Ethik und Naturphilosophie: Bemerkungen zu Aristoteles’ Ergon-Argument (EN I 6)

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Archiv f. Gesch. d. Philosophie Vol. 94, pp. 1–30 DOI 10.1515/agph-2012-0001 © Walter de Gruyter 2012 ISSN 0003-9101 Ethik und Naturphilosophie Bemerkungen zu Aristoteles’ Ergon-Argument (EN I 6) Philipp Brüllmann Institut für Philosophie, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, [email protected] Abstract: Aristotle’s so-called ‚function argument‘ (EN I 6) contains some propositions that seem to fall into the realm of natural philosophy, and thus to connect Aristotle’s ethi- cal theory with his philosophy of nature. While so much seems clear, the exact relationship between the function argument and Aristotle’s philosophy of nature is a contentious matter. The article tries to clarify this relationship by focussing on the premise that the good for man lies in the exercise of the human function. It will be argued that, although natural philosophy provides an attractive rationale for this premise, we should not make use of it in our interpretation of the Ethics . Because if we do, the function argument does not fit into the context in which it appears. Eine der wichtigsten Fragen für das Verständnis und die Beurteilung der Aristotelischen Ethik lautet, inwieweit sich diese von naturphilosophischen Annahmen abhängig macht. Im Folgenden soll ein Beitrag zur Beantwor- tung dieser Frage geleistet werden. Es soll untersucht werden, ob die Be- stimmung des ‚höchsten Guts‘ im so genannten ‚Ergon-Argument‘ (EN I 6) auf einer naturphilosophischen Grundlage beruht. Insbesondere wird es dabei um die Prämisse gehen, dass das Gute für den Menschen in der Erfül- lung des menschlichen ργον besteht. 1 Wie sich herausstellen wird, ist das Verhältnis zwischen dieser Prämisse und der Naturphilosophie des Aristoteles ausgesprochen komplex. Einer- seits gibt es klare inhaltliche Parallelen. Die These, dass das für den Men- schen Gute in dessen ργον zu suchen sei, lässt sich ohne Weiteres aus naturphilosophischen Annahmen herleiten. Außerdem erscheint es auf den ersten Blick durchaus attraktiv, zur Begründung dieser These auf ein natur- philosophisches Argument zurückzugreifen. Sieht man – andererseits – jedoch etwas genauer hin, dann spricht einiges dagegen, diese Begründung für die Interpretation der Ethik tatsächlich heranzuziehen. Denn nur wenn wir darauf verzichten und stattdessen eine ‚innerethische‘ Begründung ver- suchen, fügt sich das Ergon-Argument in den Kontext, in dem es erscheint. 1 Um keine Vorentscheidung über die Interpretation zu treffen, wird der Ausdruck ργον im Folgenden in der Regel nicht übersetzt. Brought to you by | University of Virginia Authenticated | 128.143.22.132 Download Date | 5/2/13 5:01 PM

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Archiv f. Gesch. d. Philosophie Vol. 94, pp. 1–30 DOI 10.1515/agph-2012-0001© Walter de Gruyter 2012ISSN 0003-9101

Ethik und NaturphilosophieBemerkungen zu Aristoteles’ Ergon-Argument (EN I 6)

Phil ipp Brül lmann

Institut für Philosophie, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin,[email protected]

Abstract: Aristotle’s so-called ‚function argument‘ (EN I 6) contains some propositionsthat seem to fall into the realm of natural philosophy, and thus to connect Aristotle’s ethi-cal theory with his philosophy of nature. While so much seems clear, the exact relationshipbetween the function argument and Aristotle’s philosophy of nature is a contentiousmatter. The article tries to clarify this relationship by focussing on the premise that thegood for man lies in the exercise of the human function. It will be argued that, althoughnatural philosophy provides an attractive rationale for this premise, we should not makeuse of it in our interpretation of the Ethics. Because if we do, the function argument doesnot fit into the context in which it appears.

Eine der wichtigsten Fragen für das Verständnis und die Beurteilung derAristotelischen Ethik lautet, inwieweit sich diese von naturphilosophischenAnnahmen abhängig macht. Im Folgenden soll ein Beitrag zur Beantwor-tung dieser Frage geleistet werden. Es soll untersucht werden, ob die Be-stimmung des ‚höchsten Guts‘ im so genannten ‚Ergon-Argument‘ (EN I 6)auf einer naturphilosophischen Grundlage beruht. Insbesondere wird esdabei um die Prämisse gehen, dass das Gute für den Menschen in der Erfül-lung des menschlichen �ργον besteht.1

Wie sich herausstellen wird, ist das Verhältnis zwischen dieser Prämisseund der Naturphilosophie des Aristoteles ausgesprochen komplex. Einer-seits gibt es klare inhaltliche Parallelen. Die These, dass das für den Men-schen Gute in dessen �ργον zu suchen sei, lässt sich ohne Weiteres ausnaturphilosophischen Annahmen herleiten. Außerdem erscheint es auf denersten Blick durchaus attraktiv, zur Begründung dieser These auf ein natur-philosophisches Argument zurückzugreifen. Sieht man – andererseits –jedoch etwas genauer hin, dann spricht einiges dagegen, diese Begründungfür die Interpretation der Ethik tatsächlich heranzuziehen. Denn nur wennwir darauf verzichten und stattdessen eine ‚innerethische‘ Begründung ver-suchen, fügt sich das Ergon-Argument in den Kontext, in dem es erscheint.

1 Um keine Vorentscheidung über die Interpretation zu treffen, wird der Ausdruck�ργον im Folgenden in der Regel nicht übersetzt.

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Eine wesentliche Einsicht der Untersuchung lautet daher, dass die Frage, obdie Ethik des Aristoteles von seiner Naturphilosophie abhängt, differenziertzu betrachten ist. Durch den Verweis auf die (unbestreitbaren) inhaltlichenGemeinsamkeiten kann diese Frage nicht angemessen beantwortet werden.

1. Das Gute für den Menschen

Der Begriff der Natur (φ�σι«) spielt in den ethischen Schriften des Aristoteleskeine zentrale Rolle.2 Es gibt aber einige Passagen, die einen naturphilosophi-schen Hintergrund zumindest nahe legen. Zu diesen Passagen gehört auchdas Ergon-Argument (EN I 6), in dem Aristoteles eine umrisshafte Bestim-mung des ‚höchsten Guts‘ (τ� ριστον bzw. τ�γα��ν) entwickelt, die ihm alsAusgangspunkt für eine Definition des Glücks (ε�δαιμον�α) dient (vgl. I 13,1102a5f.).3 Zwar taucht der Ausdruck φ�σι« auch hier nur in einer Rand-bemerkung auf (1097b30), und das Kapitel enthält keinen Verweis auf andereSchriften. Insgesamt scheint die Argumentation aber eine ‚naturalistischeWendung‘ zu nehmen,4 was sich auf die folgende Weise verdeutlichen lässt:

Bei der Behandlung der anerkannten Meinungen, die dem Ergon-Argu-ment vorausgeht, ist unter anderem von verschiedenen Lebensformen oderLebensentwürfen (β�οι) die Rede (I 3). Hier geht es etwa um den Vergleichzwischen dem Leben eines Politikers, dem Leben eines Kaufmanns und demLeben, das der Lust gewidmet ist. Jeder dieser Lebensformen ist ein eigenesGut zugeordnet. Das Gut der politischen Lebensform besteht in derTugend, das der kaufmännischen Lebensform im Reichtum, das der lust-orientierten Lebensform in der Lust usw. Die Untersuchung endet mit derFeststellung, dass keines dieser Güter als das „gesuchte Gut“ (ζητο�μενον�γα��ν) und damit, so wäre zu ergänzen, als Glück in Frage kommt(1096a7–10). Im Ergon-Argument wendet sich Aristoteles dagegen einerBestimmung des Menschen zu. Er wirft die Frage auf, was den Menschenvon Pflanzen und Tieren unterscheidet, was ihn also unter den beseeltenLebewesen auszeichnet (1097b33–1098a4). Die Antwort auf diese Frageführt auf ein spezifisch menschliches Gut (�ν�ρ�πινον �γα��ν: a16), dasals solches von den in I 3 behandelten Gütern offenbar verschieden ist. DerBlick auf den Menschen als Lebewesen scheint also einen Perspektivwech-

2 Vgl. für eine Übersicht: Annas 1989. Eine ausführliche und sehr nützliche Untersu-chung zur Rolle des Naturbegriffs in der Aristotelischen Ethik bietet Müller 2006a.Die Fragestellung des vorliegenden Aufsatzes spielt bei ihm allerdings eher eine unter-geordnete Rolle (47).

3 Im Folgenden konzentriere ich mich auf das Ergon-Argument der NikomachischenEthik. Ich bin zwar der Auffassung, dass die Ergebnisse dieser Untersuchung auf dasErgon-Argument der Eudemischen Ethik (II 1) übertragbar sind, werde dafür ausPlatzgründen aber nicht eigens argumentieren.

4 Vgl. Wolf 2002, 37f.

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sel zu beinhalten. Erst dieser Perspektivwechsel – statt β�οι werden nun ζ�αbetrachtet – führt auf die richtige Auffassung der ε�δαιμον�α. Nur wenn wirunsere Aufmerksamkeit auf die ‚Natur des Menschen‘ richten, kann es unsgelingen, das Glück angemessen zu bestimmen. Diesen Ansatz als natura-listisch zu charakterisieren drängt sich geradezu auf.

Neben dieser naturalistischen Tendenz des Ergon-Arguments könnenauch einige inhaltliche Parallelen zur Naturphilosophie des Aristoteles fest-gestellt werden. Da Lebewesen zu den natürlichen Gegenständen (φ�σει�ντα) gehören (vgl. Phys. II 1, 192b9), fällt ihre Untersuchung für Aristo-teles ganz allgemein in den Bereich der Naturphilosophie. Die in der Physikentwickelten Prinzipien der Naturerklärung sollten, vereinfacht gesagt,auch auf Lebewesen anwendbar sein. Eine Erklärung des Aufbaus, der cha-rakteristischen Vermögen und der Entstehung von Lebewesen ist insbeson-dere die Aufgabe der im weiteren Sinn ‚biologischen‘ Schriften des Aristo-teles. Und was im Ergon-Argument über Lebewesen gesagt wird, findet sichdort in durchaus vergleichbarer Form. So ordnet Aristoteles zum Beispielauch in De anima den unterschiedlichen Lebewesen unterschiedliche See-lenvermögen (δψν�μει«) zu. Dabei soll, ähnlich wie im Ergon-Argument(1097b33–1098a4), den Pflanzen nur das Vermögen der Ernährung zukom-men (�ρεπτικ�ν: DA II 3, 414a32f.), den Tieren darüber hinaus das Vermö-gen der Wahrnehmung (α!σ�ητικ�ν: 414a33–b3) und allein dem Menschenauch das Denkvermögen (διανοητικ�ν: b18),5 dessen Ausübung an andererStelle mit dem Begriff eines spezifisch menschlichen �ργον in Verbindunggebracht wird (vgl. GA I 23, 731a24–b2).

Was bedeuten diese Beobachtungen für das Verhältnis von Ethik undNaturphilosophie? Macht sich die Nikomachische Ethik durch das Ergon-Argument von einer bestimmten Naturkonzeption abhängig? Diese undähnliche Fragen haben in der Forschung größere Aufmerksamkeit erfahren;sie werden jedoch aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert. Inder Debatte um den ‚Naturalismus‘ des Ergon-Arguments überlagern sichmehrere Problemstellungen, die nicht immer leicht auseinanderzuhaltensind und die auch nur selten genauer auseinandergehalten werden.6 Um den

5 Gegenüber DA II 3 stellen die Ausführungen des Ergon-Arguments freilich eine starkeVereinfachung dar. Dies entspricht der in EN I 13 geäußerten Auffassung, der Politi-ker müsse nur so weit über die Seele Bescheid wissen, wie es für seine Zwecke erfor-derlich sei (1102a23–26).

6 Zwei Unterscheidungen erscheinen mir besonders wichtig: (1) Die Frage nach dennaturphilosophischen Voraussetzungen des Ergon-Arguments muss von der Frageunterschieden werden, ob Aristoteles im Ergon-Argument einen ‚naturalistischenFehlschluss‘ begeht (so z.B. Patzig 21983, 40; für eine Entgegnung: Kullmann 1995, 268)bzw. ob der Rekurs auf die Natur des Menschen aus anderen Gründen problematischist (vgl. z.B. den vieldiskutierten Einwand von Williams 1985, Kap. 3, dieser Rekursbringe eine ‚externe Perspektive‘ ins Spiel, die nicht ohne Weiteres mit der entschei-denden ‚internen Perspektive‘ zu vereinbaren sei; für eine Entgegnung: Nussbaum1995). (2) Die Frage, ob das Ergon-Argument Aussagen über die ‚Natur‘ enthält,

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hier interessierenden Aspekt hervortreten zu lassen, ist es daher sinnvoll,einige Abgrenzungen vorzunehmen.

