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1 ETIENNE-LOUIS BOULLÉE: ARCHITECTURE; ESSAI SUR L’ART, (UM 1790), HERAUSGEGEBEN VON JEAN-MARIE PÉROUSE DE MONTCLOS, PARIS 1968, DEUTSCHE AUSGABE: ARCHI- TEKTUR – ABHANDLUNG ÜBER DIE KUNST. HERAUSGEGEBEN VON BEAT WYSS, ZÜRICH - MÜNCHEN 1987 Ed io anche son pittore AN DIE MENSCHEN, DIE DIE SCHÖNEN KÜNSTE PFLEGEN. Von einer übermäßigen Liebe zu meiner Kunst beherrscht, habe ich mich ihr völlig ausgeliefert. Seitdem ich mich dieser gebieterischen Leidenschaft hingebe, habe ich mir das Gesetz auferlegt, durch Arbeit, die dem Nutzen der Gesellschaft dient, die öffentliche Anerkennung zu erwerben. Ich muß gleich zugeben, daß ich es verwarf, mich nur auf das Studium unserer alten Meister zu beschränken. Ich versuchte statt dessen durch das Studium der Natur meine Gedanken über eine Kunst zu bereichern, die — so scheint mir nach langem Nachdenken — noch in ihren Anfängen steckt. Wie wenig bemühte man sich in der Tat bis heute um die Poesie der Architektur, die doch ein sicheres Mittel ist, das Vergnügen der Menschen zu erhöhen und den Künstlern einen gerechten Ruhm zu sichern. Ja, es ist meine Überzeugung, daß unsere Bauwerke, vor allem die öffentlichen, in gewisser Weise Gedichte sein sollten. Der äußere Eindruck, den sie auf unsere Sinne machen, sollte imstande sein, in uns die gleichen Gefühle zu wecken, wie der Zweck, zu dem sie bestimmt sind. Um der Architektur diese magische Poesie, deren sie fähig ist, zu verleihen, schien es mir notwendig, Forschungen über die Theorie der Körper anzustellen, sie zu analysieren, zu versuchen ihre Eigenschaften zu erkennen, ihre Wirkung auf unsere Sinne und ihre Ähnlichkeit mit unserem Organismus zu verstehen. Ich gab mich der Hoffnung hin, ich könnte durch ein Zurück zum Ursprung der schönen Künste neue Ideen gewinnen und somit neue Prinzipien festlegen, die um so sicherer wären, als sie ihren Ursprung in der Natur hätten. […] VOM WESEN DER KÖRPER, IHREN EIGENSCHAFTEN, IHRER ANALOGIE ZUM MENSCHLICHEN ORGANISMUS. Auf der Suche danach, aus dem Wesen der Körper ihre Eigenschaften und ihre Analogien zu unserem Organismus zu entdecken, begann ich meine Forschungen mit den Körpern von unbestimmter Form (corps bruts). Ich erkannte in ihnen Massen, deren Flächen konvex, konkav, eckig, planimetrisch usw. waren.

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ETIENNE-LOUIS BOULLÉE: ARCHITECTURE; ESSAI SUR L’ART, (UM 1790), HERAUSGEGEBEN VON JEAN-MARIE PÉROUSE DE MONTCLOS, PARIS 1968, DEUTSCHE AUSGABE: ARCHI-

TEKTUR – ABHANDLUNG ÜBER DIE KUNST. HERAUSGEGEBEN VON BEAT WYSS, ZÜRICH - MÜNCHEN

1987 Ed io anche son pittore AN DIE MENSCHEN, DIE DIE SCHÖNEN KÜNSTE PFLEGEN. Von einer übermäßigen Liebe zu meiner Kunst beherrscht, habe ich mich ihr völlig ausgeliefert. Seitdem ich mich dieser gebieterischen Leidenschaft hingebe, habe ich mir das Gesetz auferlegt, durch Arbeit, die dem Nutzen der Gesellschaft dient, die öffentliche Anerkennung zu erwerben.

Ich muß gleich zugeben, daß ich es verwarf, mich nur auf das Studium unserer alten Meister zu beschränken. Ich versuchte statt dessen durch das Studium der Natur meine Gedanken über eine Kunst zu bereichern, die — so scheint mir nach langem Nachdenken — noch in ihren Anfängen steckt. Wie wenig bemühte man sich in der Tat bis heute um die Poesie der Architektur, die doch ein sicheres Mittel ist, das Vergnügen der Menschen zu erhöhen und den Künstlern einen gerechten Ruhm zu sichern.

Ja, es ist meine Überzeugung, daß unsere Bauwerke, vor allem die öffentlichen, in gewisser Weise Gedichte sein sollten. Der äußere Eindruck, den sie auf unsere Sinne machen, sollte imstande sein, in uns die gleichen Gefühle zu wecken, wie der Zweck, zu dem sie bestimmt sind.

Um der Architektur diese magische Poesie, deren sie fähig ist, zu verleihen, schien es mir notwendig, Forschungen über die Theorie der Körper anzustellen, sie zu analysieren, zu versuchen ihre Eigenschaften zu erkennen, ihre Wirkung auf unsere Sinne und ihre Ähnlichkeit mit unserem Organismus zu verstehen. Ich gab mich der Hoffnung hin, ich könnte durch ein Zurück zum Ursprung der schönen Künste neue Ideen gewinnen und somit neue Prinzipien festlegen, die um so sicherer wären, als sie ihren Ursprung in der Natur hätten. […]

VOM WESEN DER KÖRPER, IHREN EIGENSCHAFTEN, IHRER ANALOGIE ZUM MENSCHLICHEN ORGANISMUS. Auf der Suche danach, aus dem Wesen der Körper ihre Eigenschaften und ihre Analogien zu unserem Organismus zu entdecken, begann ich meine Forschungen mit den Körpern von unbestimmter Form (corps bruts).

Ich erkannte in ihnen Massen, deren Flächen konvex, konkav, eckig, planimetrisch usw. waren.

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Danach fand ich, daß die verschiedenen Umrisse, die aus den Flächen dieser Körper hervorgingen, ihre Gestalt bestimmten und ihre Form prägten. Darüber hinaus habe ich in ihnen, ich kann nicht sagen Vielfalt, sondern Unordnung festgestellt, hervorgerufen durch die Anzahl und die Kompliziertheit ihrer Flächen.

Gelangweilt vom stummen und sterilen Anblick, den mir die unregelmäßigen Körper boten, ging ich zur Untersuchung der regelmäßigen über. Als erstes erkannte ich in ihnen Regelmäßigkeit, Symmetrie und Vielfalt, und ich sah, daß dadurch ihre Form und Gestalt bestimmt wurde. Darüber hinaus erkannte ich, daß die Regelmäßigkeit allein genügte, den Menschen eine klare Vorstellung von der Gestalt dieser Körper zu geben und danach ihre Bezeichnung festzulegen; wie man sehen wird, war dies nicht nur das Ergebnis der Regelmäßigkeit und der Symmetrie, sondern auch der Vielfalt. Aus einer Vielzahl von ganz verschiedenen Flächen zusammengesetzt, entzieht sich die Gestalt der unregelmäßigen Körper, wie ich schon vorher bemerkte, unserem Verständnis. Ihre Flächen erscheinen uns durch Vielzahl und Kompliziertheit als nichts Bestimmbares, sie bieten uns nur ein Bild der Verworrenheit.

