguel Rothschild, 1963 in Buenos Aires geboren, lebt in Berlin.

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29. ETAGE

JOHANNES BRUS, HELMUT SCHWEIZER, ROMAN SIGNER, ERWIN WURM

DIE ZEIT IM RAHMEN

Erwin Wurm, One Minute Sculptures, 1997/1999

Erwin Wurm ist der Reiter auf dem Türblatt, Roman Signer ein Pyrotechniker kontrollierter Katastrophen und fast wissenschaftlich anmutender Experimente. Letztere sind weniger zur Nachahmung empfohlen - Erwin Wurm lässt seine „One Minute Sculptures“ inzwischen auch vom Publikum realisieren. Beide haben eine dynamische Auffas-sung des Skulpturalen. Es geht ihnen weniger um plastische Formen, die am Ende eines künstlerischen Prozesses stehen, vielmehr steht der Prozess selbst im Mittelpunkt. Ihre Skulpturen auf Zeit sind vergängliche Objekte, die im Medium der Fotografie dokumentiert und sichtbar gemacht werden. Ihre Arbeiten sind deutlich geprägt vom Geist der sechziger und siebziger Jahre: Kunst kommt weniger von Können, sondern vielmehr von Machen. Das energetische Potenzial der Dinge, die faszinierend und beängstigend zugleich sind, steht im Zentrum des Interesses. Für Joseph Beuys sind das Sprechen und das Denken die ursprünglichen plastischen Prozesse. Bei Erwin Wurm halten ein Bambusstab und eine Putzmitteldose ein prekäres Gleichgewicht. Roman Signer experimentiert mit den elementaren Kräften von Wasser, Luft und Feuer.

Bildhauer im traditionellen Sinn ist am ehesten noch Johannes Brus. Doch seine fotografischen Arbeiten haben seit den siebziger Jahren bei ihm einen ebenbürtigen Stellenwert. Die Serie „Gurkenparty“ hat viel mit den fliegenden Dingen bei Signer gemeinsam. Brus´ Interesse an der Natur macht sich besonders am Tiermotiv fest. Bei der „Gurkenparty“ fangen die Dinge an auf dem Tisch zu tanzen. Und wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht auf der Nase herumtanzen. Doch am Ende hat sich der ganze Spuk in nichts aufgelöst. Fotografisch steht Johannes Brus in

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der Tradition der inszenierten Fotografie.

Im Unterschied zu Signer und Wurm macht Brus das stark, was der Theoretiker Bernd Busch einmal den „alchi-mistischen Beiklang der Fotografie“ genannt hat.

Mit den kleinformatigen, seriellen Fotografien aus den Gruppen „Handlungen, Alltägliches“ und „Erinnerungen“ von Helmut Schweizer ist eine weitere, wenn auch ganz andere künstlerische Position aus den frühen siebziger Jahren vertreten. Der Siegeszug der Fotografie in der Kunst der neunziger Jahre hat hier eine seiner Wurzeln.Weniger das Plastische, sondern der zeitliche Aspekt und die „Handlung“ stehen bei Helmut Schweizers konzeptu-eller Fotografie im Mittelpunkt. Sie basiert auf der Dreier-Serie, der denkbar knappsten Darstellung eines Hand-lungsablaufs in einem Vorher, Dabei und Nachher. Es handelt sich um „Eingriffe“ sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Vom Handelnden sieht man, wenn überhaupt, nur die Hand im jeweils mittleren Bild. Als Einzelbild ist eine Aufnahme hier sinnlos. Die Serie und damit das, was wir zwischen den einzelnen Bildern hinzudenken, ist entscheidend.

An Serien wie diesen zeigt sich der diskrete Charme des Selbstgemachten, der durch das aufgeklebte Fotopapier, eine - vor dem Hintergrund der aktuellen technischen Möglichkeiten - heute eher unübliche Methode. Der übertragene Sinn von „Eingriff“ wird an den simplen Handlungen in der Natur umso deutlicher. Je einfacher die „sachliche“ Handlung (etwa das Abreißen der Blätter einer Tulpe) desto grundsätzlicher kommen das zuneh-mende ökologische Bewusstsein jener Zeit und die Erfahrung von Veränderung, die den Kern dieser Kunst bilden, zum Vorschein, einer Kunst, die auch einen Reflex der umfassenden „Bewegtheit“ der sechziger und siebziger Jahre darstellt. Handlungen haben Konsequenzen.

Johannes Brus, 1942 in Gelsenkirchen geboren, lebt in Essen-Kettwig und Braunschweig. Helmut Schweizer, 1946 in Stuttgart geboren, lebt und arbeitet in Düsseldorf.Roman Signer, 1938 in Appenzell geboren, lebt in St. Gallen. Erwin Wurm, 1954 in Wien geboren, lebt in Wien.

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30. ETAGE

GERD KITTEL

INVERTED COLLAR AND TIE, 1994

Gerd Kittel, Inverted Collar and Tie, 1994

Zu dem architektonischen Gesamtkonzept des DZ BANK-Turms in Frankfurt gehörte von Anfang an der Plan, den Vorplatz des Verwaltungsgebäudes mit einem hochrangigen Kunstwerk zu gestalten.

Das New Yorker Künstlerpaar Claes Oldenburg und Coosje van Bruggen sah hier den idealen Standort für ihre Idee eines „weichen Wolkenkratzers“, eine 12 Meter aufragende „largescale“ Außenskulptur in Form eines auf den Kopf gestellten Kragens mit f latternder Krawatte. Diese inzwischen neben dem „Hammering Man“ von Jonathan Borowsky zu einem Wahrzeichen der Stadt gewordene Skulptur verweist nicht nur auf sich selbst, sondern nimmt gerade auch einen spannungsvollen Dialog mit der Architektur des Hauses und dem umgebenden Bankenviertel der Dienstleistungsmetropole auf.

Die hier ausgestellte fotografische Erzählung über die Entstehung dieser Skulptur beginnt in Petaluma, Kaliforni-en, in der Fabrik von William Kreysler, in der die Skulptur gebaut wurde. Hier wurde das Modell des „Inverted Collar and Tie” mit Hilfe des Computers auf seine Größe gebracht und berechnet. Die Künstler waren vor allem an dieser Phase des Entstehungsprozesses intensiv beteiligt. Für sie ist es entscheidend, dass die aus einer stählernen Kernstruktur und einem Außenhautverbund aus Fiberglas bestehende Konstruktion durch ihr Material die Stoff-lichkeit des Gegenstands genau trifft.

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Gerd Kittel hat die Skulptur und die Künstler mit seiner Kamera von New York aus über Kalifornien bis nach Frankfurt begleitet. Seine Bildergeschichte hat zwar die Funktion einer Dokumentation, die Bilder gehen aber in ihrem ästhetischen Eigenwert weit über eine Reportage hinaus. Ein Ideen-Modell sehen wir im Regal des New Yorker Atelier des Künstlerpaares, die fertige Skulptur vor Ort. Zu der hier in Bildern erzählten Geschichte kann einem das Diktum von Karl Valentin in den Sinn kommen: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.

„Inverted Collar and Tie“ markiert nicht nur äußerlich den Beginn des Kulturengagements dieses Finanzinstituts, als Skulptur aus dem Geist der sechziger und siebziger Jahre, in denen das fotografische Bild seinen Siegeszug durch die Kunst begann, sie steht auch in einem inneren Bezug zu dieser Corporate Collection.

Gerd Kittel, 1948 in Düsseldorf geboren, lebt und arbeitet in Bad Homburg. Nach Abschluss eines Medizinstudi-ums begann er 1983 als selbstständiger Fotograf zu arbeiten. International bekannt wurde er durch seine Bildbände über die USA.

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31. ETAGE

TATJANA HALLBAUM, SEAN SNYDER

PERIPHERIE

Tatjana Hallbaum, Ohne Titel, Aus der Serie: Kronsberg, 2001/2002

Auf dieser Etage sind Werke zweier Künstler einer Generation zueinander in Bezug gesetzt, die sich in ihren fotografischen Serien mit heutigen Siedlungen am Rand großer Städte auseinandersetzen.

Sean Snyder konzentriert sich in „Paris banlieue“ (1996/1997) auf die Trabantenstädte Pariser Vororte, die einst als Erfüllung von Le Corbusiers modernistischer Stadt-Utopie galten. Er zeigt formalistische Ansichten der Siebziger-Jahre-Ästhetik des sozialen Wohnungsbaus. Wenn man so will, die bildhafte „Schönheit“ der „Galeeren“, wie diese Wohnkomplexe in der Umgangssprache heißen. Der soziale Kontext ist bewusst aus den menschenleeren Architek-turmotiven ferngehalten, wird aber als bekannt vorausgesetzt. Eine Grundspannung dieser Bilder ist dann auch, dass die Fotografien unverkennbar auf Bildmuster der Abstraktion in der Klassischen Moderne zurückgreifen. Zugleich – wie sich in den baulichen Verfallserscheinungen nur andeutet – zeigen die Fotografien Gebäude, deren Adresse ein Stigma („banlieusard“) bedeutet. Die Monumentalität der Architektur verweist so auch auf das Ausmaß des Problems Banlieue in Frankreich, das sich mit vier Begriffen auf den Punkt bringen lässt: räumliche Isolation, Arbeitslosigkeit, Exklusion, Jugendgewalt.

Im Unterschied dazu zeigt Tatjana Hallbaum in ihrer Serie „Kronsberg“ (2001/2002) gerade die Menschen und insbesondere Kinder und Jugendliche verschiedener Nationalitäten der gleichnamigen Siedlung („im Grünen“) im Südosten Hannovers. Die Architektur dieser kleinen Modellstadt zwischen Einfamilienhausgebieten und Land-

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schaftsraum, die ab 1998 im Zusammenhang mit der EXPO 2000 entstand, lässt sie weitgehend weg. Sie kann sie auch als bekannt voraussetzen, handelt es sich doch um Bauträger-Wohnungsbau von der Stange. Hannover ist nicht Paris, aber die Problemlage Banlieue ist hierzulande auch keine Unbekannte. Bei aller motivischen und formalen Gegensätzlichkeit dieser zwei Serien wird im Vergleich dennoch deutlich, dass Großsiedlungen in Deutschland räumlich weniger isoliert sowie ethnisch und sozial weniger segregiert sind.

Die Grundspannung in Hallbaums Kronsberg-Bildern besteht in der Art der Inszenierung der Figuren. Ihre soziale Randständigkeit zeigt sich in ihrer durchgängig randständigen Position zum Bildraum. Zwischen Mensch und Raum, Nähe und Distanz besteht ein Spannungsverhältnis. Dies zeigt sich beispielhaft in der Aufnahme mit der Gruppe der vier Mädchen im sommerlichen Gras. Sie befinden sich an der Peripherie der Peripherie. Eines schaut „zurück“ auf die Fotografin und dorthin, wo wir die Siedlung vermuten; die sitzende Rückenfigur neben ihr in die Ferne. Ob nach Hannover, Paris oder Neuseeland, wissen wir nicht, doch gewiss „weg von Kronsberg“.

Jean Snyder und Tatjana Hallbaum markieren wichtige Positionen in der Sammlung der DZ Bank, die in der bildsprachlichen Analyse städtischer Umgebungen einen ihrer Schwerpunkte besitzt.

Jean Snyder, 1972 in Virginia Beach an der amerikanischen Ostküste geboren, lebt in Frankfurt am Main, wo er Mitte der 1990er Jahre die Städelschule besuchte, und in Berlin.Tatjana Hallbaum, 1971 in Hannover geboren, lebt in Hannover.