Im Folgenden geht es um die Frage einer ‚argumentativen Abhängigkeit‘der Ethik von der Naturphilosophie. Eine argumentative Abhängigkeitsoll dann vorliegen, wenn wir davon ausgehen können, dass die Ethik – inunserem Fall: das Ergon-Argument – die naturphilosophischen Schriftendes Aristoteles voraussetzt. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn sichzeigte, dass die Argumentation durch Zusatzprämissen ergänzt werdenmuss, die in naturphilosophischen Kontexten zu finden sind, oder wennThesen, die in EN I 6 nur unzureichend begründet erscheinen, in natur-philosophischen Kontexten sehr wohl eine Begründung erfahren. Die An-nahme einer argumentativen Abhängigkeit geht also über die Feststellungbloßer inhaltlicher Gemeinsamkeiten hinaus.7 (Dieser Unterschied wird imFolgenden noch deutlicher werden.)

Die so verstandene Frage der argumentativen Abhängigkeit wird häufigmit dem folgenden Hinweis beantwortet: Zwar trifft es zu, dass die Erläu-terungen zu den Seelenvermögen der Lebewesen auch in naturphilosophi-schen Kontexten auftauchen. Ihre Begründung geschieht im Ergon-Argument jedoch mehr oder weniger ad hoc, mit Hilfe einer dialektischenArgumentation. Dies gilt auch für die etwas ausführlicheren psychologi-schen Bemerkungen aus EN I 13.8 Daher scheint die Seelentheorie des Er-gon-Arguments nicht die Naturphilosophie des Aristoteles vorauszusetzen,sondern eher eine Psychologie des Commonsense.9 Offenbar macht sich dasErgon-Argument also nicht in der gerade beschriebenen Weise von der Na-turphilosophie abhängig.

Unabhängig davon, ob man diese Antwort für zutreffend hält, darf einesnicht übersehen werden: Durch den Hinweis auf die Commonsense-Psy-chologie des Ergon-Arguments kann die Frage der argumentativen Abhän-gigkeit nicht vollständig geklärt werden. Denn EN I 6 enthält nicht nur eineBestimmung des menschlichen �ργον oder der menschlichen Natur. Es ent-hält auch eine Aussage darüber, was für den Menschen gut ist:

muss von der Frage unterschieden werden, ob das Ergon-Argument die naturphiloso-phischen Schriften des Aristoteles voraussetzt. (Im Folgenden wird es allein um diezuletzt genannte Frage gehen.)

7 Wie das folgende Beispiel der Seelenvermögen zeigt, besteht durchaus die Möglich-keit, dass das Ergon-Argument Prämissen enthält, die zwar auch in anderen Kon-texten auftauchen, für deren Begründung aber nicht auf andere Kontexte verwiesenwerden muss.

8 Interessanterweise verweist Aristoteles in diesem Kontext nicht auf De anima, son-dern auf die exoterischen Schriften, in denen schon „in ausreichender Weise“, d.h. ineiner für die Zwecke der Ethik ausreichenden Weise, über die Seele gesprochen wor-den sei: λωγεται δ$ περ% α�τ&« [sc. τ&« χψξ&«] κα% )ν το*« )+,τερικο*« λ�γοι« �ρκο�ντ,«�νια (1102a26f.).

9 Vgl. zu dieser Argumentation: Müller 2006b.

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Wie nämlich für den Aulosspieler und den Bildhauer und (überhaupt) für jeden Künst-ler und insgesamt für jeden, der ein bestimmtes �ργον und eine Tätigkeit (πρ»+ι«) hat,das Gute und das auf gute Weise im �ργον zu liegen scheint ()ν τ� �ργ8 δοκε* τ�γα��νε-ναι κα% τ� ε.), so dürfte es auch für den Menschen gelten, wenn er denn ein bestimm-tes �ργον hat. (1097b25–28)

Ergänzen wir dieses Zitat durch die Thesen, dass der Mensch ein bestimm-tes �ργον hat (1097b28–33) und dass das Gute in der Ausübung oder Erfül-lung dieses �ργον liegt (1098a5–7), so erhalten wir folgende These:

T 1: Das Gute für den Menschen besteht in der Erfüllung des mensch-lichen �ργον.10

Zumindest prima facie spricht nichts gegen die Möglichkeit, dass das Er-gon-Argument zwar einerseits auf einer Commonsense-Konzeption dermenschlichen Natur beruht, andererseits jedoch auf eine naturphilosophi-sche Konzeption des für den Menschen Guten zurückgreift. Die Frage nacheiner naturphilosophischen Begründung des Ergon-Arguments sollte sichdaher nicht nur auf dessen seelentheoretische Ausführungen richten, son-dern auch auf dessen Aussagen über das Gute. Dies erscheint auch deshalbsinnvoll, weil EN I 6 kein wirklich befriedigendes Argument für T 1 enthält.Wie wir sehen, wird die Identifikation zwischen dem Guten und dem �ργονhier mit Hilfe einer Analogiebehauptung eingeführt. Ihr Zutreffen auf dieals analog herangezogenen Fälle – es handelt sich um Vertreter ‚herstellen-der‘ Berufe (τεξν�ται) – wird jedoch nicht eigens begründet, sondern alsmehr oder weniger offensichtlich behandelt. Weshalb aber sollten wir eineGleichsetzung des Guten mit dem �ργον für offensichtlich halten? Esscheint keinesfalls abwegig, die eigentliche Begründung für T 1 außerhalbdes Ergon-Arguments zu vermuten. Und wenn man davon ausgeht, dassauch hier vom Menschen als Lebewesen die Rede ist, dann bietet sich dieNaturphilosophie als ein Kontext an, in dem eine solche Begründung amPlatz sein könnte. Die Frage lautet also: Enthält die Aristotelische Natur-

10 Eine andere Deutung schlägt Gómez-Lobo 1991 vor. Nach dieser Deutung sprichtAristoteles in 1097b25–28 nicht über das Gute für den Menschen, sondern über das,was den Menschen gut macht: „[the passage] can be taken to express that the goodand ‚well‘ for things that have a function, i.e. the truth of a positive evaluative pro-position about them, depends on the quality of the function“ (45). Obwohl dieseInterpretation auf den ersten Blick attraktiv erscheint, hat sie m.E. zwei Nachteile.Zum einen gebraucht Aristoteles den Ausdruck �γα��ν außerhalb des Ergon-Argu-ments nicht in der von Gómez-Lobo vorgeschlagenen Bedeutung (vgl. z.B. I 5,1097a15ff. u. I 7, 1098a20f.). Zum anderen werden �ργα bereits in EN I 1 als Güterbezeichnet (1094a5), und zwar allein weil sie Ziele sind. Die Deutung, die ich weiterunten (3.2) vorschlagen werde, versucht u.a., diesen Gemeinsamkeiten gerecht zuwerden.

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philosophie eine Begründung von T 1, die wir für die Interpretation des Er-gon-Arguments heranziehen können?11

Der vorliegende Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, diese Frage, die nor-malerweise nicht explizit aufgeworfen wird, zu beantworten. Dass damitnur ein kleiner Ausschnitt aus einem größeren Themenkomplex herausge-griffen wird, dürfte bereits deutlich geworden sein. Inwiefern gerade dieserAusschnitt für das Verständnis der Nikomachischen Ethik relevant ist, wirdsich im Verlauf der Untersuchung noch herausstellen.

Da die Frage zwei Aspekte enthält, soll die Antwort in zwei Schritten er-folgen. Zunächst wird es darum gehen, ob die Aristotelische Naturphiloso-phie überhaupt eine Begründung für T 1 enthält (erste Teilfrage). Wie sichzeigen wird, lässt sich eine solche Begründung zwar durchaus formulieren,sie ist aber weniger leicht zu geben, als es auf den ersten Blick den Anscheinhat (Abschnitt 2). Danach soll überlegt werden, ob wir diese Begründungfür die Interpretation des Ergon-Arguments heranziehen können (zweiteTeilfrage). Nach meiner Auffassung spricht einiges dagegen. Wenn wir aufdas naturphilosophische Argument für T 1 zurückgreifen, dann passt dasErgon-Argument nur schlecht in den Kontext des ersten Buches der Niko-machischen Ethik. Da sich, wie ich zeigen möchte, T 1 auch anders begrün-den lässt, werde ich letztlich dafür plädieren, auf die naturphilosophischeBegründung dieser These zu verzichten (Abschnitt 3).

2. Das Gute in der Aristotelischen Naturphilosophie

An T 1 wiederholt sich eine Beobachtung, die wir am Ergon-Argument be-reits gemacht haben: Parallelen zur Naturphilosophie lassen sich problem-los herstellen. Insbesondere scheint es nahe liegend, T 1 auf die Naturteleo-logie des Aristoteles zu beziehen. Der Zusammenhang wird deutlich, wennman die Annahme ins Spiel bringt, dass die Tätigkeit der Vernunft, alsodas �ργον des Menschen, als Ziel (τωλο«) von dessen natürlicher Entwick-lung zu begreifen ist. Diese Annahme wird in der Nikomachischen Ethiknicht ausdrücklich formuliert, sie ist in vergleichbaren Kontexten aber im-mer wieder anzutreffen. Besonders anschaulich ist eine Passage aus demProtreptikos:

Wenn nun […] das Ziel aber naturgemäß dasjenige ist, was im Werdeprozess als letztesvollendet wird, sofern das Werden in einem kontinuierlichen Prozess zum Abschlussgelangt, dann wird folglich zuerst der Körper bei den Menschen zum Ziel gelangen,

11 An dieser Stelle soll keine Festlegung darüber getroffen werden, wie eine solcheBegründung genau aussehen könnte. (Theoretisch sind mehrere Varianten denkbar.)Die folgende Argumentation ist so zu verstehen, dass sie sich auf jede Art von Begrün-dungsbeziehung anwenden lässt.

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erst später die Seele […]. Also kommt die Seele nach dem Körper, und von den Teilender Seele ist der letzte die Vernunft (φρ�νησι«). Wir sehen ja auch, dass diese von Naturaus als letztes bei den Menschen entsteht. Daher ist sie auch das einzige Gut, auf dasdas Alter Anspruch erhebt. Also ist ein gewisses Maß an Vernunft naturgemäß unserZiel, und die Betätigung der Vernunft (φρονε*ν) ist das Äußerste, um dessentwillen wirentstanden sind. (Fragm. B 17 Düring, Übers. Flashar 2006)12

T 1 kann somit als eine implizit teleologische Bestimmung des für den Men-schen Guten verstanden werden, die der folgenden explizit teleologischenThese äquivalent ist:

T 1*: Das Gute für den Menschen besteht im Ziel (τωλο«) der natürlichenEntwicklung des Menschen.

Die Gemeinsamkeiten zwischen T 1* und der Aristotelischen Naturteleolo-gie fallen sofort ins Auge. So ist die hier vorgenommene Identifikation desGuten mit dem Ziel in den naturphilosophischen Schriften omnipräsent.Sie findet sich sowohl in den allgemeinen Erläuterungen zur causa finalisnatürlicher Prozesse13 als auch in der Beschreibung der Entstehung undEntwicklung von Lebewesen.14 Daher ist es kaum überraschend, dass auchfür die Entwicklung des Lebewesens Mensch eine Identität von Gutem undZiel angenommen wird. Aber auch die These, dass es sich bei einem Zielnicht um ein Gut ‚schlechthin‘ handelt, sondern um ein ‚spezifisches‘ Gut –im vorliegenden Fall ein Gut ‚für den Menschen‘ –, lässt sich in naturphi-losophischen Kontexten durchaus nachweisen. Aristoteles betont regelmä-ßig, dass die als Ziele aufgefassten Güter jeweils verschieden sind.15 Wenndiese Beobachtungen zutreffen, dann kann T 1* (und damit T 1) als Anwen-dung der folgenden naturphilosophischen These auf den Fall des Menschenbegriffen werden:

12 Vgl. auch Fragm. B 85 Düring sowie das Ergon-Argument der Eudemischen Ethik(EE II 1, insbes. 1219a8–11).

13 Phys. II 3, 195a23–26; vgl. Met. Δ 2, 1013b25–28. Zu diesen expliziten Erläuterungender causa finalis treten zahlreiche Passagen, in denen Aristoteles die Ausdrücke τωλο«und �γα��ν miteinander identifiziert oder faktisch als austauschbar behandelt; vgl.etwa in der Metaphysik: Α 3, 983a31f.; α 2, 996a23–26; Κ 1, 1059a35–38 u.a.

