Eugenik und Verfassung - UNILU...The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National...

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ZBl 6/2010 297 Eugenik und Verfassung Regulierung eugenischer Wünsche von Eltern im freiheitlichen Rechtsstaat 1 Von Prof. Dr. iur. Bernhard Rütsche Inhaltsverzeichnis I. Eugenik früher und heute ................................................... 297 1. Eugenik als kollektives Programm ...................................... 298 2. Liberale Eugenik und ihre Methoden .................................... 300 3. Frage der technischen Machbarkeit ..................................... 302 II. Eugenik-Verbote im geltenden Recht .......................................... 304 1. Verbote auf Verfassungsstufe........................................... 305 2. Verbote auf Gesetzesstufe ............................................. 306 3. Frage nach der Legitimität der Verbote .................................. 309 III. Grundrecht auf Eugenik? ................................................... 311 1. Recht auf Verwirklichung des Kinderwunsches ........................... 312 2. Recht auf Erziehung der eigenen Kinder ................................. 312 3. Rechte von Kindern auf Integrität und Gesundheit ........................ 313 IV. Gründe für Eugenik-Verbote ................................................ 315 1. Schutz der Menschenwürde ........................................... 315 2. Schutz der Integrität .................................................. 317 3. Schutz der Freiheit ................................................... 319 4. Schutz der Gleichheit ................................................. 321 5. Schutz der reproduktiven Autonomie ................................... 324 6. Schutz der öffentlichen Ordnung ....................................... 325 V. Fazit ................................................................... 326 I. Eugenik früher und heute Eugenik ist für Viele ein Reizwort, wenn nicht gar ein Unwort, zumindest im deutschsprachigen Raum. Es scheint in unserer Gesellschaft einen Grundkon- sens zu geben, dass Eugenik etwas Verwerfliches ist. Das zeigt sich etwa darin, dass im politischen Diskurs die Warnung vor eugenischen Praktiken ein na- hezu unschlagbares Argument darstellt. So geisterte die Angst vor Eugenik und Menschenzucht immer wieder als Schreckensgespenst durch die parlamentari- schen Debatten über die Regulierung der Fortpflanzungsmedizin und der 1 Der vorliegende Beitrag ist eine erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung des Autors an der Universität Zürich vom 7. Dezember 2009. © Schulthess Juristische Medien AG, Zürich · Basel · Genf 2010

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Eugenik und Verfassung

Regulierung eugenischer Wünsche von Eltern im freiheitlichen Rechtsstaat1

Von Prof. Dr. iur. Bernhard Rütsche

InhaltsverzeichnisI. Eugenik früher und heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

1. Eugenik als kollektives Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2982. Liberale Eugenik und ihre Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3003. Frage der technischen Machbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

II. Eugenik-Verbote im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3041. Verbote auf Verfassungsstufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3052. Verbote auf Gesetzesstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3063. Frage nach der Legitimität der Verbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

III. Grundrecht auf Eugenik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3111. Recht auf Verwirklichung des Kinderwunsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3122. Recht auf Erziehung der eigenen Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3123. Rechte von Kindern auf Integrität und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

IV. Gründe für Eugenik-Verbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3151. Schutz der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3152. Schutz der Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3173. Schutz der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3194. Schutz der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3215. Schutz der reproduktiven Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3246. Schutz der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

I. Eugenik früher und heute

Eugenik ist für Viele ein Reizwort, wenn nicht gar ein Unwort, zumindest im deutschsprachigen Raum. Es scheint in unserer Gesellschaft einen Grundkon-sens zu geben, dass Eugenik etwas Verwerfliches ist. Das zeigt sich etwa darin, dass im politischen Diskurs die Warnung vor eugenischen Praktiken ein na-hezu unschlagbares Argument darstellt. So geisterte die Angst vor Eugenik und Menschenzucht immer wieder als Schreckensgespenst durch die parlamentari-schen Debatten über die Regulierung der Fortpflanzungsmedizin und der

1 Der vorliegende Beitrag ist eine erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung des Autors an der Universität Zürich vom 7. Dezember 2009.

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Gentechnologie2. Beispielsweise wurde das staatliche Verbot der Präimplanta-tionsdiagnostik mehrmals mit dem Hinweis verteidigt, dass mit deren Zulas-sung ein «Einfallstor für eugenische Überlegungen»3 geschaffen würde: Euge-nik als fatales Ende einer schiefen Ebene, auf die sich die Rechtsgemeinschaft unter keinen Umständen begeben darf.

