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www.katho-nrw.de Ethik in der Pflege Herausforderungen und Ansätze Prof. Dr. Joachim Söder Katholischen Hochschule NRW (Aachen)

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Ethik in der Pflege

Herausforderungen und

Ansätze

Prof. Dr. Joachim Söder

Katholischen Hochschule NRW (Aachen)

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Gliederung

I. Warum Ethik?

II. Menschenbild und Ethik I: Atomismus

III. Menschenbild und Ethik II: Kooperation

IV. Elemente einer Pflegeethik

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Warum Ethik?

Fachkrankenpfleger

• „Die Ansprüche an die Pflege steigen, ‚neues Pflegeverständnis‘,

‚ganzheitliche Pflege‘ und all sowas, das Niveau steigt, ist ja auch

gut, aber es ist nicht so, dass wir über die Jahre ein oder zwei

Stellen mehr dafür gekriegt hätten, nein! Wir arbeiten sogar

eigentlich meistens mit einem Mann zu wenig. Kollegin Schw. A.,

die ich sehr schätze, kommt immer und motiviert die Kollegen und

macht und probiert dies und das: Basale Stimulation, ins Bett

kriechen und den Patienten einreiben, alles sowas zusätzlich, und

sagt: ‚Leute, macht doch auch mal‘ – aber da sagen die anderen:

‚A. bei aller Liebe, aber was haben wir denn mehr davon?“

(Wettreck 2001, 17)

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Warum Ethik?

Intensivpfleger

• Professionell ist es, nichts anderes als „Pflege zu machen. Mehr

ist in einem Dienstleistungsberuf im Ernst doch wohl nicht zu

erwarten. Die alten Kämpfe von früher, die sind doch vorüber!“

(Wettreck 2001, 21)

• „Die ‚Professionalisierung‘ der Pflege wird [...] von Pflegepersonen

als Argument benutzt, um emotionales, soziales und ethisches

Engagement am Krankenbett für ‚unprofessionell‘ und ‚überholt‘

zu erklären. Das ‚neue‘, ‚wissenschaftlich fundierte‘

Selbstbewusstsein – verbunden mit dem ‚Kunden-Paradigma‘ aus

dem Dienstleistungsverständnis – wird zur Legitimation

verwendet, sich innerlich ‚herauszuhalten‘. Legitim erscheint dann

eine bewusste Begrenzung auf standardisierte Pflege.“

(Lubatsch 2012)

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Warum Ethik?

Phase Inhalte Hintergrund

I. bis 1950 Verhaltenskodex für

Krankenschwestern

Professionalisierung

II. bis 1980 Ethischer Berufskodex

Pflegeselbstverständnis

Institutionalisierung

III. bis heute Pflegeethik Akademisierung

nach Monteverde 2009, 55

Vom Verhaltenskodex zur Pflegeethik:

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Warum Ethik?

1. Pflegende und ihre Mitmenschen

Die grundlegende berufliche Verantwortung der Pflegenden* gilt dem pflegebedürftigen

Menschen.

Bei ihrer beruflichen Tätigkeit fördert die Pflegende ein Umfeld, in dem die

Menschenrechte, die Wertvorstellungen, die Sitten und Gewohnheiten sowie der Glaube

des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft respektiert werden.

Die Pflegende gewährleistet, dass der Pflegebedürftige ausreichende Informationen

erhält, auf die er seine Zustimmung zu seiner pflegerischen Versorgung und Behandlung

gründen kann.

Die Pflegende behandelt jede persönliche Information vertraulich und geht

verantwortungsvoll mit der Informationsweitergabe um.

Die Pflegende teilt mit der Gesellschaft die Verantwortung, Maßnahmen zugunsten der

gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von

benachteiligten Gruppen, zu veranlassen und zu unterstützen.

Die Pflegende ist auch mitverantwortlich für die Erhaltung und den Schutz der

natürlichen Umwelt vor Ausbeutung, Verschmutzung, Missachtung und Zerstörung.

.......

Beispiel: ICN – Ethikkodex für Pflegende (2001; Auszug)

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Warum Ethik?

Problem 1:

80% aller Pflegenden haben

noch nie von diesem Kodex

gehört.

90% kennen seine

Bestimmungen nicht.

Problem 2:

„Das Problem ist, dass im Pflegealltag bis

heute dieser Kodex noch nicht gelebt wird.“

(Lubatsch 2012)

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Atomismus

Menschenbild

Descartes (1641):

Mensch als Denkding

Hobbes (1642):

Mensch ist dem

Menschen ein Wolf

Locke (1690):

Mensch als

punktförmiges Selbst

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Atomismus

Ethik

Bentham (1789):

Moralisch ist der

Folgenutzen

(Utilitarismus)

Hobbes (1642):

aufgeklärter

Eigennutz bedient

sich instrumenteller

Vernunft

Mill (1861):

Moralisch ist, was der

Mehrheit nutzt

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Atomismus

Wirtschafts-

u. Sozial-

ordnung

Smith (1776):

„It is not from the benevolence of the butcher, the

brewer, or the baker that we expect our dinner but from

their regard of their own interest. We address ourselves

not to their humanity, but to their self-love.“

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Atomismus

• Aktienhändler riskieren mehr als Psychopathen

• Die Profis „verhalten sich rücksichtsloser und manipulativer als

Psychopathen – zu diesem Ergebnis kommt [...] eine Studie der

Universität St. Gallen.“

• „Besonders schockierend für [Projektleiter] Noll: Insgesamt erzielten

die Banker gar nicht mehr Gewinn als die Vergleichsgruppen. Statt

sachlich und nüchtern auf den höchsten Profit hinzuarbeiten, ging es

den Händlern vor allem darum, »mehr zu bekommen als ihr

Gegenspieler. Und sie brachten viel Energie auf, um diesen zu

schädigen.«“

SpiegelOnline

25.9.2011

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Kooperation

• Was zeichnet den Menschen aus?