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33. ETAGE

NOBUYOSHI ARAKI, IMOGEN CUNNINGHAM, JOAN FONTCUBERTA, BRIGITTE KLEINEHANDING, MARIE-JO LAFONTAINE, WERNER PAWLOK, SIGRID ROTHE, DENNIS STOCK

BLUMEN

Imogen Cunningham, Magnolia Blossom, 1925

Diese Etage vereint acht internationale Künstler unter der thematischen Klammer des Blumenmotivs. Das Bildthe-ma ist klassisch wie seine Symbolträchtigkeit. Das Bild der Blume verwelkt nie. Umso auffallender ist der je andere formale und inhaltliche Umgang mit dem Motiv in den verschiedenen Foto-Serien. Blumen sind eben nie einfach nur Blumen. Die Blume ist nämlich eine Art Sprache, eine Währung – wie das Geld. Von diesem sagt Paul Auster kurz und bündig: „But money, of course, is never just money. It is always something else, and it is always something more, and it always has the last word.“ Blumen haben demgegenüber oft das erste Wort.

Vier Arbeiten aus den zwanziger Jahren von Imogen Cunningham, einer „Klassikerin“ der amerikanischen Schwarzweiß-Fotografie, stehen im Zeichen der monumentalen Magnolienknospe sowohl für den Aufbruch der amerikanischen Moderne insgesamt als auch insbesondere für ihren weiblichen Teil. Diese Fotografien künden auch von der Blüte des Mediums Fotografie im 20. Jahrhundert.

Dennis Stocks farbige „Flowers“-Serie (1993) erinnert in ihrer Landschaftsperspektive und Unschärfe nicht zufällig an die Mohnblumen eines Monet und das uralte Bild des Paradieses als Blumengarten. Interessanterweise ist in Stocks wohl berühmtestem (Schwarzweiß-) Foto – James Dean 1955 auf dem New Yorker Times Square – ein zentrales Bildmotiv der Regen. Seit den siebziger Jahren erkundet dieser Chronist amerikanischer Mythen und

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sozialer Wirklichkeiten vor allem die Schönheiten der Natur.

Brigitte Kleinehanding nähert in ihrer Serie „Rosen“ (1989) das fotografische Bild am weitesten dem persönlichen Medium der sensiblen Bleistiftzeichnung an. Das Subjektive (Weibliche) steht dabei in einer gewissen Spannung zu dem grafisch-flächigen Grundzug der „Blätter“.

Dagegen haben die hoch symbolischen Blumenbilder von Nobuyoshi Araki, „Flowers from the other World“ (1994), am deutlichsten mit dem Tod zu tun: mit einer fast barock anmutenden Dramatik von Knospen und Verwelken. Wie schon Andy Warhols berühmte „Flowers“ haben sie Begräbnisassoziationen. Die Nähe seiner Kamera zum Gegenstand lässt die Blumen manchmal geradezu bedrohlich erscheinen.

Ein hintersinniges, der Tradition des Surrealismus und der Technik des Fotogramms verpflichtetes Spiel mit natürlichen Formen treibt Joan Fontcuberta. Seine Blumen des Grotesken sind kleine Monstren, weil nutzlos und künstlich, mit denen Fontcuberta sich über Wissenschaft, Technik und Natur gleichermaßen lustig macht.

Eine strenge Typologie nach (intensiver) Farbe, Form und Symbolik stellt Marie-Jo Lafontaine mit ihrer Dreier-Serie „Aromes, Roses, Iris“ (1995) vor. Sie macht durch die Konstruktion bei aller malerischen Sinnlichkeit auch die Zeichenhaftigkeit der Bilder deutlich.

Werner Pawlok scheint in seinen Blumen- Porträts der natürlichen Wirklichkeit der Blüten am nächsten zu kommen. Aber auch er ist weniger am Dokument als vielmehr am Bild interessiert und hinterlegt die Blüten mit farblich variierten Hintergründen. So erscheinen seine Bilder bei aller Konkretion dann doch im Modus der Abstraktion.

Schon durch die vergleichsweise riesigen Formate ihrer Bilder geht Sigrid Rothe bis an die Grenzen der Abstrakti-on. Ihre Blumenporträts beginnt sie meist mit einer Nahaufnahme der Blüte, die gerade noch als solche zu erken-nen bleibt. Indem sie das Sonnenlicht durch gefärbte Folien filtert, bringt sie die Farben zum Strahlen. Wer denkt da nicht an die Fauves, an Kandinsky, Nolde und die amerikanischen Color Field-Maler. Rothes Zelebrierung der Farbe lebt nicht zuletzt von einem genau kalkulierten Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fotografie und Malerei.

Pflanzen und Blumen sind seit jeher ein Lieblingsthema der Fotografie gewesen. Immer wieder Rosen. Aber sie sind, wie man an dieser Auswahl sehen kann, immer auch anders „aufgeladen“ („always something else“). Von der Widerspiegelungsqualität von Fotos kann eigentlich keine Rede mehr sein: Die Fotografie ist ein fiktionales Bildregister unter anderen.

Nobuyoshi Araki, 1940 in Tokio geboren, lebt in Tokio.Imogen Cunningham, 1883 in Portland, Oregon, geboren, starb 1976 in San Francisco.Joan Fontcuberta, 1955 in Barcelona geboren, lebt in Barcelona.Brigitte Kleinehanding, 1941 in Frankfurt a.M. geboren, lebt in Frankfurt a.M.Marie-Jo Lafontaine, 1950 in Antwerpen geboren, lebt in Brüssel.Werner Pawlok, 1953 in Stuttgart geboren, lebt in Stuttgart.Sigrid Rothe ist in Hamburg geboren und lebt seit 1985 in New York.Dennis Stock, 1928 in New York City geboren, lebt in Pound Ridge, New York.

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34. ETAGE

LAURA J. PADGETT

STÄDEL MUSEUM NEUBAU 2010-2011

Laura J. Padgett, Gelber Schlauch, Aus der Serie: Städel Museum Neubau 2010-2011

Laura J. Padgett ist eine amerikanische und seit langer Zeit in Frankfurt am Main ansässige Fotografin und Filmemacherin. Sie hat über zwei Jahre hinweg den jüngsten Umbau des Frankfurter Städel-Museums, die Errich-tung der sogenannten „Gartenhallen“, wo sich auch die DZ BANK Galerie befindet, begleitet. Dieser wurde im Februar 2012 eröffnet.

Ihr Projekt war jedoch zu keinem Moment als Dokumentation konzipiert. Stattdessen ging es der Künstlerin darum, den Prozess des Verschwindens von Gewesenem mit der Kamera einzufangen. Genauer gesagt ging es ihr um das Überschneiden von Vergangenheit und Zukunft.

In die Zukunft zu blicken bedeutet, Dinge zurückzulassen, sie der Vergangenheit anheim zu geben. Ein Blick in die Zukunft kann also nicht unabhängig von einem Blick ins Vergangene geschehen. Es sind solche Orte, wo sich die Zeiten gleichsam übereinander legen, die Padgett anziehen und immer wieder faszinieren.

Die künstlerische Größe ihrer Aufnahmen besteht gerade darin, dass sie nicht „ins Auge springen“. Vielmehr sind ihre Kompositionen von einer meditativen Eleganz und einer kontemplativen Reinheit, dessen sich der Betrachter jedoch erst nach und nach bewusst wird. Das Bild vom gelben Schlauch, das durch einen unterirdischen Kellergang führt, strahlt eine meditative Stille aus, die man vielleicht in einem Kloster, aber niemals auf einer Baustelle

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vermuten würde. Padgetts Fotografien fordern daher vom Betrachter Ruhe und Geduld. Im Gegenzug kann er Wertvolles von den Bildern erhalten, eine Unterrichtsstunde in der Schule des Sehens.

Für den Katalog „Das Versprechen der Fotografie“ präzisierte der hiesige Vorstand in einem Geleitwort diesen Mehrwert der Fotografie Padgetts als das übergreifende Konzept der DZ BANK Kunstsammlung: Es galt „von vornherein nicht allein einen – für die architektonische Geltung unseres Hauses präsentablen – Stock an Kunstwer-ken zu erwerben, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Entstehungsprozess der Sammlung einzubeziehen. Das wiederum bedeutet, in einer „Schule des Sehens“ ihre Affinität für Kunst im Besonderen und eine Weltwahrnehmung im Allgemeinen zu fördern.“

Laura J. Padgett, geb. 1958 in Cambridge, USA. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

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35. ETAGE

AXEL HÜTTE

LANDSCHAFT, 1991-1995

Axel Hütte, Ouzouer - Le Doyen, Frankreich, 1994

Immer sind die geographischen Eigenheiten einer Region Italiens, Griechenlands oder Spaniens - um die zu nennen, die wir am besten kennen - und die eigene Stimmung einer bestimmten Landschaft im Bild präsent. Gleichzeitig sind wir, gerade auch weil die schnelle Sinnfindung erzählerischer Elemente „fehlt“ und die Form uns immer wieder auf uns selbst zurückwirft, merkwürdig ausgeschlossen von allem. Diese besondere Korrespondenz zwischen Nähe und Distanz ist der eigentliche Ort, den der Künstler sucht, dann erst kann es zum Ereignis der Aufnahme und des Bildes kommen. So alltäglich viele der Landschaften auch erscheinen, der Künstler sucht die erhabenen Momente sonntäglicher Stille.

In diesem Sinn lässt sich auch das kleine Format dieser Fotos verstehen. Einerseits erinnert die Präsentationsweise dieser Werkgruppe an die unprätentiöse Form des Reisetagebuchs, andererseits treten dadurch der Kunstcharakter und die merkwürdige Ortlosigkeit umso eindringlicher in Erscheinung.

Der Düsseldorfer Künstler Axel Hütte nennt seine Werkgruppe in der Sammlung der DZ BANK schlicht „Land-schaft“. In der Tat zeigen diese Fotos Landschaften in Mittel- und Südeuropa. Der Singular im Titel verweist einerseits auf eine künstlerische Gattung, auf die Tradition der Landschafts-Malerei, andererseits auf einen ganz bestimmten ästhetischen Blick des Künstlers. Dieser ist eben nicht der Blick des Urlaubers. Ebenso wenig derjenige, der die vermeintlich unberührte und wilde Natur sucht, als die die Alpen – ein häufiges Motiv bei Hütte – in der

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Malerei des 19. Jahrhunderts oft gesehen wurden.Obwohl in Hüttes Landschaftsfotos keine Menschen abgebildet sind, zeigen sie immer Kulturlandschaften, die der Mensch geprägt hat. Besonders deutlich ist dies bei den Aufnahmen der Fall, auf denen die riesigen Erdlöcher zu sehen sind, die beim Abbau von Rohstoffen entstehen.

Diese Spannung zwischen Natur und Kultur prägt Hüttes Bilder, deren formale Klarheit von der Spannung zwischen Bildtiefe und Flächigkeit, zwischen tiefer Horizontlinie und vertikalen Bauformen geprägt ist. Die Bilder sind so konstruiert, dass der Standort des Betrachters unklar ist: Wir hängen in der Luft. Auf manchen von Hüttes Fotos ist fast nur Himmel oder Nebel zu sehen. Angezogen vom Zug in die Tiefe, bleiben wir in den Rastern der häufig ruinenartigen Architekturen, die unseren Blick begrenzen, gefangen. Die Zuwendung zu diesen Weiten ist mehr dem Gefühl als einem als real vorgestellten Zugang möglich.

Wer kennt nicht die leichte Enttäuschung, die wir erleben, wenn wir eine dramatische Naturszenerie fotografiert haben, und die Fotos, die wir gemacht haben, dieses Gefühl der Weite nicht wieder vermitteln. Schon immer folgte die Betrachtung der Natur den Erfindungen der Künstler. Das heißt auch, solche Gefühle werden nicht zuletzt über Kunstgriffe, über die Form des Bildes, transportiert. Das Moment der Abstraktion ist dabei wesentlich. Das Abstrahierende bei Hütte liegt sowohl in einer Bildauffassung, die darauf zielt, das Vertraute fremd und das Fremde vertraut erscheinen zu lassen, als auch in der Suche nach etwas, das nicht gemacht ist, sondern Ereignischarakter hat.