1. Eugenik als kollektives Programm

Die zutiefst negative Konnotation des Begriffs «Eugenik» verdankt er seiner Geschichte. In den Sinn kommen zuerst die Gräuel des Nationalsozialismus, als im Namen einer monströsen Rassenideologie massenweise Menschen inter-niert, sterilisiert und vernichtet wurden. Die Geschichte der Eugenik ist jedoch keineswegs eine spezifisch deutsche Geschichte4. Die Eugenik war vielmehr eine internationale Bewegung, die sich um die vorletzte Jahrhundertwende in Europa und Nordamerika weit verbreitete5.

Geprägt wurde der Begriff «Eugenik» vom britischen Anthropologen Fran-cis Galton, einem Cousin von Charles Darwin. «Eugenik» setzt sich aus den altgriechischen Wörtern eu und genos zusammen, was wörtlich «gutes Ge-schlecht» oder «gutes Erbe» heisst. Galton definierte Eugenik in einer Schrift von 1883 als «Wissenschaft von der Verbesserung der Rasse, die sich keines-wegs auf die Frage sinnvoller Paarung beschränkt, sondern sich – vor allem in Bezug auf den Menschen – mit allen Faktoren befasst, die auch nur im Entfern-testen dazu beitragen, dass sich die besseren Rassen oder Stämme rasch gegen die schlechteren durchsetzen können»6. Aus Galtons Wissenschaft wurde eine eigentliche gesellschaftliche Reformbewegung, die sich mit dem Sozialdarwi-

2 Exemplarisch die Debatte zum Verfassungsartikel über die Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie (Art. 24novies aBV) von 1990/91: AB 1990 S 478, 488 (Piller); AB 1991 N 564 (Stocker), 566 (Fankhauser), 592 (Iten), 593 (Hafner), 594 (Haller), 604 (Leutenegger Ober-holzer), 611 (Thür).

3 AB 1998 N 1409 (Grossenbacher); AB 2002 N 347 (Studer); AB 2005 N 912 (Studer).4 Marcel Senn, Neue Rechtstheorien nach Massgabe von Rassenlehren und Sozialdarwinismus

zwischen 1860 und 1914, in: Ignacio Czeguhn/Eric Hilgendorf/Jürgen Weitzel (Hrsg.), Eugenik und Euthanasie 1850–1945, Baden-Baden 2009, 27–41, S. 29, mit Hinweisen auf eugenische Elemente im Werk des schweizerischen Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli (S. 27 f., 31).

5 Die Geschichte der Eugenik-Bewegung ist gut aufgearbeitet; vgl. namentlich Paul Weindling, Health, Race and German Politics Between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge, UK 1989; Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Ge-schichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992; Stefan Kühl, The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National Socialism, New York 1994; Daniel J. Kevles, In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human He-redity, Cambridge, MA 1995; Richard Fuchs, Life Science. Eine Chronologie von den Anfän-gen der Eugenik bis zur Humangenetik der Gegenwart, Berlin 2008.

6 Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and Its Development, London 1883, S. 17 Anm. 1 (Übersetzung durch den Autor).

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nismus sowie mit Rassen- und Degenerationstheorien zu einem konfusen und gefährlichen ideologischen Gemisch verband7.

Eugenisch motivierte Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen fan-den noch Ende des 19. Jahrhunderts statt, und zwar namentlich in der psych-iatrischen Klinik Burghölzli in Zürich unter deren Direktor Auguste Forel, einem überzeugten Anhänger der Entartungslehre und Verfechter der Rassen-hygiene8. Die ersten Gesetze, die Zwangssterilisationen aus eugenischen Grün-den erlaubten, wurden im frühen 20. Jahrhundert in verschiedenen Bundes-staaten der USA erlassen9. Der amerikanische Supreme Court kam in seiner Entscheidung Buck v. Bell von 1927 zum Schluss, dass diese Gesetze vor der Verfassung standhalten10. In der Schweiz wurde 1929 im Kanton Waadt eine gesetzliche Grundlage für eugenische Sterilisationen von geisteskranken oder geistesschwachen Personen geschaffen11.