Warum aber läßt sich die Gestalt der regelmäßigen Körper mit einem einzigen Blick erfassen? Weil ihre Formen einfach, ihre Flächen regelmäßig sind und diese sich wiederholen. Wie stark die Erscheinung eines Gegenstandes auf uns wirkt, hängt aber von seiner klaren Erfaßbarkeit ab; was nun die regelmäßigen Körper für uns besonders hervorhebt, ist die Tatsache, daß ihre Regelmäßigkeit und ihre Symmetrie Inbegriff der Ordnung sind und daß in der Ordnung wiederum die Klarheit selbst liegt. Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß die Menschen erst dann klare Vorstellungen von der Gestalt der Körper haben konnten, nachdem sie den Begriff der Regelmäßigkeit erkannt und erfaßt hatten.

Nachdem ich also bemerkt hatte, daß die Regelmäßigkeit, die Symmetrie und die Vielfalt die Form der regelmäßigen Körper bestimmten, erkannte ich, daß im Zusammentreffen dieser Eigenschaften die Proportion begründet liegt.

Ich verstehe unter Proportion eines Körpers eine Wirkung, die aus der Regelmäßigkeit, der Symmetrie und der Vielfalt hervorgeht. Die Regelmäßigkeit begründet die Schönheit eines Ge-genstandes, die Symmetrie seine Ordnung und den schönen Gesamteindruck, die Vielfalt gibt den Gegenständen die verschiedenen Flächen, durch die wir sie voneinander unterscheiden. Folglich wird aus der Vereinigung und der gegenseitigen Übereinstimmung all dieser Eigenschaften die harmonische Erscheinung der Körper geboren.

Als Beispiel kann die Kugel als die Form angesehen werden, die alle Eigenschaften der Körper in sich vereinigt. Alle Punkte ihrer Oberfläche sind gleich weit von ihrem Zentrum entfernt. Das Ergebnis dieses einmaligen Privilegs besteht darin, daß, von welchem Standpunkt auch immer wir diesen Körper betrachten, es keinen Blickwinkel gibt, der jemals die herrliche Schönheit seiner Form beeinträchtigen könnte, die sich unserem Blick immer als vollkommen darbietet.

Die Kugel bietet uns die Lösung eines Problems, das als ein Paradox betrachtet werden könnte, wäre nicht geometrisch bewiesen, daß die Kugel ein unendliches Polyeder ist: aus der perfektesten Symmetrie leitet sich die unendlichste Vielfalt ab. Wenn wir uns nämlich die Oberfläche unserer Kugel in verschiedene Punkte unterteilt vorstellen, dann sehen wir nur einen einzigen dieser Punkte senkrecht, alle anderen erscheinen unter einer Unzahl verschiedener Winkel.

Die weiteren Vorzüge der Kugel liegen darin, daß sie unserem Auge die größte Oberfläche darbietet, was sie majestätisch erscheinen läßt, daß sie die einfachste Form besitzt, deren Schönheit

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aus der durch nichts unterbrochenen Oberfläche hervorgeht; zu all diesen Eigenschaften muß man noch die Anmut hinzufügen, denn die Umrißlinie, die diesen Körper bestimmt, ist so weich und fließend, wie es nur möglich ist.

Aus all diesen Beobachtungen geht hervor, daß die Kugel in jeder Hinsicht das Bild der Vollkommenheit bietet. Sie vereinigt in sich exakte Symmetrie, die vollkommenste Regel-mäßigkeit, die größte Vielfalt; sie hat die größte Entwicklung (développement), die einfachste Form, und ihre Gestalt wird durch die gefälligste Linie umrissen; und schließlich wird dieser Körper noch durch Lichteffekte begünstigt, die auf ihm entstehen und deren Abstufungen man sich nicht sanfter, angenehmer und abwechslungsreicher vorstellen kann. Hier haben wir also alle die einmaligen Vorzüge vor uns, die dieser Körper von Natur aus hat und die auf unsere Sinne eine unbegrenzte Macht ausüben.

Damit ist also bewiesen, daß Proportion und Harmonie der Körper aus der Natur hervorgehen und daß durch die Analogie, die sie zu unserem menschlichen Organismus haben, die Eigenschaften, die aus dem Wesen der Körper hervorgehen, Macht über unsere Sinne besitzen.

Die Symmetrie gefällt, sagt ein großer Mann (Montesquieu), denn sie verkörpert die Klarheit; und der Geist, der ohne Unterlaß zu begreifen versucht, überschaut und erfaßt ohne Mühe alles Symmetrische. Ich füge hinzu, sie gefällt, weil sie das Abbild von Ordnung und Vollkommenheit ist.

Die Vielfalt gefällt uns, denn sie kommt einem Bedürfnis unseres Geistes entgegen, der danach strebt, sich zu bereichern und sich Neues zu erschließen, und gerade die Vielfalt ist es, die uns die Dinge in immer neuem Licht erscheinen läßt. Die Folge davon ist eine Stimulierung unserer Sinne durch immer neue Freuden. Wenn uns die Vielfalt in der Form der Körper gefällt, so gilt das auch für die Lichteffekte.

Das Bild des Großen gefällt uns in jeder Hinsicht, denn unser Wesen, immer bestrebt, sein Lebensgefühl zu erhöhen, möchte das ganze Universum umfangen.

Schließlich ist die Anmut unter allen Eigenschaften diejenige, die unsere Herzen am meisten anrührt. […]

UNTERSUCHUNG DARÜBER, WIE WIR GEWISSHEIT ÜBER DIE GRUNDLEGENDEN PRINZIPIEN DER KUNST UND INSBESONDERE DER ARCHITEKTUR ERLANGEN KÖNNEN. Die Gesetze, die ganz eindeutig die Grundlagen einer Kunst bilden, erkennt man daran, daß es keine Möglichkeit gibt, von ihnen abzuweichen.

Man kann zum Beispiel in der Musik nur Harmonien schaffen, indem man den Gesetzen der Harmonielehre folgt. Es ist unmöglich, einen Akkord erklingen zu lassen, ohne der dafür vorgeschriebenen Abfolge der Töne zu gehorchen. Vergeblich würde man versuchen, eine Terz, eine Quarte oder eine Quinte zu komponieren, ohne das jeweils dafür bestimmte Gesetz zu befolgen. Das gleiche gilt, wenn man sie zu einem großen, harmonischen Zusammenklang verbindet, sei es, weil diese Gesetze unserem Organismus analog sind, sei es, weil sie aus der Natur hervorgehen, wie wir aus den Tönen erkannt haben. Wir können uns nicht von diesen Gesetzen lösen, ohne unser Gehör zu beleidigen. Damit ist bewiesen, daß die Harmonielehre das erste Gesetz ist, auf dem die Musik

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beruht, denn nur sie bietet uns die Möglichkeit, einen harmonischen Klang entstehen zu lassen. Was ist nun das erste Gesetz, das die Prinzipien der Architektur begründet? Stellen wir uns ein Bauwerk vor, bei dem die Proportionen nicht genau beachtet wurden; das

wäre gewiß ein sehr großer Fehler, aber aus diesem Fehler ergäbe sich keine so große Beleidigung unseres Auges, daß wir seinen Anblick nicht mehr ertragen könnten oder daß dieser Fehler auf unser Sehen eine ähnliche Wirkung hätte wie ein falscher Akkord auf unser Gehör.

