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ETHNISCHE IDENTITÄTEN IM EUROPA DES FRÜHMITTELALTERS Wittgenstein-Projekt 2005-2010 WITTGENSTEINPREIS WALTER POHL – EINBLICKE UND AUSBLICKE

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  • 1

    Wittgensteinpreis Walter PohlEinblicke und Ausblicke

    EthnischeIdentitten im

    Europa des Frhmittelalters

    Wittgenstein-Projekt 2005-2010

  • Inhalt

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    Geleitwort von Christoph Kratky, Prsident des FWF 3

    Vorwort 4

    Einleitung 6Vlker und ethnische Identitten in der Geschichte 6 Die Bedeutung des Frhmittelalters 7Christentum und ethnische Identitten 8

    Projektschwerpunkt 1: Vlker im Werden 91.1. Langobarden 10 1.2. Awaren und andere Steppenvlker 11 1.3. Franken 12 1.4. Vandalen 14 1.5. Kroaten 161.6. Die Rmer des Frhmittelalters 18

    Projektschwerpunkt 2: Herrschaft, Identitt und Alteritt 202.1. The Transformation of the Roman World 202.2. Staat im frhen Mittelalter 212.3. Visions of Community 222.4. Wahrnehmung des Anderen in ppstlichen Schriften des 8. und 9. Jahrhunderts 232.5. Fremdwahrnehmungen im Frankenreich der Merowinger 26

    Projektschwerpunkt 3: Im Schatten des Turmes von Babel 283.1. Das Alte Testament und seine Exegese 293.2. Zeit und Identitt Zeitarchive 313.3. Zeit und Apokalypse 34

    Projektschwerpunkt 4: Gemeinschaft und Identitt 374.1. Identitt und Heiligkeit im frhen Mittelalter 37 4.2. Soziale Gemeinschaftsentwrfe in Predigten des Frhmittelalters 414.3. Monastische Identitten und Gemeinschaftsentwrfe 444.4. Alcuin the Parrhesiast 46

    Projektschwerpunkt 5: Identittsspuren 475.1. Ego Trouble 475.2. Archologie der Identitt 485.3. Warrior Symbols and Female Beauty 495.4. Rmische Identitten im archologischen Befund des Frhmittelalters 515.5. Mensch und Gebirge im frhen Mittelalter 545.6. Sprache und Identitt 565.7. Epigraphik und Identitt im Frhmittelalter 57

    Projektschwerpunkt 6: Vergangenheit und Vergegenwrtigung 596.1. Frhes Mittelalter und europische Erinnerungskultur 596.2. Niederschrift und Wiederschrift 606.3. Medievalism: Konkurrierende Entwrfe der frhmittelalterlichen Vergangenheit in Mitteleuropa 616.4. The Early Days of Merovingian Archaeology 61

    7. Ausblicke: Neue Projekte und Perspektiven 637.1. Cultural Memory and the Resources of the Past, 400-1000 A.D. 637.2. Social Cohesion, Identity and Religion in Europe (400-1200) 647.3. Visions of Community: Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity,

    Islam and Buddhism (400-1600 CE) 657.4. Regionale und lokale Identitten im frhmittelalterlichen Europa 667.5. The Transformation of the Frankish World 687.6. Von der Adria zur Donau. Strategien der Identifikation und Ethnizitt vor, whrend und nach der

    rmischen Herrschaft 69

    Anhang 71

    Impressum 80

  • Der Wittgenstein-Preis ist die hchste und prestigetrchtigste wissenschaft-liche Auszeichnung sterreichs, die in der Regel nur an eine Person pro Jahr verliehen wird. Der Preis wird vergeben fr nachgewiesene herausragende wissenschaftliche Leistungen in der jngeren Vergangenheit. Trotz der sehr substanziellen Hhe des Preisgelds 1.5 Millionen Euro ist es ein trocke-ner Preis, indem der Preistrger bzw. die Preistrgerin dieses Geld nicht fr persnliche Bedrfnisse ausgeben darf, sondern ausschlielich zur Finanzie-rung von weiterer Forschungsttigkeit. Die Annahme des Preises impliziert also die Verpflichtung des Empfngers oder der Empfngerin, im wissen-schaftlichen Engagement nicht nachzulassen und weiterhin Spitzenleistun-gen zu erbringen.

    Natrlich ist es ein besonderes Ereignis, wenn ein aus den Mitteln des Witt-genstein-Preises finanziertes wissenschaftliches Vorhaben zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht wird. Dabei sind die Kriterien fr Erfolg sehr anspruchsvoll. Erfolgreich ist ein Wittgenstein-Forschungsvorhaben dann, wenn rund um den Witt-genstein-Preistrger ein wissenschaftliches Team so weit wchst und sich thematisch verdichtet, dass die relevante Scientific Community und oftmals auch die gesamte ffentlichkeit das Entstandene als Leuchtturm wahrnimmt. Alles das ist Walter Pohl mit seinem Wittgenstein-Preis hervorragend gelungen.

    Walter Pohl ist wohl der Prototyp eines geisteswissenschaftlichen Gelehrten von Weltrang und zugleich ein lebender Gegenbeweis fr die These, dass Schwerpunkt-bildung in den Geisteswissenschaften, anders als in den Life Sciences oder den Na-turwissenschaften, nicht mglich sei. Auch in vielen Teilen der Geisteswissenschaften kann es gelingen, die produktiven Krfte eines Faches zu bndeln und so zu einer ver-besserten internationalen Sichtbarkeit eines Forschungsgebietes beizutragen. Geld ist dafr eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Neben einer charis-matischen Fhrungspersnlichkeit bedarf es einer guten Hand in der Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und kluger Menschenfhrung mit der richtigen Mischung aus Anleitung und Freiraum. Nachhaltigkeit erfordert Nachwuchsfrde-rung. Auch in dieser Hinsicht kann man Walter Pohl uneingeschrnkt Rosen streuen.

    Ich wnsche Walter Pohl und seinem Team weiterhin jenen wissenschaftlichen Elan und jene wissenschaftlichen Erfolge, die der Wittgenstein-Preis mit Sicherheit nicht ausgelst, hoffentlich aber befrdert hat.

    Christoph KratkyPrsident FWF - Der Wissenschaftsfonds

    Geleitwort

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  • Vorwort

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    Geisteswissenschafter forschen am besten allein. So lautet eine ver-breitete Meinung. Sie ist nicht ganz falsch. Die ganz persnliche Ver-tiefung in Quellen und Literatur kann uns niemand abnehmen; nur so wird ein sicheres Urteil mglich. Doch darin muss sich geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung nicht erschpfen. Im Gegenteil, die Arbeit im Team ist auerordentlich anregend und hilft, fundier-ten Antworten auf groe Fragen nher zu kommen. Als arrivierter Senior scholar mit einer Gruppe von Nachwuchshistoriker/inne/n zu forschen, ist zweifellos eine Herausforderung, aber vor allem eine fas-zinierende Chance. Wenn sich die Mglichkeit ergibt, weiterfhrende Forschungsperspektiven nach Abschluss des Studiums zu bieten, dann kann sich eine gut eingespielte Kernguppe bilden. Wird diese Gruppe zugleich offen gehalten und um auslndische Nachwuchsforscher/

    innen, Gste und freie Mitarbeiter/innen ergnzt, whrend Wiener Absolvent/inn/en zeitweise ins Ausland gehen knnen, so intensiviert sich die Kommunikation und Zusammenarbeit unter den Junior scholars. Sie knnen ihre eigenen, jeweils projekt-nahen Netzwerke aufbauen und ihre Erfahrungen ihrerseits Jngeren weitergeben. Der Senior scholar kann von der Vielfalt der dadurch angeregten Erkenntnisprozesse selbst auerordentlich profitieren.

    Diese Chance gibt der Wittgenstein-Preis: keine Rede davon, dass er fr die Geistes-wissenschaften unangemessen oder zu gro dimensioniert wre. So gro der Frde-rungsbetrag erscheint, es ist nicht schwer, ihn sinnvoll auszugeben, und gerade seine Hhe macht manches sonst Unmgliche mglich. Der Aufbau von Junior research groups ffnet auch in der Geschichtsforschung spannende Perspektiven. Natrlich unterscheidet sich ihre Arbeitsweise in manchem von den Naturwissenschaften. Auch im Team kommt es letztlich darauf an, dass jede/r das eigene Profil entwickelt und mit einer erkennbar selbstndigen Arbeit den Grundstein fr eine mgliche Karriere in der Forschung legt. Wer nur jemandem anderen zuarbeiten wrde, stnde zuletzt mit leeren Hnden da. Team-Publikationen von einem halben Dutzend Autoren wr-den keinem von ihnen bei Bewerbungen helfen. Die Kunst der Teamarbeit in den Geisteswissenschaften besteht also darin, Einheit in der Vielfalt zu schaffen. Aus lau-ter individuellen Forschungen soll sich ein Gemeinsames ergeben. Fr den Projektlei-ter bringt das einen hohen Aufwand an inhaltlicher Auseinandersetzung mit jedem/r einzelnen Mitarbeiter/in, wobei sowohl das eigenstndige Forschungsprofil als auch der Bezug zum bergreifenden Thema verhandelt werden muss. Dahinter mssen ei-gene Forschungen gelegentlich zurckstehen. Das wird dadurch verschrft, dass zum Unterschied von anderen Wissenschaftskulturen (vor allem in den englischsprachi-gen Lndern) in sterreich groe Forschungsauftrge keine Entlastung bei Lehre und Administration bringen. Der institutionelle Spielraum, sich auf Forschung zu konzen-trieren, ist auch fr Wittgenstein-Preistrger beschrnkt. Andererseits schafft gerade die institutionelle Anbindung in diesem Fall sowohl an die Universitt Wien als auch an die sterreichische Akademie der Wissenschaften Mglichkeiten, das Projekt

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    in bestehende Strukturen in Lehre und Forschung zu integrieren und dadurch seine Nachhaltigkeit zu verstrken. Nicht nur dem FWF, auch diesen beiden Institutionen ist an dieser Stelle fr das Privileg zu danken, groe Forschungsfragen in groem Rahmen zu bearbeiten.

    Der Wittgenstein-Preis erlaubt Nachwuchsfrderung auf hchstem Niveau. Er ist aber auch eine der spannendsten und beglckendsten Herausforderungen, die in ei-ner wissenschaftlichen Laufbahn mglich sind. Deshalb wnsche ich mir als Preistr-ger viele Nachfolger aus den geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen.

    Walter PohlWittgensteinpreistrger 2004

  • Einleitung

    6

    Was bedeutet es, einem Volk anzugehren? Alle Volksnamen schleppen eine ungeheure Last von Deutungen und Bedeutungen, Erklrungen und Verklrungen mit sich. Manch-mal scheinen diese in den Hintergrund zu treten, vergangen zu sein, bis sie pltzlich

    wieder zur Grundlage von politischen Programmen, Ressentiments oder Fanatismus werden: ein Potential an Geschichte, das kaum vergeht, wie auf dem Balkan in den 1990er Jahren wieder schmerz-lich sprbar wurde. Nationale Ideologien setzen an oft unbedeuten-den Unterschieden an, um schroffe Grenzen zwischen Menschen und Lndern zu ziehen.

    Lange glaubte man, dass es diese Grenzen zwischen Vlkern im-mer schon gab, und dass die gemeinsame Abstammung ethnische Identitt begrndet. Doch zeigt gerade die Vlkerwanderungszeit, vom 4. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr., wie vielfltig werdende Vlker

    zusammengesetzt sind. Was begrndet also ethnische Identitten? Das ist in der Ge-schichtswissenschaft zu einer wichtigen Forschungsfrage geworden. Nicht zuletzt ist es die soziale Erinnerung an die Vergangenheit: der Glaube, schon immer dazugehrt zu haben. Nationen neigen dazu, ihre eigene Ge-schichte hervorzuheben, die sie mit nieman-dem anderen teilen wollen: Etwa der Sieg des Arminius im Teutoburger Wald als Symbol des deutschen Freiheitsdranges, die Taufe des Frankenknigs Chlodwig als Grndungs-tat des katholischen franzsischen Knigreiches oder die Niederlage gegen die Trken auf dem Amselfeld als Beginn eines langen serbischen Leidensweges. Die Aufgabe der Geschichtsforschung ist es, wachsam zu sein gegenber allen derartigen Versuchen einer Aneignung der Geschichte. Unsere Geschichte, in Europa und anderswo, ist stets eine gemeinsame gewesen. Das klingt selbstverstndlich; es erfordert aber dennoch groe Anstrengungen, diesen Standpunkt in der Wissenschaft und mehr noch in der ffent-

    lichkeit durchzusetzen. Die Wiener Schule der Erforschung ethnischer Prozesse in Mittelalter, angeregt vor allem durch Herwig Wolfram, hat seit langem in diese Richtung gear-beitet und ist dadurch zu einem der wichtigsten internationalen Zentren dieser Forschungsrichtung gewor-den. Der Wittgenstein-Preis fr Wal-ter Pohl hat die Mglichkeit gegeben, diese Forschungen auszuweiten und dabei wesentliche Neuanstze zu entwickeln.