Als soziales und politisches Programm ist die Eugenik ein Kind des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Traum, durch Menschenzüchtung die eigene Art zu vervollkommnen, ist jedoch viel älter. Eine erste Ausformulierung findet sich in Platons Werk Der Staat. Platon sah es als Aufgabe der herrschenden Philosophen, mittels Täuschung und Zwangsmassnahmen dafür zu sorgen, dass die Qualität der Nachkommen innerhalb des Wehrstandes gesichert ist12. Dabei nahm er wohl Anleihen an der in Sparta geübten eugenischen Praxis13. Ähnliche Vorstellungen sind rund zweitausend Jahre später in Sonnenstadt von Tommaso Campanella von 1602 nachzulesen. So machen sich die Bürger der Sonnenstadt darüber lustig, dass wir uns sorgfältig auf die Rasseverbesserun-

7 Weingart/Kroll/Bayertz (Anm. 5), S. 66 ff., 103 ff.8 Fuchs (Anm. 5), S. 108. Sodann zur Geschichte eugenisch motivierter Sterilisationen in der

Schweiz Roswitha Dubach, Die Sterilisation als Mittel zur Verhütung «minderwertiger» Nach-kommen (Ende 19. Jh. bis 1945), SÄZ 82 (2001) Nr. 3 (betreffend die Klinik Königsfelden); Anna Gossenreiter, Die Sterilisation in den 1920er und 1930er Jahren als Sozialpolitik und medizinisches Mittel, in: Rudolf Jaun/Brigitte Studer (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken, Zürich 1995.

9 Fuchs (Anm. 5), S. 105: 1907 in Indiana und innerhalb der nächsten zehn Jahre in 16 weiteren Bundesstaaten. Bis 1939 hatten 30 von 48 Bundesstaaten solche Gesetze.

10 274 U.S. 200 (1927), mit der berüchtigten Schlussfolgerung von Justice Holmes: «Three gene-rations of imbeciles are enough.» (207).

11 Die Bestimmung blieb bis 1985 in Kraft und besagte, dass «an einer geisteskranken oder geistesschwachen Person medizinische Eingriffe zur Kindsverhütung vorgenommen wer-den können, wenn diese Person anerkanntermassen unheilbar ist und aller Voraussicht nach nur ungesunden Nachwuchs hervorbringen kann» (vgl. Bericht der Kommission für Rechts-fragen des Nationalrates vom 23. Juni 2003 «Zwangssterilisationen. Entschädigung der Opfer», BBl 2003 6316; französischer Originalwortlaut in FF 2003 5785). Zur Anwendung der Bestimmung Gilles Jeanmonod/Jacques Gasser/Geneviève Haller, La stérilisation légale des ma-lades et infirmes mentaux dans le canton de Vaud entre 1928 et 1985, Rapport de l’Institut romand d’Histoire de la Médecine et de la Santé, Juni 1998.

12 Platon, Der Staat, Stuttgart 2000, Übersetzung von «Politeia» (ca. 370 v. Chr.), 5. Buch Kap. 8–9.

13 Weingart/Kroll/Bayertz (Anm. 5), S. 28.

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gen der Hunde und der Pferde verlegen, dagegen unser eigenes menschliches Geschlecht vernachlässigen. Entsprechend gibt es in der Sonnenstadt einen für das Zeugungsgeschäft zuständigen Minister14.

2. Liberale Eugenik und ihre Methoden

Diese wenigen Hinweise lassen erkennen, dass sich eugenische Utopien in der Geschichte der zivilisierten Menschheit immer wieder Bahn gebrochen haben. Leider sind solche Utopien nicht in den Köpfen geblieben, sondern auf inhu-manste Weise in die Tat umgesetzt worden. Diese dunklen Schatten der Ge-schichte mahnen zur Vorsicht, wenn wir heute zu den Mitteln der modernen Gentechnologie greifen, um auf das Erbgut unserer Nachkommen Einfluss zu nehmen.