In der Architektur stören fehlerhafte Proportionen gewöhnlich nur das Auge des Kenners. Daran sieht man, daß die Proportion, auch wenn sie eine der hervorragendsten Schönheiten der Architektur darstellt, nicht das Gesetz ist, auf dem die grundlegenden Prinzipien dieser Kunst beruhen. Versuchen wir also herauszufinden, was in der Architektur unmöglich fehlen darf und wovon man nicht abweichen kann, ohne daß unser Auge ernsthaft beleidigt wird.

Stellen wir uns einen Menschen vor, dessen Nase sich nicht in der Mitte des Gesichtes befindet, dessen Augen verschieden weit auseinanderstehen, bei dem ein Auge höher liegt als das andere und dessen Gliedmaßen nicht zusammenpassen, ganz bestimmt erschiene uns dann ein solcher Mensch abscheulich. Hier haben wir ein Beispiel, das sich ganz natürlich als Vergleich zu unserem Thema anbietet: Wenn wir an einen Palast denken, dessen Mittelrisalit mit dem Haupteingang nicht die Mitte des Gebäudes einnähme, bei dem nirgends Symmetrie zu finden wäre, dessen Fenster in ungleichen Abständen und Höhen zueinander stünden, das — mit einem Wort — ein Bild der Verworrenheit böte, dann käme uns ein solches Gebäude mit Sicherheit häßlich und unerträglich vor.

Es ist nun leicht für den Leser vorauszusehen, daß das allererste Gesetz und dasjenige, welches die grundlegenden Prinzipien der Architektur begründet, aus der Regelmäßigkeit hervorgeht und daß ein Abweichen von der Symmetrie in dieser Kunst genauso unangebracht ist wie ein Nichtbefolgen der Harmonielehre in der Kunst der Musik.

Ohne Zweifel ist in einer Kunst, die auf den Prinzipien der Parität beruht, jede Disparität unerträglich. Symmetrische Kompositionen müssen bei uns korrekte und klare bildliche Vor-stellungen hervorrufen. Die geringste Unordnung, die geringste Verworrenheit wird unerträglich. Die Ordnung muß in allem aus der Symmetrie Entstandenem offensichtlich sein und es beherrschen. Mit einem Wort, nie darf etwas anderes als die Vernunft dem Genie des Architekten die Richtung weisen, für immer muß er sich die schöne Maxime zur Regel machen: »Rien de beau si tout n’est sage.« (»Nichts ist schön, wenn nicht alles vernünftig ist.« ) […]

CHARAKTER. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit einem Objekt zu. Das erste Gefühl, das es in uns hervorruft, hängt natürlich damit zusammen, inwiefern uns dieses Objekt etwas angeht. Ich bezeichne demnach als Charakter die Wirkung, die von diesem Objekt ausgeht und die auf uns irgendeinen Eindruck macht. Einem Werk Charakter verleihen heißt also, alle geeigneten Mittel richtig anzuwenden, damit in uns nur die Empfindungen hervorgerufen werden, die dem Gegenstand angemessen sind.

Um zu verstehen, was ich unter Charakter oder unter der Wirkung verschiedener Objekte auf uns

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meine, so betrachten wir einmal die großartigen Bilder der Natur, dann sehen wir, wie ihre Wirkung auf unsere Sinne den Ton bestimmt, mit welchem wir unseren Gefühlen Ausdruck geben.

Welch herrliches Schauspiel entzückt unseren Blick! Wie mild und angenehm ist der Tag! Herrliches Leben erfüllt die ganze Erde. Die mit dem Zauber der Jugend geschmückte Natur ist das Werk der Liebe. Alles ist von der sanften Harmonie erfüllt, die ein schöner Tag mit sich bringt; sein Zauber gibt den Farben eine solche Wirkung, daß ihre Frische, ihre zarten Abstufungen, ihre sanften und lieblichen Tönungen alle unsere Sinne berauschen. Welches Vergnügen bereitet es doch, alles um uns herum zu betrachten, und wie angenehm ist dieses Gefühl! Die im Werden begriffenen Formen machen einen unerklärlich nachhaltigen Eindruck auf uns; ihre weichen und schmiegsamen Umrisse, die ihre Form nur andeuten, verleihen ihnen einen ganz neuen Zauber. Ach wie sehr ist doch in der schönen Eleganz ihrer Proportionen, die ihre Anmut ausmacht, alles vereint, was uns gefällt!

Aber der Sommer kündigt sich an und zwingt uns, den Ton zu ändern. Trunken vom Anblick des hellstrahlenden Himmels kennt unsere Begeisterung keine Grenzen mehr. Diese Freude ist wahrlich himmlisch! Welches reine Glück strömt bei diesem Anblick bis in die Tiefen unseres Herzens! Welches Entzücken empfinden wir dabei! Nein, es ist unmöglich, es in Worte zu fassen! Zu dieser Jahreszeit hat die Natur ihr Werk vollendet, sie bietet das Bild der Vollkommenheit. Alles hat feste Form angenommen, ist groß, makellos und rein. Klar und deutlich zeichnen sich die Konturen ab. Die volle Entfaltung aller Formen verleiht ihnen eine edle und majestätische Proportion; die lebhaften, glänzenden Farben haben volle Leuchtkraft erreicht. Vor unseren Augen breitet die Erde all ihren Reichtum verschwenderisch aus. Die Kraft des Lichtes gibt den Bildern noch mehr Größe, sie wirken lebendig, leuchtend und strahlend. Der Gott des Lichtes scheint die Erde zu bewohnen. In der unendlichen Zahl der schönen Dinge, mit denen sie geschmückt ist, breitet die Natur vor uns das feierliche Bild der Großartigkeit aus.

Aber schon ist der Herbst an die Stelle des Sommers getreten und erfrischt unsere Herzen mit wieder neuen Freuden. Es ist die Zeit des vollen Genusses; schon der Frühling hatte unser Verlangen danach geweckt. Die Erde, noch mit den herrlichen Früchten Floras geschmückt, trägt dazu schon die Schätze Pomonas. Welch eine Vielfalt von Bildern bietet sich unserem Auge dar! Wie fröhlich und heiter sie sind! Bacchus und die liebenswürdige Göttin der Ausgelassenheit haben sich der Erde bemächtigt! Der Gott der Heiterkeit, Ursprung aller unserer Vergnügen, macht unsere Herzen freudetrunken. Es scheint, als wollte die Göttin, dem Gott zu Gefallen, die Erde verkleiden, so bunt sind die Farben durcheinandergemischt. Die inzwischen malerisch gewordenen Formen haben die verführerische Anziehungskraft des Neuen, während ihre Vielgestaltigkeit sie reizvoll macht. Das Spiel voll Licht und Schatten bringt unzählige überraschende Eindrücke hervor, die uns allesamt bezaubern. Aber über die schönen Tage legt sich der dunkle Reif. Wie traurig sind die Tage! Die himmlische Fackel ist erloschen. Dunkelheit umgibt uns. Der schreckliche Winter läßt unsere Herzen erstarren. Er kündigt sich im Wetter an, die Nacht folgt ihm und breitet ihre dunklen Schwingen über die Erde aus, verströmt Finsternis. Schon sind die glitzernden Wellen der Gewässer vom rauhen Nordwind getrübt. Statt reizender Waldwinkel ragen nur noch kahle Baumskelette auf, ein Trauerflor bedeckt die Natur. Das herrliche Bild des Lebens ist vergangen und dem des Todes gewichen. Alles Leuchten und alle Farben sind erloschen. Die Formen sind im Versinken, ihre Umrisse kantig und hart; die kahle Erde bietet uns den Anblick einer einzigen, großen Grabstätte.