    Vlker und ethnische Identitten in der Geschichte

    Die Vlkerwanderungszeit zeigt, wie vielfltig werdende Vlker zusammengesetzt sind

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    Viele Vlker Europas sind zwischen 400 und 1000 ent-standen oder suchen in dieser Zeit ihren Ursprung: Franzosen und Deutsche, Englnder und Schotten, Schweden und Dnen, Kroaten und Serben, Polen und Tschechen, Ungarn und Bulgaren und viele andere. Aber im Frhmittelalter entstanden nicht nur viele Vlker, die sich spter zu modernen Nationen entwickelten und bis heute die politische Landkar-te prgen. Zugleich entstand berhaupt die abendlndische Art und Weise, wie man ber Vlker dachte und wie ethnische Identitten zur Grundlage politischer Macht und individueller Selbstwahrnehmung wurden. Das ist bisher kaum wahrgenommen

    worden, da wir allzu gewhnt waren, Vlker und Na-tionen als selbstverstndliches Bauprinzip der poli-tischen Welt zu betrachten. Doch Europa ist in die-ser Hinsicht auergewhnlich, denn seine politische Landschaft ist seit mehr als einem Jahrtausend ge-prgt von relativ stabilen und zumeist ethnisch de-finierten Staaten. Das heit keineswegs, dass diese Staaten ethnisch einheitlich wren, das waren sie nie und sind sie auch nach ber einem Jahrhundert des Nationalismus und der teils gewaltsamen Vereinheit-

    lichung nicht. Doch sind sie fast alle nach Vlkern benannt und leiten von diesen ihre Legitimitt ab. In vielen dieser ethnischen Regna, Reiche, Alteuropas ist die instituti-onelle und territoriale Entwicklung gar nicht linear verlaufen (wie in Deutschland oder Polen); hier knpfte aber die moderne Nation besonders stark an lngst vergangene Ursprnge an. Ethnizitt war nicht die Substanz dieser Staaten, doch bot sie wichtige Integrations- und Identifikationsressourcen. In den meisten anderen Kulturrumen der Weltgeschichte (etwa in der rmischen Antike, in der islamischen Welt oder in Indien) wurden ethnische Identitten nicht in dieser Art als politische Ressource gentzt. Der Ansatz dieser europischen Sonderentwick lung liegt im Frhmittelalter, und sie ist im greren Zusammenhang noch kaum untersucht wor-den.

    Die Bedeutung des Frhmittelalters

    Ethnische Identitten wurden im Frhmittelalter zur Grundlage politischer Macht und individueller Selbstwahrnehmung

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    Einer der wesentlichen Neuanstze des Wittgenstein-Projektes war die Frage nach der Rolle des Christentums bei der Entwicklung ethnischer Staaten im Frhmittelal-ter. Die Errichtung grorumiger politischer Herrschaft durch eine ethnisch definierte Fhrungsgruppe im frhmittelalterlichen Europa gelang nmlich nur christlichen K-

    nigen, die ber lateinische Schriftlichkeit und Elemente sptrmi-scher Organisation verfgten. Entscheidend und oft unterschtzt fr die Entwicklung des abendlndischen ethnischen Diskurses war die Bibel. Die Juden als auserwhltes Volk, dessen Identitt durch Gott bestimmt war, hatten zumindest seit der babylonischen Gefangenschaft ein auergewhnliches Interesse an ethnischer Identitt und ihrer Aufrechterhaltung unter widrigen Umstnden entwickelt. Auerdem versuchten sie die anderen Vlker mit Hilfe eines genealogischen Modells zu klassifizieren. Das Alte Testament

    bot zwei Groe Erzhlungen von der ethnischen und sprachlichen Vielfalt der Welt: Erstens die Geschichte vom Turm von Babel, bei dem Gott die Sprachen verwirrt, um gemeinsames Handeln der Vlker zu verhindern; und zweitens die Genealogie Noahs, auf dessen Shne alle bekannten Vlker zurckgefhrt wurden. Diese biblischen Geschichten entfalteten im Mittelalter eine breite Wirkung.

    Die christliche Haltung zu den Vlkern war widersprch-lich. Meist wird der Gegensatz zwischen der universellen, bernationalen Vision des Christentums und dem Parti-kularismus der Vlker betont. Diese Interpretation kann sich auf die vielfach rezipierte Botschaft des Paulus von der Einheit der Vlker im Volk Gottes berufen. Doch hie es nicht auch am Ende des Matthus-Evangeliums, lehret alle Vlker, docete omnes gentes? Eine Welt der Natio-nen entsprach nach der Bibel durchaus dem gttlichen Heilsplan. Das Christentum machte in diesem Sinn die Gentes im doppelten Sinn von Vlkern und Heiden

    zu seinem Horizont, den es erst im Lauf der Jahrhunderte auszufllen vermochte.

    Die jngere Forschung hat gezeigt, wie sich seit der Aufkl-rung christliche Gemeinschafts- und Erlsungsvorstellungen auf die Nation verschoben, wodurch der Nationalismus sich religis aufladen konnte. Das war aber nur mglich, weil die Vorstellung der besonderen Heilsfhigkeit ethnisch begrn-deter Herrschaft, vom privilegierten Bund der Gens mit Gott, schon am Beginn der Nationsentwicklung angelegt war. Die Kirche organisierte das Volk Gottes und ordnete es damit ei-nem Knig unter, der zugleich Dei gratia und im Namen der Franken (oder eines anderen Volkes) herrschte. Diese doppel-te Herleitung politischer Herrschaft schuf ein fr die europi-sche Geschichte grundlegendes Spannungsverhltnis.

    Christentum und ethnische Identitten

    Eine Welt der Nationen entsprach nach der Bibel durchaus dem gttlichen Heilsplan

  • Projektschwerpunkt 1 Vlker im Werden

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    Bis heute hlt sich die Unterscheidung zwischen modernen Nationalstaaten und einer Peripherie, die von ethnischen Separatismen und Konflikten gekennzeichnet ist. Eine hnliche Unterscheidung hat schon Aristoteles getroffen: die Griechen leben in der polis, der Stadt, whrend die Barbaren in ethne, Vlker, gegliedert sind. Ethnizitt galt daher in der Antike als Lebensform der Barbaren, whrend im rmischen Impe-rium ebenso wie in den modernen Nationalstaaten mit der Staatsbrgerschaft ein offeneres Instrumentarium zur Regelung der Zugehrigkeit existierte.

    Die Herrschaft Roms berief sich auf ein Volk nach der Verfassung, populus. Die Un-terscheidung vom Volk nach der Abstammung, gens, bernahm das Mittelalter von der rmischen Antike und modifizierte sie. Vlker, in deren Namen Knige die Herr-schaft beanspruchten, hatte es ein halbes Jahrtausend lang nur am Rand der klassischen Welt gegeben: Markomannen, Daker oder Sarmaten. So konnte auch Christus als Knig der Juden verspottet werden. Doch seit dem 5. Jahrhundert setzte sich dieses Element innerhalb der lateinischen politi-schen Kultur durch: Knigreiche auf ethnischer Grundlage, zum Beispiel die Regna der Goten, Franken oder Langobarden. Nun herrschte ein rex Francorum, ein Knig der Franken, ber ehemalige rmische Provinzen und ihre vorwiegend romanische Bevlkerung und sttzte sich dabei auf die sptantike Infra-struktur (einschlielich der Bischfe). Die meisten Reiche der Vlkerwanderungszeit zerfielen bald wieder, aber das Prinzip blieb; um 1000 waren groe Teile Europas bis weit nach Osten, bis Polen, Ungarn, Bulgarien unter ethnisch bezeichneten christli-chen Regna mit lateinischer (oder griechischer) Staatssprache aufgeteilt (auch wenn es noch lange den Spielraum zur Entfaltung anderer Staatsformen wie des Heiligen Rmischen Reichs, Venedigs oder sterreichs gab).

    Dieser Projektschwerpunkt vereinigte eine Reihe von exemplarischen Studien ber frhmittelalterliche Vlker und Reiche, wobei versucht wurde, die jeweilige Bedeu-tung der Ethnizitt fr ihren Zusammenhalt herauszuarbeiten. Dabei ergab sich, dass die neuen Reiche auf rmischem Boden in der zeitgenssischen Geschichtsschreibung zwar durchgehend ethnisch charakterisiert wurden; im Verstndnis der Zeit waren es Vlker, die politisch handelten. Doch entsprach das keineswegs immer den politi-schen Selbstaussagen. Die politische Theorie, so scheint es, arbeitete erst allmhlich die Verbindung zwischen Ethnos, Staat und deren christlicher Legitimierung heraus, sodass die deutlichsten Beispiele dieses Diskurses erst in der frhen Karolingerzeit, im 8. Jahrhundert, fassbar werden.

    Im Verstndnis der Zeit waren es Vlker, die politisch handelten

  • Die Langobarden in Italien sind einer der Modellflle der Ethnogenese, nicht zuletzt deshalb, weil von ihnen ein eindruckvoller Herkunftsmythos mit der Geschichte ihrer Namengebung durch den Gott Wodan erhalten ist. Freilich ist es notwendig, diese Origo gentis Langobardorum aus dem Kontext der Zeit der Niederschrift im Itali-

    en des 7. Jahrhunderts zu interpretieren. Zur Geschichte des Ab-laufs ihrer Migration trgt diese Wandersage leider wenig bei; hier ist eine methodisch behutsame Kooperation mit der Archologie ntig. Interessant fr die Erforschung der langobardischen Iden-titt ist aber nicht nur ihre Herkunft, sondern auch das Ende des

    langobardischen Knigreiches, das 774 von Karl dem Groen erobert wurde. Was endete, im Bewusstsein der Zeitgenossen, 774? Manche meinten, die langobardische Gens sei untergegangen, andere sprachen nur vom Ende ihrer Herrschaft ber Itali-en. Tatschlich hat sich langobardische Identitt in gewandelter Form erhalten. Der Frankenknig Karl der Groe nahm den Titel eines Langobardenknigs an. Im Lau-fe der Jahrhunderte wurde aus der germanisch-sprachigen herrschenden Minderheit der Langobarden die romanisch-sprachige Regionalbevlkerung der Lombarden, die nicht immer stolz auf die Herkunft ihres Namens war. Geplant ist eine Monographie ber die Langobarden, zu der zahlreiche Vorstudien bereits vorhanden sind.

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    Langobarden

    1.1.

  • Die Steppenvlker sind deshalb besonders interessant, da sie die einzigen berregionalen frhmittelalterlichen Reiche in Eu-ropa grndeten, die ohne christliche Fundierung auskamen. Freilich waren die Reiche der Hunnen, Awaren, Bulgaren oder Magyaren zunchst instabil. Sie verdankten ihren Erfolg einer expansiven Politik, die zwei bis drei Generationen lang zum Zu-strom betrchtlicher Reichtmer fhrte. Doch dann riss die-se Dynamik ab. Das Hunnenreich Attilas zerfiel nach seinem Tod im Jahr 453. Das Awarenreich geriet nach dem Scheitern der Belagerung von Kosntantinopel 626 in eine Phase der Stagnation, behauptete sich aber in seinem Zentralraum an der mittleren Donau bis zur Niederlage gegen die Heere Karls des Groen um 800. Erst die Bulgaren im spten 9. Jahrhundert und die Magyaren im frhen 11. stabilisierten ihre Herrschaft durch Annahme des Christentums. Die Dyna-mik eines Steppenimperiums wurde 1989 in der Monographie ber die Awaren ana-lysiert. Dieses Buch ist nun auf Englisch bersetzt und wurde dabei auch aktualisiert und berarbeitet; es soll 2011/12 erscheinen.

    Walter Pohl hat als Leiter des Wittgenstein-Projektes auch an einigen Teilprojekten gearbeitet (u.a. 1.1.-1.2, 2.1-2.2), aus denen zahlreichen Vortrge und Aufstze entstanden sind.