Bei aller gebotenen Vorsicht ist aber zu bedenken, dass die Gentechnik wie jede Technik an sich ein blosses Instrument ist, das für verschiedene Zwecke eingesetzt werden kann, und dass die Zwecke, die in der gegenwärtigen me-dizinischen Praxis verfolgt werden, mit eugenischen Utopien nichts zu tun haben. Das Ziel pränataler genetischer Interventionen ist nicht die Stärkung einer Rasse oder einer Nation, um im sozialdarwinistischen Überlebenskampf die Oberhand zu gewinnen. Es geht nicht darum, den Genpool der Bevölke-rung zu verbessern. Massgebend ist vielmehr der Wunsch von werdenden Eltern, gesunde Kinder zu haben. Auf dem Spiel steht die Verwirklichung privater, nicht öffentlicher Interessen. Die Anwendung gentechnologischer Methoden soll allein Sache autonomer elterlicher Entscheidung sein. Das bedeutet, dass Einwirkungen auf das Erbgut dezentral erfolgen, ohne staatliches Programm und ohne staatlichen Zwang oder Druck.

Man mag sich fragen, ob eine solche Einflussnahme auf das Erbgut der Nachkommen mangels kollektiver Zielsetzung überhaupt noch als «Eugenik» bezeichnet werden kann. In der Literatur, vor allem in philosophischen Texten, hat es sich jedoch eingebürgert, von «liberaler Eugenik» zu sprechen15. Zum Teil ist auch von «privater» Eugenik im Gegensatz zu «staatlicher» oder «öffentli-cher» Eugenik die Rede. Die Begriffswahl ist jedoch nicht entscheidend. Ent-scheidend ist vielmehr, dass die Unterschiede der heutigen gentechnologischen Praxis zu jeder Art von eugenischer Politik16 klar vor Augen gehalten und falsche historische Assoziationen vermieden werden.

14 Tommaso Campanella, Die Sonnenstadt, Stuttgart 2008, Übersetzung von «Città del Sole» (1602), S. 11 f.

15 Namentlich Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. erw. Aufl., Frankfurt a.M. 2002; Nicholas Agar, Liberal Eugenics. In Defence of Human Enhancement, Malden, MA etc. 2004.

16 Zu diesen Unterschieden eingehend Allen Buchanan/Dan W. Brock/Norman Daniels/Daniel Wikler, From Chance to Choice. Genetics and Justice, Cambridge, UK 2000, S. 46 ff.; Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, München 2004, Übersetzung von «Our Posthuman

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Eine liberale Eugenik kann auf verschiedene, unterschiedlich wirksame gentechnologische und reproduktionsmedizinische Methoden zurückgreifen. Seit län-gerem etabliert sind die verschiedenen Methoden der Pränataldiagnostik, die über genetische Veranlagungen des Embryos oder Fötus Auskunft geben. Das Erbgut der Nachkommen wird dabei insofern gesteuert, als die Ergebnisse einer Pränataldiagnostik Grund für einen Schwangerschaftsabbruch und allen-falls eine neue Schwangerschaft sein können. Eine neuere Untersuchungsme-thode, die sich auf das Erbgut der Kinder auswirkt, ist die Präimplantations-diagnostik. Dabei werden Embryonen in vitro vor ihrer Einpflanzung in eine Gebärmutter genetisch untersucht und gestützt darauf selektioniert17. Weitere Methoden sind die Auswahl von Keimzellen, von Keimzellenspendern oder von Embryonenspendern. Dies kann systematisch erfolgen, indem sich Keim-zellen- oder Embryonenbanken auf bestimmte Spender spezialisieren, bei-spielsweise auf solche mit hervorragendem Universitätsabschluss18. Ferner könnte auch das reproduktive Klonen mittels Zellkerntransfer für eugenische Zwecke eingesetzt werden. Mittels dieser Methode liessen sich Kinder erzeu-gen, die mit einem bereits geborenen Spender oder einer Spenderin genetisch identisch sind19.

Die Methoden der Selektion von Embryonen, Keimzellen oder Spendern wirken sich alle indirekt auf das Erbgut der Nachkommen aus. Demgegenüber könnten Interventionen in das genetische Material von Keimzellen und Emb-ryonen das Erbgut der Nachkommen direkt beeinflussen20. Die Rede ist von sog. «Keimbahninterventionen». Dabei werden entweder neue Gene in Keimbahn-zellen eingeführt oder vorhandene Gene deaktiviert.

Die heutigen gentechnischen Methoden versetzen uns in die Lage, die na-türlichen Anlagen unserer Kinder mit einer Zielgenauigkeit zu steuern, wie es sich die alten Eugeniker nicht hätten träumen lassen. Für die moralische Be-wertung dieser Methoden ist entscheidend, für welche Ziele wir sie einsetzen. Primäres Ziel ist sicherlich die Verhinderung von Krankheiten und Behinde-

Future. Consequences of the Biotechnology Revolution» (2002), S. 126 ff.; Michael J. Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion, Berlin 2008, Übersetzung von «The Case against Perfection» (2007), S. 96 ff.