14 Vgl. z.B. PA I 1, 639b19ff., wo Aristoteles allerdings den Ausdruck καλ�ν verwendet.15 Hier ist eine Präzisierung nötig: Dass die als Ziele aufgefassten Güter „jeweils ver-

schieden“ ( λλο )ν λλ8) sind, ist eine These, die vor allem außerhalb naturphiloso-phischer Kontexte anzutreffen ist und die sowohl an Beispielen intentional erstrebterZiele (z.B. EN I 5, 1097a16–20) als auch an Beispielen ‚natürlicher‘ Ziele (z.B. EE I 8,1218a30–33) erläutert wird. In ‚biologischen‘ Kontexten geht es dagegen vor allem umdie teleologisch erklärten Vorgänge oder Verhältnisse, die nicht ‚schlechthin‘ gut sind,sondern gut für das Lebewesen, um dessen Entwicklung oder Aufbau es geht (vgl.Phys. II 7, 198b8f.; IA 2, 704b14–18).

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T 2: Das Gute für ein Lebewesen besteht im Ziel (τωλο«) der natürlichenEntwicklung dieses Lebewesens.

Dass der Ausdruck �γα��ν im Ergon-Argument in Verbindung mit demDativ verwendet wird (α�λητ2 […] �γαλματοποι� […] παντ% τεξν�τ3 […]�ν�ρ�π8: 1097b25–28), legt auf den ersten Blick eine weitere Verknüpfungzwischen T 1 und der Naturphilosophie nahe. Begreift man das Gute ‚fürden Menschen‘ ausdrücklich im Sinne des Vorteilhaften – der Dativ wird alsDativus commodi aufgefasst –, dann lässt T 1 an die Aristotelische Erklä-rung des Aufbaus von Lebewesen denken. Denn die Gestalt und Organisa-tion der Teile eines Lebewesens werden von Aristoteles prinzipiell dadurcherklärt, dass sie für das entsprechende Lebewesen von Vorteil sind. Dies istein Grundgedanke der in De partibus animalium propagierten Vorgehens-weise.16

Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings eine Asymmetrie, die daranzweifeln lässt, ob diese Verbindung tatsächlich besteht. In der Regel basie-ren Erklärungen, die die Erfüllung des �ργον mit dem Vorteilhaften in Ver-bindung bringen, auf folgendem Muster: Es ist gut im Sinne von vorteilhaftfür ein Lebewesen, wenn dessen Teile ihr �ργον erfüllen. Für den Stierist es von Vorteil, wenn seine Hörner der Verteidigung dienen (PA III 2,662b35ff.), für den Elefanten ist es von Vorteil, wenn er seinen Rüssel alsHand oder Schnorchel gebrauchen kann (PA II 16, 658b33ff.), für Vögel istes von Vorteil, wenn ihre Schnäbel die ihnen entsprechende Nahrung auf-nehmen (PA III 1, 662a34ff.). Warum es aber für ein Lebewesen vorteilhaftsein sollte, das eigene �ργον zu erfüllen (T 1), scheint zunächst eher unklar.Zumindest ist nicht einzusehen, wie in beiden Fällen die gleiche Begrün-dung greifen könnte. Denn im Fall der Teile eines Lebewesens lässt sich einKontext benennen, in dem Hörner, Rüssel, Schnäbel usw. eine bestimmteFunktion erfüllen. Dieser Kontext ist das Überleben und Gedeihen desLebewesens. Für ein Lebewesen vorteilhaft zu sein bedeutet hier, auf spezi-fische Weise zu dessen Überleben und Gedeihen beizutragen. Wenn es aberum das �ργον eines Lebewesens selbst geht, ist ein solcher Kontext nichtohne Weiteres auszumachen. Mehr noch: Sobald wir eine funktionaleDeutung des Ausdrucks �ργον für diesen Fall ablehnen, wie es beim �ργονdes Menschen üblicherweise geschieht, weisen wir den Gedanken einesübergeordneten Kontextes zwangsläufig zurück.17 Die Vorteilhaftigkeitder Erfüllung des �ργον müsste dementsprechend anders erklärt werden;und es scheint keineswegs offensichtlich, wie eine solche Erklärung ausse-

16 Die ausführliche Behandlung der einzelne Gewebe und Organe in PA II–IV bietethierfür zahllose Beispiele.

17 Vgl. für eine knappe Darstellung dieses Zusammenhangs: Nussbaum 1978, 100–106.Nussbaums These: „Functions are, in the biological works, never ascribed to creaturesas wholes, since this would serve no analytical purpose“ (100), scheint mir angesichtsder bereits erwähnten Passage aus GA I 23 jedoch diskussionsbedürftig.

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hen könnte. Um des Argumentes willen sei dieses Problem jedoch beiseitegelassen. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf den Zusammenhang zwi-schen Ziel und (spezifischem) Gut (T 2) und lassen die genauere Interpreta-tion des spezifischen Guts zunächst offen.18

Angesichts der skizzierten Gemeinsamkeiten liegt also folgende An-nahme nahe: Indem Aristoteles das Gute für den Menschen als Erfüllungdes menschlichen �ργον bestimmt (T 1), verweist er auf die Gleichsetzungvon �γα��ν und τωλο«, die er für die natürliche Entwicklung aller Lebe-wesen annimmt (T 2), und somit auf den Kontext der Naturteleologie. Eineauf den Menschen bezogene These der Nikomachischen Ethik findet sichin den naturphilosophischen Schriften in einer auf Lebewesen bezogenenForm.

Unsere Eingangsfrage lautete jedoch, ob die Naturphilosophie eineBegründung von T 1 enthält, die wir im Ergon-Argument vermisst haben.Es geht, wie gesagt, um eine klar benennbare Form argumentativer Abhän-gigkeit. Durch die bisherigen Beobachtungen wurde diese Frage aber nichtbeantwortet, sondern eher verlagert. Sie richtet sich jetzt auf T 2. Dennwir haben zwar festgestellt, dass sich T 1 als Anwendung von T 2 auf denFall des Menschen begreifen lässt. Der Status von T 2 ist bislang aber völligoffen geblieben. Worauf basiert die Annahme, dass das Gute für Lebe-wesen im Ziel ihrer natürlichen Entwicklung liegt? Worauf basiert die in derNaturphilosophie allgegenwärtige Identifikation von Gütern und Zielen?Im Folgenden soll zum einen gezeigt werden, dass diese Fragen schwierig zubeantworten sind. Die Texte scheinen für mehrere Optionen offen zu sein.Zum anderen soll gezeigt werden, wie sich das Verhältnis zwischen demErgon-Argument und der Naturphilosophie verändert, je nachdem vonwelcher dieser Optionen wir ausgehen.

2.1

Die Suche nach einer expliziten Begründung für T 2, also einer Begründungder These, dass das Gute für ein Lebewesen im Ziel von dessen natürlicherEntwicklung liegt, steht vor folgendem Problem: Das Gute als solches iststreng genommen kein Gegenstand der Aristotelischen Naturphilosophie.Das Gute soll hier nicht erklärt werden, es soll dazu dienen, etwas zu er-klären.

Was ist damit gemeint? Im Kontext der Naturphilosophie geht es unteranderem um die adäquate Erklärung von Naturvorgängen. Zu einer sol-chen Erklärung gehört für Aristoteles die Angabe der Zielursache (causafinalis). Aristoteles legt großen Wert auf den Nachweis, dass ein teleologi-

18 In Abschnitt 3.2 werde ich noch einmal auf die Interpretation des Dativs zurück-kommen.

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scher Ansatz für die Naturphilosophie unverzichtbar ist.19 Das heißt: UmNaturvorgänge zu verstehen, müssen wir sie zum einen als zielgerichtet be-greifen, also als Vorgänge, die um eines Zieles willen geschehen. Zum ande-ren müssen wir sie von ihren Zielen her erklären. Naturprozesse laufen ab,wie sie ablaufen, weil sie auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind. Sie sindder einzige oder beste Weg, dieses Ziel zu verwirklichen. In Bezug auf denNaturprozess der Entstehung von Lebewesen findet sich eine einschlägigePassage im ersten Buch von De partibus animalium:

Deshalb muss man vor allem in folgender Weise argumentieren: Da dies im Wesent-lichen das Menschsein ist (τ� �ν�ρ�π8 ε-ναι), deswegen hat der Mensch diese Merk-male (τα4τ5 �ξει); denn er kann nicht ohne diese Teile [Gewebe und Organe] sein.Andernfalls muss man reden, was diesem möglichst nahe kommt, und entweder sagen,dass es überhaupt nicht anders möglich ist oder dass es wenigstens in schöner Weise(καλ6«) nur so möglich ist. Und das Vorhandensein dieser Teile ist die Konsequenzdavon. Da ()πε�) aber der Mensch von dieser Beschaffenheit ist (τοιο4τον), muss seineEntstehung (γωνεσι«) so oder ähnlich erfolgen. Deshalb entsteht zuerst dieser Teil, dannjener. Und auf diese Weise muss man bei allen von Natur aus sich bildenden Dingenvorgehen. (I 1, 640a33–b4; Übers. Kullmann 2007)

Wie wir bereits gesehen haben, werden die Ziele natürlicher Vorgänge regel-mäßig mit (spezifischen) Gütern identifiziert. Aristoteles behandelt dieAusdrücke τωλο« und �γα��ν faktisch als austauschbar. Eine Begründungdieser Identifikation gerät bei der Erklärung von Naturvorgängen abernicht notwendigerweise in den Blick; denn Ziele bilden hier nicht dasExplanandum, sondern das Explanans. Die Identifikation von Zielen undGütern gehört zu dem, was in der Erklärung vorausgesetzt wird.20 Dieeigentliche Schwierigkeit liegt nun darin, dass Aristoteles diese Voraus-setzung nicht weiter zu problematisieren scheint. Er gibt keine explizite

19 Die einschlägigen Passagen für diesen Nachweis sind Phys. II 8 und PA I 1. Dass Aris-toteles einen teleologischen Ansatz in der Naturphilosophie für unverzichtbar hält,kann übrigens festgestellt werden, ohne dass man sich auf eine bestimmte Interpreta-tion der Vier-Ursachen-Lehre festlegen müsste.

20 Etwas genauer ausgedrückt: Wertende Begriffe tauchen in teleologischen Erklärun-gen an zwei unterschiedlichen Stellen auf. Zum einen identifiziert Aristoteles Zieleund Güter, zum anderen bezeichnet er die auf diese Ziele bezogenen Vorgänge oderVerhältnisse als gut. Einen Naturvorgang oder natürliche Verhältnisse teleologischzu erklären beinhaltet den Nachweis, dass diese Vorgänge oder Verhältnisse bestimm-ten als gut angesetzten Zwecken besser dienen, als es andere Vorgänge oder Verhält-nisse könnten (vgl. hierzu die Formulierungen „durch das Bessere“ (δι7 τ� βωλτιον:GA II 1, 731b23) und „weil es auf diese Weise besser ist“ (δι�τι βωλτιον ο9τ,«: Phys.II 7, 198b8f.), die Aristoteles zur Kennzeichnung teleologischer Erklärungen verwen-det). Dass Ziele gut sind und dass Naturvorgänge ihren Zwecken auf die beste Weisedienen, wird im Rahmen dieses Nachweises jedoch vorausgesetzt. Das heißt: Auchwenn die inhaltliche Bestimmung des Guten (für ein Lebewesen) einen wichtigen Be-standteil der Aristotelischen Naturerklärung bildet, muss das Gute als solches, d.h.die Frage, was das Gute zu etwas Gutem macht, nicht notwendigerweise thematisiertwerden.

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Ethik und Naturphilosophie 11

Begründung der These, dass Ziele Güter sind. Somit ist es Aufgabe derInterpretation, den Status dieser These zu bestimmen und eine möglicheBegründung zu formulieren.

Welche Lösungen bieten sich für diese Aufgabe an? Eine erste (theore-tische) Option würde darin bestehen, die Identifikation von Zielen und Gü-tern als Ausdruck einer gehaltvollen metaphysischen These zu begreifen.Nach dieser Option würden τωλο« und �γα��ν einfach deshalb zusammen-fallen, weil die Natur dafür ‚sorgt‘, dass dies geschieht. Die Natur wärenach Aristoteles so eingerichtet, dass jene Zustände oder Tätigkeiten, indenen die Entwicklung eines Lebewesens zum Abschluss kommt, stets gutfür dieses Lebewesen sind. Dass dieser Ansatz mit einer sehr anspruchsvol-len und eher problematischen Naturkonzeption verknüpft ist, muss nichteigens erwähnt werden.