O Natur, wie wahr ist es doch, dich das Buch der Bücher zu nennen, das allesumfassende

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Wissen! Nein, ohne dich vermögen wir nichts! Aber wenn du auch jedes Jahr wieder den auf-schlußreichsten und interessantesten Lehrgang erteilst, wie wenig Menschen achten darauf und wissen ihn zu nützen!

Aus den Beobachtungen der Jahreszeiten folgt, daß man, um etwas Schönes zu schaffen wie in der Natur, den Eindruck angenehm, die Farben zart und delikat und ihre Tönung liebevoll gestalten muß, daß die Formen fließend und ihre Proportionen leicht und elegant sein müssen.

Die Kunst, die Dinge angenehm zu gestalten, geht aus dem guten Geschmack hervor. Der gute Geschmack ist das feine und schwierige Vermögen, die Objekte, die uns Freude bereiten, zu erkennen. Es genügt nicht, uns diese Objekte, die uns Vergnügen machen, einfach vor Augen zu führen; erst wenn wir sie auswählen, begeistern wir uns für sie und fühlen Entzücken bis in unser Innerstes.

Konzentrieren wir uns auf die Architektur, und wir werden feststellen, daß bei geschmackvollen Werken dieser Kunst mehr das Angenehme als die Pracht, mehr Feinheit als Kraft, mehr Eleganz als Prunk angebracht sind. Der gute Geschmack zeigt sich also in der Anmut.

Wir haben festgestellt, daß während des Sommers das über die ganze Natur strahlende Licht den stärksten Eindruck hervorrief; daß dieses lebenspendende Licht sich über eine Fülle herrlicher Dinge ausbreitete, die die schönste Gestalt aufwiesen, die in der Pracht der lebhaftesten Farben glänzten, die die größte Entfaltung zeigten, und daß aus dieser schönen Verbindung das feierliche Bild des Großartigen entstand. Nach dem Vorbild der Natur besteht die Kunst, das Bild des Großen in Architektur umzusetzen, darin, die Körper, die einen Baukomplex bilden, so anzuordnen, daß sie viel Raum haben, daß ihre Gliederung einen noblen und majestätischen Ausdruck erhält und daß sie zur größten Ausdehnung geeignet sind. Als Ganzes gesehen, muß die Anordnung der Körper so gestaltet sein, daß es uns möglich ist, die Vielfalt der Bestandteile mit einem Blick zu erfassen. Wenn das Licht sich über den ganzen Komplex breitet, muß es die stärkste, eindrucksvollste und abwechslungsreichste Wirkung ausüben und die Eindrücke noch vervielfachen. In einem großen Komplex müssen die untergeordneten Teile geschickt miteinander verbunden werden, um dem Ganzen den größten Reichtum der Erscheinung zu verleihen, denn durch eine geglückte Verteilung entstehen Pracht und Großartigkeit.

Es sind diese Bilder des Großen, die ich in mehreren meiner Projekte zu verwirklichen suchte, im Palais in Saint-Germain-en-Laye, in der Métropole und im Kenotaph für Newton. Dort versuchte ich alles zu verwirklichen, was Natur und Kunst an Möglichkeiten bieten, um der Architektur das Bild des Großen zu geben. An Stelle jeder weiteren Ausführung verweise ich den Leser auf die diesbezüglichen Pläne, da ich davon überzeugt bin, daß man von einem Künstler vor allem gelungene Werke statt schöner Worte verlangen sollte.

Wir haben gesehen, daß die heiteren Bilder des Herbstes durch die außergewöhnliche Vielfalt der Objekte, durch das Spiel von Licht und Schatten, durch die malerischen Formen, die sich kaum wiederholen, und durch das Seltsame und Eigenartige der bunt gemischten Farben entstanden. Daraus folgt, daß man zur Schaffung heiterer und fröhlicher Bilder die Kunst beherrschen muß, sie abwechslungsreich zu gestalten; dazu muß man Einfälle voller Phantasie haben, denn der Phantasie gelingt es, Objekte auf neue und reizvolle Art darzustellen und abwechslungsreiche Grundrisse zu entwerfen. Sie ermöglicht es, malerische Formen zu verwenden, sie entweder zu verschleiern, oder sie besonders herauszustellen; sie ist es, die sich des Spiels von Licht und Schatten bedient, um reizvolle Wirkungen zu erzielen. Sie bringt durch ein geschicktes Durcheinandermischen der Farben

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deren Buntheit ins Spiel. Durch eine geglückte und überlegte Analogie, durch schlanke und elegante Proportionen verleiht sie der Architektur den Charakter der Schwerelosigkeit. Durch eine kunstvolle und unerwartete Anordnung führt sie uns überraschende Bilder vor Augen und übt die reizvolle Anziehungskraft des Neuen aus.

Geeignete Bauwerke für diese Art von Architektur sind Vauxhalls, Ausstellungsgebäude, Heilbäder, die sich fast immer an malerischen Orten befinden, Theater, die eine hübsche Umgebung haben, heiter-angenehme, öffentliche Promenaden, wie Boulevards usw.

Wir haben beobachtet, daß während des Winters das Licht traurig und düster wirkte, daß die Gegenstände ihren Glanz und ihre Farben verloren hatten, daß die Formen hart und eckig geworden waren und daß die kahle Erde wie ein großes Grab erschien.

Aus diesen Beobachtungen folgt, daß man zur Schaffung trauriger und düsterer Bilder, wie ich es in meinen Grabmälern versuchte, durch eine vollkommen kahle Mauer das Skelett der Architektur zeigen muß; das Bild der versunkenen Architektur gestaltet man durch niedrige und gedrückte, in die Erde gesunkene Proportionen, und schließlich formt man durch Verwendung lichtabsorbierenden Materials das dunkle Bild einer Architektur der Schatten deren Umrisse durch noch schwärzere Schatten hervorgehoben werden.

Diese aus Schatten geformte Architektur ist eine Entdeckung in der Kunst, die von mir gemacht wurde. Damit habe ich ganz neue Wege eröffnet, die — wenn ich mich nicht täusche — die Künstler in Zukunft beschreiten werden.

Zu den oben gemachten Beobachtungen werde ich eine letzte, mir sehr wichtig erscheinende, hinzufügen. Nämlich die, daß die Natur niemals von ihrem Lauf abweicht und daß dabei alles zu Vollkommenheit strebt. Ob die Natur sich uns in angenehmen, noblen, heiteren oder traurigen Bildern zeigt, in all diesen verschiedenen Erscheinungen bleibt sie dem jeweils speziellen Charakter dieser Erscheinung treu, so daß sich nichts darin widerspricht, weder in der Wirkung, noch in den Formen oder Farben, und sich in jeder Hinsicht alles in vollkommener Übereinstimmung, in vollkommener Analogie und in vollkommener Harmonie befindet. […]

BASILIKA. Wenn sich ein Architekt ein Bauwerk vornimmt, muß er sich zunächst darum bemühen, alle wesentlichen Eigenschaften dieses Werkes genau zu erfassen. Sobald er diese Eigenschaften ganz verstanden hat, wird es ihm vielleicht gelingen, dem Werk, das er ausführen will, seinen ihm eigenen Charakter zu geben, und er wird durch viel Arbeit und Nachdenken der Aufgabe, die er sich gestellt hat, vollauf gewachsen sein.