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    Awaren und andere Steppenvlker

    1.2.

  • Das Frankenreich des frhen Mittelalters spielt fr die Untersuchung ethnischer Pro-zesse in der europischen Geschichte eine besondere Rolle. Mit dem groen politi-schen Erfolg und der Ausdehnung frnkischer Herrschaft ber halb Europa unter den

    Karolingern vermittelte die frnkische Welt dem mittelalterlichen Westen grundlegende politische, religise und soziale Strukturen. Whrend im Rmischen Imperium ethnische Identitt meist als At-tribut der anderen, barbarischen Welt gesehen wurde, begriff sich das Karolingerreich als Teil einer Welt von Vlkern. Durch die zahl-reichen Auseinandersetzungen und Verhandlungen um die Rolle

    und Bedeutung frnkischer Identitt fr den sozialen Zusammenhang der frnkischen Reiche erhielt dieser Prozess wesentliche Impulse.

    Das lsst sich besonders gut in den historiographischen Texten untersuchen, die in den Frankenreichen geschrieben und abgeschrieben wurden. Vom Ende des 6. Jahr-hunderts an sind uns in mehreren Geschichtswerken jeweils verschiedene soziale Entwrfe erhalten, in denen die Gegenwart der frnkischen Knigreiche mit recht unterschiedlichen Vorgeschichten und Anfngen ver-knpft wurde. Bischof Gregor von Tours erzhlte gegen Ende des 6. Jahrhunderts vom frnkischen Regnum als Teil einer Kirchengeschichte Galliens, wobei die christ-liche Identitt des Knigreiches der Schlssel fr seine Integration und Zukunft ist. Die Begriffe Rmer und Franken werden kaum verwendet, obwohl ihre Exis-

    tenz vorausgesetzt wird. In der Fredegar-Chronik, einer Kompilation aus dem 7. Jahr-hundert, ist die frnkische Geschichte in eine Weltchronik eingearbeitet, in der die Welt als eine Welt von Vlkern dargestellt wird, unter denen die Franken jedoch eine Vorrangstellung einnehmen. In den frhen Handschrif-ten beider Geschichtswerke werden die Akzente zum Teil anders gesetzt. Wieder andere Blickwinkel auf frnkische Identitt bieten die Fredegar-Fortsetzungen und der Li-ber historiae Francorum aus dem 8. Jahrhundert. Schon aus den ersten Jahrhunderten der frnkischen Geschich-te sind uns damit recht unterschiedliche Antworten auf die Frage erhalten, welche Rolle, wenn berhaupt, frn-kische Identitt in der Geschichte und Zukunft der Me-rowingerreiche spielen sollte. Eine genaue Untersuchung der Texte zeigt, dass sie keineswegs isolierte Produkte eines finsteren Zeitalters waren, die von einem von der Welt abgewandten Autor in einer einsamen Klosterzelle verfasst wurden. Sie waren Teil einer ffentlichen Dis-kussion, was sich am deutlichsten darin zeigt, dass die

    verschiedenen Autoren nicht nur alternative Entwrfe einer gemeinsamen Geschichte entwarfen, sondern auch aufeinander reagierten, um die jeweiligen Auffassungen von Geschichte und Gegenwart gegen die anderen durchzusetzen. Diese Debatten lassen sich aber nicht nur in den verschiedenen historiographischen Werken untersuchen, wie sie in den modernen Editionen rekonstruiert worden sind, sondern mit Hilfe ihrer

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    Franken

    1.3.

    Unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Rolle frnkischer Identitt

  • handschriftlichen berlieferung auch in ihre Zukunft verfolgen. In den zahlreichen Versionen, berarbeitungen, Neukontextualisierungen zeichnet sich die stndige Fortsetzung der Bemhungen ab, den Frankennamen mit gemeinsamer Geschichte und Identitt zu verbinden. So verschieden sie auch waren, so trugen sie doch alle dazu bei, den Frankennamen stndig mit neuer Bedeutung und mit Prestige aus-zustatten. Damit schufen sie eine Grundlage fr den weit ber das Frhmittelalter hinausreichenden Erfolg des Frankennamens.

    Der Diskurs ber die Formierung und Neuformierung frnkischer Identitt wurde so einer der wichtigsten Filter und Vermittler nachrmischer ethnischer Erfahrun-gen und Experimente. Er setzte nmlich voraus, immer wieder auf ltere Konzepte und Modelle zurckzugreifen vor allem in dem sich um 800 n. Chr. ber halb Europa erstreckenden karolingischen Imperium, in dem eine Reihe von Vlkern mit alten und wahren Namen unter frnkischer Herrschaft kamen. Die in dieser Zeit intensivierten Ver-handlungen ber die Rolle frnkischer Identitt, ihr Verhltnis zu anderen ethnischen Gruppen oder zu anderen (besonders christli-chen) Formen sozialer Identitt spielten damit eine wichtige Rolle fr die Formierung des ethnischen Repertoires der westlichen Welt. In Vorbereitung ist eine Monographie mit dem Titel Die Historiographie der Zukunft. Geschichte und Identitt in den Frankenreichen der Merowinger- und Karolingerzeit (Writing for the future. History, Historiography and Identity in the Frankish Kingdoms). Damit soll nicht nur die komplexe Geschichte frnkischer Identitten untersucht werden, sondern auch die kulturelle und soziale Konzeption einer ethnisch-nationalen Ord-nung der Welt historisiert werden.

    Helmut Reimitz war bis 2008 als Leiter der Arbeitsgruppe Frh-mittelalterforschung des Instituts fr Mittelalterforschung mageb-lich an der Koordination des Wittgenstein-Projektes beteiligt. Seit Herbst 2008 ist er Assistant Professor an der Princeton University.

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    in einer Historiographie der Zukunft

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    Die Geschichte wie Identitt der Vandalen war lange ein Stiefkind der Forschung oder wurde als Projektionsflche vermeintlich lange wirkender germanischer Identitten missbraucht. In hnlicher Manier haben franzsische Forscher das vandalische K-nigreich in Afrika hervorgehoben, um eine abendlndisch-westliche Vergangenheit in ihrem nordafrikanischen Kolonialgebiet zu betonen. Bei beiden Zugngen wird

    eurozentrisch argumentiert und ein vermeintlich einheitliches Volk als Projektionsflche fr eigene Interessen bentzt. Die Wiener Forschungs-tradition dagegen sieht ethnische Identitten nicht als von vornherein gegeben an, sondern begreift Ethnizitt als historischen Prozess, der in der Transformation der rmischen Welt nicht auf Europa beschrnkt werden kann.

    Ob es ein vandalisches Volk, das aus Pannonien oder sogar von der Weichsel kom-mend ber Jahrhunderte seine Identitt bewahrt haben msste, in diesem Sinn berhaupt gegeben hat, wurde im Laufe der in Wien seit 2003 durchgefhrten For-schungen immer zweifelhafter. Integrations- und Trans-formationsprozesse, die Aufgabe alter und die Annahme neuer Identitten, drften so rasch vor sich gegangen sein, dass sie sich nicht explizit in den Quellen wieder finden. Viele verschiedene Gruppen und Individuen sammelten sich, auf Beute und ein besseres Leben in den Provinzen des Imperiums hoffend. Die daraus her-vorgegangenen soziologischen und ethnischen Strukturen konnten sich schnell wie-der auflsen, zum Beispiel nach einer militrischen Niederlage. Eine Hauptfrage der Forschungen in Wien war die nach einer vandalischen Identitt.

    Thesenhaft zugespitzt konnte dabei der Schritt vom Bild des wandernden Volkes hin zu dem einer militrischen und politischen Elite, die Vandalen genannt wurde und das wohl auch als Eigenbezeichnung verwendete, getan werden. Diese Vanda-len hatten zwei Jahrzehnte in Spanien Zeit gehabt, eine hohe soziale Position in den spezifischen Bedingungen des sptrmischen Reichs einzuben. Schon Autoren wie Prokop haben die Vandalen, die mehrere Jahrzehnte auch Partner und Verbndete der Rmer gewesen waren, in einen ethnisch definierbaren Feind verwandelt. Bereits vor der Etablierung des Regnums in Afrika hatten Salvian und Orosius einen bar-

    barischen Feind gezeichnet. Diese Elite ist in ihrem Agieren im nordafrikani-schen Regnum zu greifen. Statistische, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aussagen ber antike Strukturen sind wegen des eigentlich anekdotischen Charakters der berlieferung nur sehr begrenzt oder gar nicht mglich. Eine monographisch angelegte neue Ge-schichte der Vandalen und des spt-rmischen Knigreichs in Nordafrika steht kurz vor der Drucklegung.

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    1.4.

    Ein sptrmisches Knigreich in Nordafrika

  • Gemeinsam mit Historikerinnen und Historikern, Archologinnen und Archologen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Tunesien, Ungarn und den USA wurde in Wien der Sammelband Das Reich der Vandalen und seine Vorgeschichte(n) in der Reihe des Instituts fr Mittelalterforschung herausgebracht. In dem 337-seitigen Werk, herausgegeben von Roland Steinacher und Guido Berndt, sind Forschungs-ergebnisse und Diskussionen zu Herkunft, Geschichte und Bedeutung der Vanda-len aufbereitet. Der Band vereinigt dabei die Ergebnisse und Probleme verschiedener Fachdisziplinen und bietet mit seinen vielfltigen, methodisch durchaus unter-schiedlichen, doch vom zuversichtlichen Bewusstsein der Notwendigkeit einer neuen Ausrichtung der Forschung getragenen Beitrgen wertvolle Anste. (Rezension von Ulrich Lambrecht http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-089)

    Roland Steinacher, der in Innsbruck und Wien studiert hat, war sechs Jahre lang am Institut fr Mittelalterforschung in thematisch mit dem Wittgenstein-Projekt verknpften FWF-Projekten ber die Vandalen angestellt. Derzeit stellt er mit Hilfe eines Gerda-Henkel-Stipendiums eine Monographie ber die Vandalen fertig.

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  • Im Sommer 1991 hat der kroatische Prsident Franjo Tuman, whrend eines offizi-ellen Besuches in der Trkei, einen kleinen Vortrag gehalten. Der Prsident fhrte aus, dass im Jahre 1.800 v. Chr. seine kroatischen Vorfahren an der Kste des Schwarzen Meeres gelebt htten, und mit einer Spur von Romantizismus fragte er sich, ob sie

    Herren oder Sklaven gewesen wren. Tuman beendete seine Rede mit dem Rat, den Einfluss der Kroaten auf die hethitische Gesell-schaft im 2. Jahrtausend v. Chr. zu studieren (New York Times, 27/VI/1999).

    Obwohl fr eine sehr spezielle Situation verfasst, stellen diese Worte ein gutes Beispiel fr die Probleme der Geschichtsschreibung ber kroatische Ursprnge dar. Diese ist verbunden mit den klassischen Modellen des 19. Jahrhun-derts ber die Vlkerwanderung. Sie theoretisiert ein unvernderliches Volk, das rie-sige Distanzen in Zeit und Raum berwand und manchmal dabei auch Spuren in den Quellen hinterlie.

    Die Konsequenz dieser auf die Herkunft fixierten Sicht war, dass die Geschichte ei-nes wichtigen europischen und mediterranen Landes fast ignoriert wurde. Ziel des Projekts war es, historische Dogmen, die die kroatische Historiographie belasten, zu analysieren und mit neuem Blick die Quellen zu studieren.

    Die Geschichte des kroatischen Mittelalters ist mit dem Werk des Konstantinos Porphyrogennetos (913-59) aufs engste verbunden. Der Kaiser verfasste, in seinem Traktat De administrando imperio, die umfangreichste (und wahrscheinlich ers-te) ethnographische Beschreibung der Kroaten. Nach Konstantin sollen die Kroaten aus dem so genannten Weikroatien in der Zeit des Kaisers Heraklios (610-41) nach Dalmatien gekommen sein. Die Kroaten sollen demzufolge gemeinsam mit den Serben nach einer zwei-ten slawischen Wanderung auf dem Balkan gekommen sein. Das Land, das Konstantin Weikroatien nennt, wurde nie genau identifiziert, und selbst die Idee der Existenz eines solchen Landes ist umstritten. Der Name belo, der in vielen slawischen Sprachen und auf Kroatisch wei bedeutet, hat seinen Ursprung wohl im mittel- und osteuropischen Brauch, verschiedene Punkte des Horizonts mit Farben zu bezeichnen. In Quellen des 10. Jahrhunderts scheinen mehrere Ortsnamen, die an den Namen Kroatien erinnern, und Historiker haben einige dieser Orte als Weikroatien identifiziert. Unter ande-rem wurde dieses Land in Teilen der Tschechischen Republik, Polens und der Ukraine verortet, nur um einige Beispiele zu nennen.