Die meisten Autoren würden allerdings davon ausgehen, dass dieseInterpretation des Zusammenhangs von τωλο« und �γα��ν falsch ist.21 DerZusammenhang von τωλο« und �γα��ν sollte, so die gängige Meinung,nicht ‚metaphysisch‘ im genannten Sinne, sondern eher ‚begrifflich‘ aufge-fasst werden. Es geht hier darum, was Ziele (oder Güter) sind. Besondersgut lässt sich diese Auffassung darstellen, wenn man an eine bekannteInterpretationsdebatte anknüpft,22 in der die Frage behandelt wird, obder Aristotelische Begriff des Ziels unabhängig vom Begriff des Gutenbestimmt werden kann oder nicht. Wie sich zeigen wird, lassen sich dieAntworten auf diese Frage für die soeben formulierte Aufgabe fruchtbarmachen.

Die Mehrzahl der Interpreten geht davon aus, dass der Aristotelische Be-griff des Ziels nicht unabhängig vom Begriff des Guten bestimmt werdenkann. Der Begriff des Ziels setze vielmehr einen unabhängigen Begriff desGuten voraus. Die übliche Referenz für diese Auffassung ist Kahn 1985:

It is true that Aristotle also speaks of actuality […] as the goal in teleological contexts,and we can give a partial explication of his notion of τωλο« in terms of degrees of ac-tuality, as the more or most complete realization of a thing’s potentialities. But thisstrategy can give an adequate account of Aristotle’s conception only if we build intothe analysis of actualization the required normative component. (197)23

Wie ist diese Auffassung zu verstehen? Wenn wir die These, dass der Begriffdes Ziels nicht unabhängig vom Begriff des Guten bestimmt werden kann,beim Wort nehmen, dann müssen wir streng genommen davon ausgehen,

21 Vgl. als ein Beispiel Lennox’ Auseinandersetzung mit der These, die Natur würdenichts „umsonst“ (μ�την) tun, sondern aus einer Reihe von Möglichkeiten stets diebeste hervorbringen (z.B. IA 2, 704b12–18): Lennox 2001, Kap. 9.

22 Vgl. Müller 2006a, 47.23 Vgl. außerdem Cooper 1987, 245 (mit Fn. 4); Charles 1991, 108f. (Fn. 7); Johnson

2005, 90–93.

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dass Aristoteles Ziele als Güter definiert.24 (Im Folgenden wird unter einerDefinition stets eine Realdefinition verstanden.) Eine Erklärung dessen, wases heißt, dass x ein Ziel ist, müsste auf jeden Fall beinhalten, dass x gut ist.Epistemisch ausgedrückt: Wir könnten nicht verstehen, was es heißt, dass xein Ziel ist, wenn wir nicht wüssten, was es heißt, dass x gut ist. Der Begriffdes Guten müsste, in Aristotelischer Terminologie, „bekannter“ (γν,ριμ�-τερον) sein.25 Diese Darstellung ist sicher nicht erschöpfend; sie genügt aberbereits, um eine entscheidende Pointe vor Augen zu führen. Für Aristotelesist ein Ziel im teleologischen Sinn ein ο; <νεκα, also etwas, um dessentwillenetwas anderes geschieht (vgl. z.B. Phys. II 3, 194b32f.). Τωλη sind keine be-liebigen Endpunkte beliebiger Ereignisreihen, sondern Zustände oder Tätig-keiten, in denen sich bestimmte Prozesse ‚vollenden‘.26 Dass der Begriff desZiels den Begriff des Guten voraussetzt, würde demnach auf Folgendeshinauslaufen: Eine Erklärung dessen, was es heißt, dass x umwillen von y ge-schieht (weil y das Ziel von x ist), müsste auf jeden Fall beinhalten, dass y gutist. Wieder epistemisch ausgedrückt: Wir könnten nicht verstehen, was esheißt, dass x umwillen von y geschieht, wenn wir nicht wüssten, was es heißt,dass y gut ist. Der Begriff des Guten wäre, so die Pointe, für eine teleologi-sche Beschreibung und Erklärung von Vorgängen unverzichtbar.

Die dem entgegengesetzte Auffassung wird prominent von Allan Gott-helf vertreten.27 Er versucht zu zeigen, dass der Aristotelische Begriff desZiels sehr wohl unabhängig vom Begriff des Guten bestimmt werden kannund daher keinen unabhängigen Begriff des Guten voraussetzt. In der hierzugrunde gelegten Darstellung würde dies bedeuten: Wir können verste-hen, was es heißt, dass x umwillen von y geschieht, ohne dass wir wissenmüssten, was es heißt, dass y gut ist. Zur Verdeutlichung dieser Positionentwirft Gotthelf ein anschauliches Gedankenexperiment:

Let us imagine that the biological world is just as it is now, except that successful lifewas in no way a good thing. Let us suppose (per impossibile perhaps) that the existenceof complexity was intrinsically evil, and the destruction of living bodies thereforeintrinsically good […]. In such a world, living organisms would seem to develop andfunction for the sake of outcomes that were in no way good, and yet, we may ask, […]would not Aristotle still wish to offer teleological explanations for such developingsand functionings? (1987, 233)

24 Wenn es um eine Begriffsbestimmung ginge, in welcher der Ausdruck ‚gut‘ lediglichdie Extension des Ausdrucks ‚Ziel‘ festlegte, dann könnte nicht behauptet werden,dass der Begriff des Guten für die Bestimmung des Zielbegriffs unverzichtbar wäre.Denn selbstverständlich lässt sich die Referenz eines Ausdrucks durch unterschied-liche Kennzeichnungen festlegen.

25 Vgl. zur epistemischen Rolle des ‚Bekannteren‘ die ausführlichen Bemerkungen inAPo. I 1–2.

26 Vgl. das in diesem Zusammenhang oft genannte Beispiel des Todes, der zwar das Endedes Lebens bedeutet, aber eben nicht die ‚Vollendung‘ der natürlichen Entwicklungeines Menschen (Phys. II 2, 194a30–33).

27 Vgl. Gotthelf 1987, 213f. (Fn. 18) und 233f., sowie ausführlich Gotthelf 1989.

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Ethik und Naturphilosophie 13

Gotthelfs Position muss selbstverständlich nicht die These beinhalten, dassAristoteles Ziele jemals als schlecht (κακ�ν) bezeichnen würde. Es könntesich durchaus um eine Erläuterung per impossibile handeln. Seine Positionbeinhaltet aber die These, dass teleologische Erklärungen ohne Rekurs aufdas Gute möglich sind. Der Begriff des Guten wäre für teleologische Erklä-rungen verzichtbar.

Wenn dies jedoch zutrifft, d.h. wenn die Naturteleologie streng genom-men ohne den Begriff des Guten auskommen könnte, wie lässt sich danndessen ubiquitäre Verwendung erklären? Gotthelf gibt die folgende zweitei-lige Antwort: Dass Aristoteles Ziele mit Gütern gleichsetzt, hat (i) rein heu-ristische Gründe und basiert (ii) auf einer teleologischen Auffassung desGuten: „That all such ends are good is […] itself a consequence of a ‚meta-ethical‘ analysis of the good that analyzes it in terms of ends (and not endsin terms of it)“ (1987, 233).28 (Zu beachten ist dabei, dass diese Antwort ausGotthelfs eigentlicher These nicht notwendigerweise folgt. Es ist durchausmöglich, seine Auffassung über die Bestimmung des Zielbegriffs zu teilenund die Identifikation von Gütern und Zielen anders zu erklären, zum Bei-spiel im Sinne der erwähnten ‚metaphysischen‘ These.)

Es ist nun leicht zu sehen, wie die hier skizzierte Debatte mit der Fragenach dem Status der Identifikation von Gütern und Zielen zusammen-hängt. Die beiden Positionen der Debatte stehen für zwei unterschiedlicheAuffassungen dieser Identifikation:

Erste Option: Der Begriff des Ziels setzt den Begriff des Guten voraus.Die Identifikation von τωλο« und �γα��ν basiert auf einer normativenDefinition von Zielen.

Zweite Option: Der Begriff des Guten setzt den Begriff des Ziels voraus.Die Identifikation von τωλο« und �γα��ν basiert auf einer teleologischenDefinition des Guten.

Beide Optionen geben eine einfache Erklärung, warum Aristoteles die Iden-tifikation von Gütern und Zielen für nicht erläuterungsbedürftig hält. WerT 2 zurückweist, hat entweder den Begriff des Ziels nicht richtig verstandenoder den Begriff des Guten.29

28 Vgl. Gotthelf 1987, 234: „The ‚normative analysis‘ of ends, then, which is perhaps‚first to us‘ [und damit ein geeignetes heuristisches Mittel, Ph. B.], is not ‚first in na-ture‘. ‚First in nature‘ is an analysis in terms of potentials for complex living outcomesspecifiable without reference to independent normative notions.“

29 Für die Interpretation macht es zweifellos einen Unterschied, ob wir darin eher eineThese über Sprachkompetenz oder eine These über inhaltliches Wissen sehen wollen.Im vorliegenden Kontext ist es allerdings nicht nötig, diese Frage zu entscheiden. Hiergeht es in erster Linie darum, die grundsätzliche Alternative zwischen den beiden Op-tionen vor Augen zu führen.

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14 Phil ipp Brül lmann

Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist diese Darstellung aus-reichend. Im Folgenden soll nicht entschieden werden, welche der beidenOptionen der Aristotelischen Naturphilosophie angemessener ist. Stattdes-sen soll gezeigt werden, welchen Unterschied es für eine naturphilosophi-sche Begründung von T 2 (und damit von T 1) macht, ob wir der einen oderder anderen Option folgen.

2.2

T 2 lautete: Das Gute für ein Lebewesen besteht im Ziel der natürlichenEntwicklung dieses Lebewesens. Unsere Frage war, ob die Naturphiloso-phie eine Begründung für T 2 enthält. Wie wir gesehen haben, ist dieseFrage prima facie eher zu verneinen – eine Bestimmung des Guten als sol-chen ist nicht Gegenstand der Naturphilosophie. Was die Naturphilosophieenthält, ist eine generelle Identifikation von Gütern und Zielen. Diese lässtsich, wenn wir eine ‚metaphysische‘ Deutung ausschließen, auf zwei Weisenerklären. Entweder setzt der Begriff des Ziels den Begriff des Guten voraus(erste Option) oder der Begriff des Guten den Begriff des Ziels (zweiteOption).

Betrachten wir zunächst, wie sich diese beiden Optionen auf das Ver-ständnis von T 2 auswirken. Wenn wir der zweiten Option folgen, um mitdem einfacheren Fall zu beginnen, dann lässt sich T 2 als Anwendung einerteleologischen Definition des Guten auf den Fall von Lebewesen beschrei-ben. Das Gute für ein Lebewesen zu sein, würde nichts anderes bedeuten,als das Ziel von dessen natürlicher Entwicklung zu sein. T 2 wäre eineDefinition des Guten für ein Lebewesen. Folgen wir dagegen der erstenOption, dann kann T 2 keine Definition des Guten sein, da der Begriff desZiels den Begriff des Guten bereits voraussetzt. Die Definition würde alsonicht durch das ‚Bekanntere‘ geschehen.30 Es scheint daher angemessener,T 2 in diesem Fall eher als eine Kennzeichnung des Guten zu behandeln.31

Wenn wir das Ziel der natürlichen Entwicklung eines Lebewesens identifi-ziert haben, dann haben wir das für dieses Lebewesen Gute identifiziert,auch wenn Gutsein nicht darin besteht, Ziel zu sein.32 Der Status von T 2

30 Vgl. zu der entsprechenden Forderung, durch das Frühere (πρ�τερον) und Bekanntere(γν,ριμ�τερον) zu definieren: Top. VI 4, 141a26ff.

31 Müller 2006a, 139, spricht in diesem Zusammenhang vom Streben als „ratio cognos-cendi“ des Guten.

32 In einem aristotelischen Theorierahmen lässt sich dieser Unterschied durch einenRückgriff auf die Prädikabilien „Definition“ (>ρο«, ?ρισμ�«) und „Eigentümlichkeit“(@διον) darstellen (vgl. Top. I 5). Im Fall der zweiten Option ist T 2 eine Definition:„eine Begriffsbestimmung (λ�γο«), die das Was-es-hieß-dies-zu-sein (τ� Aν ε-ναι) be-zeichnet“ (101b38) und die damit eine Antwort auf die Frage gibt, was die betreffendeSache ist. Im Fall der ersten Option benennt T 2 eine Eigentümlichkeit: „was zwar

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Ethik und Naturphilosophie 15

ändert sich also je nachdem, ob wir die erste oder die zweite Option zu-grunde legen. Im ersten Fall ist die teleologische Bestimmung des Guteneine Kennzeichnung, im zweiten Fall ist sie eine Definition.

Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass das Gute durch die beiden Optio-nen auf unterschiedliche Weise in die Naturphilosophie eingebettet wird.Denn während der Begriff des Guten nach der ersten Option für die Natur-philosophie unverzichtbar ist, könnte sie nach der zweiten Option auchohne diesen Begriff auskommen. Führen wir uns noch einmal kurz vor Au-gen, was damit gemeint ist.

Wir sind davon ausgegangen, dass Aristoteles teleologische Erklärungenim Bereich der Natur für unumgänglich hält. Um Naturvorgänge angemes-sen zu erklären, müssen wir sie als zielgerichtet begreifen. Nach der erstenOption ist der Begriff des Guten eine Voraussetzung dafür, dass sich Vor-gänge als zielgerichtet begreifen lassen. Denn nach dieser Option könnenwir nicht verstehen, was es heißt, dass x umwillen von y geschieht, wenn wirnicht wissen, was es heißt, dass y gut ist. Nach der zweiten Option ist der Be-griff des Guten dagegen keine Voraussetzung dafür, dass sich Vorgänge alszielgerichtet begreifen lassen. Denn nach dieser Option können wir verste-hen, was es heißt, dass x umwillen von y geschieht, ohne dass wir wissenmüssten, was es heißt, dass y gut ist. Durch das zitierte GedankenexperimentAllan Gotthelfs lässt sich dies einfach illustrieren. Unter den dort entworfe-nen Bedingungen wären Ziele „intrinsically evil“, ohne dass sich an der te-leologischen Erklärbarkeit natürlicher Prozesse irgendetwas ändern würde.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass diese Einbettung des Guten in dieNaturphilosophie im Fall der ersten Option ein Argument für T 2 zur Ver-fügung stellt, auf das man im Fall der zweiten Option nicht zurückgreifenkann. Wenn der Begriff des Guten eine Voraussetzung für die teleologischeErklärung natürlicher Prozesse darstellt, dann lässt sich alles, was für dieNotwendigkeit einer solchen Erklärung spricht, als Argument für T 2 insSpiel bringen.33 Wie dies geschehen kann, soll an einem Gedankenexperi-ment veranschaulicht werden:

nicht das Was-es-hieß-dies-zu-sein bezeichnet, was aber ausschließlich dieser Sachezukommt und an ihrer Stelle ausgesagt werden kann (μ�ν8 δ 5 Bπ�ρξει κα% �ντικατη-γορε*ται το4 πρ�γματο«)“ (102a18f.), d.h. was die gleiche Extension hat.

33 Es mag durchaus sein, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, auf naturphilosophi-scher Basis für T 2 zu argumentieren, d.h. über die Behauptung eines begrifflichenZusammenhangs hinauszugehen. Für den vorliegenden Kontext ist jedoch Folgendesentscheidend: Wenn wir Gotthelfs Darstellung folgen, dann lässt sich der Begriff desGuten aus der Beschreibung und Erklärung natürlicher Vorgänge ‚herauskürzen‘.Das Gute wäre kein wesentlicher (weil unverzichtbarer) Bestandteil der Aristoteli-schen Naturauffassung. Unter diesen Umständen scheint es aber ausgeschlossen, zurBegründung von T 2 auf diese Naturauffassung zurückzugreifen. Das heißt: Wenn wirdie Alternative zwischen den beiden Optionen akzeptieren, dann scheint allein dieerste Option einen Weg zu eröffnen, ein naturphilosophisches Argument für T 2 (unddamit T 1) zu entwickeln.

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Angenommen, wir beobachten eine Gruppe von Lebewesen einer bestimmten Art übereinen längeren Zeitraum hinweg. Wir stellen fest, dass die einzelnen Exemplare dieserGruppe mehr oder weniger die gleiche ‚Entwicklung‘ durchlaufen, die sich in demmehr oder weniger gleichen Zustand ‚vollendet‘. Wir äußern nun die – offenbar fal-sche – These, dass dieser von uns ‚Ziel‘ genannte Zustand laut Aristoteles kein Gut fürdiese Lebewesen darstellt. Was könnten die Anhänger der beiden Optionen auf dieseThese entgegnen?

Die Anhänger der ersten Option könnten zunächst entgegnen, dass wirnach Aristoteles nicht berechtigt wären, den von uns identifizierten Zu-stand als ein Ziel zu bezeichnen; denn Ziele seien per definitionem Güter.Wir hätten also nicht wirklich verstanden, was Ziele sind. Daraus würdeaußerdem folgen, dass wir den von uns beobachteten ‚Entwicklungsvor-gang‘ nicht als etwas beschreiben dürften, was sich um des angeblichen Zie-les willen abspielt und damit von einer beliebigen Ereignisfolge verschiedenist. Die Anhänger der ersten Option könnten aber noch einen Schritt weitergehen. Sie könnten darauf hinweisen, dass wir nun keine Möglichkeithätten, die von uns beobachteten Prozesse teleologisch zu erklären. Undmit Verweis auf die Aristotelische Physik könnten sie uns auf die problema-tischen Konsequenzen dieses Umstands aufmerksam machen, wie etwadarauf, dass wir der offensichtlichen Regelmäßigkeit der beobachteten Pro-zesse nicht wirklich gerecht werden. Sie würden also ein Argument nennen,das Aristoteles selbst für die Notwendigkeit einer teleologischen Naturer-klärung vorbringt.34 Da die von Aristoteles behauptete Unverzichtbarkeitteleologischer Erklärungen verschieden interpretiert wird, sind unter-schiedliche Varianten dieser Antwort denkbar: (a) Wer ein eher heuristi-sches Bild der Aristotelischen Naturteleologie vor Augen hat, müsste sichmit dem Einwand begnügen, dass uns ein wichtiges Hilfsmittel zur Erklä-rung regelmäßiger Prozesse entgeht. Dabei dürfte es sich allerdings um eineMindermeinung handeln.35 (b) Wer dagegen von einer prinzipiellen Irredu-zibilität teleologischer Erklärungen ausgeht, könnte darauf bestehen, dassregelmäßige Prozesse ohne Angabe der causa finalis nicht vollständig er-klärbar sind. Für diese Annahme spricht bereits die in Phys. II 7 geäußerteThese, der Naturphilosoph müsse sich mit allen vier Ursachen befassen(198a22–24). (c) Wer den ontologischen Aspekt der Aristotelischen Teleo-logie stark macht („certain goals actually exist in rerum natura“: Cooper1987, 273), könnte darüber hinaus die These vertreten, dass regelmäßigeProzesse nicht stattfinden würden, wenn es keine Ziele gäbe.36 Auf die

34 Vgl. die u.a. gegen Empedokles gerichtete Argumentation in Phys. II 8, 198b16–199a8,insbes. b34ff.

35 Als Kronzeugen dieser Auffassung gelten in der Regel Wieland 31992, 254–277, undNussbaum 1978, 59–99.

36 Vgl. zu dieser These des ‚kausalen Realismus‘: Freeland 1991 u. Moravcsik 1991. Inder Forschung werden (b) und (c) häufig miteinander verknüpft. Das heißt, es wirddafür argumentiert, dass sich teleologische Erklärungen nicht auf andere Arten der

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Ethik und Naturphilosophie 17

grundsätzliche Strategie der hier skizzierten Antwort haben diese Variantenallerdings keinen Einfluss. Alle basieren auf dem Gedanken, dass einePreisgabe teleologischer Erklärungen unser Verständnis natürlicher Vor-gänge in einer nicht hinnehmbaren Weise beeinträchtigt. Es handelt sichder Form nach um eine reductio, die je nach (a), (b) oder (c) auf unterschied-lich ‚absurde‘ Konsequenzen hinweist.

Genau diese Strategie steht den Anhängern der zweiten Option nichtzur Verfügung. Denn nach der zweiten Option wäre eine teleologische Be-schreibung und Erklärung von Prozessen auch dann möglich, wenn dieals Ziele identifizierten Zustände keine Güter wären. Die im Gedanken-experiment geäußerte These hätte mit der Möglichkeit teleologischer Er-klärungen überhaupt nichts zu tun. Daher könnten die problematischenKonsequenzen eines ‚Teleologie-Verzichts‘ auch nicht als Argument für dieIdentifikation von �γα��ν und τωλο« in Anschlag gebracht werden. Die aufder zweiten Option basierende Entgegnung müsste vielmehr lauten, dasswir nach Aristoteles nicht wüssten, was ein Gut ist; denn Güter seien perdefinitionem Ziele.

3. Das Ergon-Argument im Kontext

Im vorigen Abschnitt sind wir der Frage nachgegangen, ob die Naturphilo-sophie des Aristoteles, wenn schon keine explizite, so doch zumindest eineimplizite Begründung für T 2 (und damit für T 1) enthält. Zweierlei hat sichdabei gezeigt. Erstens fällt die Antwort auf diese Frage weniger leicht, alses die Omnipräsenz normativen Vokabulars in der Naturphilosophie ver-muten lässt. Aristoteles identifiziert zwar grundsätzlich τωλη und �γα��,der Status dieser Identifikation ist aber erstaunlich unklar. Zweitens: Obsich eine naturphilosophische Begründung von T 2 formulieren lässt, hängtoffenbar davon ab, wie wir diesen Status auffassen, d.h. ob wir Aristoteleseine normative Definition von Zielen (erste Option) oder eine teleologischeDefinition des Guten (zweite Option) zuschreiben.

Wenn wir von der zweiten Option ausgehen, um noch einmal mit demeinfacheren Fall zu beginnen, dann lautet die Antwort offensichtlich Nein.Dass alle Ziele Güter sind, wäre in diesem Fall „a separate fact about theworld“ (Gotthelf 1987, 233), eine Tatsache, die zur Erklärung natürlicherProzesse keinen notwendigen Beitrag leistet. Die teleologische Definition

Erklärung reduzieren lassen, weil (und insofern) teleologische Vorgänge ontologischirreduzibel sind. Vgl. z.B. Cooper 1987, 274: „[F]or Aristotle such [teleological, Ph. B.]explanations only truly explain where, and because, reality is actually governed in theways the explanations claim; what our interests demand is only of significance wherethey may be satisfied by pointing to something about the actual workings of things.Here as elsewhere for Aristotle ontology takes precedence over epistemology.“

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des Guten würde in der Naturphilosophie ebenso wie in der Ethik voraus-gesetzt. Um T 1 nachzuvollziehen, müssten wir diese Voraussetzung teilenund nicht auf die Naturphilosophie zurückgreifen.37 Folgen wir dagegender ersten Option, dann lässt sich eine ‚naturphilosophische Begründung‘von T 2 durchaus konstruieren. Zwar müsste man auch in diesem Falldie normative Definition von Zielen als eine Voraussetzung behandeln, daAristoteles für die Identifikation von τωλο« und �γα��ν nicht eigens argu-mentiert (vgl. 2.1). Eine Begründung von T 2 könnte aber von der Theseausgehen, dass die teleologische Erklärung natürlicher Prozesse ohne denBegriff des Guten nicht möglich ist. Die Zurückweisung von T 2 hätte da-mit Auswirkungen auf unser Naturverständnis, die sich im Fall der zweitenOption nicht ergeben. Wir dürften auf jene Argumente zurückgreifen, dieAristoteles selbst für die Notwendigkeit einer teleologischen Erklärung na-türlicher Prozesse vorbringt.

Wie bereits erwähnt, geht es hier nicht darum, welche der beiden Optio-nen eine angemessenere Interpretation der Aristotelischen Naturphiloso-phie ermöglicht. Beim Blick auf die Debatten entsteht allerdings der Ein-druck, dass die meisten Autoren die erste Option bevorzugen und sich dabeiauf eine ganze Reihe textlicher Evidenzen stützen können.38 Es scheint eingewisser Konsens darüber zu bestehen, dass nach Aristoteles etwas ein Zielist, weil es gut ist, und nicht umgekehrt gut, weil es ein Ziel ist.39 Und tat-sächlich scheint es wenig plausibel, dass unser Wissen vom Guten in ersterLinie darin bestehen sollte, dass Güter Ziele sind (zweite Option),40 wäh-

37 Es geht hier also nicht um die These, dass T 1 nach der zweiten Option voraussetzungs-los wäre, sondern allein um die Frage, auf welchen Voraussetzungen T 1 basiert. (Tat-sächlich setzt auch die zweite Option voraus, dass sich die Ausübung des �ργον als Zielder natürlichen Entwicklung des Menschen begreifen lässt.)