Axel Hütte ist 1951 in Essen geboren. Er studierte erst Malerei und dann seit 1976 Fotografie bei Bernd Becher an der Kunstakademie in Düsseldorf. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf.

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36. ETAGE

GRACIELA ITURBIDE, ALBRECHT TÜBKE, LARS TUNBJÖRK

BÜRGER

Graciela iturbide, Nuestra Senora de las Iguanas, Juchitán, Mexico, 1979

Mit ihren Schwarzweißfotografien (hauptsächlich aus den achtziger Jahren) steht die Mexikanerin Graciela Iturbide ohne Zweifel in einer dokumentarischen Tradition. Sie präsentiert aber weder ein zeitloses, mythisches Mexiko wie Manuel Alvarez Bravo, dessen Assistentin sie war, noch ist ihr Blick im wissenschaftlichen Sinn ethnographisch. Iturbides Aufnahmen sind einerseits dramatisch, andererseits rätselhaft, sie verbinden das Archety-pische mit dem Modernen. So trägt die „Engelsfrau„ in Iturbides vielleicht berühmtesten Foto, die silhouettenhaft von hinten zu sehen ist, wie sie auf die Wüste zugeht, ein Kofferradio bzw. Ghettoblaster in der Hand. In gewissem Sinn sind alle ihre Figuren Engel, sie haben alle Attribute, die sie mit der Umgebung, dem Land und immer auch mit einer immateriellen Sphäre verbinden. Nur das kleine Mädchen mit den Engelskostümflügelchen im Bus in Iturbides Geburtsstadt Chalma (einem Wallfahrtsort) trägt buchstäblich dieses Attribut. Viele ihrer hier gezeigten Bilder stammen aus der sehr armen Region Yucatan, wo sich immer noch matriarchalische Strukturen aus der Zeit vor der Eroberung durch die Spanier erhalten haben. Die überwiegende Mehrzahl ihrer Figuren sind in der Tat Frauen, die sie mit großer Intimität in ihrer prekären Würde ins Bild setzt. Iturbides formale Mittel variieren dabei erheblich. So ist die Frau mit dem merkwürdigen Kopfschmuck aus Echsen aus der Froschperspektive aufgenom-men und die andere, die ihr Kind mit einem schwarzen Schleier vor dem Wind schützt nach dem Bildmuster der Pietà. Bei allem dokumentarischen Gehalt ihrer Bilder sind diese aber immer auch von dem eigenen poetischen Blick der Künstlerin geprägt.

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Ganz auf urbanem Terrain bewegt sich der deutsche Künstler Albrecht Tübke. Seine subtil farblich differenzierten Porträts von Menschen auf den Straßen Londons aus der Serie „Bürger“ (2000) haben nichts mehr von der gleich-sam urwüchsigen, wenn auch harten Verbindung zwischen Mensch und Ort bei Iturbide. Im Gegenteil, dieser Raum wird bei Tübke erst geschaffen. Gerade bei der Dame mittleren Alters im blauen Mantelkostüm mit einer Plastiktüte der Tate Gallery in der Hand zeigt sich, dass so die Menschen fast wie Skulpturen erscheinen. Statt des Dokumentarischen steht bei Tübke das Konzeptuelle im Vordergrund. Dennoch vermitteln allein diese fünf „Porträts“ etwas von der sozialen und ethnischen Vielschichtigkeit moderner urbaner Gesellschaften. Auffallend ist, wie hier die Serie ein demokratisches Prinzip darstellt und die Menschen ihre öffentliche Persona inszenieren. Heute ist alles Lifestyle, doch scheint es in modernen Metropolen nach wie vor Elemente zu geben, die an archai-sche Stammeskulturen denken lassen.

Die zeitgenössischen Bilder des Schweden Lars Tunbjörk zeigen uns die Welt kleinstädtischer Fun-Arenen. Am Beispiel von Menschen in sommerlichen Freizeiteinrichtungen begegnen wir dem sozialdemokratischen (Alb?-)Traum der durchorganisierten Wohlstandsgesellschaft skandinavischer Ausprägung. Tunbjörks tiefsinniger Witz geht aber nicht auf Kosten der dargestellten Personen. Er kann sie auch nur so ins Bild setzen, weil er aus diesem Milieu der südschwedischen Westküste kommt. Sein wesentliches, an den Pionieren der neueren Farbfotografie William Eggleston und Stephen Shore geschultes Ausdrucksmittel ist die Farbe. Sie erzählt eine andere Geschichte als die Banalität und Absurdität der Motive.

Die drei hier versammelten unterschiedlichen Künstler arbeiten, wenn auch an jeweils weit auseinander liegenden Orten und jeder auf andere Weise, an etwas Vergleichbarem: Man könnte dies Haltestellen der Alltäglichkeit nennen.

Graciela Iturbide, 1942 in Chalma, Mexiko, geboren, lebt in Coyoacán, Mexico.Albrecht Tübke, 1971 in Leipzig geboren, lebt in Berlin.Lars Tunbjörk, 1956 in Borås geboren, lebt in Stockholm.

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37. ETAGE

PIETRO DONZELLI

EIN NEOREALISTISCHER BLICK AUF ITALIEN

Pietro Donzelli, Cà Venier, l‘amico del guardiano di valle, 1954

Der erste Blick auf die Schwarzweiß-Aufnahmen Pietro Donzellis erweckt den Eindruck mediterraner, nahezu paradiesischer Idylle. Sie strahlen eine Ruhe aus, die dem modernen Menschen in der Industriegesellschaft heute fremd ist. Tatsächlich dokumentieren Donzellis Fotografien aus den 1950er und 60er Jahren das Italien der Nachkriegszeit. Sie zeigen das vorindustrielle Leben und Arbeiten der Bevölkerung in den ländlichen Provinzen von Sizilien, Kalabrien und Sardinien, aber auch in Großstädten wie Mailand und Neapel. In seiner umfangreichs-ten Serie Terra senz’ ombra (Land ohne Schatten) erkundet Donzelli Anfang der 50er Jahre die Schönheit der Poebene, jener „metaphysischen“ Landschaft, die zuvor schon von den neorealistischen Filmregisseuren entdeckt worden war. Für Michelangelo Antonioni schien diese Landschaft wie geschaffen für das resignative Lebensgefühl einer Generation, deren Jugend vom Krieg gezeichnet war. Der stetige Nebel entzog der Umgebung nahezu jede Farbe und Form und schuf eine symbolträchtige schwarzweiße Kulisse, in der alles Vertraute entschwindet und aufs Neue gesucht werden muss. Es war jedoch nicht das italienische Nachkriegskino, das Donzelli zu seinen Fotografi-en inspirierte. Es war vielmehr der französische Film, der ihm wichtige formale Impulse gab. Durch die Werke von Regisseuren wie Jean Renoir und Carl Theodor Dreyer lernte der Fotograf den Umgang mit dem Licht und wurde als Autodidakt zum Meister im Einsatz gestalterischer Hell-Dunkel-Kontraste und malerischer Grautöne.

Donzellis Interesse für das Fotografieren entwickelte sich zu einer Zeit, in der sich die fotokünstlerische Debatte in Italien vornehmlich zwischen zwei Positionen bewegte: den Formalisten, die eine abstrakte Fotografie hervorbrach-

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ten, und den Realisten, die sich mit ihrer dokumentarisch ausgerichteten Arbeit nah an der Gesellschaft bewegten. Donzelli bezog mit seinen Aufnahmen deutlich Stellung. Sein jahrelanges Bestreben war es, der Fotografie einen Platz in der lebendigen und aktuellen Wirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft einzuräumen. Nach den harten Jahren des Krieges sehnte sich die italienische Bevölkerung wieder nach Normalität, alten Traditionen und verlässlichen Moralvorstellungen. Und genau das ist es, was Donzelli dem Betrachter durch seine lyrischen und poetischen Darstellungen, die ganz ohne Sozialkritik, Pathos oder Idealisierung auskommen, vermittelt.

Pietro Donzelli wurde 1915 in Monte Carlo geboren, lebte aber die meiste Zeit seines Lebens in Mailand, wo er 1998 starb.

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38. ETAGE, FOYER

ROBERT LONGO

MONSTER WAVES

Robert Longo, Angels Wing, 2010, Aus der Serie: Monster Waves

Robert Longos Arbeiten sind stets kraftvoll, beeindruckend und einnehmend. Immer wieder kreisen sie um das Sichtbarmachen von Macht und Gewalt. Welches Element wäre geeigneter als das Wasser, das so lebensnotwendig wie zerstörerisch ist? Das Verhältnis des Menschen zum Meer ist seit jeher ambivalent, schwankt zwischen Eupho-rie und Faszination, Ehrfurcht und Schrecken, Meer bedeutet Angst und Gefahr. Unter Zuhilfenahme verschiede-ner fotografischer Vorlagen erstellt der Künstler mit einem Graphitstift Wasserlandschaften auf enorm großen Papierformaten. Die so entstehenden Zeichnungen sind also keine bloßen Kopien mehr, sondern Kompositionen und eigene Wellenfantasien des Künstlers. Die XXL-Zeichnungen übersetzt er dann wieder in ein Druckverfahren. Das fotorealistische Ergebnis mutet schließlich wie eine klassische Schwarz-Weiß-Aufnahme an. Robert Longo setzt sich einerseits über die Grenzen der unterschiedlichen künstlerischen Medien hinweg, andererseits vereint und verbindet er sie. Er erweist sich als Schöpfer im Sinne der vormodernen Vorstellung des „divino artista“, der bestrebt ist, das Vorbild der Natur nicht nur nachzuahmen, sondern sie zu übertreffen.

Mit den Monster Waves greift der Künstler ein tradiertes Motiv der Kunstgeschichte auf. Das weltweit vielleicht bekannteste Beispiel japanischer Kunst zeigt Die große Welle vor Kanagawa (um 1830) von Katsushika Hokusai und auch der französische Romantiker Gustave Courbet widmete sich in einigen seiner Gemälden dem Motiv der „Woge“ (um 1865). In beiden Fällen drücken die Wasserwirbel den menschlichen Lebens- und Überlebenskampf innerhalb der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung aus und symbolisieren die Hoffnung auf Erneuerung.

Robert Longo wurde 1953 in New York geboren. Lebt und arbeitet in New York. Neben einer Ausstellung die Robert Longo 2009 im ART FOYER der DZ BANK KUNSTSAMMLUNG gewid-met war, ist seine Serie „Men in the Cities“ (1978-81/2005) auf der 7. Etage im Gebäude Westend 1 zu sehen.

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38. ETAGE, EMPFANG

ROBERT BARRY

WALLPIECE, 1997

Robert Barry, Ohne Titel, 1997

Wer die künstlerische Produktion in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nicht miterlebt hat, kann sich kaum ein Bild machen von der Intensität der Auseinandersetzung mit dem, was als Concept Art die Gemüter bewegte. Sie war die letzte, aus den USA stammende Kunstbewegung internationalen Ausmaßes, welche die Bezeichnung Avantgarde rechtfertigt.

Robert Barry hat nicht nur an allen wichtigen Ausstellungen der Konzeptkunst teilgenommen, er gehört auch zu deren Pionieren.