Ein Gebäude, zum Kult des Allerhöchsten bestimmt! Hier haben wir mit Sicherheit ein Werk, für das erhabene Ideen angebracht sind und dem die Architektur unbedingt Charakter verleihen muß. Aber um ihm Charakter zu geben, muß man zutiefst von ihm erfüllt sein, muß sich geistig zu den Vorstellungen erheben können, denen es später Ausdruck geben soll, muß man von ihnen so erfüllt sein, daß sie zur einzigen Inspiration und zum einzigen Führer werden. Aber welcher Künstler wird es noch wagen, wenn er einmal versucht hat, seine Seele zur Verehrung des Schöpfers zu erheben, diesem einen Tempel zu errichten? Hier fallen die Grenzen der Kunst und die des menschlichen Geistes zusammen, und niemand kann sich schmeicheln, sie überschreiten zu können. Wohl mögen

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die Menschen Gott, dem Höchsten, ihre Verehrung darbringen, diese Verehrung steht unfehlbar im Verhältnis zur Schwäche derer, die sie ausdrücken. Die religiöse Pflicht so gut wie möglich zu erfüllen, ist auf diesem Gebiet alles, was Menschen vermögen, und das allein ist schon eine furchterregende Aufgabe. Ich weiß nicht, ob den Architekten unserer Tempel diese Überlegungen in den Sinn kamen. Man sieht wohl, daß sie bei der Ausarbeitung ihren Grundrissen Würde, Feierlichkeit und Pracht zu geben versuchten. Ohne Zweifel sollte man ihnen dankbar sein für die Ordnung und Proportion in ihren Werken. Aber sind sie auch dahin gelangt, durch den bloßen Anblick ihres Tempels ein Gefühl der Ehrfurcht hervorzurufen? Fürchtet man ihn zu entweihen, wenn man sich erkühnt, ihn zu betreten? Ruft der Ort den tiefen Respekt hervor, den religiöser Glaube mit sich bringt? Offenbart sich in ihm der Charakter des Großen, der sich durch die mitreißende Begeisterung, die vom Genialen ausgeht, auf den Betrachter überträgt und ihn mit Staunen und Bewunderung erfüllt? Erscheint er in seiner Gesamtheit wie ein Werk, das über die menschlichen Kräfte geht und damit unfaßbar wird? Wurde schließlich alles, was die Natur der Kunst bietet, voll ausgeschöpft, um den Forderungen zu genügen, die das majestätische Thema verlangt? Das sind meine ersten Überlegungen zu den Tempeln.

Die griechische Architektur wird heute als so überlegen angesehen, daß sie die Gesetze der Architektur bestimmt; die Griechen schmückten ihre Tempel mit herrlichen Säulengängen, und man muß zugeben, daß die Architektur keinen majestätischeren oder angenehmeren Ausdruck kennt. So müßte man eigentlich von unseren Architekten eine Nachahmung dieser schönen Beispiele erwarten. Warum also haben dann die modernen Architekten in ihren Tempeln diesen würdevollen Reichtum der Architektur durch eine Ausstattung ersetzt, die aus schweren Arkaden besteht, die auf massigen Pfeilern ruhen, deren einziger Schmuck aus einer wenige Zoll dicken Auflage besteht, die in der Architektur Pilaster genannt wird?

Diese schwerfällige und häßliche architektonische Gestaltung wird von einem Gewölbe ab-geschlossen, das von Stichkappen durchbrochen ist, die an Kellerlöcher erinnern. Die spitzen und unangenehmen Ecken dieser Stichkappen geben der Wölbung eine scheußliche Schwere. Die Verzierungen, für die sie nicht geeignet sind, verschlimmern die erwähnten Nachteile und heben sie noch besonders hervor. Und man darf nicht glauben, daß diese Beobachtungen nur auf einige, kaum erwähnenswerte Bauten zutreffen. Man betrachte daraufhin einmal die riesige Basilika St. Peter in Rom, St. Paul in London, die Kirche Les Invalides in Paris, die des Val-de-Grâce, die Sorbonne usw., und man wird sie in der oben beschriebenen Art gestaltet finden.

Da man sicher sein kann, daß man durch große Bilder den Menschen auch den Eindruck von Größe vermittelt, muß ein zur Ehre Gottes errichteter Tempel immer großräumig sein. Dieser Tempel sollte das eindrucksvollste und größte Bild unter allen existierenden Dingen vermitteln; er sollte, wenn dies möglich wäre, wie das Universum erscheinen. Wer sich beim Bau eines Tempels mit dem begnügt, was man als das Notwendige bezeichnet, vergißt die Bedeutung seiner Aufgabe.

Warum denn erscheint uns die Peterskirche in Rom weniger groß, als sie tatsächlich ist? Dieser unerträgliche Mangel kommt daher, daß der Architekt — weit davon entfernt, den Eindruck räumlicher Ausdehnung durch die Anzahl der Objekte, die ein großer Raum ganz natürlicherweise enthält, zu vermitteln — die Wirkung schmälert, indem er den einzelnen Teilen eine kolossale Proportion gibt; in dem Glauben, Großes zu schaffen, hat er — wie die Künstler sagen — Giganteskes geschaffen.

Als ich darauf hinwies, daß ein Tempel das Bild des Großen bieten muß, meinte ich nicht nur

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seine räumliche Ausdehnung, sondern wollte von der Kunst sprechen, der es mit Geschick gelingt, Eindrücke zu vergrößern und auszuweiten. Dies geschieht durch eine Verbindung der Teile untereinander auf eine Art, die uns gestattet, ihren Eindruck als ganzes voll zu erfassen, sowie durch eine Anordnung dieser Objekte, die ihre Vielfältigkeit deutlich macht und sie dabei in einem ständig sich erneuernden Nacheinander zeigt, bis zu einem Grad, wo man sie nicht mehr zählen kann. Das ist zum Beispiel die Wirkung der regelmäßigen und symmetrischen Anordnung eines »Quinconce«. Wenn wir außen an einer Ecke stehen haben wir den größtmöglichen Blick über das Ganze, denn wir sehen gleichzeitig zwei seiner Flächen.

Die Gegenstände sind also so verteilt, daß alles zu unserem Wohlgefallen beiträgt. Ihre Vielfältigkeit gibt uns den Eindruck von großer Fülle. Die höchste Großartigkeit und die perfekteste Symmetrie entstehen aus der Säulenordnung, die sich in alle Richtungen entwickelt und die sich vor unserem Blick auf eine Weise ausdehnt, daß wir sie nicht mehr zählen können. Wenn wir eine Allee so verlängern, daß wir ihr Ende nicht linear sehen können, entsteht nach den Gesetzen der Optik und durch die Wirkung der Perspektive der Eindruck der Unendlichkeit. Bei jedem Schritt zeigen sich uns die Gegenstände in einem anderen Licht und erneuern unser Vergnügen durch eine Folge verschiedenartiger Bilder. Durch eine gelungene Illusion schließlich, die durch unsere eigene Fortbewegung entsteht, die wir auf die Gegenstände übertragen, scheint es uns, als ob diese sich mit uns bewegten und als ob wir sie zum Leben erweckt hätten.