38 Vgl. etwa die von Charles 1991, 108f. (Fn. 7), ins Spiel gebrachten Passagen. Manmuss allerdings zugestehen, dass es oft schwierig ist zu entscheiden, ob der Begriff desGuten in diesen Passagen eine heuristische oder eine definitorische Funktion über-nimmt. Andere Autoren wie Cooper 1987, 245, versuchen zu zeigen, dass es sachlichgesehen keine Möglichkeit gibt, die Ziele teleologischer Prozesse ohne den Begriff desGuten von bloßen Endpunkten zu unterscheiden. Die übliche Referenz für diese Auf-fassung ist Woodfield 1976. Johnson 2005, 183 (Fn. 38), wirft Gotthelf insofern In-konsequenz vor, als sich dieser zwar gegen eine heuristische Interpretation der causafinalis, aber für eine heuristische Interpretation der Identifikation von Gütern undZielen ausspreche. Und auch Müller 2006a, 47, hält die erste Option für „plausibler“.

39 Vgl. die in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle Met. Λ 7, 1072a27–29, wo aller-dings der Ausdruck καλ�ν verwendet wird und von intentional Erstrebtem die Redeist: „Wir erstreben aber (etwas) vielmehr, weil wir meinen (dass es gut ist), als dass wirmeinten (dass es gut sei), weil wir (es) erstreben“ (Dρεγ�με�α δ$ δι�τι δοκε* μ»λλον Eδοκε* δι�τι Dρεγ�με�α).

40 Im Rahmen seiner Kritik an Platons Annahme einer Idee des Guten (EN I 4) machtAristoteles deutlich, dass das Wissen vom Guten jeweils ‚verschieden‘ ist, wenn es sichauf unterschiedliche Güter bezieht (1096a31–34). Dies scheint auch dann zu gelten,wenn Güter als Ziele aufgefasst werden (vgl. 1096b35ff.). Vgl. zur Rolle der Platon-kritik im Kontext von EN I: Brüllmann 2011, Kap. 2.3 u. 2.4.

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rend es umgekehrt durchaus attraktiv erscheint, den Begriff des Guten zurAbgrenzung zwischen bloßen Endpunkten und eigentlichen Zielen zu ver-wenden (erste Option).

So gesehen scheint also nichts dagegen zu sprechen, unsere erste Teilfragemit Ja zu beantworten. Die Naturphilosophie des Aristoteles enthält nichtnur ein ‚Prinzip‘, auf das wir T 1 zurückführen können: Das Gute für denMenschen besteht in der Erfüllung des menschlichen �ργον, weil in der na-türlichen Entwicklung aller Lebewesen τωλο« und �γα��ν zusammenfallen.Sie bietet auch ein Argument für dieses Prinzip: Ohne die Identifikationvon τωλο« und �γα��ν lassen sich Naturprozesse nicht angemessen erklären.

Kommen wir also zu unserer zweiten Teilfrage: Können (sollten) wirdiese Begründung für die Interpretation des Ergon-Argumens heranziehen?Im Folgenden werde ich zwei Argumente ausführen, die dagegen sprechen:(i) Wenn wir die naturphilosophische Begründung für T 1 in Anspruch neh-men, dann passt das Ergon-Argument nur schlecht in den Kontext des ers-ten Buches der Nikomachischen Ethik (3.1). (ii) Es gibt einen Interpreta-tionsansatz, der das Ergon-Argument in das erste Buch integriert und eineandere Begründung für T 1 zur Verfügung stellt (3.2).

3.1

In diesem Abschnitt sollen zwei Merkmale der Vorgehensweise in EN I be-trachtet werden, die das Verhältnis zwischen dem Ergon-Argument und denübrigen Teilen des ersten Buches betreffen. Es soll gezeigt werden, dassdiese viel diskutierten Merkmale Schwierigkeiten aufwerfen, wenn wir T 1in der skizzierten Weise naturphilosophisch begründen.

(1) Die beiden Teleologien. Das erste Merkmal des Argumentations-gangs besteht darin, dass im ersten Buch der Nikomachischen Ethik zweiunterschiedliche Teleologien eine Rolle spielen, nämlich Handlungs- undNaturteleologie. Während in den Kapiteln I 1–5 in erster Linie von Hand-lungen und anderen menschlichen Tätigkeiten die Rede ist, richtet sich derFokus in I 6 eher auf Naturvorgänge.41 (Vgl. dazu den in Abschnitt 1 be-schriebenen Perspektivwechsel.)

Eine Trennung zwischen Handlungs- und Naturteleologie scheint vorallem deshalb angebracht, weil Handlungsziele intentional erstrebt werden,die Ziele natürlicher Prozesse dagegen nicht. Es ist keineswegs klar, ob sichdiese beiden Arten zielgerichteter Vorgänge durch eine einheitliche Theorieerklären lassen. Daher irritiert es, dass Aristoteles selbst Handlungs-und Naturteleologie oft nicht unterscheidet. Auch in naturphilosophischenKontexten operiert er mit Beispielen intentionaler Handlungen, ohne dass

41 Vgl. für eine Formulierung der damit einhergehenden Schwierigkeiten: Wolf 2002, 44.

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deren Relation zu nicht-intentionalen Prozessen genau geklärt würde.42

Vermutlich hat dieser Umstand zu Deutungen seiner Naturphilosophie bei-getragen, die wir als problematisch empfinden, weil sie die Naturvorgängezu stark den Handlungen angleichen. Wenn wir diese Deutungen jedoch ab-lehnen, wie es der vorherrschenden Forschungsmeinung entspricht,43 dannmüssten wir eigentlich eine andere Erklärung dafür bieten, dass Aristotelesdie beiden Formen der Teleologie in der Regel gleichbehandelt.44

Eine solche Erklärung liegt allerdings außerhalb des hier verfolgtenAnliegens. Hier geht es allein um die Frage, ob der Unterschied zwischenHandlungen und Naturprozessen eine Auswirkung auf die teleologischeBestimmung des Guten und deren Begründung hat. Noch konkreter lässtsich diese Frage fassen, wenn wir einen Blick auf den Beginn der Nikoma-chischen Ethik werfen:

Jede Kunst (τωξνη) und jede Untersuchung (μω�οδο«), ebenso (jede) Handlung (πρ»+ι«)und (jede) Entscheidung (προα�ρεσι«) scheint ein bestimmtes Gut zu erstreben. Daherhat man mit Recht (καλ6«) das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.(1094a1–3)

Aristoteles formuliert in diesen Zeilen eine teleologische Bestimmung desGuten („wonach alles strebt“: ο; π�ντ 5 )φ�εται), wie wir sie in ähnlicherWeise auch im Hintergrund des Ergon-Arguments vermutet haben (vgl.T 1*). Hier wie dort werden Güter mit Zielen identifiziert. Während derBeginn des Kapitels I 1 jedoch von Beispielen intentionaler Vorgänge aus-geht (Herstellungsprozesse, Handlungen usw.), haben wir Kapitel I 6 aufdie Aristotelische Erklärung der Entwicklung von Lebewesen bezogen, alsoauf einen nicht-intentionalen Vorgang. Konkret lautet die Frage also: Wasbedeutet es für die Interpretation, dass EN I eine handlungs- und einenaturteleologische Bestimmung des Guten enthält?

Schon auf den ersten Blick dürfte klar sein, dass unsere naturphilosophi-sche Begründung von T 1, also die in 2.2 skizzierte reductio, nicht ohne Wei-teres auf den Fall der Handlungen angewandt werden sollte. Denn andersals die Entstehung und Entwicklung eines Lebewesens sind Handlungen

42 Vgl. als eines von mehreren Beispielen: Phys. II 8, 199a8–20. Eine ausführliche Be-handlung dieser Passagen bietet Charles 1991.

43 Vgl. für eine Behandlung der Passagen, in denen Aristoteles die Natur scheinbar per-sonifiziert: Preus 1975, 221–244.

44 Vgl. wiederum Charles 1991, der zu einem negativen Ergebnis kommt: „Theseremarks suggest that Aristotle in Phys. II.8–9 did not articulate an account of teleo-logical causation which distinguished properly between the Agency and Function mo-del. He possessed a general strategy for vindicating claims concerning teleologicalcausation; but he did not advance one determinate model of teleological causationwhich he aimed to vindicate. And for this reason, his notions of nature (the key con-cept in Phys. II), and of natural process (the key concept of Phys. III) are left, in cer-tain important respects, ill-defined“ (127).

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Ethik und Naturphilosophie 21

keine (bloßen) Naturprozesse.45 Was für die Notwendigkeit einer teleologi-schen Erklärung von Naturprozessen spricht, muss daher nicht zwangsläu-fig für die Notwendigkeit einer teleologischen Erklärung von Handlungensprechen. Versuchen wir, diesen Punkt noch genauer fassen. Die Pointeunserer naturphilosophischen Begründung von T 1 bestand in der These,dass sich Naturprozesse nur dann teleologisch erklären lassen, wenn wirvoraussetzen, dass deren Ziele Güter sind (vgl. das in 2.2 formulierte Ge-dankenexperiment). Auf den Fall intentionaler Vorgänge wie etwa Hand-lungen scheint diese These aber gar nicht zuzutreffen. Denn Ziel einerHandlung ist nicht das Gute (�γα��ν), sondern das, was dem Handelndenals gut erscheint (φαιν�μενον �γα��ν), und dies unabhängig davon, ob esauch ‚in Wirklichkeit‘ gut ist. Auch Handlungen, die auf etwas in Wirklich-keit Schlechtes abzielen, lassen sich nach Aristoteles teleologisch erklären.46

Nimmt man diesen Unterschied zwischen Handlungen und Naturprozessenernst, dann kann ‚x ist Ziel einer Handlung‘ nicht als Kennzeichnung von‚x ist ein Gut‘ verwendet werden, sondern allenfalls als Kennzeichnung von‚x erscheint als gut‘.47 Genau darauf weist Aristoteles im sechsten Buch derTopik hin:

Oft ist nämlich den Strebenden das verborgen, was (wirklich) gut oder angenehm ist,so dass (das Erstrebte) nicht notwendig gut oder angenehm ist, sondern nur so zusein scheint (Fστ 5 ο�κ �ναγκα*ον �γα��ν E GδH ε-ναι �λλ7 φαιν�μενον μ�νον). (VI 8,147a2–4, Übers. Wagner/Rapp 2004)

Was folgt daraus? Wenn wir die naturphilosophische Begründung vonT 1 in Anspruch nehmen, dann liegt es nahe, eine klare Unterscheidungzwischen ‚Gutem‘ und ‚als gut Erscheinendem‘, zwischen Naturprozessenund intentionalen Vorgängen zu erwarten, da sich die Begründung aufLetztere nicht anwenden lässt. Genau diese Unterscheidung wird im erstenBuch der Nikomachischen Ethik aber nicht vorgenommen; prominent wirdsie erst in EN III 6. Der Beginn von Kapitel I 1 nennt Beispiele intentionalerVorgänge, versteht sich aber trotzdem als eine Bestimmung des Guten(τ�γα��ν: 1094a3) und nicht des als gut Erscheinenden.48

Der Rückgriff auf die naturphilosophische Begründung von T 1 scheintuns damit zu einer der beiden folgenden Annahmen zu zwingen: Entweder

45 Vgl. zu Aristoteles’ Theorie der „animalischen Ortsbewegung“ und zur Frage, wie sichrationales Handeln in den kausalen Nexus natürlicher Vorgänge einfügt: Corcilius2008.

46 Vgl. dazu DA III 10, insbes. 433a26–29.47 In der von J. Müller vorgeschlagenen Terminologie wären Handlungsziele also nicht

ratio cognoscendi des Guten, sondern des als gut Erscheinenden. Vgl. die entspre-chende Modifikation in Müller 2006a, 139.

48 Eine konzise Einführung in die damit verbundenen Interpretationsprobleme bietetnach wie vor Kenny 1977.

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22 Phil ipp Brül lmann

meint Aristoteles, wenn er in EN I 1 von �γα��ν spricht, eigentlich φαιν�-μενον �γα��ν, und erst in I 6 ist wirklich von �γα��ν die Rede. Oder dieIdentifikation von τωλο« und �γα��ν basiert in EN I 1 auf einer anderenBegründung als in I 6. Beide Annahmen stellen eine gewisse Härte für dieInterpretation dar.