Einige Bemerkungen zu Barrys Frühwerk scheinen angebracht. Vor 1967 beschäftigte er sich mit systematischer Malerei. (Systematic Painting, Guggenheim Museum, New York 1966) Die Erkenntnis, dass die Bilder je nach Raum ihr Aussehen veränderten, ließ ihn schließlich Drahtskulpturen anfertigen, dergestalt, dass beispielsweise zwei Punkte in einem Raum durch eine Horizontale verbunden wurden. Die Wahl der Platzierung steht stellvertre-tend für eine unendliche Zahl von Möglichkeiten. Jedoch wird mit dieser Entscheidung der Raum ein für allemal definiert. Ein weiterer Schritt bestand 1969 darin, Edelgas, das unsichtbar ist, in die Atmosphäre zu entlassen. Das ausströmende Gas definierte ein nicht zu bestimmendes, von Fall zu Fall unterschiedliches Raumvolumen.

Die Fotos dieser Aktion zeigten jeweils den Ort, zum Beispiel die Mohave-Wüste, wobei einzig in der Bildlegende

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auf die Aktion und das verwendete Gas (etwa Argon, Zenon oder Neon) hingewiesen wurde. Ein wesentliches Element der Konzeptkunst stellt die Entgrenzung der Kunst (im Sinne ihrer Gattungen) schlechthin dar. In einem Interview mit Magazin Arts sagte Barry 1969: „Ich stelle nicht nur die Grenzen unserer Wahrnehmung in Frage, sondern auch den jeweils gültigen Charakter der Wahrnehmung.“ Im Katalog der Ausstellung Prospekt `69 in Düsseldorf geht er, was die Entgrenzung und Auflösung der Kunst angeht, soweit, dass er dem Interviewpartner gegenüber äußert, seine Arbeit bestünde in den Ideen und Vorstellungen der Leser des Interviews. In der Folge beschäftigte sich Robert Barry fast ausschließlich mit dem Medium Sprache, zum einem über Worte, die mittels Dias projiziert wurden, aber auch in Form von Textanordnungen, die in der Erscheinung an visuelle Poesie erin-nern. „Sprache“, sagt Barry, „fasziniert mich deshalb, weil sie jedem eigen ist. Sprache ist eine Ausdehnung unseres Seins; sie ist Ausdruck von Dingen. Sie bewegt uns innerhalb von Dingen, die räumlich und zeitlich nicht festge-legt sind. Sprache gibt uns die Möglichkeit, Raum- und Zeitgrenzen zu überschreiten.“ (Interview mit Achille Bonito Oliva, Domus, 525, 1973)

Die Werkgruppe besteht in Porträtfotos von Mitarbeitern (100 x 100 cm), die mit transparentem Acryl in den Farben Violett, Rot, Grün und Grau fast bis zur Unkenntlichkeit übermalt wurden. Diese acht Mitarbeiter stehen für die gesamte Belegschaft, doch werden ihre Namen nicht genannt und die Werke als untitled bezeichnet. Das ist kein Widerspruch, denn als Einzelpersonen stehen sie gleichzeitig für alle ein. Auch in diesen Farbporträts hat Robert Barry diskret als zweite Ebene Worte eingesetzt, nach dem gleichen Prinzip der Streuung wie im unterirdi-schen Durchgangsraum zur Mensa. Zu lesen ist, diesmal in englisch: FOUND, CAREFUL, CELEBRATE, ALREADY, LOOK, EXPECT … Einige dieser Worte sind wie im Durchgangsraum angeschnitten und stehen auf dem Kopf.

Diese Arbeiten von Robert Barry sind bei den Mitarbeitern auf eine erstaunlich positive Resonanz gestoßen. Darüber berichtet ein 1997 gedrehter, von der DZ BANK veranlasster Dokumentarfilm.

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38. ETAGE, FLUR

CHRISTIAN BOLTANSKI, DENNIS STOCK

LA CHANTEUSE / JAZZMUSIKER

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38. ETAGE, RAUM 01

MARC LÜDERS

OBJEKT 629-3-8, 2007

Marc Lüders, Objekt 629-3-8, 2007

Mit Marc Lüders wird ein Künstler vorgestellt, der malerische Techniken unmittelbar in das fotografische Bild einbringt, um experimentell eine Verschmelzung herbeizuführen. Sobald die Divergenz der Darstellungsebenen wahrgenommen wird, stellt sich auch die Verschiebung in der Wertigkeit des Bildes dar. Dabei sind die subtilen Einbrüche der Malerei in den Bildraum der Fotografie oftmals erst bei genauerer Betrachtung überhaupt vom fotografischen Abbild differenzierbar. Lüders arbeitet mit dem dialektischen Spannungsverhältnis, das sich aus den gegensätzlichen Eigenschaften speist, die den Disziplinen Malerei und Fotografie zugeschrieben werden: subjektiver Ausdruck versus objektive Repräsentation, Erfindung versus „Dokument“ von Realität und so weiter. An der Schwelle, wo sich die Divergenzen auflösen oder in ihr jeweiliges Gegenteil umschlagen, entfalten Lüders‘ „Photo-picturen“ ihre leise, subversive Dynamik.

Marc Lüders wurde 1963 in Hamburg geboren und studierte zunächst an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg und schloss dann ein Studium der Anthropologie und Philosophie in Mainz an. 2001 hatte er eine Einzelausstellung in der Hamburger Kunsthalle (Reihe Standpunkt) und 2003, 2005 und 2008 in der Galerie Levy, die ihn vertritt. 2005 wurden vier Exponate von Lüders für die Gruppenausstellung „Painting on Photogra-phy – Photography on Painting“ des Museum of Contemporary Photography in Chicago ausgewählt und Ende 2006 war Lüders in der Ausstellungsreihe „InFlagranti“ des Dortmunder Kunstvereins vertreten. Anfang 2007 erhielt der Künstler eine Einzelausstellung im Haus der Kunst Brünn (Tschechien).

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Die selbst erstellten Fotografien, die weder Menschen noch andere Lebewesen zeigen, werden malerisch durch Objekte oder Figuren ergänzt, die bereits während der Entstehung des Fotos vom Künstler mitgedacht werden. Es kommt zu einer Irritation bei dem Betrachter, der – besonders im Fall der Objekte – diese zunächst in das Bildgan-ze einzuordnen versucht und oftmals erst beim zweiten Hinsehen bemerkt, dass es sich um malerische Artefakte handelt. Lüders erweitert so die Wirklichkeit hin zu einem illusionistischen Bildraum. Das Anliegen, mit der Fotografie die Natur zu malen, nimmt Lüders quasi wörtlich, wenn er Teile der von ihm aufgenommenen Natur mitdenkt, aber erst in einem zweiten Verfahrensschritt in das Bild hineinmalt. Dabei unterliegen die differenten Medien einer immer wiederholten Hierarchie: die Fotografie bildet den Hintergrund, während das zentrale Bild-motiv malerisch dargestellt wird. Die zeitliche Abfolge ist umgekehrt. Diese zeitliche Verschiebung und räumliche Klärung lässt beide Medien miteinander verschmelzen.

Wenn Lüders auf diese eigene Art und Weise einen Illusionismus erzeugt, verweist er damit auf die Flut technisier-ter Bilder, die uns täglich umspült und ebenso Illusionen vorgibt, die nicht immer dem Realen entsprechen.

Marc Lüders wurde 1963 in Hamburg geboren.

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38. ETAGE, RAUM 02

RUDOLF BONVIE, ASTRID KLEIN

ENIAC, 1985 / GEDANKENCHIPS, 1983

Rudolf Bonvie, Eniac I, 1985

ENIAC ist die Abkürzung für „Electronic Numerical Integrator and Computer“ und der Name der ersten größeren Rechenmaschine, die 1945 in den USA gebaut wurde und mit fast 18.000 Elektronenröhren bestückt war. Mit den beiden Fotoarbeiten von Rudolf Bonvie und Astrid Klein aus den frühen 1980er Jahren sind zwei wichtige Arbeiten dieser für die rheinische Kunst- und Fotografieszene zentralen Künstler in der Sammlung vertreten. Die großfor-matigen Schwarzweißfotoarbeiten, die noch mit vordigitalen Verfahren wie Vergrößerung, Rasterung, Montage oder Mehrfachbelichtung realisiert sind, markieren sowohl eine medienreflexive als auch eine subjektive Recherche der Konstruktion von Wirklichkeit und erweisen sich als Seismographen gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Beide verwenden vorgefundene Bildelemente. Der Fotograf registriert hier nicht scheinbar teilnahmslos wie die Vertreter der so genannten Becher-Schule, die in den neunziger Jahren die Kunstwelt erobern. Schon die Pop Art, die das fotografische Bild und vorgefundene Bildelemente – die Dinge – in die Kunst einführte, hatte eine dunkle Seite. „Eniac“ und „Gedankenchips“ sind dunkel wie Albträume und Röntgenbilder. Astrid Kleins schemenhafte Figur als „Negativ“- Erscheinung vor dem Hintergrund eines Makrobildes eines Computerchips geht aus dem Bild, als sei sie eine Verkörperung der Thesen über die Herrschaft der Apparate, die Günter Anders in „Die Antiquiertheit des Menschen“ entfaltet hat. Für Bonvies „Homo faber“ an der Rechenmaschine scheint die Maschine zum Gott geworden zu sein, das traditionelle Bild Christi erscheint als isolierter Fremdkörper.

Das Seismographische dieser Bilder wird deutlich, wenn man ihre Entstehungszeit mit historischen Daten in

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Beziehung setzt: 1982 begann die Ära Kohl, der Commodore C 64 kam auf den Markt und das Magazin Time erklärte den Computer zur Maschine des Jahres („The Computer Moves on“). 1984 begann in der Bundesrepublik das kommerzielle Fernsehen. Das Jahr 1986 ist das Jahr von Tschernobyl und des Beginns von AIDS.

Es geht aber nicht nur um Ängste. Schließlich zeigen die Arbeiten bei all ihren skeptischen Befragungen auch eine Lust an dem, was man mit Bildern machen kann, die sich, um nur ein Beispiel zu nennen, kaum von der eines Jörg Sasse unterscheidet, der sich ganz in der bunten digitalen Bildwelt (seinerseits nicht ohne Skepsis) bewegt, die der Computer inzwischen ermöglicht hat.

Astrid Klein wurde 1951 in Köln geboren. Sie lebt und arbeitet in Köln und Leipzig.Rudolf Bonvie wurde 1947 in Hoffnungsthal / Bergisches Land geboren. Er lebt in Köln.

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38. ETAGE, RAUM 03

ANGELA GRAUERHOLZ

BASEL, 1986

Angela Grauerholz, Basel, 1986

Angela Grauerholz hat den malerischen Blick. Ihr Objektiv nimmt Landschaften und Interieurs in Augenblicken des Übergangs von der Fotografie zur Malerei wahr. Im Lichtbild gelingt ihr die meisterhafte Simulation einer Optik der sich malerisch auflösenden Konturen. Rahmung und Sepiatönung begünstigen den Anschein real verschwimmender Gemälde, die ihren Ursprung in einer Seurat-Zeichnung haben könnten und sich in Gerhard Richters Grauwertzonen vollenden möchten.

Als käme er schnurstracks aus dem vorigen Jahrhundert, so strömt der Baseler St. Alban-Teich in weißgrau wirbeln-der Gischt an der Papiermühle vorbei zwischen engen Häuser wänden in die Gegenwart des benachbarten Museums Moderner Kunst. Mit einem solchen Foto scheint Angela Grauerholz Erinnerungen aufzurühren an jene frühe Zeit, als Fotografie ihrerseits den Fluß der Gegenwart im flüchtigen Augenblick dauerhaft für bildnerische Botschaften an eine spätere Epoche erfasste. Soll das verwischte, ganz auf Im pression fixierte Stimmungsfoto der Vergangenheit auf die Sprünge helfen? Deren Ausdrucksmöglichkeiten sind jeden falls noch nicht erschöpft – und diese städtische Wildwas serszene hat sich seit damals nicht verändert

Angela Grauerholz hat Deutschland 1976 in Richtung Kanada verlassen. Es wird gesagt, sie sei genervt gewesen von ei nem gesellschaftlichen Klima, das sensible fotografische Einlassungen vereitelte. Künstler mit Kamera, gar solche, die offensichtlich dorthin fotografierten, wo andere nichts Besonderes sehen konnten, waren zu dieser Zeit

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ohnehin verdächtig. In Kanada konnte die Fotografin, ohne das unan genehme Gefühl ihrerseits beobachtet zu werden, solange in die Landschaft, auf Zimmereinrichtungen und auf die Menschen schauen, bis unter ihrem Blick abermals eine ro mantische Impression in der Art der „pictorials“ von Edward Steichen und Alfred Stieglitz entstand –postmodernes Déjà-vu eines längst bekannten, aber unscharf gewordenen Ein drucks aus früheren Tagen.