    Konstantins Text ist in Vielem schwierig zu deuten; einerseits machen die im Text enthaltenen phantastischen Elemente eine Interpretation nicht einfach, andererseits wirft die groe zeitliche Distanz zu den beschriebenen Ereignissen Probleme auf. Au-erdem erzhlt er die kroatische Wanderung in zwei verschiedenen, einander wider-sprechenden Versionen. Trotz dieser Probleme sollte Konstantins Text grundlegend fr die kroatische Geschichtsschreibung werden.

    Die Nachrichten Konstantins, die eine ruhmreiche Vergangenheit zusammen mit ei-ner frhen Landnahme liefern, spielten eine wichtige Rolle in der Nationswerdung des 19. Jahrhunderts, als Kroatien sich vom ungarischen Nationalismus bedroht fhlte.

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    Die Idee eines fernen Ursprungs der Kroaten ist bis heute geblieben

    Kroaten

    1.5.

  • Insofern ist die Bedeutung von Konstantins De administrando imperio fr Kroatien zu vergleichen mit jener von Tacitus Germania fr Deutschland.

    Die Idee eines fernen Ursprungs ist bis heute geblieben, und viele Forscher suchten eine noch ltere Vergangenheit als die von Konstantin beschriebene. In solchen histo-rischen Konstruktionen stellte Weikroatien nur eine Etappe in einer lngeren Wan-derung dar. Die Kroaten fanden ihren Ursprung im achmenidischen Reich (aufgrund der hnlichkeit der Worte Kroaten und Arachosien, einer persischen Satrapie) oder gar in Indien. Weitere Etappen dieser Wanderung konnten aufgrund archolo-gischer Funde oder Ortsnamen postuliert werden. Solche Ideen werden trotz ihrer nationalistischen und mitunter rassistischen Hintergrnde immer noch verbreitet. In gngigen kroatischen Geschichtsbchern findet sich in aller Regel eine lange farbige Linie, die den Iran mit dem Schwarzen Meer und der Adria verbindet.

    Die wenigen Quellen, die fr eine Prsenz der Kroaten in Dalmatien vor dem 10. Jahrhundert zu sprechen scheinen, sind in Datierung und Einordnung problematisch. Diese Beobachtung lsst vermuten, dass Konstantins Text nicht wie eine Erzhlung ber eine ferne Vergangenheit, sondern wie eine Interpretation der Gegenwart be-handelt werden sollte.

    Konstantin Porphyrogennetos dachte auf Grund der Verbreitung des Ethno- oder To-ponyms Chrowati in Ost- und Mitteleuropas an traditionelle Modelle der Migration, um die politischen Verhltnisse in Dalmatien zu erklren. In der gleichen Art beschrieb Konstantin die Geschichte des Balkans. Neue Vlker, wie Serben oder Rhomanoi (die Einwohner Dalmatiens) fanden bei Konstantin ihren Ursprung durch Migration aus einem Land, dessen Name assoziierbar war. Die Idee der Migration selbst entsprang vielleicht dem Versuch des Kaisers, weiter entfernte Orts- und Volksnamen zu ordnen und das Auftreten von frher unbekannten Namen im Reich zu erklren. Mittelalter-liche Historiographie bietet freilich ganz andere Ursprungserzhlungen. Trotz dieser Unterschiede sollte sich Konstantins Deutung letztlich erfolgreich durchsetzen. Auch die moderne Historiographie hat daran angeknpft. Heute ist es notwendig, unab-hngig von dieser retrospektiven Erzhlung den Quellenbefund zu rekonstruieren.

    Francesco Borri hat sein Doktorat in Venedig gemacht und ist als Junior research fellow aus Mitteln der AW und danach des Wittgenstein-Preises am Institut fr Mittelalterforschung angestellt.

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    Die Identitt der antiken Griechen und Rmer war vor allem von ihrer Zugehrigkeit zur Polis bzw. Civitas geprgt. Rmische Identitt war vielschichtig; der Bezug auf die Stadt und die Herkunft von der gens wurde bald durch eine politische, staatsbrger-liche Definition erweitert, die in engem Bezug zum kulturellen (aber wiederum teils schichtspezifischen) Selbstbewusstsein stand. Durch die Constitutio Antoniniana

    von 212 wurde das rmische Volk nach der Verfassung auf den Raum des Imperiums ausgeweitet; dennoch, oder gera-de deshalb, blieb die rmische Identitt letztlich unvollen-det. Zweifellos beruhte der Erfolg des Rmischen Imperiums nicht zuletzt auf seiner hohen Integrationsfhigkeit. Im Frh-mittelalter wurde mit dem Verfall der politischen Identitt der Rmername mehrdeutig. In der alten Bedeutung erhielt

    sich der Begriff im verbleibenden Imperium. Was wir Byzanz nennen, war das grie-chischsprachige Reich der Rhomaioi, der Rmer, die den alten Hellenennamen wegen seiner heidnischen Konnotationen mieden und die nur in der Fremdbezeichnung Griechen hieen. Daneben wurde die lateinisch-sprachige oder berhaupt ansssige Bevl-kerung des Westens in unterschiedlichem Ma als Roma-ni, Rmer, bezeichnet (wofr die deutsche Forschung das Wort Romanen verwendet). Rmer waren selbstverstnd-lich die Bewohner der Stadt Rom; aber auch die rmische Kirche unter Obhut des Papstes konnte rmische Identitt beanspruchen. Welche dieser Identitten in wel-chem Ma als ethnisch gelten knnen, ist ein interessanter Testfall jeder Definition von Ethnizitt.

    Rmische Geschichte im Frhmittelalter In der frhen Kaiserzeit erstreckte sich das Rmische Reich ber den gesamten Mit-telmeerraum. Rmer zu sein war damals keine ethnische Bezeichnung, sondern be-deutete Zugehrigkeit zu diesem Reich. Im frhen Mittelalter, als das rmische Reich (nach unserer Begrifflichkeit) zum byzantinischen Reich wurde, war nicht mehr Rom, sondern Konstantinopel die Hauptstadt dieses Reiches, dessen Umfang ganz wesentlich geschrumpft war. In diesem neuen politischen Rahmen wurde die Bedeu-tung der Begriffe Rmer und rmisch selbst zu einer offenen Frage. Waren die Rmer, die im Westen immer fter als Griechen bezeichnet wurden, nur die Einwoh-ner dieses verkleinerten Rmischen Reiches? Oder waren es die Einwohner der Stadt Rom, einer Stadt, die zwar nicht lnger als Hauptstadt des Reiches fungierte, aber die als Sitz der Ppste eine neue, christliche Bedeutung erlangte? Oder konnte man die Einwohner Italiens und anderer ehemaliger Provinzen des Rmischen Reiches als Rmer bezeichnen, im Gegensatz zu den Langobarden und anderen Barbaren, die diese Provinzen bewohnten?

    Um zu verstehen, wie sich die Bedeutung von Rmer und rmisch ber die Jahr-hunderte vernderte, nahm dieses Projekt seinen Ausgangspunkt von einem der im Mittelalter populrsten Texte ber rmische Geschichte, vom sogenannten Brevia-rium des Eutrop. Es bietet einen kurzen berblick ber rmische Geschichte in 10 Bchern und wurde von Eutrop am Ende des 4. Jahrhunderts zusammengestellt. Im 8. Jahrhundert nderte und erweiterte Paulus Diaconus diesen Text zu 16 Bchern.

    Rmische Identitt war vielschichtig und blieb unvollendet

    Die Rmer des Frhmittelalters

    1.6.

  • Wie Eutrop betonte Paulus Diaconus in seiner Geschichte die Einzigartigkeit des R-mischen Reiches. Aber er hielt es auch fr notwendig, seinen Lesern zu erklren, wie die Rmer ursprnglich als ein Volk entstanden waren, und vernderte daher Eutrops Text in diesem Sinn. Fr Paulus Diaconus und sein Publikum war darber hinaus das Christentum ein wesentlicher Aspekt in der Entwicklung des rmischen Reiches. Dieser Aspekt fehlte bei Eutrop vollstndig Paulus Diaconus bearbeitete seine Vor-lage, um die Ausbreitung und den Erfolg der Rmer als Teil eines gttlichen Planes zu beschreiben.

    Zudem setzte er die Geschichtserzhlung von der Zeit Eu-trops bis ins Zeitalter Justinians (6. Jahrhundert), der fr kurze Zeit das rmische Reich in groem Umfang wieder herstellte, fort. Seine Ankndigung, die Geschichte bis in seine eigene Gegenwart zu fhren, erfllte Paulus Diaco-nus allerdings nie. Stattdessen schrieb er eine andere Geschichte: die Geschichte der Langobarden von ihrem Ursprung bis zum 8. Jahrhundert. In diesem Text zeigte er auch, wie sich die ehemaligen Rmer des Rmischen Reiches zu Griechen entwickel-ten. Rmer blieben, fr Paulus, nur die Einwohner Roms und Italiens. Paulus Sicht war allerdings keineswegs die einzig mgliche Perspektive zum Verstndnis Rmischer Geschichte. Ein anonymer Geschichtsschreiber des 9. Jahrhunderts fgte Exzerpte aus der Geschichte der Langobarden zusammen, um die Geschichte des Rmischen Reiches, die Paulus geschrieben hatte, bis zum Beginn des Bilderstreits (Ikonoklas-mus) zu erweitern. Diese verschiedenen Weisen der Aneignung zeigen die Flexibilitt, mit der die Quellen Rmischer Geschichte interpretiert und weiterentwickelt werden konnten, um verschiedene Versionen der Vergangenheit zu erzhlen.

    Maya Maskarinec hat in Princeton studiert und dann zwei Jahre mit einem Fulbright-Stipendium und als freie Mitarbeiterin des Wittgenstein-Projektes in Wien und Rom verbracht. Derzeit macht sie ihr Doktorat an der UCLA in Los Angeles.

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    Rmische Identitt als Testfall fr die Definition von Ethnizitt

  • Projektschwerpunkt 2: Herrschaft, Identitt und Alteritt

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    Eine der Voraussetzungen des Wittgen-stein-Projektes und seiner internationalen Verankerung war das von 1993-98 lau-fende Forschungsprogramm der ESF The Transformation of the Roman World. Da-bei erwies sich die Vorstellung von einer

    (wenn auch teils dramatischen) Umwandlung der Rmischen Welt als geeigneter Rahmen, um die Vielfalt der politischen, sozialen, wirt-schaftlichen und kulturellen Vernderungen zu erfassen. Dennoch ist dieser Ansatz nicht unbestritten geblieben. Historiker wie Peter Hea-ther oder Bryan Ward-Perkins haben fr eine Rckkehr zum alten Mo-dell vom Fall Roms, ja vom Untergang der Zivilisation argumentiert. Leider sind die Debatten darber vielfach in berholte Muster zurck-gefallen, in denen Verfechter der Katastrophen-Theorie gegen Vertre-ter der Lehre von der rmischen Kontinuitt standen, und in denen die Schuld am Fall Roms entweder den einfallenden Germanen oder dem inneren Niedergang des Rmischen Reiches gegeben wurde. Alle diese Vorstellungen vereinfachen jedoch die komplexen Prozesse, in denen eine Vielzahl von Faktoren zusammenspielte. Zudem hat das Rmische Imperium insgesamt ja das Ende des Westreiches 476 berstanden, an dem der Druck von Germanen (der Name selbst ist anachronistisch, da er damals nicht im modernen Sinn gebraucht wurde) und anderen Barbaren mehr oder weniger beteiligt war. Rom fiel in verschiedenen Reichsteilen zu unterschiedlichen Zeiten: Die Balkanprovinzen und die Ostalpen wurden ab 600 slawisiert, wobei die rmische Infrastruktur verfiel. Syrien, Palstina und Nordafrika wurden im 7. Jahrhundert von islamischen Eroberern besetzt, die in vielem an Bestehendes anknpf-ten. Der Kernraum des byzantinischen Reiches an der gis und in Kleinasien wurde erst vom 11. bis zum 15. Jahrhundert von Seldschu-ken und Osmanen erobert. Es ist daher ntig, fr alle diese Umwlzun-gen eine kohrente Erklrung zu finden.