17 Zu den Zielen und Methoden der Präimplantationsdiagnostik Nationale Ethikkommission (NEK-CNE), Stellungnahme Nr. 10/2005, Präimplantationsdiagnostik, Bern 2005, S. 11 ff.

18 Berühmt geworden ist die vom eugenisch gesinnten amerikanischen Millionär Robert K. Graham 1980 eröffnete, auf hochintelligente Spender spezialisierte Samenbank «Repository for Germinal Choice». Die Samenbank wurde nach Grahams Tod von den Erben 1999 ge-schlossen (vgl. Sandel [Anm. 16], S. 94). Heute existieren in den USA und anderen Ländern mehrere Banken, die Samen- und Eizellen exzellenter Spender und Spenderinnen anbie-ten.

19 Vgl. Art. 1 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin über das Ver-bot des Klonens von menschlichen Lebewesen vom 12. Januar 1998 (SR 0.810.21).

20 Zur Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Interventionen Buchanan/Brock/ Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 6.

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rungen. Werdende Eltern lassen eine Pränatal- oder Präimplantationsdiagnos-tik in der Regel deshalb durchführen, weil sie kein Kind mit einer schweren Behinderung wollen. Solche Eingriffe, die sich gegen genetische Veranlagungen zu bestimmten Krankheiten oder Behinderungen richten, werden üblicher-weise als «negative Eugenik» bezeichnet21.

Im Unterschied dazu setzt sich eine «positive Eugenik» zum Ziel, nicht-pa-thologische Eigenschaften der Nachkommen mittels Gentechnologie zu beein-flussen – in erster Linie zu verbessern22. Im englischen Sprachraum wird auch von genetischem Enhancement, also genetischer Verbesserung oder Optimie-rung, gesprochen. Optimieren lässt sich prinzipiell alles am Menschen, sein Körper, sein Geist, seine Psyche oder auch seine Charakteranlagen. Der Phan-tasie sind kaum Grenzen gesetzt: mehr Kraft und Ausdauer, längere Lebenser-wartung, besseres Immunsystem, besseres Gedächtnis, bessere Konzentrations-fähigkeit, mehr Empathie oder weniger Gewaltbereitschaft.

3. Frage der technischen Machbarkeit

Die erwähnten Methoden einer liberalen Eugenik sind teilweise fester Bestand-teil der reproduktionsmedizinischen Praxis, teilweise aber auch erst im Ver-suchsstadium oder gar nur vorgestellte Anwendungsmöglichkeiten. Die Methoden der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik wie auch der Keim-zellenselektion werden zur Verhinderung genetisch bedingter Krankheiten und Behinderungen standardmässig angewendet. Demgegenüber sind Keimbahn-interventionen und reproduktives Klonen zwar schon an Tieren, soweit ersicht-lich aber noch nie am Menschen versucht worden23.

Ob und inwieweit gentechnologische Methoden für eugenische Zwecke eingesetzt werden können, hängt generell davon ab, wie eng bestimmte Eigen-

21 Der Begriff «negative Eugenik» wird häufig auch unspezifischer verwendet, nämlich im Sinne von Massnahmen, die sich gegen die Vererbung von unerwünschten Eigenschaften ge-nerell richten. Im Hinblick auf die regulatorischen Unterscheidungen im geltenden Recht (dazu hinten Kap. II) ist indessen eine spezifische Verwendung im Sinne von Massnahmen, die sich gegen die Vererbung von Krankheiten oder Behinderungen richten, adäquater.

22 Zur Unterscheidung zwischen negativen und positiven genetischen Interventionen nament-lich Jonathan Glover, Questions About Some Uses of Genetic Engineering (1984), in: Bioethics. An Anthology, Edited by Helga Kuhse/Peter Singer, 2nd Edition, Oxford etc. 2006, 187–197, S. 189 ff.; Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 104 ff.

23 Zu Keimbahninterventionen bei Mäusen Ya-Ping Tang et al., Genetic Enhancement of Learn-ing and Memory in Mice, Nature 401 (1999), 63–69; Antonio Musarò et al., Localized Igf-1 Transgene Expression Sustains Enlargement and Regeneration in Senescent Skeletal Muscle, Nature Genetics 27 (2001), 195–200. Zum Klonen von Schafen mittels Zellkerntransfer Ian Wilmut et al., Viable Offspring Derived from Fetal and Adult Mammalian Cells, Nature 385 (1997), 810–813.