Gestalt und Landschaft entwickelt Angela Grauerholz aus scheinbar dem Motiv entweichendem Licht. Was Gerhard Richter malen müsste, f ließt seiner Kollegin bereits beim Druck auf den Auslöser zu: Der f lüchtige Blick registriert bewegte Atmosphäre; Dunst und Dämmerung begünstigen die verschleierte und verhangene Wahrneh-mung. Nur weni ge der vielen Negative werden von der Bildautorin einer Aus wertung für würdig erachtet.

Die in Montréal lebende Fotografin hat bereits ein Jahr nach ihrer ersten europäischen Einzelausstellung beim Westfäli schen Kunstverein Münster (1991) während der documenta 9 großen Eindruck hinterlassen, weil ihre Lichtbilder dem Ge mäldecharakter einer klassischen Impression aus schwarz weißen Zwielichtzonen am nächsten kommen. Keine Malerei konnte es damals mit der malerischen Wirkung dieser Fotos aufnehmen. Der Gedanke an einen technischen Vorgang stellte sich gar nicht ein, so sinnlich waren die Resultate. Bei den alten Griechen gehörte Psyche zu den Naturgöttern. Angela Grauerholz ist die Psyche der Fotografie.

Angela Grauerholz wurde 1951 in Hamburg geboren. Sie lebt in Montréal, Kanada.

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38. ETAGE, RAUM 04

GOTTFRIED HELNWEIN

KINDERHAND UND KINDERGESICHTER, 1994

Gottfried Helnwein, Kinderhand und Kindergesichter, 1994

Helnweins künstlerische Praxis beruht auf der Erkenntnis der grundsätzlich unterschiedlichen Seinsform von Fotografie und Malerei. Einerseits schöpft er als einer der konsequentesten Multimedia-Künstler überhaupt die spezifischen Möglichkeiten der jeweils verwendeten Medien bis zu den Grenzen ihrer Horizonte aus – neben Fotografie und Malerei die Zeichnung und die Performance –, spiegelt sie andererseits, aber auch gewissermaßen ineinander, so dass sie sich gegenseitig erhellen und in ihrer Wirkung steigern. Mit dem frappierenden Ergebnis, dass seine Aquarelle die leuchtende Transparenz von Diapositiven besitzen, obwohl die Duftigkeit der Farben nicht beeinträchtigt wird, und seine naturalistisch-realistischen Gemälde die Brillanz von Lichtbildprojektionen, die im handwerklichen Medium nur durch akribische Übertragung fotografischer Techniken erreichbar ist, und dass seine Fotografien wiederum die intensive Gegenwärtigkeit von Gemälden erlangen. Beständig bewegen sich seine Bilder zwischen den Polen der Überschärfe und der Auflösung.

Jedes gemalte oder fotografierte Motiv ist Gegenstand eines Prozesses der Transformation, sei es anschaulich evident in Form von mehrteiligen Bildern oder Bilderreihen, sei es aber auch innerhalb eines einzigen Bildes. In dem Falle tritt anstelle eines linearen Verlaufs, anstelle eines kontinuierlichen Wechsels oder eines Kontrastes, eine Art Verdichtung, als würde sich die Bewegung in die Bildtiefe verlagern, und unmerklich nimmt in der Wahrneh-mung die Intensität des Bildeindrucks zu.

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Der filmische Einfluss in der Kombination von Malerei und Fotografie in „Kinderhand und Kindergesichter“ wird deutlich. Einer Serie gleichformatiger Kinderbildnisse in unscharfer Darstellung steht eine im Riesenformat aufgerichtete Kinderhand gegenüber, wiedergegeben im gestochen scharfen Stil der Fotomalerei, leicht blau getönt, und während die Fotografien scheinbar Effekte der Malerei nutzen, forciert die Malerei scheinbar das fotografische Potential über die Möglichkeiten des technischen Mediums hinaus. Doch die Unschärfe der fotografischen Bilder entspringt nicht einer spezifischen Aufnahmetechnik der nicht genau fokussierten Kamera, sondern der Installation der Bilder, für die der Künstler Milchglas verwendete. Ein Bild wird im Werk dieses Künstlers zunächst als Bild erfahrbar, als Gegenstand ästhetischer Reflexionen, die den kulturell vermittelten Kontakt zur Welt des Gezeigten mittels eines visuellen Schocks unterbricht, um diese desto eindringlicher zu erfassen. Vielleicht löst seine künstleri-sche Arbeit deshalb so viele heftige Reaktionen aus.

Gottfried Helnwein wurde 1948 in Wien geboren.

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38. ETAGE, RAUM 05

CLARA BAUSCH

CAINE, 2010

Clara Bausch, Caine, 2010

Aus ihrer Umwelt isoliert Clara Bausch Zeitungsfragmente, in sich geschlossene Wirklichkeiten, und stellt diese in einen neuen persönlichen Zusammenhang, erschafft bewusst Beziehungen. Am Fenster ihres Ateliers macht sie mit Tageslicht gleichzeitig Vorder- und Rückseite sichtbar und blendet vormals voneinander unabhängige Motive zu einem homogenen Ganzen ineinander. Eine neue Bedeutungsebene entsteht. Die Hand, die ein Kinn berührt, hält mit einem Mal auch einen Tänzer und eine andere stützt sich nun auf einen Diamanten. Dass die Realität der Künstlerin, in der sie arbeitet, eine eigene Wahrheit hat, bleibt unumstritten. Und Bauschs Konstrukte stehen in einem Gesamtkontext mit der Außenwelt, die sie nur als Schemen im milchigen Glas zulässt. Die Ausmaße der Arbeiten lassen sich nicht durch die zwei Dimensionen einer Fotografie einschränken.

Clara Bausch wurde 1982 in Berlin geboren. Lebt und arbeitet ebenda.

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38. ETAGE, RAUM 06

JOHN BALDESSARI

SIX COLOR CODED NOTE PADS,SIX COLOR CODED LAMPS, 1994

John Baldessari, Six Color coded Note Pads, 1994

John Baldessari beschäftigt sich nach einem Studium der Malerei und der Kunstgeschichte seit den siebziger Jahren vor allem mit Fotografie. Ausgangspunkt seiner Arbeit sind die populären Bildwelten der Massenmedien. Neben eigenen Aufnahmen dienen ihm Reportagefotografien, Illustriertenfotos und Filmstills als Material für Fotoserien, Collagen und Installationen.

In den frühen achtziger Jahren interessiert sich Baldessari vor allem für die Mechanismen der Repräsentation. Er arbeitet mit Fragmenten aus Filmstills und nutzt deren narrative Kraft, um anhand immer neuer Kombinationen die Wirkung der Gesten, die Bedeutung der Körpersprache und die Stereotypen des Sehens zu untersuchen. Eines seiner prägnantesten Mittel, mit dem er die Aufmerksamkeit auf Ausdrucksformen – wie die Körpersprache – lenkt, besteht darin, die Gesichter von Personen mit kreisrunden Flächen zu bedecken. Durch diesen Eingriff wird die an Gesichtern orientierte „Hierarchie des Sehens“ (John Baldessari) aufgebrochen und eine eindeutige Rezeption vereitelt. In anderen Arbeiten, wie z. B. „Floating: Color“ (1972) fügt Baldessari rein formal konzipierte, dem Farbspektrum folgende Flächen in Aufnahmen einer alltäglichen Hausfassade ein, so dass eine f luktuierende Vielfalt von formalen und inhaltlichen Bedeutungsebenen eröffnet wird.

Obwohl Baldessari die Mechanismen und Strategien der populären Bilder offen legt, geht es ihm nicht primär um eine politisch oder moralisch begründete Kulturkritik. Die analytische Dimension wird in seinen Arbeiten nie zum Selbstzweck, sondern ist von ironischer Ambivalenz getragen. Vor allem in seinen jüngeren Arbeiten treten die narrativen Dimensionen gegenüber den rein formalen Aspekten in den Vordergrund. Thematisch werden die Gefühle, persönliche Erinnerungen und die Mythen, die diesen vertraut erscheinenden Bildern anhaften und je

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spezifische Assoziationen hervorrufen.

Die Arbeit „Six Color Coded Note Pads“ und „Six Color Coded Lamps“ konzipierte John Baldessari eigens für einen von ihm ausgewählten Konferenzraum in der DZ BANK. Die Installation setzt sich aus acht Fotografien zusammen. Es handelt sich um Ausschnitte aus Filmstills, die Baldessari vergrößerte und teilweise mit Acryl-Farbe übermalte.„Six Color Coded Note Pads“ und „Six Color Coded Lamps“ sind auf gegenüberliegenden Wänden angebracht. Der eine Teil der Arbeit zeigt eine spiegelnde Tischfläche, auf der repräsentativ, in Reihe und Glied angeordnet, Schreibgeräte und Schreibblöcke zu sehen sind. Ein offizielles Arrangement, das einem in den Fernsehnachrichten allabendlich begegnet. Offensichtlich werden an diesem Tisch wichtige Dinge entschieden. Die beteiligten Perso-nen bleiben jedoch anonym, ihre Anwesenheit ist nur durch ihre auf dem Tisch liegenden Hände und ihre ruhige Gestik markiert. Wer über was entscheidet, bleibt offen.

Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass beide Teile von „Six Color Coded Note Pads“ aus derselben Aufnahme bestehen und sich jeweils spiegelverkehrt aufeinander beziehen. Maßgeblich unterschieden sind sie durch die Farbgebung. Sind in einem Bild links außen die Schreibblöcke gelb, orange und rot markiert, sind sie auf dem anderen rechts außen violett, blau und türkis übermalt. Zum narrativen Gehalt der Fotos tritt nun die Ebene des Formalen:Fragen der Symmetrie und der abstrakten Farbbezüge kommen ins Spiel. Betrachtet man „Six Color Coded Lamps“ auf der gegenüberliegenden Seite, trifft man wieder auf die sechs Farben des Farbspektrums, die nun den Schirmen sechs unterschiedlicher Tischlampen zugeordnet sind. Die Farbgebung folgt von links nach rechts dem Farbkreis und stellt so quer durch den Raum eine Beziehung zur gegenüberliegenden Seite her. Auch auf der narrativen Ebene lässt sich eine Beziehung herstellen. Sind die anonymen Teilnehmer der Konferenz durch ihre Schreibunterlagen farbig markiert, trifft diese Zuordnung nun auf einer ganz anderen Ebene, der Ebene der privaten Einrichtung jeweils ihr Pendant. Die Rollenförmigkeit und Anonymität des einzelnen im Berufsleben wird konfrontiert mit den persönlichen Vorlieben in der Wohnungseinrichtung. Diese komplexe Bezugnahme innerhalb verschiedener Bedeutungsebenen wird durch die Funktion des Raumes, in dem die Arbeit gezeigt wird, noch gesteigert. Die realen Handlungsabläufe im Konferenzraum eines Bürohochhauses werden gespiegelt durch ein Kunstwerk, das wiederum selbst ein Konferenzgeschehen repräsentiert, das in einem Spielfilm seinen Ausgangspunkt hat.