    Fr das Thema des Wittgenstein-Projektes besonders interessant war die Debatte ber die Rolle der Barbaren bei der Umwandlung der Rmischen Welt. Der Name Barbaren zeigt schon die Verachtung, die ihnen die Rmer entgegengebracht haben; dennoch wird der Be-griff heute, in Ermangelung eines besseren, beschreibend fr die Nicht-

    2.1.

    The Transformation of the Roman World

  • Herrschaft, Identitt und A

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    Rmer verwendet. Freilich schematisiert die Entgegensetzung Rmer-Barbaren stark; interessanter ist es, die vielfltigen Integrationsformen und Konfliktmuster zu unter-suchen, die als barbarisch wahrgenommen wurden. Der Band The Barbarian Chal-lenge eine Sammlung von berarbeiteten Aufstzen Walter Pohls zu diesem Thema soll 2011 erscheinen.

    Im frhen Mittelalter begann sich politische Herr-schaft an Vlker zu knpfen. Die Staaten, die dabei entstanden das Frankenreich, das Knigreich der An-gelsachsen, der Ungarn oder Schweden waren freilich keine modernen Nationalstaaten. Manche Historiker wollen fr sie berhaupt den Staatsbegriff vermeiden. Vieles mutet tatschlich archaisch an, etwa der Mangel an Brokratie und die Mg-lichkeit zur bewaffneten Selbsthilfe. Anderes ist durchaus modern, zum Beispiel die beachtliche Zahl an schriftlichen Gesetzen und Verordnungen. War es nur eine kleine Fhrungsschicht, die der Staat betraf? Oder fhlten sich breite Schichten einem Staat zugehrig? Das komplexe Verhltnis von Volk und Staat ist ein Kernproblem der frhen Geschichte der europischen Nationsentwicklung.

    Staat im Frhmittelalter ist daher ein kontroverses Thema. Noch immer gibt es deut-liche Unterschiede zwischen Methoden und Forschungsinteressen der verschiedenen europischen Forschungstraditionen. Schon die Unterschiede in der Terminologie

    sind bemerkenswert: Begriffe wie Herrschaft, Staatlich-keit oder governance sind in andere Wissenschaftsspra-chen kaum bersetzbar. Bereits vor dem Wittgenstein-Preis hatte sich eine internationale Projektgruppe unter der Schirmherrschaft der AW bemht, diese Unter-schiede bewusst zu machen und zu berbrcken. Das Wittgenstein-Projekt ermglichte es, ein internationales

    Symposium abzuhalten und zwei reprsentative Sammelbnde zu verffentlichen. Ziel dieser Bnde war es, die Debatte aus der einseitig rechtlich-institutionellen Sicht der lteren Forschung herauszulsen, um neue Gesichtspunkte aufzunehmen. Wie konnte im damaligen Europa politische Integration gelingen? Welches theoretische und praktische Wissen ber staatliches Handeln stand zur Verfgung? Wo lagen die Grenzen frhmittelalterlicher Staatlichkeit, und welche Widerstnde rief sie her-vor? Die Bnde vereinigen Studien zu verschiedenen europischen Staaten des Frh-mittelalters, von den ersten barbarischen Knigreichen auf rmischem Boden zum Imperium der Ottonen und den frhen keltischen, slawischen und skandinavischen Reichen. Sie beschftigen sich auerdem in vergleichender Weise mit strukturellen Fragen, etwa den Trgern, den Ressourcen, der symbolischen Legitimation und den Grenzen des Staates. Sie helfen zu verstehen, wie in der Interaktion von Monarchie und Aristokratie, kirchlichen und weltlichen Institutionen, Knigtum und Volk ber-regionale Gemeinschaften entstanden, die eine Grundlage fr die Entwicklung mo-derner Staaten in Europa boten.

    Staat im frhen Mittelalter

    2.2.

    Wie enstanden die Grundlagen fr moderne Staaten?

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    Visions of Community

    2.3. Die Staaten, die in West und Ost im 5.-7. Jahrhundert die rmische Herrschaft ablsten, nahmen eine durch-aus unterschiedliche Entwicklung. Auf dem Boden des ehemaligen Westrmischen Reiches entstand eine Viel-zahl von greren und kleineren Regna, von denen die meisten ethnisch bezeichnet wurden. Eine gemeinsame

    germanische Identitt war trotz der verwandten Sprachen vieler dieser Vlker dafr bedeutungslos. Ihre Herrscher glaubten sich vom christlichen Gott legitimiert und strebten nach der religisen Einheitlichkeit ihrer Herrschaftsbereiche. Sie arbeiteten eng mit den kirchlichen Autoritten zusammen, die zwar beachtlichen Einfluss und die Kontrolle ber ausgedehnte Lnde-reien innehatten, aber (mit Ausnahme des ppstlichen Patrimoniums in Mit-telitalien ab dem 8. Jahrhundert) keine selbstndige Herrschaft ausbten.

    In der Islamischen Welt war das in mancher Hinsicht anders. Die Macht lag in den ersten Jahrhunderten beim Kalifen, der seine Autoritt als Befehls-haber aller Glubigen vom Propheten ableitete. Die islamischen Herrscher legten keinen Wert auf die Bekehrung aller Un-tertanen und gestanden ihnen in der Regel gegen eine Steuer religise Autonomie zu. Verbindend wirkte zunchst die arabische Herkunft und Sprache der herrschenden

    Schicht, was aber durch den Aufstieg persischer Administratoren und trkischer Militrs bald gelo-ckert wurde. Die differenzierte Stammesgliederung der Beduinen konnte zwar durchaus politische Fol-gen haben, wurde aber nicht zur Grundlage ber-regionaler Herrschaft. Als die Macht der Kalifen verfiel, konnte sie von schiitischen Sekten, trkisch-stmmigen Sultanen oder sogar von Kurden wie Saladin bernommen werden, ohne dass dieser Herrschaftswechsel ethnisch gedeutet wurde. Die aufeinanderfolgenden Herrschaftsbildungen wur-den in der Regel dynastisch aufgefasst. Gemein-schaftskonzepte wie die arabische umma oder das trkische millet wurden vor allem religis verstan-den und konnten nur nebenbei ethnische Bedeu-tung annehmen.

    Der Vergleich der Gemeinschaftsformen und -vor-stellungen im christlichen Abendland und der isla-mischen Welt ist auerordentlich aufschlussreich, gerade weil beide an die sptantike Mittelmeerwelt anknpften. Die Folgen dieser unterschiedlichen Entwicklungen sind bis heute sprbar an den Pro-blemen moderner arabischer Nationen (wie etwa dem Irak) und der politischen Rolle des Islam.

    Die Folgen der unterschiedlichen Entwicklungen auf dem Boden des ehemaligen Westrmischen Reiches und in der Islamischen Welt sind bis heute sprbar

  • Herrschaft, Identitt und A

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    2323

    Dennoch wurde die unterschiedliche Entwicklung von Identitten, religisen und po-litischen Gemeinschaften im Frhmittelalter nie systematisch verglichen. Die inter-nationale Konferenz Visions of Community schuf hier einen wichtigen Ansatz; der Tagungsband wird 2011 erscheinen.

    Unser geliebter Sohn Desiderius dieser verdorbene und krankmachende Langobarde.

    Thomas Noble hat in diesem Satz Zitate aus zwei verschiedenen Briefen von Papst Stephan III. (768-772) ber den Langobardenknig Desiderius (757-774) zusammen-gestellt. Er macht die Bandbreite des ppstlichen Umgangs mit den Langobarden des 8. Jahrhunderts deutlich. Schon Papst Gregor der Groe (590-606) hatte die frevlerischen Langobarden als Feinde dargestellt. Die Langobarden, mit denen es die Ppste des 8. Jahrhunderts zu tun hatten, waren jedoch lngst assimiliert und waren katholisch. Die Ppste muss-ten immer wieder aufs Neue ausloten, wie sie mit den mittlerweile vertrauten Frem-den umgehen konnten. Dabei ging es in erster Linie darum, die rmischen Interes-sen zu frdern, und nicht, ein realistisches Abbild der Nachbarn zu erstellen. Somit konnte das Langobardenbild in den rmi-schen Quellen zwischen Extremen oszillieren. Im Jahr 770 versuchte Stephan III. mit drastischen Worten, ein Bndnis zwischen Franken und Langobarden zu verhindern:

    Das herausragende Volk der Franken darf nicht durch das uerst bel riechende Volk der Lango-barden verdorben werden, das eigentlich gar nicht zu den Vlkern gezhlt werden kann und das zwei-fellos denselben Ursprung wie die Ausstzigen hat. 774 eroberte der Frankenknig Karl der Groe das

    Langobardenreich. Nun agierte Papst Hadrian (772-795) eher als ihr Beschtzer. Er verteidigte etwa einen Langobarden gegen die Konfiskation seiner Gter durch die Franken; 776 zeigte der Papst sogar Verstndnis fr Langobarden, die mit christlichen Sklaven handelten.

    Die Ppste haben allein in den 770er Jahren ihre Position zu den Langobarden mehr-mals gendert. Auch das Bndnis mit den Franken, das in der Forschungsliteratur meist als spannungsfrei geschildert wird, war bei genauer Betrachtung weit kompli-zierter; Interessenkonflikte gab es auch hier. Das bedeutet aber nicht, dass die ppst-liche Position vllig willkrlich gewhlt werden konnte. Vielmehr musste sich jede uerung der Ppste zumindest danach richten, was aus Sicht der Rmer gesagt werden konnte. Das oben wiedergegebene Zitat mag grotesk erscheinen, doch es folg-

    Wahrnehmung des Anderen in ppstlichen Schriften des 8. und 9. Jahrhunderts

    2.4.

    Langobarden Feinde und Nachbarn zugleich

  • 2424

    te einem nachvollziehbaren Schema: In der kirchlichen Li-teratur der Zeit waren Ausstzige nmlich ein Symbol fr Hretiker. Die Wortwahl sollte also verdeutlichen, dass die Langobarden im Grunde Hretiker waren, was auf Feindbilder aus einer Zeit zurckgriff, als sie Anhnger des Arianismus waren. Dabei spielte es keine Rolle, dass die Langobarden schon seit einem Jahrhundert grtenteils katholisch waren, denn es ging ja darum, die Langobar-den von den Rmern und den Franken deutlich abzugren-zen. Einen solchen Vorgang bezeichnet man als Othering. Das Ziel ist es, eine Gruppe als mglichst fremd zu defi-nieren, um sie deutlich von einer wir-Gruppe abzugren-zen. Es ist ein wichtiger Mechanismus, der in den ppst-lichen Schriften des 8. und 9. Jahrhunderts wirksam war.

    Sarazenen und OstrmerIm 9. Jahrhundert kam mit den Sarazenen noch eine Gruppe von Anderen hinzu, die immer mehr ins Zentrum der ppstlichen Politik rckte und die im Gegensatz zu allen anderen Fremden ausschlielich als Bedrohung dar-gestellt wurde. Die Sarazenen waren somit im untersuch-

    ten Zeitraum die fremdesten Anderen, auch wenn sie im Grunde der post-rmischen Mittelmeerkultur entstammten, der sich auch die Ppste noch sehr stark verbunden fhlten. Doch sptestens 846, nach einem berfall auf Rom, wurden die Sarazenen als die ultimativen Feinde aller Christen dargestellt, die es mit allen Mit-teln zu bekmpfen galt. Durch ihre Schriften legten die Ppste der zweiten Hlfte des 9. Jahrhunderts auch die ideologische Grundlage fr ihre Aufrufe zum Kreuzzug im Hochmittelalter.

    Die (zumindest aus ppstlicher Sicht) komplizierteste Identitt, die im Rahmen des Projektes entsprechend intensiv untersucht wurde, war aber zugleich jene, die den Rmern am vertrautesten war. Es handelte sich um jene Personen, die heute in der historischen Forschung etwas irrefhrend als Byzantiner bezeichnet werden. Die zeit-genssischen Quellen dieser Byzantiner verwenden jedoch fast ausnahmslos den Begriff (Romaioi) als Selbstbezeichnung, was nichts anderes als Rmer be-deutet. Im lateinisch geprgten Westen wiederum wurden diese Menschen allesamt als Griechen (Graeci) bezeichnet. Zunchst verwendete man jedoch just in Rom die-sen Terminus nicht. Die Grnde dafr sind vielschichtig; die Stadtrmer fhlten sich bis weit ins 8. Jahrhundert durchaus als integraler Teil des Rmischen Reichs das nun eben von den Rmern des Ostens dominiert wurde. Doch seit dem 8. Jahrhundert strebte das Papsttum zunehmend nach Unabhngigkeit vom Kaiser in Konstantino-pel, der keine Hilfe mehr bieten konnte; in der Frage der Bilderverehrung gab es auch religise Differenzen. Genauso schwierig wie der politische Umgang mit den Ostr-mern war fr die Ppste ihre gedankliche Einordnung. Denn neben einem vor allem auf der Vergangenheit beruhenden Gefhl der Verbundenheit nahm man die Men-

    Die Byzantiner die vertrauten Fremden, die Sarazenen die gnzlich Anderen?