Aber es sei uns gestattet, zu unseren Bemerkungen über die Basilika von St. Peter zurück-zukehren. Wenn wir uns an Stelle der wuchtigen Pfeiler, die durch ihre Größe und ihren Umfang den Gesamteindruck zerstören, angenehme und leichte Baukörper mit endlosen Säulenreihen nach Art der Griechen vorstellen, die die Haupt- und Nebenschiffe umgeben und die so angeordnet sind, daß der Blick durch sie hindurch ungehindert die ganze Weite des Raumes erfassen kann, sowie eine Vielzahl von Formen, in deren Überfluß der Betrachter sich gern verliert und deren reizvolle Wirkung sie ihm zahlreicher erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit sind, wer könnte dann noch zweifeln, daß dieser Tempel dadurch unendlich viel größer erschiene, denn seine Größe wird durch die alles beherrschenden, gigantesken Arkaden beeinträchtigt, während die soeben genannten Möglichkeiten (wie jeder weiß), weit davon entfernt, die Größe einzuschränken, dazu beitragen, sie noch eindrucksvoller erscheinen zu lassen.

Aufgrund dieser Beobachtungen, die sich nur auf bekannte Tatsachen stützen, fühle ich mich berechtigt zu behaupten, daß es ein großer Fehler eines architektonischen Werkes ist, wenn der Gesamteindruck den Eindruck von Größe vermindert.

Und alle Verteidiger der Peterskirche hatten Unrecht, wenn sie behaupteten, es sei bewiesen, daß dieser Fehler dort eine Form von Schönheit sei.

Das Bild des Großen hat eine solche Macht über unsere Sinne, daß sogar die Vorstellung, es sei schrecklich, in uns noch ein Gefühl von Bewunderung hervorruft. Ein Feuer und Tod speiender Vulkan ist ein Bild von schrecklicher Schönheit.

Wahr ist demnach, daß das Große sich notwendigerweise mit dem Schönen verbindet, und zwar auf verschiedene Art, sei es durch etwas uns Angenehmes, sei es durch etwas, was uns Schrecken einflößt. Groß erscheinen, in welcher Weise auch immer, heißt auf Überdurchschnittliches hinweisen.

Poetisch dargestellt sind im Anblick des Großen manchmal Größe und Unendlichkeit vereint. Wenn man uns einen Menschen malt, mitten auf hoher See, nur Himmel und Wasser um sich, so ist dieses Schauspiel für uns wahrlich dasjenige der Unendlichkeit. In dieser Situation ist alles um uns

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herum außer Reichweite gerückt. Es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten mehr. Das gleiche geschieht in einem Ballon, in dem man, in den Lüften schwebend, die Erde aus den Augen verloren hat und von der ganzen Natur nur noch den Himmel erblickt. Wenn der Mensch so in der Unendlichkeit dahintreibt, in einem Abgrund unermeßlicher Weite, wird er tief erschüttert durch das außergewöhnliche Schauspiel eines nicht faßbaren Raums.

Nähern wir uns also den Freuden, die uns die großen Naturschauspiele auf dieser Erde bieten. Sie sind es, die uns Vergleiche und Berechnungen ermöglichen und die uns eine klare Idee davon vermitteln, wie wir Größe verstehen müssen, um sie speziell auf die Kunst anzuwenden.

Wer von uns war noch nie auf einem Berg, um das Vergnügen zu genießen, alles zu über-schauen, was unser Auge erfassen kann? Was sehen wir von einer solchen Stelle aus? Eine große Ausdehnung, die eine Menge Gegenstände enthält, deren Vielfältigkeit sie für uns unzählbar macht. Wollen wir nun in der Architektur das Bild des Großen sichtbar machen? Man muß bei einem großen Bauwerk die einfallsreichen Möglichkeiten der Kunst, von denen wir gesprochen haben, anwenden, um die einzelnen Teile so zahlreich wie möglich zu machen, aber so, daß sie im richtigen Verhältnis zum Ganzen stehen, in dem richtigen Verhältnis, das wir an den griechischen Tempeln sehen, nämlich so, daß diese Teile weder, wie in unseren gotischen Kathedralen, bis zum Übermaß vermehrt werden, noch, wie in St. Peter zu Rom, wo sie riesige Maßstäbe annehmen, die nur geeignet sind, das Giganteste darzustellen.

Die berühmtesten Architekten haben erkannt, daß nichts in der Architektur herrlicher ist als Kolonnaden; warum also haben die modernen Architekten in unseren Tempeln nicht davon Gebrauch gemacht, wo dort doch alles, was die Kunst geben kann, ohne Einschränkung verwendet werden sollte? Ich glaube den Grund dafür zu kennen.

Die alten Tempel waren genau genommen nur Altarräume, in denen die Priester ohne Ver-bindung zum Volk ihr Amt versahen, was keine weitläufige Anlage und keinen großen Aufwand künstlerischer Mittel verlangte. Aber unseren modernen Basiliken, die dazu bestimmt sind, sowohl die Priester als auch das Volk aufzunehmen, und wo oft die feierlichsten Zeremonien mit einer sehr großen Teilnehmerzahl stattfinden, mußte man eine beträchtliche Ausdehnung geben, die der großen Zahl der Anwesenden entsprach. Unsere Architekten hatten tausend Schwierigkeiten zu überwinden. Sie mußten einen Weg finden, die gewaltigen Gewölbe der Haupt- und Nebenschiffe und der Kapellen zu tragen. Dies ist zweifellos der Grund, warum sie es nicht wagten, ihre Tempel mit Kolonnaden zu schmücken, da sie als Stütze nicht ausreichten, das gewaltige Gewicht der Gewölbe zu tragen. Es mußten Mittel und Wege gefunden werden, um diese elegante und leichte Dekoration mit der notwendigen Stützkraft in Einklang zu bringen. Zeit und Studium bringen die Lösung aller Probleme.

Die Tempel der Griechen waren außen und innen mit Kolonnaden geschmückt, die das ganze Gebäude umgaben. Ein herrlicher Portikus mit einer Säulendoppelreihe bildete den Eingang, und der Tempel erhob sich völlig freistehend, majestätisch in der Mitte einer großen Umfriedung.

Unsere Tempel sind weit davon entfernt, einen so würdevollen und folglich angemessenen Eindruck zu machen. Ihre Eingänge haben selten einen Portikus, und höchstens die am besten ausgestatteten haben eine Säulenreihe. Und was unsere Portale betrifft, so zeigen sie fast alle eine Gliederung mit zwei oder drei Säulenordnungen, die übereinander gelagert sind, als hätte der Tempel mehrere Geschosse. Als der berühmte Voltaire vom Portal von Saint-Gervais sprach, scheute er sich nicht, das Lob dieser Art von Architektur zu singen.