(2) Der Vergleich mit den gängigen Meinungen. Kommen wir zum zweitenMerkmal der Vorgehensweise im ersten Buch der Nikomachischen Ethik.Es besteht darin, dass die durch das Ergon-Argument gewonnene Bestim-mung des menschlichen Guts mit gängigen Meinungen (λεγ�μενα) ver-glichen wird (I 8–9)49. Welche Funktion dieser Vergleich genau erfüllt, istnicht leicht zu sagen; auch in der Forschung herrscht hierüber keine Einig-keit. Klar scheint aber immerhin zu sein, dass es Aristoteles um die Wahr-heit der in I 6 entwickelten Bestimmung geht,50 dass er also im weitestenSinne ein Rechtfertigungsanliegen verfolgt.

Der Vergleich mit den λεγ�μενα stellt insofern ein Problem dar, als erden Status des Ergon-Arguments in Frage zu stellen scheint. Wenn diesestatsächlich als ein Argument gedacht ist (vgl. I 8, 1098b9f.), d.h. als eineBegründung dafür, dass das Gute für den Menschen in der Ausübung derVernunfttätigkeit besteht, wozu bedarf es dann noch einer weiteren Begrün-dung durch den Vergleich mit gängigen Meinungen? Und wie verhalten sichdiese beiden Begründungen zueinander? Zugespitzt findet sich dieses Pro-blem in dem Verdacht, dass das erste Buch der Nikomachischen Ethikzwei konkurrierende Rechtfertigungen der Glückskonzeption enthält: eine‚metaphysische‘ Rechtfertigung, die auf dem Ergon-Argument basiert, undeine ‚dialektische‘ Rechtfertigung, die auf der Übereinstimmung mit aner-kannten Meinungen aufbaut.51 Bei diesem (durchaus gängigen) Verdachtgeht es nicht nur um die Beobachtung, dass die Ergebnisse des Ergon-Arguments noch einmal überprüft werden. Es geht um die Vermutung, dassdabei zwei unterschiedliche Typen von Annahmen ins Spiel kommen, derenVerhältnis nicht hinreichend geklärt wird: wissenschaftliche oder metaphy-sische Annahmen im Fall des Ergon-Arguments und Commonsense-An-nahmen im Fall von EN I 8–9.

49 Genau genommen spielen gängige Meinungen nicht nur in EN I 8–9 eine Rolle,sondern auch in den sich anschließenden Kapiteln I 10–12. Während jedoch I 10–12 inerster Linie einer ‚Präzisierung‘ der Glückskonzeption dienen und weitergehendeFragen behandeln, scheint die dialektische ‚Bestätigung‘ der in I 6 vorgeschlagenenDefinition primär in I 8–9 zu geschehen. Daher werde ich mich im Folgenden aufdiese beiden Kapitel beschränken.

50 Vgl. die allerdings schwierig zu interpretierenden Zeilen I 8, 1098b11f.: „Denn mitdem Wahren stimmt alles Vorhandene zusammen, mit dem Falschen aber gerät dasWahre schnell in Missklang“ (τ� μ$ν γ7ρ �λη�ε* π�ντα σψνIδει τ7 Bπ�ρξοντα, τ� δ$χεψδε* ταξH διαφ,νε* τ�λη�ω«).

51 Vgl. Müller 2006b, 6–8, mit den entsprechenden Literaturhinweisen.

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Ethik und Naturphilosophie 23

Da das Ergon-Argument (mindestens) zwei Prämissen enthält,52 ist essinnvoll, (mindestens) zwei Fälle zu unterscheiden, in denen das Problemkonkurrierender Rechtfertigungen auftreten kann. Das Problem konkur-rierender Rechtfertigungen kann auftreten, (a) wenn die Identifikation zwi-schen �γα��ν und �ργον, also letztlich T 1, auf wissenschaftlichen Annah-men beruht. Es kann aber auch auftreten, (b) wenn dies für die Bestimmungdes menschlichen �ργον gilt. Diese beiden Fälle können gemeinsam, aberauch getrennt vorliegen.

In Abschnitt 1 wurde auf eine Forschungsmeinung hingewiesen, die mitBlick auf (b) relevant erscheint. Nach dieser Forschungsmeinung greiftAristoteles für die Bestimmung des menschlichen �ργον nicht auf die Ergeb-nisse anderer Schriften zurück, sondern auf eine Psychologie des Common-sense. Sollte diese Meinung zutreffen, dann scheint der Vergleich mit denλεγ�μενα kaum problematisch; denn schon das Ergon-Argument würdesich im Bereich gängiger Meinungen bewegen.53 Wie aber sieht es mit (a)aus? Beruht T 1 auf wissenschaftlichen oder metaphysischen Annahmen,die in Konkurrenz zum dialektischen Verfahren in I 8–9 treten könnten?Die hier angestellten Überlegungen ermöglichen es, zumindest eine Ant-wort auf diese Frage zu geben: Wenn wir T 1 in der skizzierten Weise natur-philosophisch begründen, dann beruht das Ergon-Argument tatsächlichauf wissenschaftlichen Annahmen. Denn zum einen haben wir T 1 als An-wendungsfall einer These verstanden, die aus naturphilosophischen Kon-texten stammt (T 2). Zum anderen rekurriert unser Argument für T 2 aufeine bestimmte Auffassung von angemessener Naturerklärung, die in derPhysik entwickelt wird. Das heißt: Die Inanspruchnahme der naturphiloso-phischen Begründung von T 1 stellt uns vor die Aufgabe, diese Begründungzur dialektischen Vorgehensweise in EN I 8–9 ins Verhältnis zu setzen.

3.2

Im vorigen Abschnitt wurden zwei Interpretationsaufgaben entwickelt, diesich stellen, wenn wir auf die naturphilosophische Begründung von T 1 zu-rückgreifen. Die erste Aufgabe betrifft das Verhältnis von intentionalenVorgängen und Naturprozessen, die zweite das Verhältnis von naturphilo-sophischer und dialektischer Begründung. Die These, für die nun argumen-tiert werden soll, lautet nicht, dass es völlig ausgeschlossen wäre, diese Auf-

52 Vereinfacht: P 1: Das Gute für den Menschen besteht in der Erfüllung des mensch-lichen �ργον. P 2: Die Erfüllung des menschlichen �ργον besteht in der (tugendgemä-ßen) Tätigkeit der Vernunft. K: Das Gute für den Menschen besteht in der (tugend-gemäßen) Tätigkeit der Vernunft.

53 Die Frage, wie sich die beiden Begründungen zueinander verhalten, ist natürlich trotz-dem legitim.

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24 Phil ipp Brül lmann

gaben zu lösen. Unter Heranziehung entsprechender Zusatzannahmen mages durchaus möglich sein, das naturphilosophische Argument für T 1 in An-spruch zu nehmen und zugleich das Ergon-Argument in den Kontext desersten Buches zu integrieren. Diese Zusatzannahmen wären gewissermaßender exegetische Preis für die naturphilosophische Begründung von T 1. DieThese, für die hier argumentiert werden soll, lautet vielmehr, dass es nichtnötig ist, diesen Preis zu bezahlen.

Im Folgenden werde ich einen Interpretationsansatz skizzieren, der so-wohl eine Begründung für T 1 liefert, als auch ein geschlossenes Bild desArgumentationsgangs vermittelt. Dieser Ansatz kann hier zwar nicht aus-führlich dargestellt werden;54 und ich möchte nicht ausschließen, dass esandere Ansätze gibt, die zu einem ähnlichen Ergebnis führen. Es soll aberzumindest aufgezeigt werden, dass es möglich und attraktiv ist, auf die na-turphilosophische Begründung von T 1 zu verzichten.

Als Ausgangspunkt kann die vielleicht irritierende Beobachtung dienen,dass die in 3.1 dargestellten Schwierigkeiten nicht auftreten würden, wennwir der zweiten Option folgen könnten und Aristoteles eine teleologischeDefinition des Guten zuschreiben würden. Das Problem der beiden Teleo-logien würde nicht auftreten, weil die Unterschiede in der Erklärung vonHandlungen und Naturprozessen im Fall der zweiten Option keine Auswir-kung auf die Bestimmung des Guten haben (vgl. 2.2). Es wäre völlig uner-heblich, ob von Handlungszielen oder von den Zielen natürlicher Vorgängedie Rede ist, solange nur der Begriff des Ziels als bekannter vorausgesetztwerden kann. Und das Problem der konkurrierenden Begründungsstrate-gien würde nicht auftreten, weil das naturphilosophische Argument, das dieerste Option für T 1 zur Verfügung stellt, im Fall der zweiten Option garnicht in Anspruch genommen werden kann (vgl. 2.2). Wie aber sollten wirdiese Beobachtung für die Interpretation von EN I nutzbar machen, wenndoch alles für die sachliche Richtigkeit der ersten Option spricht?

Ich möchte folgende Antwort vorschlagen: Die Beobachtung lässt sichnutzbar machen, wenn wir die zu Beginn von EN I 1 eingeführte Identifika-tion von Gütern und Zielen als eine stipulative Definition des Guten behan-deln.55 Für den Kontext der Ethik legt Aristoteles sich darauf fest, den Be-griff des Guten vom Begriff des Ziels abhängig zu machen. Dies bedeutet

54 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung: Brüllmann 2011, Kap. 1–3.55 In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Erklärungen dieser Identifika-

tion. Gängig ist dabei die Unterscheidung zwischen einem ‚analytischen‘ Ansatz(es gehört zum Begriff einer Handlung, auf ein Gut ausgerichtet zu sein) und einem‚empirischen‘ Ansatz (wir beobachten, dass menschliche Tätigkeiten auf Güterausgerichtet sind) (vgl. Wolf 2002, 27). Die Identifikation des höchsten Guts mit demobersten Ziel wird bisweilen auch ‚adhortativ‘ gedeutet (wir sollten alle unsere Hand-lungen auf ein höchstes Gut ausrichten; vgl. EE I 2, 1214b6–11, sowie Kenny 1977,25). Der Vorschlag, die Identifikation von Gütern und Zielen als eine stipulative De-finition des Guten zu begreifen, ist m.W. bislang noch nicht gemacht worden.

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Ethik und Naturphilosophie 25

nicht, dass er generell eine teleologische Definition des Guten vertretenmüsste, wie es die zweite Option annimmt (tatsächlich spricht einiges gegendiese Annahme).56 Es bedeutet lediglich, dass diese ‚Definition‘ die güter-theoretische Grundlage der nun folgenden Kapitel bildet. Entscheidendwäre also in erster Linie die argumentative Rolle und nicht die Begründungder teleologischen Bestimmung des Guten.57 Welche Vorteile dieser Inter-pretationsansatz hat, soll anhand der beiden in 3.1 beschriebenen Merk-male des Argumentationsgangs verdeutlicht werden.

(1) Die beiden Teleologien. Wie wir gesehen haben, führt der Rückgriffauf die naturphilosophische Begründung von T 1 zu einer Spannung zwi-schen EN I 1 und dem Ergon-Argument. Wir scheinen gezwungen, entwe-der den Ausdruck �γα��ν einmal im Sinne des ‚als gut Erscheinenden‘, dasandere Mal im Sinne des ‚Guten‘ zu verstehen, oder hinter EN I 1 eine an-dere Begründung für die Identifikation von τωλο« und �γα��ν zu vermutenals hinter EN I 6. Die Interpretation würde vor der Aufgabe stehen, die bei-den teleologischen Bestimmungen des Guten miteinander zu vereinbaren.

Nach der hier vorgeschlagenen Deutung tritt die erwähnte Spannung da-gegen überhaupt nicht auf. Vielmehr würde der Beginn der NikomachischenEthik eine Definition des Guten stipulieren, die in den folgenden Kapitelnauf unterschiedliche Bereiche Anwendung fände. Aristoteles führt, sehr ver-einfacht gesprochen, vor, wo überall Ziele und damit Güter anzutreffen sind.Ziele lassen sich nicht nur auf einzelne Handlungen und andere intentionaleVorgänge beziehen (I 1, 1094a6–8), sondern auch auf Lebenssituationen (I 2,1095a23–25). Sie sind nicht nur mit den verbreiteten Lebensformen (β�οι)verknüpft (I 3, z.B. 1095b23), sondern können auch Lebewesen als solchenzugesprochen werden (I 6, 1097b28–33). Nach dieser Interpretation wäreT 1 also nicht als Anwendung der naturphilosophischen These T 2 zu begrei-fen, sondern als Anwendung der in EN I 1 stipulierten Definition des Guten.Die ersten Zeilen der Nikomachischen Ethik würden eine gütertheoretischeKlammer aufmachen, die auch das Ergon-Argument umfasst.58 Auch die

56 Als besonders aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang die bereits er-wähnte Platonkritik EN I 4. Tatsächlich lassen sich, m.E., viele Eigenheiten der Vor-gehensweise in EN I daraus erklären, dass Aristoteles eine teleologische Bestimmungdes Guten nicht für eine Definition hält. Im vorliegenden Kontext kann dieser Ge-danke aber nicht weiter ausgeführt werden; vgl. wiederum Brüllmann 2011.