  • schen im Osten auch sehr stark als Andere wahr. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, wurde ab der Mitte des 8. Jahrhunderts auf den an sich als problematisch wahrgenommenen Begriff Griechen zurckgegriffen und der Rmer-Begriff fr Rom und die umliegenden Gebiete Italiens monopolisiert. Wiederum wurde massiv mit dem Stilmittel des Othering gearbeitet, um vor allem das Trennende in Politik, Religi-on, Kultur und Sprache herauszustreichen.

    Handschriften-Projekt Die langobardische Rezension des Liber PontificalisDer so genannte rmische Liber Pontificalis ist eine biographische Zge tragende Liste der Ppste, beginnend mit dem Apostel Petrus. Das Augenmerk liegt in den Bei-trgen besonders auf den Leistungen des jeweiligen Papstes als Amtstrger. Ab dem spten 7. Jahrhundert wurde der Text regelmig relativ rasch nach dem Tod eines Papstes erweitert. Als Publikum des Textes wurden zunchst vor allem Menschen in Rom und Mittelitalien anvisiert, sptestens im 8. Jahrhundert wurde der Liber Pon-tificalis aber im ganzen lateinischen Europa zum Teil sogar aktiv verbreitet. Fr die Ppste des 8. Jahrhunderts sind streckenweise drei verschiedene Textvarianten erhal-ten. Besonders interessant ist die so genannte Langobardische Rezension. Dieser Text weicht vor allem im Papst Stephan II. gewidmeten Beitrag wesentlich von den anderen Versionen ab. In der berarbeitung wurden Stellen, die die Langobarden oder ihren Knig Aistulf (749-756) massiv angriffen, entschrft. Der Text weist auch nach dem Eingriff immer noch eine kritische Haltung zur Politik Aistulfs auf, wurde aber fr ein langobardisches Publikum zumindest akzeptabel gemacht. Durch die Studie konnte unter anderem gezeigt werden, dass diese Rezension nicht unbedingt von Langobarden geschaffen wurde, sondern durchaus auch in Rom entstanden sein knnte. Darber hinaus konnte die Rezension in zwei unterschiedliche Textgruppen unterteilt werden.

    Die Untersuchung der Textversionen des Liber Pontificalis des 8. Jahrhunderts wird ab 2011 mit einer weiteren Handschriftenstudie fortgesetzt, die im Rahmen des HERA-Projektes Cultural Memory and the Resources of the Past durchgefhrt wird. Hierbei dient der Liber Pontificalis als Beispiel des Kulturtransfers von Rom ins Frankenreich und den gesamten lateinischen Westen, dem das Wiener Teilprojekt Learning Empire gewidmet ist. Fr genauere Informationen siehe die Projekt-Homepage: http://cmrp.oeaw.ac.at/.

    Clemens Gantner arbeitet als Mitarbeiter des Wittgenstein-Projektes und danach des HERA-Projektes (s.u.) am Institut fr Mittelalterforschung.

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    Die Historiographie der Merowingerzeit (ca. 450-751), vor allem die Historiae Gre-gors von Tours (6. Jh.), die Fredegar-Chronik (7. Jahrhundert) mit den Fortsetzun-gen des 8. Jahrhunderts und der Liber Historiae Francorum (frhes 8. Jahrhun-dert), gibt unter anderem Aufschlsse ber die ethnischen Verhltnisse innerhalb der

    Frankenreiche und ber Kontakte mit Vlkern (gentes) und Staaten auer-halb des frnkischen Machtbereiches. Freilich geben nicht alle diese Texte notwendiger Weise einen frnkischen Gesichtspunkt wieder; nicht alle ihrer Autoren waren Franken, und jeder hat einen spezifischen Blick auf die Ge-schichte (siehe Projekt 1.3). Auch die Darstellung nichtfrnkischer gentes ist demgem unterschiedlich. Der Bei-

    trag zum Abschluss-Band des Wittgenstein-Projekts (Strategies of Identification) untersucht Phnomene wie die Wahrnehmung der politischen Strukturen, die geo-graphische Verbreitung oder die ethnische Zusammensetzung dieser gentes, die ber-lieferung von Herkunftstraditionen, konstruierte Vlkerverwandtschaften und ihre Funktion fr die Franken, sowie Gleichsetzungen mit anderen gentilen Gruppen ber Zeit und Raum hinweg und ihre Ursachen.

    Im zweiten Beitrag im Rahmen des Wittgenstein-Projekts, der Monographie Kult und Tabu. Wahrnehmungen der Germania bei Bonifatius wechselt der Fokus des Betrach-ters von einer gewissermaen innerfrnkischen Sicht auf die fremden gentes zur Perspektive eines Fremden im Fran-kenreich, des angelschsischen Missionars Bonifatius, des-sen Wirkungsschwerpunkt stlich des Rheins lag. Bonifatius prangert im erhaltenen Corpus seiner Briefe einige mit dem Heidentum assoziierte Phnomene sozial-religi-ser Natur an. Diese inkriminierten Praktiken Tieropfer an Heidengtter, Kultorte, Divination, Speisegewohnheiten und Heiratssitten wurden von der Forschung vllig kontrr bewertet. Entweder sah man darin wertvolle Zeugnisse des authentischen germanischen Heidentums oder aber die Wiedergabe altbekannter antik-christlicher Heidentopoi ohne jeden Quellenwert fr die reale Situation im Germanien des 8. Jahrhunderts. Die Arbeit diskutiert dieses Problem und hinterfragt auch die Motiva-tion des Bonifatius und seiner Korrespondenzpartner, sich gerade mit diesen Phno-menen zu beschftigen.

    Die berlieferten Informationen zu Gttern, Kultorten und heidnischen Praktiken in einem an sich bereits seit zwei Jahrhunderten christlich beherrschten Land sind vielfach gebrochen. Bonifatius selbst war oft nicht Augenzeuge dieser, oftmals auf einen heidnisch-christlichen Synkretismus hindeutenden Ereignisse, sondern erfuhr zum Teil erst viele Jahre spter davon, er unterrichtete den Papst darber, und nur die ppstlichen Antwortschreiben an ihn informieren uns unter Verwendung lateinischer Spezialtermini, also in interpretatio Romana, darber. Stellt man nun die Frage, warum gerade Phnomene wie Tieropfer fr heidnische Gtter, Naturkultorte, Divination, Speisegewohnheiten und Heiratssitten von Interesse waren, werden Zusammenhn-ge mit zeitgenssischen Diskursen in der christlichen Welt deutlich. Viele der in Ger-

    Fremdwahrnehmungen im Frankenreich der Merowinger

    2.5.

    Kult und Tabu in der Germania des 8. Jahrhunderts

  • manien inkriminierten Praktiken sind fr Gebiete im ganzen ehemaligen rmischen Imperium und insbesondere auch fr Rom selbst als Relikte heidnischen Brauchtums in einer christlichen Gesellschaft bezeugt und wurden von der Kirche als unchrist-lich bekmpft. Bei den Speiseverboten ist neben dem in den Bonifatiusbriefen selbst bezeugten Rckgriff auf Vorschriften des Alten Testaments auch von heidnisch-r-mischen und irisch-keltischen Bezgen und der christlichen Reaktion darauf auszuge-hen, wie sich etwa am Pferdefleischverbot demonstrieren lsst:

    Die Ppste Gregor III. und Zacharias verbieten den Konsum von Pferdefleisch, letzterer verweist auf die Bibel. Die Speiseverbo-te des Alten Testaments sind jedoch eigentlich seit dem Neuen Testament und der Polemik der Kirchenvter dagegen obsolet. Die Archologie belegt das Verspeisen von Pferden in Germani-en. Die Bestimmung wurde frher als Verbot des germanischen Pferdeopfers an Wodan interpretiert, die Bonifatiusbriefe stel-len diesen Bezug jedoch nicht her. Von Einfluss ist eher die r-mische (die Rmer verabscheuen Pferdefleisch, weil das Pferd ein wertvolles Kriegstier ist) und die heidnische irische Tradition (das Pferd ist besonders heilig, wird nur selten geopfert und ge-gessen). Das wird christlich umgedeutet unter Bezug auf Vor-schriften des Alten Testaments. Dieses Verbot gelangt zu den Angelsachsen und nach Rom.

    Die Eheverbote stellen hingegen einen Rckgriff auf alte rmische Rechtstraditionen dar, denen wieder Geltung verschafft werden sollte. Dennoch knnen Bezge zur tat-schlichen Lebenspraxis im Germanien des 8. Jahrhunderts bestehen. Die verbotenen Eheformen waren, wie andere Quellen bezeugen, durchaus verbreitet. Die Opferung von Tieren an heidnischen Naturkultorten ist, zumindest fr die nhere Vergangen-heit des Bonifatius, archologisch bezeugt. Fr die Bezeichnungen der Kultorte und der magisch-mantischen Praktiken sind teilweise germanische Glossen berliefert. Allerdings zeigen die konkreteren Bestimmungen zu magisch-mantischen Praktiken in Gesetzen, Konzilsbeschlssen und irischen Bubchern, dass die diesbezgliche lateinische Spezialterminologie nicht mehr die Klarheit und Trennschrfe wie zur Zeit Ciceros besa, sondern die Begriffe bereits seit der Sptantike verschwommen wa-ren. Es ist deshalb naheliegend, dass die Auflistung von als in Germanien praktiziert vorausgesetzten Superstitionen auch dazu diente, einen mglichst umfassenden Be-reich als heidnisch betrachteter Praktiken zu verbieten, unabhngig von ihrem tat-schlichen Vorkommen im Missionsgebiet des Bonifatius.

    Gerald Krutzler hat an der Universitt Wien zu diesem Thema dissertiert und ist freier Mitarbeiter des Wittgenstein-Projektes.

    Herrschaft, Identitt und A

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  • Projektschwerpunkt 3: Im ScHAttEn dES turmES Von BABEl

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    Das Alte Testament kannte zwei Erklrungen fr die Entstehung von Vlkern und Sprachen: Die Sprachverwirrung beim Bau des Turms von Babel und die Verbreitung der Nachkommen Noahs ber die Erde nach der Sintflut. Wichtiger noch fr das christliche Abendland war es, wie die Juden als das auserwhlte Volk, seine Nachbarn und Feinde oft ebenfalls als Vlker dargestellt wurden. Die heilsgeschichtliche Welt-deutung verband sich mit dem Weltbild der klassischen Ethnographie. So konnten christliche Gelehrte ihre eigene Welt, in der auf rmischem Boden Verbnde barba-rischer Krieger die Macht bernommen hatten, verstehen. Damit legitimierten sie gleichzeitig die neuen Knigreiche, die auf ethnischer Grundlage entstan-den waren.

    Bisher sind die Vorstellungen der christ-lichen Intellektuellen der Sptantike und des Frhmittelalters wenig beachtet worden, wenn es darum ging, die Entstehung und Festigung staatstragender Vlker im Abendland zu erklren. Lange dachten moderne Historiker, fertige Vlker htten im Rmischen Reich die Macht ergriffen. Erst allmh-lich wurde deutlich, dass die Ansiedlung der neuen militrischen Eliten barbarischer Herkunft auf rmischem Boden von weitgehender Neubildung ihrer Gemeinschaften und tiefgreifenden Identittskrisen begleitet war. Vielleicht waren die Vorstellungen christlicher Gelehrter doch beteiligt daran, das Abendland als eine Welt von Vlkern zu begrnden? Das war eine Kernfrage des Wittgenstein-Projektes.