John Baldessari wurde 1931 in National City, Kalifornien geboren. Er lebt und arbeitet in Santa Monica, Kaliforni-en.

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38. ETAGE, RAUM 08

ANDREAS GEFELLER

OHNE TITEL, 2006AUS DER SERIE: SUPERVISIONS

Andreas Gefeller, Ohne Titel, Aus der Serie: Supervisions, 2006

Leben heißt Spuren hinterlassen. Der Künstler Andreas Gefeller ist ein Spurenleser der besonderen Art. In meist urbanen Innen- und Außenräumen findet er Spuren, die ehemals anwesende Menschen – und die Natur – dort hinterlassen haben. So erkennen wir in einem Bild die Abdrücke eines Kirmeskarussells auf einer Wiese, in einem anderen die geordnete Unordnung der vielen Küken auf dem Boden einer Hühnerzucht, und zwar jeweils erst auf den zweiten Blick. Die Bilder Gefellers erscheinen nämlich zunächst wie Werke abstrakter, konstruktiver Kunst, denn sein Bildverfahren folgt dem Prinzip der direkten Aufsicht („supervision“). Dadurch werden alle Dinge flächig.Im Unterschied zum klassischen Luftbild wird hier unser Sinn für Entfernungen verunsichert. Denn der Künstler hat eine Stativstange am Körper befestigt, an der in ca. zwei Meter Höhe die Kamera befestigt und lotrecht nach unten gerichtet ist. Entscheidend ist nun, dass Gefeller das Motiv wie ein Konzeptkünstler systematisch abgeht und es fotografisch vermisst, indem er eine große Zahl von Oberflächen-Ausschnitten aufnimmt. Das fertige, meist großformatige Werk ist jeweils eine digitale Konstruktion aus Hunderten solcher Einzelaufnahmen. Wie in diesen Bildern hat man die Dinge noch nicht gesehen.

Die zentralen Formen bei Gefeller sind Strukturen und Muster (etwa das der Golfbälle auf dem Grün in einer anderen Arbeit in dieser Sammlung). Im Fall der grauen Arbeit ohne Titel aus dem Jahr 2006 ist das Raster

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strukturbildend. Wie in bislang keinem anderen Werk hat sich der Künstler hier einem berühmten architektoni-schen Ort zugewandt, dem Holocaust-Mahnmal neben dem Brandenburger Tor. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas des New Yorker Architekten Peter Eisenman besteht im Wesentlichen aus einem wellenförmigen Feld von über 2.700 grauen Betonstelen – eine abstrakte, rasterartige Form. Die Menschenleere, die Gefellers Bilder durchgehend auszeichnet, bekommt hier eine tiefere Bedeutung, spricht das Mahnmal doch gerade Trauer, Verlust und Verlorenheit an. Dafür scheint auch der Schnee zu stehen. Doch der Künstler hat sich, wie die Besucher, den Ort und Erinnerungsraum „erlaufen“ und damit über deren Spuren Anwesenheit und ein Nicht-Vergessen doku-mentiert.

Andreas Gefeller, 1970 geboren, studierte an der Universität Essen bei Prof. Bernhard Prinz. Er lebt in Düsseldorf.

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38. ETAGE, RAUM 11

MARIO MERZ

ISOLA DELLA FRUTTA, 1975

Mario Merz, Isola della Frutta, 1975

Das fotografische Bild spielt im Werk des 1925 in Mailand geborenen Malers, Bildhauers und Installationskünstlers Mario Merz keine zentrale Rolle. Man würde aber der Fotoserie „Isola della Frutta“ aus dem Jahre 1975 nicht gerecht, hielte man sie bloß für eine „Dokumentation“ oder „Verwertung“ einer Installation.

Die 35 Aufnahmen dieser wandfüllenden Serie zeigen zwar Ansichten einer großen Raum-Installation aus Tischen, Glas, Stein, Metall, Früchten, Gemüse, Zweigen und Neon-Zahlen, sind aber so nah an den Gegenständen und so fern von der Intention einer Raumbeschreibung, dass hier in eigenständiger Weise Prinzipien des künstlerischen Denkens von Mario Merz entfaltet sind. Dadurch wird diese für den Künstler seltene fotografische Arbeit beson-ders interessant. Denn nicht nur ist bei der „Insel der Früchte“ die Verschmelzung von Räumen, die Durchdrin-gung von innen und außen, Grundgedanke der Installation, sondern auch im Verhältnis der Installation zu ihrer Verwandlung in eine Farbfotoarbeit. Das Metall der Fotorahmen und die Neonzahlen dieser Wandarbeit kommen ja auch im dreidimensionalen Raum der Installation vor. Neon ist Licht, und Licht ist die Grundvoraussetzung der Fotografie – Talbots „Pencil of Nature“ schreibt mit Licht.

Wie in einer Prozession durchwandern die aneinander gereihten Tische voller Garten- und Feldfrüchte das ansons-ten leere Haus und machen es zu einer Insel der Kulturlandschaft im Innenraum. Natur und Kultur, Reifung und Alter, Leben und Tod scheinen als Einheit vorgestellt. Man meint Anklänge an das Leben im Mittelalter zu vernehmen. Doch das Neonlicht verweist auf die Moderne.

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Die Zahlen zeigen die Fibonacci-Reihe des Pisaner Mathematikers aus dem 13. Jahrhundert, mit der das ästhetische Ideal des Goldenen Schnitts verwandt ist. Das Prinzip der Proliferation liegt dieser Zahlenreihe, der Prozession der Tische und eben der Fotografie zu Grunde, in dem Sinn, dass letztere auf dem Negativ und beliebig vielen Abzügen beruht.

„Die Natur ist die Kunst der Zahl“, sagt Merz, der seit 30 Jahren mit dem Iglu als Ideal organischer Form arbeitet. Das ist jedoch kein Organizismus. So wie die Fibonacci-Reihe sowohl ein archaisch-naturwüchsiges als auch ein abstrakt-naturwissenschaftliches Phänomen darstellt, sind bei Merz die Widersprüche zwischen Natur und techni-scher Zivilisation im doppelten Wortsinn „aufgehoben“.

Mario Merz wurde 1925 in Mailand geboren. Er starb 2003 in Turin.

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38. ETAGE, RAUM 13

WOUTER DERUYTTER

THREE FORKS (I), MONTANA, 1997

Wouter Deruytter, Three Forks (I), Montana, 1997

Nicht gesellschaftsfähig. Der deutsche Titel des 1960 entstandenen Films The Misfits von John Huston verbirgt sich als heimliches Leitmotiv hinter den fotografischen Zyklen, mit denen der 40-Jährige, in New York und Minneapolis lebende belgische Fotograf Wouter Deruytter seit den neunziger Jahren Menschen einkreist, die außer-halb gewohnter Arbeitsverhältnisse den Wirklichkeitsgehalt ihrer Träume zur Lebensrealität machen. The Misfits erzählt mit Clark Gable, Marilyn Monroe und Montgomery Clift von einer solch existentiellen Ausnahmesituation. Die Männer der Dreiecksgeschichte fangen Wildpferde und reiten sie zu: Rodeo bietet ihnen die Möglichkeit, im verblassenden Mythos der Helden des Wilden Westens für gefährliche Augenblicke mehr zu sein als gewöhnliche Personen in einer gewöhnlichen Welt. Deruytters „Cowboy Code“ sucht und findet sozusagen im Acht-Sekunden-Takt (solange dauert es meist bis zum Abwurf) die heldenhaften und die dramatischen Momente einer immer wieder neu begonnenen Sisyphus-Arbeit: Konfliktbewältigung auf dem Rücken der Pferde und der Stiere. Sein Cowboy aus Big Timber, Montana, besinnt sich auf eine rituelle Haltung vor dem Zweikampf mit der Kreatur. Es sind solche gegen die Gewöhnlichkeit gesetzten Rituale, deren Dramatik Deruytter nach dem Studium im heimi-schen Gent und am New Yorker International Center of Photographie tragisch und komisch auf vielfältigste Weise belichtete. Rusty Boccaleoni, Farmer und Biologe, stand als Hauptdarsteller der Rodeomotive bis zu seinem frühen Tod im Alter von 29 Jahren als jugendlich eleganter Arbeitsheld in der ritterlichen Tradition zwischen mittelalterli-cher Tafelrunde und Luke Skywalker. So muss man alle zwischen Eleganz und Violenz beobachteten Akteure in den exzentrischen Lebenskreisen ihrer selbst geschaffenen, Vergangenheit und Gegenwart kompilierenden Realitä-

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ten sehen. Deruytter hat das Artistenpaar David McDermott und Peter McGough bei seinen modernen artistischen Exkursionen in Gewandungen und Räumlichkeiten des frühen 19. Jahrhunderts begleitet. Er hat den Schlangenbe-schwörern, Feuerschluckern und Raubtierdompteuren eines „Circus in Egypt“ ebenso wie den kriegerisch wilden Sportreitern eines arabischen Stammes zu auratischer Ausstrahlung verholfen. Seinen festen Platz in der fotografi-schen Kunstgeschichte sicherten ihm die Drag Queens, jene als verführerisch attraktive Diven gekleideten homose-xuellen Männer, die in ihrer gleisnerischen Pracht und im Mittelpunkt wüst exklusiver Partys die bizarre Seite jener Schönheit verkörpern, auf die sich Deruytter zu Beginn seines Weges konzentrierte, als er in Brüssel die tänzeri-schen Expressionen der Ballett-Truppe von Maurice Bejart fokussierte – bereits fasziniert von der schönen grotesken Maskenrealität seines symbolistisch malenden Landsmanns James Ensor. So sind auch die Cowboys schließlich in der Tradition amerikanischer Poeten und Sänger, Maler und Musiker wie Aaron Copland, der ein Rodeo-Ballett schrieb, bei Wouter Deruytter zu mythisch realen Ehren gelangt.

Wouter Deruytter, 1967 in Roeselare Belgien geboren, lebt in Brügge und New York.

Günter Engelhard

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38. ETAGE, RAUM 14

JOCHEN GERZ

YOUR ART #3, 1991

Jochen Gerz, Your Art #3, 1991

„Your Art #3“ von 1991 ist im Zwischenbereich verschiedener Ausdrucksformen angesiedelt. In diesem Spannungs-feld kommt es zu der Dialektik, die für das gesamte Werk von Gerz bezeichnend ist und die eine seiner Grundbe-dingungen darstellt. „Your Art #3“ kombiniert einen Text mit einer Anzahl von Schwarzweißfotografien, deren Sujets nicht leicht zu bestimmen sind. Die nur langsam entschlüsselbaren Sätze handeln vom schwierigen Verhält-nis des Künstlers zu seiner Kunst, das mit dem zu einer Frau verglichen wird. Am Ende steht die utopische Vision eines Ortes, an dem es keine Künstler mehr gibt, da die Kunst ins Leben integriert ist. Erst an diesem Ort ist die unüberbrückbare Differenz zwischen Kunst und Leben aufgehoben, die eines der zentralen Themen im Werk von Jochen Gerz darstellt. In diesem Grundthema haben sowohl seine Aktionen der siebziger Jahre und seine sozialuto-pischen Initiativen als auch die Foto-Text-Arbeiten und Mahnmale der letzten zehn Jahre ihre Wurzeln. Im Gegensatz zu den Arbeiten der frühen siebziger Jahre, die bewusst ganz unscheinbar gehalten waren, ist die ästheti-sche Präsenz der neueren Arbeiten evident.

Zum Schwarzweiß der Fotografie und des Textes tritt in bestimmten Partien ein sattes Rot. Eine solche kontrastrei-che Farbigkeit, die gewissermaßen die konstruktivistische Tradition fortsetzt, verstärkt die Wirkung des großen Formats. Die Klarheit des Aufbaus, das gestochen Scharfe und wie ziseliert wirkende Partien verleihen den Arbeiten einen kühl wirkenden Zug zum Intellektuellen.