57 Im Kern läuft dieser Vorschlag darauf hinaus, hinter 1094a1–3 weder eine Aussageüber das Wesen des Guten zu vermuten, noch eine Aussage über das Wesen von Zielen.Vielmehr sollten diese Zeilen als eine gütertheoretische Festlegung begriffen werden,an der sich die weitere Vorgehensweise orientiert.

58 Die Pointe dieser Interpretation liegt nicht in der bloßen Beobachtung, dass Aristote-les sowohl in EN I 1 als auch in EN I 6 �ργα als Güter bezeichnet (diese Beobachtungmacht z.B. auch Wolf 2002, 38f.). Sie liegt vielmehr in der These, dass EN I 1 eine aus-reichende gütertheoretische Grundlage für das Ergon-Argument bietet und dass derUnterschied zwischen Handlungen und Naturprozessen irrelevant ist. Anders als esdie naturphilosophische Begründung von T 1 nahe legt, markiert der Übergang zum

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Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen der Erfüllung des �ργον unddem Guten in EN I 6 nicht am Beispiel von Lebewesen eingeführt wird, son-dern am Beispiel der Vertreter herstellender Berufe (1097b25–29), ist völligunverfänglich, wenn der Unterschied zwischen Handlungen und Naturpro-zessen gütertheoretisch nicht relevant ist.59

(2) Der Vergleich mit den gängigen Meinungen. Wenn wir T 1 naturphilo-sophisch begründen, dann erscheint die dialektische Argumentation in ENI 8–9 als zumindest erläuterungsbedürftig. Es müsste erklärt werden, wiesich diese beiden Begründungen zueinander verhalten. Begreifen wir T 1dagegen als Anwendung einer Definition des Guten, die bislang nur stipu-liert worden ist, dann macht eine dialektische Überprüfung der Ergebnissedes Ergon-Arguments durchaus Sinn. Betrachten wir zur Verdeutlichungnoch einmal die ersten Zeilen aus Kapitel I 1:

Jede Kunst und jede Untersuchung, ebenso (jede) Handlung und (jede) Entscheidungscheint ein bestimmtes Gut zu erstreben. Daher hat man mit Recht das Gute als dasje-nige bezeichnet, wonach alles strebt. (1094a1–3)

Es fällt auf, dass die Bestimmung des Guten hier mit einer gewissen Zurück-haltung formuliert wird. Aristoteles weist diese Bestimmung nicht nurals Referat einer bestehenden Meinung aus (�πεφJναντο). Die von ihmvorgebrachten Beispiele werden überdies mit einem „wie es scheint“ (δοκε*)versehen. Außerdem markiert der Ausdruck „daher“ (δι�) keinen gültigenSchluss, sondern eher den Versuch, die vorgeschlagene Bestimmung an-hand einiger Beispiele plausibel zu machen.60 Insgesamt entsteht nicht derEindruck, als würde die teleologische Definition des Guten als selbstevi-

Ergon-Argument nicht den Übergang vom ‚als gut Erscheinenden‘ (φαιν�μενον�γα��ν) zum ‚Guten‘ (�γα��ν), sondern den Übergang vom Guten in Bezug aufHandlungen (I 1) oder Lebensformen (I 3) zum Guten in Bezug auf den Menschen(I 6). Den in I 6 verwendeten Dativ (α�λητ2 […] �γαλματοποι� […] παντ% τεξν�τ3[…] �ν�ρ�π8: 1097b25–28) würde ich dementsprechend nicht als Dativus commodilesen (vgl. Abschnitt 2), sondern – wenn möglich – auf die Relation zwischen denGütern und den ihnen zugeordneten Gegenständen beziehen. Die Erfüllung desmenschlichen �ργον ist insofern das Gute ‚für den Menschen‘, als sie das ‚auf denMenschen bezogene‘ Gute ist.

59 Für Interpretationen, die dem Ergon-Argument eine explizit naturphilosophischeGrundlage geben wollen, stellen diese Beispiele tatsächlich ein Problem dar. Vgl. z.B.Whiting 1988, insbes. Abschnitt II.

60 Damit wäre eine einfache Möglichkeit benannt, Aristoteles vom Vorwurf des ‚Quan-torendrehers‘ (quantifier shift) freizusprechen, der mit Blick auf den Beginn von EN I1 immer wieder diskutiert worden ist (vgl. hierzu z.B. Jacobi 1979). Wenn die hier vor-geschlagene Deutung zutrifft, dann ‚schließen‘ die Zeilen 1094a1–3 nicht von ‚Füralle x gibt es ein y‘ auf ‚Es gibt ein y für alle x‘. Vielmehr wird in a3 eine Bestimmungdes Guten aufgegriffen (καλ6« �πεφJναντο), die zuvor durch einige Beispiele plausi-bel gemacht worden ist. Und wenn man die Definition als stipulativ begreift, dannmüssen die Zeilen auch gar keinen Schluss enthalten; denn die Richtigkeit der Defini-tion soll hier nicht bewiesen werden.

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Ethik und Naturphilosophie 27

dent oder als etwas behandelt, für das an anderer Stelle ausführlich argu-mentiert wurde.

Wertet man diese Beobachtungen als Hinweis auf den Status der Defi-nition des Guten, dann überrascht es kaum, dass die Bestimmungdes menschlichen Guts, sofern sie auf dieser Definition basiert, einer Über-prüfung unterzogen wird. Im Gegenteil: Die zu Beginn von Kapitel I 1 ge-brauchten Formulierungen scheinen eine solche Überprüfung eher heraus-zufordern. Dass der im Ergon-Argument entwickelte ‚Umriss‘ desgesuchten Guts (vgl. I 7, 1098a20f.) tatsächlich die Kriterien des Guten unddes Glücks erfüllt, ist nicht selbstverständlich, sondern muss nachgewiesenwerden.61

Der entscheidende Vorteil dieser Interpretation liegt darin, dass wir dieKapitel I 1–9 als einen in sich geschlossenen Argumentationsgang beschrei-ben können. Dieser würde in I 1 mit einer stipulativen Definition des Gutenbeginnen, die in I 6 als Grundlage für eine Definition des menschlichenGuts dient. Da die Definition des menschlichen Guts ihrerseits stipulativwäre – sie beruht eben allein auf der in I 1 eingeführten Identifikation vonτωλο« und �γα��ν –, ist ihre dialektische Überprüfung in I 8 und I 9 durch-aus angebracht. Der Vergleich mit den gängigen Meinungen würde alsonicht in Konkurrenz zu einer metaphysischen Begründung stehen; er würdevielmehr die Begründung der Aristotelischen Glückskonzeption erst liefern.

Diese Darstellung ist, wie gesagt, alles andere als erschöpfend. Und zwei-fellos fordert sie zu Rückfragen heraus. Es sollte aber deutlich gewordensein, dass die Probleme, die bei einer naturphilosophischen Begründungvon T 1 auftreten, bei der hier vorgeschlagenen ‚innerethischen‘ Begrün-dung wegfallen. Das Ergon-Argument kann ohne Schwierigkeiten in denKontext des ersten Buches der Nikomachischen Ethik integriert werden.

4. Fazit

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand darin, das Verhältnis zwi-schen der Ethik und der Naturphilosophie des Aristoteles anhand einerkonkreten Frage genauer zu bestimmen. Diese Frage lautete:

Enthält die Aristotelische Naturphilosophie eine Begründung von T 1(das Gute für den Menschen besteht in der Erfüllung des menschlichen�ργον), die wir für die Interpretation des Ergon-Arguments heranziehenkönnen?

61 Mehr noch: Die im Ergon-Argument vorgeschlagene Bestimmung des höchstenGuts bedarf einiger Ergänzungen, d.h. sie erfüllt eben nicht alle Kriterien des Gutenbzw. des Glücks; vgl. insbes. die Bemerkungen zur Rolle der ‚äußeren Güter‘ (I 9,1098a31ff.) und des ‚Zufallsglücks‘ (I 11, 1100b22ff.).

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Wenn die hier angestellten Beobachtungen zutreffen, dann ergibt sich mitBlick auf diese Frage folgende Situation: Einerseits stellt die AristotelischeNaturphilosophie tatsächlich ein Argument zur Begründung von T 1 bereit.Dieses Argument hängt eng mit der teleologischen Naturauffassung desAristoteles zusammen. Es in Anspruch zu nehmen bedeutet, bestimmte An-nahmen über die angemessene Erklärung natürlicher Prozesse zu machen.Andererseits passt Kapitel 6, wenn wir dieses naturphilosophische Argu-ment in Anspruch nehmen, nicht wirklich in den Kontext des ersten Buchesder Nikomachischen Ethik. Sowohl der Wechsel zwischen Handlungs- undNaturteleologie als auch der Vergleich mit den gängigen Meinungen er-scheinen aus dieser Perspektive als erklärungsbedürftig. Wesentlich leichterfügt sich das Ergon-Argument dagegen in den Zusammenhang, wenn wirauf dessen naturphilosophische Begründung verzichten und T 1 stattdessen(i) auf die ‚Definition‘ des Guten beziehen, die gleich am Anfang der Niko-machischen Ethik formuliert wird, und (ii) diese Definition als stipulativ be-greifen. Unter diesen Voraussetzungen erweisen sich die übrigen Bestand-teile des ersten Buches als notwendige Ergänzungen des Ergon-Arguments.

Wie bereits hervorgehoben wurde, ist mit der hier behandelten Frage le-diglich ein Aspekt des Verhältnisses zwischen dem Ergon-Argument undder Naturphilosophie des Aristoteles angesprochen worden. Und eine um-fassendere Untersuchung müsste nicht nur weitere Aspekte berücksichti-gen, unter denen dieses Verhältnis betrachtet werden kann. Sie müsste auchdas Ergon-Argument als Ganzes in den Blick nehmen und die Version derNikomachischen Ethik mit der der Eudemischen Ethik vergleichen. Zudemhätte sie, um die Frage der argumentativen Abhängigkeit abschließend zuklären, auch andere, zum Beispiel metaphysische Annahmen aus EN I 6 zuuntersuchen. Trotzdem halte ich die hier aufgeworfene Frage aus zweiGründen für aufschlussreich. Zum einen konnte an ihr gezeigt werden, wievielschichtig das Verhältnis zwischen der Ethik und der Naturphilosophiedes Aristoteles ist. Wie bei den seelentheoretischen Aussagen aus EN I (vgl.Abschnitt 1) wäre es mit Blick auf die Aussagen über das Gute voreilig, einesich bietende naturphilosophische Begründung ohne Weiteres für die Inter-pretation der Ethik heranzuziehen.62 Denn Aristoteles selbst scheint gera-dezu darum bemüht, seine Argumentation nicht von einer solchen Begrün-dung abhängig zu machen. Zum anderen deutet sich an, dass der normativeAnspruch, den das Ergon-Argument erhebt (der Anspruch, eine zutref-fende Konzeption des für den Menschen Guten zu formulieren), nicht aufeiner bestimmten Naturauffassung beruht. Die ‚naturalistische Wendung‘,von der in Abschnitt 1 die Rede gewesen ist, darf offenbar nicht so verstan-den werden, dass EN I 6 die Natur als Quelle von Normativität einführenwürde (nach dem Muster: ‚gut weil naturgemäß‘). Sollte sich dieser Ver-

62 Ein vergleichbarer Fehler liegt m.E. dem Ansatz von Irwin 1980 zugrunde.

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Ethik und Naturphilosophie 29

dacht als zutreffend erweisen, dann wären wir einem Verständnis des Natu-ralismus in der Aristotelischen Ethik einen entscheidenden Schritt nähergekommen.63

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63 Eine erste Fassung des vorliegenden Textes wurde im Oktober 2009 beim zweitenWorkshop des Arbeitskreises Praktische Philosophie der GANPH in Köln präsen-tiert. Ich danke den Organisatoren dieser Veranstaltung, Marcel van Ackeren undJörn Müller, sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für kritische Rückfragenund Kommentare. Für Anmerkungen zu einer späteren Fassung danke ich insbeson-dere Klaus Corcilius und Anna Schriefl sowie den beiden anonymen Gutachtern desArchivs.

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30 Phil ipp Brül lmann

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