    Eine neue Lektre der Werke wich-tigster Autoren der Zeit hat neue Auf-schlsse ber die wenig untersuchte Frage der Verortung ethnischer und anderer Identitten in ihrem Werk gebracht. Untersucht wurden dabei unter anderem Texte von Augusti-nus, Hieronymus, Cassiodor, Beda, Walafrid Strabo. Wie hngen die be-kannten Texte ber Goten (Cassio-dor), Angeln (Beda) oder Alemannen (Walafrid) mit den allgemeinen Iden-tittsvorstellungen ihrer Autoren zu-sammen? Wie sehen sie die Rolle der Vlker in einer sich rasch wandelnden und christlich gewordenen Welt?

    Die christliche heilsgeschichtliche Weltdeutung verband sich mit dem Weltbild der klassischen Ethnographie

  • Im Schatten des

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    Gott herrscht ber die Vlker, denn dem Herren kommt die Knigs-herrschaft zu. Nicht die Vlker besitzen die Reiche, sondern der Herr, der durch seine Macht Knige austauscht oder bewahrt.

    So verdeutlichte der rmische Senator Cassiodor, der seine Karriere als hochrangi-ger Politiker in Italien im Dienst des ostgotischen Knigs Theoderich des Groen gemacht hatte, in seinem Kommentar zu Psalm 46 die Botschaft des Bibeltextes. Als er um die Mitte des 6. Jahrhunderts sei-nen Psalmenkommentar verfasste, herrschte in Italien erbitterter Krieg zwischen Theoderichs Nachfolgern und den Truppen des rmischen Kaisers Justinian, der schlielich das Ende der gotischen Herrschaft besiegelte. Fragen nach dem Bestand und Untergang von Vlkern und Knigreichen waren somit hochaktuell. Bibli-sche Erzhlungen, besonders jene ber Israel und seine wechselhafte Geschichte als auserwhltes Volk im Bund mit Gott, boten christlichen Intellektuellen und Politikern eine wichtige Grundlage zur Orientierung und zum Verstndnis der politischen und sozialen Umbrche ihrer Zeit.

    Die von ihnen geschriebenen Bibelkommentare bieten daher einzigartige Einblicke in die Vorstellungen, die man sich im Frhmittelalter von einer Welt aus christlichen Vl-kern und Knigreichen machte. Welche Rolle war den Vlkern in der Geschichte und im gttlichen Heilsplan zugedacht? Welche Faktoren beeinflussten den Fortbestand und das Schicksal solcher Gemeinschaften und was machte ihren Zusammenhalt aus? Welche Bedeutung kam gemeinsamer Abstammung und gemeinsamer Geschichte, oder gttlicher Gunst und rechtem Glauben zu? Konnte man selbst die Christen als ein Volk verstehen, und wie musste man sich das Verhltnis zwischen diesem umfas-senden Gottesvolk und der Vielzahl christlich gewordener Vlker vorstellen?

    Cassiodors Psalmenkommentar bildete die zentrale Fallstudie in diesem Teilprojekt, das sich mit dem reichhaltigen und bisher weitgehend unerforschten Fundus exegetischer Texte auseinan-dersetzte, um zeitgenssische Konzepte von Ethnizitt zu un-tersuchen. Frhmittelalterliche Exegeten entwickelten komplexe Strategien, um biblische Gemeinschaftskonzepte fr christli-

    che Gemeinschaften anzueignen. Das Projekt verfolgt auch die Deutungsgeschich-te ausgewhlter biblischer Text, um den frhmittelalterlichen Umgang mit der bib-lischen Terminologie fr Gemeinschaft im Spannungsfeld zwischen ethnischen und religisen, biblischen und politischen Bedeutungen zu analysieren. Dabei konnte vor allem aufgezeigt werden, wie vielschichtig und wandelbar die Vorstellungen davon waren, was ein Volk ausmachte. Exegetische Texte ermglichen einen besonders guten Einblick in die theoretischen Grundlagen und den konzeptuellen Rahmen jener Diskussionen, die die Integration ethnisch legitimierter Knigreiche in der christlich-rmischen Welt begleiteten. Frhmittelalterliche Exegeten zhlten oftmals zu den be-deutendsten Intellektuellen ihrer Zeit Cassiodor, Beda Venerabilis oder Isidor von Sevilla etwa wirkten als Gelehrte, Historiographen und Politiker; der Bischof Theo-dulf von Orlans, dessen exegetisches Kompendium im Mittelpunkt eines weiteren Projektschwerpunktes stand, arbeitete als theologischer Berater am Hof Karls des

    Das Alte Testament und seine Exegese

    3.1.

    Jedes einzelne Volk ist von Gott geschaffen

  • Groen. In seinen Libri Carolini schrieb er ber die Relevanz der Bibel: In den hei-ligen Schriften finden wir die Norm, durch die wir lernen, wie sich Vorgesetzte gegen-ber ihren Untergebenen verhalten, wie Eheleute einander lieben sollen, wie weltliche Geschfte auf kluge Weise gehandhabt werden, wie das Heimatland verteidigt, Fein-

    de besiegt werden und wie die Verwaltung innerer und auswrtiger Angelegenheiten vonstatten geht. Kurzum, in ihnen finden wir ewige Nahrung fr die Seele und die Weisheit und Lehre fr das gegenwr-tige Leben (...).

    Auch Cassiodor widmete in seinem Psalmenkom-mentar dem Verhalten von politischen und spiritu-ellen Fhrungspersnlichkeiten, dem Umgang mit militrischen Bedrohungen und ueren Feinden, und der Gestaltung der kollektiven Beziehung zu Gott, die das Schicksal seines Volkes bestimmte, groe Aufmerksamkeit. Indem er die Dynamik von gttlicher Erwhltheit und kollektiver Verantwort-lichkeit in der Geschichte des Alten Bundes nach-zeichnete, beschrieb er das alttestamentarische Israel als Modell fr ein christliches Gottesvolk. Dieses konzipierte er, wie sein alttestamentarisches Vorbild, als eine politische und ethnische Gemein-schaft, deren Identitt aber auch wesentlich von re-ligisen Faktoren bestimmt war. Taufe und Recht-glubigkeit, Vernunft und Gehorsam gegenber dem gttlichen Gesetz sowie gegenseitige Solida-ritt und Verantwortung seiner Mitglieder sollten

    diese Gemeinschaft Cassiodor zufolge charakterisieren. Ausgehend vom biblischen Israel entwickelte Cassiodor ein Modell, das nicht nur auf ein einzelnes Gottesvolk, sondern auf eine Vielfalt christlicher Vlker anwendbar sein sollte. Alle Vlker kom-men und beten dich an, / sie geben, Herr, deinem Namen die Ehre, heit es in Psalm 86, und Cassiodor erinnerte seine Leser daran, dass jedes einzelne Volk gottgeschaf-fen und zum Glauben berufen sei. Als wichtiges Ergebnis des Projektes konnte her-ausgearbeitet werden, wie Cassiodor eine politische Ordnung entwarf, in der bar-barische Vlker nicht mehr vor allem im Gegensatz zur christlichen Zivilisation des rmischen Imperiums standen, sondern vielmehr als wesentliche Bestandteile einer universalen christlichen Kirche gedacht werden konnten. Die Resultate dieser Fallstu-die im Rahmen des Wittgenstein-Projektes sollen in Zukunft die Grundlage fr weite-re Studien bilden, die den Vergleich zwischen Cassiodors exegetischer Arbeit und den Bemhungen seiner Zeitgenossen wie Verecundus von Iunca, Arator oder Gregor d. Groen, zum Ziel haben.

    Gerda Heydemann ist freie Mitarbeiterin des Wittgenstein-Projek-tes und mit einem Doktoranden-Stipendium der phil.-hist. Klasse der AW am Institut fr Mittelalterforschung angestellt. Derzeit ist sie Stipendiatin an der Princeton University.

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    Eines der wesentlichen Merkmale von Identitt ist die Einordnung des Individuums in eine relativ zeit-resistente Gemeinschaft. Ziel dieses Projektes war einer Geschichte der Zeitwahrnehmung als einer der fundamentalen kulturellen Kategorien nachzusp-ren, die die Konstruktion von Identitten im frhmit-telalterlichen Europa prgten. Wenn man wei, wie eine Gesellschaft mit ihrer Zeit umgeht, wei man viel ber ihre Wertmastbe: man erfhrt ber die komplexen Formierungen von oft widersprchlichen Identitten historischer Gemeinschaften.

    Zeit ist paradox: Einerseits ist sie eine der grundlegendsten und alltglichsten Er-fahrungen jedes Individuums. Andererseits ist sie Gegenstand uerst komplexer Abstrahierungen. Immer schon hat ihr unsteter Charakter Menschen fasziniert. Ob

    als Instrument zur Sozialdisziplinierung, Rahmen menschlicher Geschichte, Festzeit oder rtselhaftes Phnomen Zeit war nie einfach nur existent, son-dern wurde immer problematisiert.

    Die Entwicklung der europischen Zeitrechnung bis zur Atomzeit war von Verschiebungen, Brchen und Neuanstzen begleitet. Ihre lange Geschichte hat zu Schichtenbildungen gefhrt, die anhand eini-ger Beispiele freizulegen versucht wurden. Standen bei den mittelalterlichen Konstruktionen von Zeit hufig antike Traditionen Pate, so ist der Transfor-

    mationsprozess dieser Konzepte innerhalb eines christlichen Weltbildes keineswegs konfliktfrei verlaufen. Die oft widersprchlichen frhmittelalterlichen Identittskons-truktionen lassen sich mit der Etablierung eines komplexen und allerdings nur vor-dergrndig einheitlichen Zeitverstndnisses verbinden. In dieser Epoche hat sich nach langen Debatten die heute bliche Anno-Domini-Datierung durchgesetzt. Auf dieser mit der biblischen Heilsgeschichte verknpften Zeit beruht auch die Erzh-lung der Geschichte in Form von Annalen und Chroniken. Im Jahreslauf wurde die Zeit nach dem liturgischen Kalender eingeteilt, sie lste aber auch apokalyptische Vorstellungen aus.

    Die Rekonstruktion der VergangenheitAusgangspunkt fr die Untersuchung der Entwicklung von Zeitwahrnehmung, Zeit-berechnung und Historiographie bildeten die beiden parallelen Entwrfe des Aureli-us Augustinus (354-430) und des Eusebios von Caesarea (260/64-339/40), dessen Chronik von Hieronymus (347-420) fr die lateinsprachige Welt adaptiert wurde. Whrend Augustinus im Traktat De civitate Dei ein utopisches Gesellschaftsmodell vorschlug, entwickelte Hieronymus ein chronologisches System, das verschiedene re-lative und absolute Zeitsysteme miteinander zu vergleichen erlaubte. So kombiniert die Chronik die alttestamentarischen Genealogien mit Regierungsjahren von Herr-schern, Konsulatslisten, Olympiaden, der Grndung Roms und dem aus der Bibel errechneten Datum der Erschaffung der Welt.

    Zeit und Identitt Zeitarchive

    3.2.

    Instrument zur Sozialdisziplinierung, Rahmen menschlicher Geschichte, Festzeit oder rtselhaftes Phnomen Zeit wurde immer problematisiert

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    Augustinus entwarf hingegen seine Perspektive auf die Geschichte als von Anbeginn der Schpfung an whrenden Dualismus zwischen zwei Gesellschaften. Whrend die irdische Gesellschaft (civitas terrena) auf die skulare Belange bezogen ist, strebt die Gottesbrgerschaft (civitas Dei) nach dem ewigen Glck. Die Auseinandersetzung der beiden, die sich in einer nach der Schpfungswoche modellierten Abfolge von sechs Weltren (aetates) abspielt, wird erst am Jngsten Tag beendet sein. Augustinus ver-fasste De civitate Dei, um dem nach der Plnderung Roms im Jahr 410 durch Ala-richs Goten lauter werdenden Vorwurf zu begegnen, das Christentum wre fr den Niedergang der rmischen Zivilisation verantwortlich. Dagegen argumentiert er, dass die Geschichte immer schon von Krisen, Konflikten und Abspaltungen geprgt war.

    Um den gesellschaftlichen Ansprchen ihrer Zeit zu begegnen, kombinierten sowohl Augustinus als auch Hieronymus die biblische und christliche Geschichte mit einer Rekonstruktion der antiken Geschichte und schufen so zwei der nachhaltigsten Inte-grationsangebote. Dem triumphalen Zeitverstndnis des Hieronymus, der den Sieg des Christentums sichtbar machen wollte, stand der eschatologisch-moralische Ap-pell des Augustinus an den Einzelnen gegenber, sich fr die Gerechtigkeit zu ent-scheiden. Bildete Rom als das Zentrum der Welt fr Hieronymus die Folie, auf der sich das Christentum ausbreiten konnte, so war in Augustins pessimistischem Modell fr Rom als Garant fr die Kontinuitt der Kirche kein Platz. Sein Entwurf ist insofern integrativ, als er die berformung des Rmischen Imperiums durch das Christentum thematisierte und so alle Menschen jenseits der Einteilung in soziale Grup-pen, etwa gentes oder populus Christianus, erfasste.