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Für Gerz spielt die Auseinandersetzung mit der Geschichte eine wichtige Rolle. Daran hat auch eine Arbeit wie „Erase the Past“ (1991) Anteil: Neben der schwarzen bzw. roten Abdeckung von Bildpartien bleiben noch genug Elemente sichtbar, um die Wachtürme bzw. die ebene Landschaft mit Orten der Gewalt, der Freiheitsberaubung, mit tödlichen Grenzen zu identifizieren. Gerz‘ Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist letztlich immer wieder eine mit der jüngeren deutschen Geschichte und dem Holocaust als eklatantestem Beispiel für ein Entglei-sen der Menschlichkeit. In diesem Zusammenhang sind auch die im Lauf der letzten zehn Jahre entstandenen öffentlichen Denk- bzw. Mahnmale zu sehen: das aus einer versenkbaren Bleisäule bestehende Harburger „Monu-ment gegen den Faschismus“ (1986-1993), in welche die Bürger Eintragungen zu machen aufgefordert sind; das 1991-1993 in Saarbrücken mit Hilfe von Kunststudenten ausgeführte „Mahnmal gegen Rassismus“, bei dem 2.146 Pflastersteine an ihrer Unterseite den Namen eines jüdischen Friedhofs tragen; das „Monument vivant de Biron“ (1995/96), an dem die Antworten der Bewohner des französischen Dorfes auf die Frage, was denn heute noch den Einsatz des Lebens lohne, in Form kleiner Plaketten angebracht sind. Alle diese Denkmäler zeichnet ihr offener Charakter aus. Der Künstler gibt einen Impuls, der in einem bestimmten sozialen Umfeld einen (durchaus auch kontroversen) Reflexions- und Handlungsprozess hervorbringen soll. Mit Bezug auf das Harburger Denkmal hat Gerz gesagt: „Nichts kann auf Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben.“ Ohne die lebendige Auseinandersetzung der Menschen mit Gegenwart und Vergangenheit bleibt ein Monument tote Materie, daher Gerz‘ verschiedene Strategien, Menschen zu einem Teil seiner Werke zu machen. Auf diese Weise ist es ihm gelun-gen, ein tot geglaubtes Genre wie das öffentliche Denkmal wieder zu beleben und zugleich eine durchaus zu ihrem Kunstcharakter stehende Kunst sozial wirksam werden zu lassen. Wichtiger als das geschlossene Werk, also etwa eine Skulptur, ist für Gerz seit seinen Anfängen das Offenhalten von Fragen. Gewissheit gibt es nur bezüglich der Notwendigkeit einer nie ans Ende gelangenden Reflexion.

Jochen Gerz wurde 1940 in Berlin geboren. Von 1966 und 2007 in Paris, lebt er heute in Irland.

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38. ETAGE, RAUM 15

MIKLOS GAÁL

PARK BENCH, 2004 / THE WESTERN WALL, 2005

Miklos Gaál, The Western Wall, 2005

Die erste Reaktion auf Miklos Gaáls Arbeiten ist ein Reflex: Unser Blick tastet unwillkürlich in den weiträumig unscharfen Fotografien, bis er einen Bereich höchster Tiefenschärfe gefunden hat. Erst hier kommt das Auge zur Ruhe, denn alles um den Fokus herum widerspricht der Automatik unseres Sehens, das Unschärfe nicht toleriert und permanent nach optischem Halt sucht. Der Künstler scheint uns einen Schritt voraus zu sein: Seine Bilder fokussieren immer schon das, wonach unsere Augen noch suchen. Indem sich Schärfen und Unschärfen nicht mehr mit Nähe und Ferne decken, hebt er räumliche Zusammenhänge auf und konterkariert unsere Sehgewohnheiten.

In der Fotografie ist Unschärfe eine feste Größe. War sie zu Beginn ihrer Geschichte ein lästiger Feind der Technik, avancierte sie rasch zu einem rhetorischen Ausdrucksmittel. So wie das Licht erst durch den Schatten seine Qualität bekommt, hebt die Unschärfe den fokussierten Bereich hervor und bewahrt das Foto vor der Gleichwertigkeit aller optischen Daten. Indem sie unseren Blick lenkt, wird die Unschärfe zu einem ebenso sensiblen wie wirkungsvollen Medium der Bildregie. Für Miklos Gaál ist sie kein intuitiv benutztes Mittel unter vielen, vielmehr stellt ihr Einsatz beim Fotografieren neben der anschließenden sorgfältigen Wahl des Bildausschnittes das wichtigste Charakteristi-kum seiner Kunst dar. Hierdurch entsteht ein Effekt, der die abgebildete Welt wie als Modell erscheinen lässt.

Die Bilder von Gaál versetzen uns in die Rolle des Observators. Wir beobachten aus der Vogelperspektive, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Wie durch ein Zielfernrohr wird der einzelne Mensch fixiert, ohne dass er es ahnt.

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Höhe und Distanz des Betrachtungspunktes verleihen dem Betrachter Macht. Diese fiktiven Observationen haben in einer Welt unsichtbarer Terrorbedrohung und sich ausbreitender Videoüberwachung in den Zentren der Metro-polen durchaus eine politische Dimension.

Miklos Gaál wurde 1947 in Espoo, Finnland geboren. Er lebt in Amsterdam und Helsinki.

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40. ETAGE

LARRY FINK, ARNO FISCHER, GERT KITTEL

MENSCHENBILDER

Arno Fischer, DDR, Müritz, 1956/96

Die auf dieser Etage nicht unter monografischen, sondern thematischen Gesichtspunkten vereinten Fotografien zeigen Leute und Orte aus unterschiedlichen Räumen und Zeiten.

Arno Fischer war eine Art Otto Steinert der DDR. Bis zur Wiedervereinigung im Westen nahezu unbekannt, war er der führende Vertreter des klassischen Bildjournalismus im anderen deutschen Staat. Seine in mehrfacher Hinsicht historisch gewordenen Aufnahmen aus dem Berlin der 1950er Jahre zeigen eine zwar geteilte, aber noch nicht vermauerte Stadt. Auffallend bei allem Dokumentarismus sind sowohl der subjektive als auch überzeitliche Aspekt: Fischers, wie man heute sagen würde, „human interest“. Das zum Teil desolate Lebensgefühl im Nach-kriegsalltag zeigt sich auch an den Motiven der Zäune, Mauern und Geländer. Die Generation Fischers musste noch um die Anerkennung der Fotografie als Kunst kämpfen. So sind die Referenzen zur Kunstgeschichte und die kompositionelle Durchgestaltung seiner Bilder nicht zu übersehen, etwa die Rückenfiguren wie bei Caspar David Friedrich oder die Menschen auf der sonntäglichen Wiese, die an Seurats „La Grande Jatte“ (1886) denken lassen. Gerade heute, in den Zeiten von „Good bye, Lenin“ und der neuen Hauptstadt entfalten diese Bilder einen großen Resonanzraum.

Ein klassischer Fotojournalist ist auch der Amerikaner Larry Fink, der hier mit Arbeiten aus seiner Serie „Brokers“ aus den 1980er Jahren vertreten ist. Über 20 Jahre nach Fischers Bildern von Menschen in Berlin aufgenommen,

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lassen Finks dynamische Wall-Street-Bilder vom Typus des Brokers Fischers Berlin noch provinzieller aussehen als es damals wohl gewesen ist. Fischer ist zwar den Menschen nah, aber durch sein leichtes Weitwinkelobjektiv auch von der Szene distanziert. Larry Fink geht ganz nah ’ran und lässt nicht zuletzt durch seinen radikalen Gebrauch des Blitzlichts quasi private Momente im harten wie hektischen Arbeitsalltag der Börsenmakler aufscheinen. Es ist interessant, diese Bilder mit denen zu vergleichen, die Tamara Grčić (zu sehen auf der 26. Etage) in Büros dieses Hochhauses aufgenommen hat. Hatten die Berliner noch auffallend oft „den Foto“ umhängen, hängt hier alles am Telefon – Globalisierung avant la lettre.

Die in den 1990er Jahren aufgenommenen Farbfotos von Gerd Kittel stammen aus seiner Serie über die legendäre amerikanische Route 66 („Mother Road of America“) – hier aus dem Südwesten der USA –, dem in die Jahre gekommenen amerikanischen Traum. Die Arbeiten hier zeigen zumeist ältere Menschen in ihren kleinen Läden. Der Fotograf ist ihre Öffentlichkeit. Das heißt, sie wissen, dass sie fotografiert werden und sitzen als Individuen in ihrem jeweiligen Universum von realen Dingen, in dem sie ihre Vergangenheit und Zukunft, ihre Identität und Heimat momentan versammelt haben.

Gerade der Kontrast dieser Farbfotos aus den 1990er zu Fischers Schwarzweißbildern aus den 1950er Jahren macht deutlich, dass wir heute – da die Bilder Kittels auch schon wieder ein Jahrzehnt alt sind und im Grunde ein Amerika von gestern beschreiben – nicht nur in einer fototechnisch anderen Zeit leben, sondern verweist auch auf das Altern der Fotografie selbst.

Larry Fink, 1941 in Brooklyn geboren, lebt in Pennsylvania.Arno Fischer, 1927 im Berliner Wedding geboren, lebt im brandenburgischen Gransee.Gerd Kittel, 1948 in Düsseldorf geboren, lebt in Bad Homburg.

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42. ETAGE

LUIGI GHIRRI

Luigi Ghirri, Cadecoppi, 1986

Seine Bilder scheinen nichts zu wollen. Ihren Sinn entwickeln sie in einer unspektakulären Stille. Sie sind Zeugnis-se einer Suche nach der ordnenden Funktion des Sehens, nach Präzision und Klarheit, inmitten der Bilderflut, die unser zeitgenössisches Bild der Welt bestimmt. Luigi Ghirri fand seine Motive vor allem in der Umgebung, in der er lebte, der oberitalienischen Landschaft Emilia Romagna. In Serien, die verschiedenen Motivgruppen gewidmet waren, entwarf er ein umfassendes Panorama dieser Gegend. Thematisiert werden die Po-Ebene mit ihren Kanälen, das Meer, die Städte, Gärten, Museen und Bibliotheken. Aus dieser Reihung ist schon ablesbar, dass es dem Fotografen nicht um dramatische Szenen oder um das Festhalten des Augenblicks ging, sondern vielmehr um Kontinuität und Stille. Menschen erscheinen auf seinen Bildern nicht als Akteure im Mittelpunkt, sondern gehen, sofern sie überhaupt vorhanden sind, eher unauffällig ihren Geschäften nach. Die Farben bilden ein Gegengewicht zu der zentralperspektivisch ausgerichteten Präsentation des Motivs. Das Gelb eines unscheinbaren Mauerchens oder das verhaltene Rot eines landwirtschaftlichen Geräts werden in diesen Fotos zum Ausgangspunkt eines inneren Gefüges, das den vermeintlich zufälligen Ausschnitt aus einer alltäglichen Landschaft, zu einem eigenständigen Bild werden lässt, dessen Wirkung sich unabhängig von Zeit und Ort seiner Entstehung entfaltet. Ghirri ließ bewusst zu, dass seine Bilder an Bekanntes erinnern, an Postkarten, an Amateur-fotografien oder auch an Malerei. Er bezog sich in seiner Arbeit auf diesen Fundus von Bildern und Fiktionen, mit dem wir unsere Realität beschreiben, ohne mit diesem in einen vordergründigen Wettbewerb zu treten, indem er

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z.B. noch „schönere” Motive finden wollte.