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Unsere Kirchen, weit davon entfernt, von Kolonnaden umgeben zu sein, haben Mauern mit Strebepfeilern, die an Festungsmauern erinnern. Unsere Tempel stehen nicht frei und sind von keiner Umfriedung umgeben und, anstatt ihre Entweihung durch die Nähe von privaten Bauten zu verhindern, erlaubt man dem Volk, dort Buden für die übelsten Einrichtungen anzubauen.

Der Portikus des Pantheons in Rom gilt als ein Meisterwerk der Kunst. Man bewundert an diesem Bauwerk seine edle architektonische Gestaltung und sein Ebenmaß. Es wird von allen unseren berühmten Schriftstellern erwähnt. Ist es nicht außergewöhnlich, daß ein so viel bewundertes Beispiel noch nicht in unserer Hauptstadt nachgeahmt wurde?

Nachdem ich nun die mir notwendig erschienene Kritik geübt habe, ist für mich der Augenblick gekommen, die moderne Architektur zu würdigen. Ich werde über die Domkuppeln sprechen.

Michelangelo, Maler, Bildhauer und fähiger Architekt, setzte die Welt in Erstaunen, als er die Pläne für die Basilika von St. Peter entwarf. Er wollte alle schönen Baudenkmäler Roms übertreffen, vor allem aber das Pantheon, dessen Lob ihm jeder sang. Er schlug vor, eine ebenso große Kuppel zu errichten, und fügte hinzu, daß er diese gewaltige Masse auf den Gewölben der geplanten Basilika so stützen werde, daß die Kuppel nur die Krönung bilden werde, eine Idee, die so großartig, so kühn, so erstaunlich war, daß — wäre sie nicht schon gebaut — ihre Ausführungsmöglichkeit bezweifelt würde, wenn man sie heute vorschlüge. Man muß zugeben, daß die Idee zu dieser Kuppel gewöhnlich nicht Michelangelo zugeschrieben wird.

Sicher ist, daß Bramante, der begabte Architekt, vor Michelangelo Pläne zum Bau der St.-Peters-Basilika entworfen hatte. Bramante sah in dem Plan, den man von ihm kennt, eine Kuppel vor. Bramantes Plan ist in vieler Hinsicht dem Michelangelos vorzuziehen und letzterer folgte ihm auch teilweise.

Obgleich die Architekten der Gotik zu einer Zeit bauten, als die Künste wenig entwickelt waren, und obgleich sie nur geringe Kenntnisse einer schönen Architektur hatten, gelang es ihnen trotzdem, ihren Kathedralen den Charakter des Großen zu verleihen. Wir sind erstaunt über deren außergewöhnliche Höhe, die sie bis in die Wolken emporzutragen scheint. Sie haben eine Art Zauber in die Kunst eingeführt, denn durch das Verschleiern aller stützenden Strukturen erscheinen sie wie von einer übernatürlichen Kraft getragen. Die gotischen Baumeister hatten in vieler Hinsicht Erfolg, weil sie den Eingebungen ihres Genies folgten denn der Mensch ist immer etwas, wenn er nur die ihm von der Natur gegebenen Möglichkeiten ausnützt, während der Mensch, der nur nachäfft verdirbt, und überhaupt nichts ist.

Aus diesen Beobachtungen über die modernen Tempel geht hervor, daß diese noch weit entfernt sind von der Vollendung, zu der sie gebracht werden könnten. Aus diesem Grund glaubte ich, den Kampf aufnehmen zu müssen. Ich fühlte sehr wohl (wie ich vorher erwähnte), daß ich meinen Kritikern Erläuterungen gab, die mir nicht zum Vorteil gereichen würden, aber ich hatte den Fortschritt der Kunst zum Ziel, und schon jetzt tröste ich mich darüber, Waffen gegen mich selbst geliefert zu haben, wenn meine Beobachtungen von irgendeinem Nutzen sein können, auch wenn sie meinem Werk schaden.

Als ich mein Thema intensiv zu durchdenken begann, wurde ich sofort von mir unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten aufgehalten. Wie, so sprach ich zu mir selbst, kann ich es erreichen, meinem Tempel den ihm eigenen Charakter zu geben? Verfügt die Architektur über die künstlerischen Mittel, mit denen es möglich ist, das tiefe religiöse Gefühl, das dem Dienst des Allerhöchsten angemessen ist, zu erwecken? Ich muß gestehen, daß mich diese Fragen

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niederdrückten, und je öfter ich darüber nachdachte, desto stärker wurde meine Entmutigung.

Damals bereitete mir die Liebe zu meiner Kunst unzählige quälende Sorgen. Ich sage es frei heraus: Nein, ich kenne keinen modernen Tempel, bei dem der Architekt sich

damit beschäftigt hätte oder auch nur die Absicht hätte erkennen lassen, ihm einen eigenen Charakter zu geben. Trotz aller Anstrengungen unserer modernen Architekten machen sie den Eindruck von Männern, die sich zwar mit Architektur beschäftigen, die aber nur die Ideen ihrer Vorgänger sklavisch übernehmen und ausführen. Lange dachte ich darüber nach — ohne Erfolg. Doch gewohnt, mich an Widerständen zu stärken, fuhr ich fort nachzudenken, ohne mich entmutigen zu lassen. Schließlich zeigte sich ein Hoffnungsschimmer, als ich mich der dunklen oder geheimnisvollen, in Wäldern beobachteten Stimmung erinnerte und der verschiedenartigen Eindrücke, die diese auf mich gemacht hatten. Ich erkannte, daß, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, meine Vorstellungen zu verwirklichen, dies nur durch die Art und Weise der Lichteinführung in den Tempel geschehen konnte. Dies war meine Schlußfolgerung. Es sind die Lichteffekte, die in uns verschiedenartige und gegensätzliche Empfindungen auslösen je nachdem, ob sie strahlend oder düster sind. Wenn ich es erreiche, in meinem Tempel herrliche Lichteffekte hervorzurufen, werde ich die Seele des Betrachters mit Glück erfüllen; im Gegensatz dazu werde ich ihn traurig stimmen, wenn der Tempel nur einen düsteren Eindruck macht. Wenn ich eine direkte Lichteinführung vermeiden kann und das Licht eindringt, ohne daß der Betrachter sieht, woher es kommt, wird die Wirkung eines geheimnisvollen Tageslichtes einen unfaßbaren Eindruck machen und in gewisser Weise eine echte Verzauberung be-wirken. Wenn ich es beherrsche, das Licht nach eigenem Belieben zu verteilen, werde ich durch Verminderung des Tageslichtes die Seele zur Andacht, zur Buße und sogar zu einem religiösen Schauder inspirieren können. Vor allem während düsterer Trauerzeremonien, die ja diese Gefühle erregen sollen, werde ich den Tempel auf diese Weise sorgfältig vorbereiten. Ganz im Gegensatz dazu muß während der Zeremonien, die Freude hervorrufen sollen, die Wirkung des Lichtes strahlend sein, muß der Tempel mit Blumen, die das Schönste sind, was es in der Welt überhaupt gibt, übersät sein. Dadurch entsteht ein majestätisches und rührendes Bild, das in der Seele ein freudiges Gefühl auslöst.