    Die gentes wurden als Symbol fr den Bezug der Kirche auf alle Vlker der Erde interpretiert. Die biblische Mo-dellierung der Gesellschaft als genea-logische Gemeinschaften, die als eine Ansammlung ethnischer Gruppen ver-standen werden, konnte auf die zeitge-nssische Geschichte projiziert werden. Die zweiundsiebzig gentes, die als Nach-kommen der Shne Noahs entstanden sind, sind Ergebnis der babylonischen Zerstreuung. Daraus ergibt sich fr Au-gustinus die historische Notwendigkeit, die gentes wieder in die Arche der Kirche zurckzuholen.

    Unumgnglich war fr diesen Anspruch allerdings, die Tiefe der Zeit ausloten zu knnen, in der sich das Drama der Geschichte und deren Auflsung durch das gttliche Wirken entfaltet. Seit der Weltchronik des Sextus Julius Africanus (ca. 240 n. Chr.) wurde die Jahreszh-

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    lung der Grndung Roms (ab urbe condita) und die Weltenwoche blich, mit der man die Schpfung der Welt errechnete. Mit dem in Psalm 90, 4 erwhnten Multiplikator: 1000 Jahre sind vor die wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie die Nachtwa-che, und der Parallelisierung der Schpfungstage mit Weltren kam man auf 6000 Jahre. Ausgangspunkt fr die Rekonstruktion der Dauer der Zeitalter bildeten die alttestamentarischen Genealogien, die aber in mehreren Versionen vorlagen und da-her einen relativ breiten Interpretationsspielraum boten. Auf Basis dieser Genalogien wird auch bei Augustinus die Geschichte in sieben aetates unterteilt, wobei die sechste aetas seine Gegenwart, die siebte den ewigen Sabbat darstellen.

    Augustinus verschob die Datierung von Christi Geburt als Beginn der sechsten aetas auf das Jahr 5000. Damit war die fr das gesamte Mittelal-ter bedeutsame Fundament fr jene chiliastische Auslegung gegeben, die das Jahr 1000 n. Chr. als Ende der Zeit interpretierte. Augustinus lehnte allerdings jeden Chiliasmus ab. Die exakte Dau-er der aetates sei schon allein deshalb nicht erre-

    chenbar, weil die menschliche Geschichte von Unterbrechungen, Katastrophen und daher von Vergessen begleitet wird. Eschatologie bedeute ferner die Ent-Zeitlichung, die Auflsung der Differenz Zeit/Ewigkeit und somit Schpfer/Schpfung. Dies ge-schehe allerdings nicht in der Zukunft, sondern finde im Jetzt statt. Eschatologie ist fr Augustinus Zeit-Geschichte.

    LangzeitperspektivenDiese sptantiken Quellen bildeten Ressourcen, auf die man im Frhmittelalter zurckgreifen konnte. Beide Anstze wurden whrend des gesamten Mittelalters (und darber hinaus) rezipiert. Die Chronik des Hieronymus wurde zum Vorbild fr die Chroniken und Annalen, die vom 5. Jahrhundert an verfasst wurden. Die eigene Zeit konnte dabei der hieronymianischen Chronik als Fortsetzung angefgt werden. Die augustinische Weltalterlehre wurde vor allem durch Bischof Isidor von Sevilla (ca. 560-636) und durch den angelschsischen Gelehrten Beda Venerabilis (672/73-735) verbreitet. Bedas astronomische und chronologisch-historische Texte gelangten mit der angelschsischen Mission auf den Kontinent und wurden dort im 8. und 9. Jahrhundert kopiert. In einer Modell-Chronik, die fr die gesamte karolingerzeitliche Historiographie formbildend wurde, propagierte Beda die augustinische Theorie von den sechs Weltren und kombinierte sie mit der Anno Domini-Datierung.

    Wie ein roter Faden lie sich die frhmittelalterliche Rezeption der Theorien von Au-gustinus durch das Projekt ziehen. In sein persnliches Handbuch integrierte etwa der Reichenauer Mnch Walafrid Strabo (808/09-849) Texte zu Zeittheorien, As-tronomie, Mathematik und Grammatik, aber auch zwei Chroniken ber die sechs Weltzeitalter. Walafrids Zeit war vom Zerbrckeln des karolingischen Imperiums ge-kennzeichnet. Gelehrte wie Walafrid waren daher gefordert, Antworten auf die drn-genden Fragen ihrer Epoche zu finden. Dies geschah offenbar nicht nur in der direk-ten Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten, sondern auch in Form intellektueller Ressourcenbereitstellung. Das Zeitbudget, das der Exegese biblischer

    Die Transformation der Zeit in ein christliches Weltbild als Beitrag des Mittelalters zur Konstruktion des modernen Europa

  • Geschichtsvorstellungen mit ihren langfristigen Perspektiven entnommen werden kon-nte, ermglichte den zeitgenssisch-historischen Horizont zu erweitern.

    Der Transformationsprozess von aus der Antike bernommenen Aspekten der Zeit in ein christliches Weltbild sowie neue Anstze zur Zeitdefinition bilden einen interes-santen Beitrag des Mittelalters zur Konstruktion des modernen Europa. Die diesen Prozess dokumentierenden Quellen wurden als Integrationsangebote interpretiert, die den mittelalterlichen Gesellschaften Instrumente in die Hand gaben, Langzeitper-spektiven zu entwickeln, um mit den Krisen ihrer Zeit umzugehen zu knnen. Augus-tinus vermittelt etwa in seinen Texten berlegungen ber den Anfang und das Ziel der menschlichen Geschichte, ber das Eigene und das Fremde, ber die Zeit und ihre Aufzeichenbarkeit. Er beschreibt in seinen Confessiones Zeit, wenn sie unreflektiert wahrgenommen wird, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn man sie aber in ihrer Grundstruktur erforscht, ist sie stets als prsente, dynamische Qualitt fassbar, deren jeweilige Bedeutung durch eine individuelle Perspektive bestimmt wird. In Chroniken, Annalen, Kalendern, Ostertafeln, astronomischen Berechnungen und naturwissenschaftlichen Traktaten entwarfen mittelalterliche Gelehrte das Bild eines Netzwerkes unterschiedlicher Zeitqualitten, die ein Kontinuum von Zeit vermitteln sollten. Ein wesentlicher Gegensatz in den mittelalterlichen zeitphilosophischen Kon-zeptionen bestand zwischen einerseits irdisch-endlicher Zeitlichkeit und andererseits gttlicher Ewigkeit, die aber seit Augustinus nicht als unendliche Zeitdauer, sondern als tiefere Qualitt und Begrndung der menschlichen Zeit gedacht werden kann.

    Richard Corradini ist Mitarbeiter des Instituts fr Mittelalterfor-schung, zunchst aus dem Wittgenstein-Projekt und derzeit auf ei-ner befristeten Stelle der AW. 2004/05 erhielt er ein Humboldt-Forschungsstipendium als Gast bei den MGH in Mnchen. Er ist Koordinator der Publikationen aus dem Projekt, die im Ver-lag der AW erscheinen.

    Wie sollen wir diejenigen, die das Ende der Welt kommen sehen, da-von berzeugen, dass andere, in der Vergangenheit, es auch schon so gesehen haben, und das in jeder Generation? Dass es sich um eine Art wiederkehrenden Traum handelt, wie zum Beispiel davon, dass uns die Zhne ausfallen oder wir nackt auf der Strae stehen? Nein, wird man antworten, dieses Mal ist es viel ernster. (Umberto Eco)

    Zeit, als fundamentale kulturelle Kategorie, war im Frhmittelalter Ansatzpunkt es-chatologisch-apokalyptischer Visionen, die als finale Elemente von Zeitkonstruktio-nen zu interpretieren sind. Doch so wie Zeitwahrnehmungen und -berechnungen sich im Verlauf der europischen Geschichte nderten, so sind auch die zeitlichen Hori-zonte eines Weltendes oder -untergangs Verschiebungen und Deutungsnderungen unterworfen. Mit der Schlsselfrage der Johannesoffenbarung nach der Erfllung der Zeit war in diesem Projekt nicht nur die Untersuchung von Zeitmodellen und Berech-nungstraditionen der europischen Zeit im ersten Millennium verbunden, sondern

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    Zeit und Apokalypse

    3.3.

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    auch jene der vielfltigen Deutungsmg-lichkeiten des Endes der Zeit und dessen Kontextualisierung. Angesichts gesell-schaftspolitischer Umwlzungen ndert sich hufig der zeitliche Erwartungshori-zont des Weltendes, denn apokalyptische Konzepte sind, wenn sie ein mgliches Weltende als variierend unmittelbar oder entferntes zuknftiges Ereignis vermitteln, ein sehr gegenwartsbezogenes Phnomen und im jeweiligen zeitgenssischen Dis-kurs fest verankert. In welchen Katastro-phenereignissen wird das scheinbare Ein-lsen eschatologischer Prophezeiungen gelesen, wie werden diese im Verlauf der Geschichte immer wieder neu verarbeitet und gedeutet? Diese wechselseitige Ver-bindung und Bedingtheit tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Ereig-nisse und Prozesse mit apokalyptischen Erwartungshaltungen war zentrale Fra-gestellung an Kommentare und Schriften der Sptantike und des Frhmittelalters.

    Ausgangspunkt der Quellenarbeit waren die Werke von Augustinus, Ambrosius von Mailand, Hieronymus und Sulpici-us Severus von Autoren, die im selben Zeitfenster um 400 n. Chr. schrieben und als Zeitzeugen groer politischer und gesellschaftlicher Umwlzungen diese in ihren Werken bearbeiteten. Die Plnderung Roms 410 durch die Westgoten war ein Ereig-nis, das nicht nur zeitgenssische, sondern auch moderne Geschichtsschreibung zu groen historischen Entwrfen und unterschiedlichsten Strategien der Weltdeutung angeregt hat. In den Schriften der Kirchenvter finden sich nicht nur unterschiedliche Zugnge auf die zentralen zeitgenssischen Themenbereiche wie den Niedergang des westrmischen Imperiums und die Position der christlichen Kirche in der rmischen Gesellschaft, sondern auch verschiedene Zeitberechnungsmodelle. Augustinus etwa hielt das Ende der Zeit zwar fr nahe, sah mit der Geburt Christi das letzte Weltalter angebrochen und in der Kirche der Gegenwart das tausendjhrige Reich verwirklicht, whrend er aber die Zahl 1000 symbolisch und nicht konkret verstand. Eine plasti-sche Deutung des Alten Testaments hingegen findet sich in den Arbeiten des Sulpi-cius Severus, der das Ende der Welt fr unmittelbar bevorstehend hielt und in seiner Weltchronik jenem antiken Berechnungsmodell folgte, das die Geburt Christi ins Jahr 5500 und damit das Ende der Welt fr ungefhr 500 n. Chr. ansetzt. Zwischen 400 und 403 verfasst, stellt diese Chronik ein prgnantes Beispiel fr eine apokalyptische Deutung der politischen und sozialen Umwlzungen und der innerkirchlichen Kon-flikte dieses Zeitraums dar und bot im Rahmen des Projekts eine gute Mglichkeit, auch bislang kaum behandeltes Quellenmaterial zu erschlieen. Der Autor setzt da-rin die prophetische Vision des Buches Daniel, Knig Nebukadnezars Traum von der

  • Statue und dessen Interpretation der vier Weltreiche (dem assyrisch-babylonischen, dem persischen, dem griechischen und dem rmischen Reich), in einen historio-graphischen Kontext und liest die Zeichen des fr ihn unmittelbar bevorstehenden Weltendes in der Teilung des rmischen Reiches, dem Einbruch der Barbaren, deren Partizipation am rmischen Leben und im Erscheinen falscher Propheten.

    Mit der Frage nach dem Weltende ist immer auch die Frage nach dem Ende einer Gemeinschaft, nach Kontinuitt und Stabilitt oder Untergang und Zerfall einer po-litischen Struktur, wie dem rmischen Imperium, verbunden. Die vorgestellte Welt-chronik etwa reflektiert und beschreibt