Luigi Ghirri wurde 1943 in Scandiano in der Reggio Emilia geboren und begann 1970 als Autodidakt zu fotogra-fieren. Er lebte bis zu seinem Tod 1992 in Modena.

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45. ETAGE

RALPH GIBSON

DÉJÀ-VU

Ralph Gibson, Ohne Titel, Aus der Serie: The Somnambulist, 1969

Die Bilder erinnern vage an andere Bilder. Aber es fällt schwer, dem Gedächtnis eine genauere Zuweisung abzutrot-zen. Sie wirken fremd und vertraut zugleich, als habe man sie längst verinnerlicht. Selbstverständliche Bestandteile der subjektiven Vorstellungswelt, die zur allgemeinen Orientierung notwendig ist. Ralph Gibson, der Autor dieser Bilder, geht noch einen Schritt weiter. Er will mit Hilfe der Fotografie die Bilder des Traums und des Mythos beschwören, die im Schatten des menschlichen Bewusstseins existieren. Der Surrealismus hat seine künstlerische Haltung beeinflusst. Für ihn ist ein „Surrealist jemand, der lieber in seinem Unterbewusstsein lebt ...“ Die surrea-listische Einstellung vertieft in seinen Augen das Verständnis der Realität. Gibsons Ansicht ist umso erstaunlicher, als er aus der Schule der „Straight Photography“ stammt. Bei der amerikanischen Marine hat er das Metier erlernt, anschließend besuchte er das San Francisco Art Institute. Danach heuerte er als Assistent bei Dorothea Lange an, siedelte ein paar Jahre später nach New York über, um Robert Frank bei der Realisierung eines Films zu assistieren. Er übernahm dessen Atelier und gründete Lustrum Press. Dort brachte er seine eigenen Bücher und auch die anderer Fotografen in vorbildlicher Gestaltung heraus. „The Somnambulist“ (1970) war die erste Veröffentlichung von Lustrum Press aus seiner Hand. Der Titel spielt auf sein ästhetisches Konzept an, und um es in seinem Sinne ohne jede Einflussnahme von außen zu verwirklichen, wollte er die völlige Kontrolle über seine Bilder ausüben – auch über die Art und Weise ihrer Reproduktion, ihrer Buchform und ihrer Vermarktung.

Als einer der ersten unter den Fotografen steuerte Gibson einen künstlerischen Kurs. Der folgte einer Route, den

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viele abstrakte Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgesteckt haben. Nach und nach reduzierte der Fotograf die faktenreiche Detailfreude seines Mediums auf überschaubare formale Grundmuster. In praxi vollzog sich der Prozess kontinuierlicher Abstrahierung der sichtbaren Welt durch eine Konzentration auf wenige Gegen-stände und deren anschließende Fragmentierung. Häufig isolierte er auch nur einen einzigen Gegenstand aus der Fülle der fotografischen Möglichkeiten und zerbrach seine vermeintliche Geschlossenheit mit Hilfe radikaler Anschnitte. Die außerordentlich suggestiv wirkende Aufnahme „Infanta“ (1987) zeigt in diagonaler Ausrichtung, von rechts in die Bildfläche ragend, das Detail eines weiblichen Gesichts. Aber nur das beherrschende Auge mit den langen, fein ziselierten Wimpern und der leicht geschwungenen, fast gerade verlaufenden Augenbraue erweckt die entsprechende Assoziation. Was in Wahrheit anschaulich wird, ist nichts weiter als eine spitzwinklige Konfigurati-on in betonter Schattierung auf f lachem weißem Fond. Diese wiederholt die Form des weißen Fonds, um 90 Grad gedreht, der ein Drittel der Bildfläche bedeckt und mit der übrigen, in homogener Schwärze gehaltenen Bildebene kontrastiert.„Déjà-vu“ (1972), gleichsam ein Schlüsselbild, vergegenwärtigt Gibsons künstlerisches Konzept in ironischer Brechung. Die Gegenständlichkeit der Aufnahme ist beinahe getilgt, von links bewegt sich die Silhouette eines männlichen Fragments ins Bild, in der Hand eine weiße Latte. Die Struktur der Aufnahme basiert auf zwei sich kreuzenden Diagonalen, eine, die helle, in doppelter Ausführung. Die weiße Latte repetiert einen weißen Streifen auf dem Boden der aus der Vogelperspektive aufgenommenen Fotografie. Doch erst ein zweiter Blick vermag den tatsächlichen fotografischen Sachverhalt zu entdecken, denn in optischer Hinsicht hat sich der weiße Streifen von seiner Basis gelöst und das fotografische Bild aus der räumlichen Illusion der Aufnahme in die überprüfbare Faktizität des Fotografischen gezwungen, nämlich der Flächenhaftigkeit des Fotopapiers. Ralph Gibson treibt ein hintersinniges Spiel mit den Konventionen der Wahrnehmung, ein Spiel über Sein und Schein des fotografischen Anspruchs auf Authentizität, ein Spiel über Sehen und Einbilden, über Erkennen und Phantasieren. Die Grenzen verschwimmen in seinen Bildern, lediglich die Ironie, die sich manchmal in der Korrespondenz von Titel und Bild wie beispielsweise bei der Suite „In situ“ entwickelt, liefert den irritierten Betrachtern den Ariadne-Faden zur Einsicht in die ästhetischen Zusammenhänge, die zugleich Reflexe der Zusammenhänge aller Erfahrungswelt sind.

Ralph Gibson ist 1939 in Los Angeles geboren und lebt heute in New York.

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46. ETAGE

HEINRICH RIEBESEHL, TIMM ULRICHS

VON SCHNECKEN UND ANDEREM GETIER

Timm Ulrichs, Blaues Wunder (II), 1972/1991

Als habe der „Schneckenfänger“ von Hameln gerufen, kriechen unzählige Weinbergschnecken, deren Häuser leuchtend blau bemalt sind, auf einen zentralen Punkt zu und formieren sich schließlich auf „wundersame Weise“ zu einem exakten Quadrat. Freilich erscheint diese rätselhafte Fügung, die Timm Ulrichs in einer neunteiligen Serie von Farbfotografien dokumentiert, nur solange mysteriös bis der Betrachter die „Leserichtung“ umkehrt. Die Inspiration zu seiner Arbeit erhielt Timm Ulrichs durch das Sammelverhalten eines australischen Vogels: Das Männchen des Seidenlaubenvogels errichtet einen Balzplatz, eine Laube aus Zweigen, die der Vogel mit blauen Gegenständen, wie Blüten, Federn, Insekten, Beeren, Schneckenhäusern oder Glasscherben auslegt. Dieser Sam-meltrieb des Vogels entspringt einem Imponiergehabe, um mit der verführerisch geschmückten Laube sein Weib-chen zu erobern.

Während Timm Ulrichs seine Protagonisten in Szene setzt, pflegt Heinrich Riebesehl einen gänzlich anderen Umgang mit seinem Motiv. Er sehe seine Aufgabe „in der authentischen und systematischen Wiedergabe meiner Umgebung“. Als er nach diesem Grundsatz in den 1970er Jahren die Landschaften seiner deutschen Heimat in der bei Otto Steinert gelernten Schwarzweiß-Technik aufnahm, war auch ein anderer Künstler der DZ BANK Kunst-sammlung auf Erkundungsreise. Der Amerikaner Stephen Shore brachte sein Land, die USA allerdings bereits in Farbe aufs Bild und wurde damit zum wichtigsten Pionier der Farbfotografie.

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Bei allem Dokumentarismus zeichnen sich Riebesehls Aufnahmen durch eine quasi heimliche poetische Aufladung aus. Banale Figuren wie beispielsweise ein Anhänger mit Kartoffelsäcken oder eine Herde Schafe auf dem Acker werden so zu Wesen, die es in sich haben und eine große Anziehungskraft auf uns ausüben. Die Schafe und Kühe bei Riebesehl sind Herdentiere der Landwirtschaft und auch als formale Strukturen im Bild Teil der Landschaft, „seiner Umgebung“.

Heinrich Riebesehl wurde 1938 in Lathen/Ems geboren und verstarb 2010 in Hannover.Timm Ulrichs wurde 1940 in Berlin geboren, lebt und arbeitet in Hannover, Münster und Berlin.

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50. ETAGE

JAMES TURRELL

SKYLOBBY-BAR, 1998

James Turrell, Skylobby-Bar, 1998

James Turrell hat sich wie kaum ein anderer dem Licht verschrieben. Er hat die Welt ausgiebig aus der Luft und der Vogelperspektive betrachtet. Nicht aus einem Linienflugzeug, sondern aus dem stürmischen Cockpit einer Kurier-maschine. Denn sein Wunsch Kunst und Psychologie zu studieren, stieß in seiner Quakerfamilie, die seit Generati-onen nur aus Farmern bestand, auf erheblichen Widerstand. So musste er selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen und flog mit einer kleinen Propellermaschine, in relativ niedriger Höhe, Kurierpost durch die USA. Aus dieser Perspektive entdeckte er besondere Lichtspiegelungen, die dann zum Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit wurden. Als Psychologe war es ihm natürlich wichtig, auch die besondere Wahrnehmung von Licht zu untersuchen. Als Künstler schließlich verwandelte er das Licht in Form. Dass ihm das auch gelingt, beweist die Tatsache, dass die Betrachter seiner Werke oft versuchen, das Licht seiner Installationen anzufassen.

Über James Turrell schrieb die New York Times: „Es ist unmöglich das Wort visionär nicht anzuwenden, wenn man das Werk von James Turrell beschreibt, … obwohl das Wort peinlich abgedroschen ist, fühlt es sich auf Turrell angewandt brandneu an. Das liegt daran, dass Turrell, wie kein anderer Künstler der vergangenen drei Jahrzehnte, den Widerspruch zwischen dem was vorhanden ist und dem was vorhanden zu sein scheint – zwischen der Grenze des Spirituellen und der Persistenz der Tatsachen – dem Betrachter anbietet als wär’s ein Geschenk …“

Für den Künstler war es eine große Herausforderung die Funktion dieses Raumes mit seiner meditativen Kunst zu

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verbinden. Dies ist im übrigen die komplexeste Arbeit, die er jemals realisiert hat. Es gibt unterschiedliche Lichtsi-tuationen und –intensitäten für unterschiedliche Situationen. Darüber hinaus gibt es im Raum vier Elemente, die im ständigen Lichtwechsel stehen. Von außen nach innen: das Panoramafenster, die Türen, die Wet-Bar und die Back-Bar. Die Komplexität der Installation wird zusätzlich erhöht durch eine große Anzahl von Programmen, die je nach Situation und Zeit, die man zur Verfügung hat, eingestellt werden können. Alleine die Titel dieser Program-me sind ein Versprechen für ein besonderes Erlebnis: „Coat of many Colours“, „Coat of Blue“, „Out of Magenta“, „Fade out“, „Long Journey into Night with reading Level“.

Für James Turrell ist Kunst Ruhe und Meditation, die nicht zuletzt Stressabbau bewirken. Wenn man die Kunst auf sich wirken lässt, wird man bereits nach kurzer Zeit feststellen, dass dieser Raum eine ganz besondere Qualität hat. Zur immateriellen Lichtkunst James Turrells gesellt sich die eigens für den Raum komponierte Musik des Cellisten Frank Wolff mit dem Titel: „Schwebungen mit Licht“ dazu, die stimmungsvoll den Gesamteindruck des Raumes wiedergibt.

Auch Frank Wolff ist kein Unbekannter. Als Gründungsmitglied des Frankfurter Kurorchesters, aber vor allem als Cello-Virtuose hat sich Frank Wolff weit über die Grenzen Frankfurts hinaus einen Namen gemacht. Frank Wolff hat sich vor Ort von den Lichtvariationen Turrells inspirieren und seine musikalischen „Schwebungen mit Licht“ entstehen lassen.