Diese Überlegungen machten mir wieder Mut. So dachte ich nur noch daran, alle mir von der Natur gebotenen Möglichkeiten in die Tat umzusetzen (mettre en œuvre). Ich habe mir dann gesagt, und zwar eingestandenermaßen mit einem gewissen Stolz, deine Kunst wird dich diese Mittel meistern lassen, und auch du wirst Grund haben zu sagen: »fiat lux«, denn auch deinem Willen

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gehorchend wird der Tempel in strahlendem Licht erscheinen oder nur noch der Ort der

Finsternis sein. Und bald beschäftigte ich mich nur noch mit Architektur. Ich glaubte, das einzige Mittel, den Anblick des Tempels eindrucksvoll zu machen, sei eine

große und edle architektonische Gestaltung. Ich unternahm alle Anstrengungen, um das in der äußeren Erscheinung sichtbar zu machen. Da ich aus eigener Erfahrung wusste, dass der Mensch sich üblicherweise an dem ihn umgebenden Raum misst, und da ich die Großartigkeit des Ortes durch einen entsprechend eindrucksvollen Eingang ankündigen wollte, glaubte ich, es sei wohl das Beste, mich darauf zu konzentrieren, den Tempeleingang so zu gestalten, dass der Betrachter davon einfach überwältigt wird. Deshalb zögerte ich nicht, diesem Eingang die Höhe des Gewölbescheitels und die Breite des Hauptschiffes zu geben.

Seit langem hatte ich mir vorgenommen, die Schönheit der griechischen Architektur mit der, ich will nicht sagen Schönheit der Gotik, aber mit deren Technik zu verbinden, die nur den Baumeistern jener Zeit bekannt war und nur von ihnen angewandt wurde. Diese verstanden es, wie ich schon bemerkte, mit Geschick und feinfühliger Arbeit alle stützenden Strukturen ihrer Kathedralen zu verbergen, so daß sich diese Bauten auf wunderbare Weise selbst zu tragen scheinen. Gemäß solchen Vorstellungen suchte ich den Innenraum meines Tempels zu gestalten. Nachdem ich mir Klarheit darüber verschafft hatte, wie meine tragende Struktur zu errichten sei, und sie durch Pfeiler gesichert hatte, um die Kuppel, das Gewölbe der Hauptschiffe, dasjenige der Seitenschiffe und der Kapellen zu stützen, umgab ich alle diese massiven Baukörper in allen Richtungen mit Säulenstellungen. Durch die Anwendung des Schönsten, was die Architektur zu geben vermag, gelang es mir also, diese massiven Baukörper dem Blick des Betrachters zu entziehen. Wie in der Gotik ergibt sich aus dieser Anordnung ein Verschleiern der stützenden Strukturen meines Tempels, der sich damit auch wie durch ein Wunder selbst zu tragen scheint; dazu wird er nach griechischem Beispiel mit dem größten Reichtum der Architektur geschmückt sein. Die Säulen im Vordergrund erleichtern es, das Tageslicht auf geheimnisvolle Art einzuführen, da ihr Auskragen die Lichteinführung nicht erkennen läßt. Letzteres hat viele Vorteile. Zunächst kann man die Anzahl der Fenster vergrößern, wie man

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will, ohne sich um ihre Form zu kümmern, da sie nicht sichtbar sind. Ferner erleichtern sie auch die Konstruktion und die Ausschmückung. Was die Konstruktion

betrifft, so kann man nach Bedarf die Wandpfeiler im Hintergrund, die das Gewölbe tragen, verstärken oder vervielfachen. Bei der Dekoration andererseits kann man durch die im Attikageschoß, unter dem Gewölbe befindlichen Fenster auf die häßlich wirkenden, an Kellerlöcher erinnernden Stichkappen verzichten, und man kann dieses Gewölbe auf jegliche Art ausschmücken, sei es mit Malerei, sei es mit Skulpturen. Indem das Gewölbe über die Kolonnade hinaus in den Hintergrund reicht, wirkt sein Durchmesser notwendigerweise auf das Ganze vergrößernd und krönt die Säulenstellungen auf eindrucksvolle Art; die Säulen — durch die schwere Masse der Gewölbe nicht zu schwer belastet — behalten ihre charakteristische Würde und Anmut, und schließlich würde der Betrachter bei jedem Schritt die reizvollste Wirkung der Architektur erleben; diese reizvolle Wirkung, die daraus entsteht, daß unser Blick die einzelnen Gegenstände, die in verschiedenen Richtungen und symmetrisch verlaufen, nicht wahrnehmen kann, ohne daß diese Gegenstände sich scheinbar mit uns in Bewegung setzen — wir sie scheinbar zum Leben erweckt haben.

Durch eine Abfolge solcher architektonischer Anordnungen sind die Auflagepunkte meiner Kuppel so fest errichtet, daß ich sie außen mit einer doppelten und innen mit einer einfachen Säulenreihe schmücken kann. Ich machte mir diesen Vorteil zunutze, um einmal die Laterne der Kuppel sehr groß zu bauen und zum anderen, um den Innenraum der Kuppel, der eine Art Tempel bildet, abzugrenzen. Die Malerei in der Wölbung erstreckt sich entlang und hinunter der rückwärtigen Wand, vor der die Säulen frei stehen. Dadurch bekommen die Ausdehnung des Himmels und die Strahlenglorie, die Gewölbe und Kuppel schmücken, etwas unermeßlich Großes, und dies trägt ferner dazu bei, die Bekrönung des Bauwerks so leicht und schwerelos zu machen, wie es nur überhaupt möglich ist. Die sich im Zentrum des Bauwerkes befindende Kuppel ist so gestaltet, daß sie dem in den Tempel eintretenden Betrachter augenblicklich auffiele und seine Blicke durch ihren großartigen Eindruck, ihre Pracht und ihre Größe fesseln würde. Ohne die massiven Pfeiler, die in unseren modernen Kirchen gerade diesen wichtigen Teil versperren und im Eindruck herabsetzen, würde dieser Tempel durch die vereinte Wirkung der Säulenreihen und -stellungen, der Haupt- und Seitenschiffe wie die der Kuppel den ganzen Reichtum der Architektur darbieten; unendlich lange Säulenreihen als »Quinconce« angeordnet, würden diesen Reichtum insofern vervielfältigen, als sich der Blick in dieser reichen Fülle verlöre; die Wirkung von Optik und Perspektive, die die Säulenstellungen noch verlängern, böte uns — wie ich schon bemerkte — das Bild der Unendlichkeit.

Dieser den Priestern der Religion vorbehaltene Raumteil wird durch eine offene, schwerelos wirkende Kuppel bekrönt. Diese Kuppel erschiene als das Heiligtum Gottes, dessen Gegenwart ein herrlicher Strahlenkranz ankündigt. Drei Reihen Fenster, so angeordnet, daß man sie nicht sieht, verströmten in die Kuppel das hellste Licht. Dem Auge des Betrachters verborgen, irgendwie geheimnisvoll und ausschließlich in die Kuppel gerichtet, bewirkte dieses Licht den strahlendsten und überraschendsten Eindruck. Die leuchtenden Farbschattierungen der Malerei würden dadurch derart hervorgehoben, daß der Blick die blendende Wirkung dieser zauberhaften Eindrücke kaum ertragen könnte; dieses himmlische Bild, dessen Erhabenheit nur die Natur zum Ursprung hat, bewiese, daß, wenn es eine Kunst gibt, der es gelingt, die Natur zum Ausdruck zu bringen (mettre la nature en œuvre), diese Kunst ganz unbestritten als die vollendeteste gelten dürfte. […]

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