– Werkzeugtechnologien

– Symbolische Kommunikation

– Soziale und religiöse Institutionen

• Grundlage: Fähigkeit zur Kooperation

Michael Tomasello:

Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens 2002, 14

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Kooperation

• Wahrnehmung der anderen Person

– als Akteur mit eigenen Intentionen

– als Akteur mit eigenen Perspektive

Voraussetzungen:

Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation 2009, 83ff.

• Herstellen eines gemeinsamen

Aufmerksamkeitsraums durch

Perspektivenübernahme (joint attention)

• Herstellen eines geteilten Intentionsvektors

(shared intentionality)

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Kooperation

Warum wir kooperieren 2010, 23ff.

Teile

n Infor-

mieren

Helfen

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Kooperation

• „Dieses Gefühl, etwas gemeinsam zu tun –

wodurch gemeinsame Erwartungen und sogar

Rechte und Pflichte entstehen – kommt

wahrscheinlich sogar in diesem einfachen Fall

nur bei Menschen vor.“

Michael Tomasello:

Warum wir kooperieren 2010, 54

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Kooperation

• „The primary scene of morality [...] is not one in

which I do something to you or you do

something to me, but one in which we do

something together.“

• Ethische Verpflichtung entspringt der

Verbindlichkeit gemeinsamen Tuns.

• Absage an atomistische Ethikentwürfe.

Christine Korsgaard:

Creating the Kingdom of Ends 1996, 275

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Kooperation

• Leben in Beziehung ist mehr als ein

biologischer Stoffwechselprozess.

• Personale Liebe verwandelt und übersteigt

bloß raum-zeitliche Vollkommenheiten.

• Ahnung von einem Mehr, das über rein

innerweltliche Sinnstrukturen hinausweist.

Charles Taylor:

Ein säkulares Zeitalter 2009, 44

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Pflegeethik

• Perspektivenübernahme, gemeinsame

Aufmerksamkeit und geteilte Intentionalität

begründen eine moralische Verpflichtung.

• Diese Verpflichtung bemisst sich nicht an

den Folgen der Handlung (Erfolgsethik),

nicht nur an der bloßen Aufrichtigkeit des

Handelnden (Gesinnungsethik) und nicht

primär an prozeduralen Fragen

(Verfahrensethik).

• Die geteilte Intentionalität begründet eine

gegenseitige Verantwortlichkeit für das

gelingen der Intention

(Verantwortungsethik).

Pflegeethik ist Verantwortungsethik

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Pflegeethik

Klientin/Klient Einrichtung

Ich

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Pflegeethik

• Respekt vor der Selbstbestim-

mung (respect for autonomy)

• Nicht schaden! (non-

maleficence)

• Wohltun! (beneficence)

• Gerechtigkeit (justice)

Prinzipien „mittlerer Reichweite“:

Beauchamp/Childress 2008

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Pflegeethik

• Sag die Wahrheit

• Berücksichtige Wünsche

• Respektiere die Privatsphäre

• Schütze vertrauliche

Informationen (informationelle

Selbstbestimmung)

• Informiere vor Maßnahmen

(informed consent)

Respekt vor der Selbstbestimmung:

Beauchamp/Childress 2008

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Pflegeethik

Verantwortung

Autonomie

Wahrheit

Wunsch-rücksicht

Privatheit

Vertraulichkeit

informed consent

Nicht schaden

Wohltun

Gerechtigkeit

Gleiches gleich

Güter nach Bedarf

Fairness

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Pflegeethik

Autonomie

Nicht schaden

Wohltun

Gerechtigkeit

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Pflegeethik

• Vom Kodex zur inneren Haltung (Ethos)

gegenüber meiner Berufsrolle

gegenüber Mitmenschen

innere Haltung

gegenüber mir

selbst

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Literatur

Beauchamp, Tom/Childress, James 2008: Principles of Biomedical Ethicks.

Oxford: OUP.

Korsgaard, Christine 1996: Creating the Kingdom of Ends. Cambridge: CUP.

Lubatsch, Heike 2012: Pflegeethik, in: Sozialethik online

(www.ekd.de/sozialethik/register/18869.html).

Monteverde, Settimio 2009: Pflege – die Ethik fürsorgerischer Zuwendung. In: C.

Arn/T. Weidmann-Hügle (Hg.): Ethikwissen für Fachpersonen. Basel:

Schwabe.

Tomasello, Michael 2002: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens.

Frankfurt: Suhrkamp.

Tomasello, Michael 2009: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation.

Frankfurt: Suhrkamp.

Tomasello, Michael 2010: Warum wir kooperieren. Frankfurt: Suhrkamp.

Wettreck, Rainer 2001: „Am Bett ist alles anders“. Perspektiven professioneller

Pflegeethik. Münster: Lit.