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schaften mit einzelnen Genen zusammenhängen24. Enge Zusammenhänge mit einzelnen Genen sind vor allem bei pathologischen Eigenschaften bekannt. Im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik können bereits über 30 monogeneti-sche Krankheiten untersucht werden, das heisst Krankheiten, deren Ursachen auf Mutationen einzelner Gene zurückzuführen sind25. Aber auch nicht-patho-logische Eigenschaften können durch einzelne Gene bedingt sein. So berichtete die Zeitschrift Science neulich von einem Gen, das die Länge des Schlafs regu-liert. Eine Mutation in diesem Gen führt dazu, dass Menschen dauerhaft nur höchstens sechs statt der normalen acht bis neun Stunden Schlaf brauchen, um voll ausgeruht zu sein26.

Dennoch scheinen die genetischen Ursachen nicht-pathologischer Eigen-schaften in der Regel weit komplexer zu sein als jene von Krankheiten. Ent-sprechend werden die Ziele einer positiven Eugenik technisch schwieriger zu erreichen sein als jene einer negativen Eugenik. Hinzu kommt die Schwierig-keit, dass die gleichen Gene für ganz unterschiedliche – erwünschte und uner-wünschte – Eigenschaften verantwortlich sein können. So verleiht etwa die Sichelzellenanämie, eine erbliche Erkrankung der roten Blutkörperchen, zu-gleich eine Resistenz gegen Malaria27. Oder bei Mäusen wurde beobachtet, dass eine gentechnologische Verstärkung der Gedächtnisleistung zu einer höheren Schmerzempfindlichkeit führte28.

Bei alledem ist mit Nachdruck zu betonen, dass Gene nur einer von mehre-ren Faktoren sind, welche die Ausbildung von Eigenschaften beeinflussen. Gene sind lediglich biologische Veranlagungen. Ob und wie sich Gene bei einer Person tatsächlich manifestieren, wird durch Erziehung, Lebensweise, Essge-wohnheiten und andere Einflüsse von Kultur und Umwelt mitbestimmt. Zwi-schen Genotyp und Phänotyp besteht keine direkte und exklusive Kausalität, der Mensch ist nicht genetisch determiniert29. Der Sache nahe kommt das Bild einer genetischen Leine, wonach Gene eine Bandbreite setzen, innerhalb der sich Eigenschaften ausbilden können30. Bemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass sowohl einstige Verfechter eugenischer Programme wie auch gegenwärtige

24 Dazu Elliot Sober, The Meaning of Genetic Causation, in: Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), 347–370.

25 Nationale Ethikkommission (Anm. 17), S. 12 f.26 Ying-Hui Fu et al., The Transcriptional Repressor DEC2 Regulates Sleep Length in Mammals,

Science 325 (2009), 866–870.27 Zu diesem Beispiel Glover (Anm. 22), S. 192.28 Zu diesem und weiteren Beispielen Agar (Anm. 15), S. 31 f., 107 f.29 Das zeigen nur schon die physischen und psychischen Unterschiede zwischen eineiigen

Zwillingen (dazu namentlich Lawrence Wright, Twins and What They Tell Us about Who We Are, New York 1997).

30 Edward O. Wilson, On Human Nature, Cambridge, MA 2004, S. 167: «The genes hold culture on a leash.»

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Fundamentalgegner einer liberalen Eugenik häufig von falschen Vorstellungen eines genetischen Determinismus ausgingen bzw. ausgehen31.

Mit Blick auf die ethische und rechtliche Diskussion liberaler Eugenik gilt es, die Möglichkeiten der Gentechnologie realistisch einzuschätzen. Übertrie-bener Machbarkeitsglaube ist genauso fehl am Platz wie prinzipieller Skepti-zismus. Adäquat erscheint eine Haltung, die man als pragmatischen Optimis-mus32 bezeichnen kann. Danach sind solche technischen Methoden ins normative Kalkül einzubeziehen, die im günstigsten Fall in absehbarer Zukunft bis zum Stadium der sicheren und wirksamen Anwendung entwickelt werden können. Als Beurteilungsgrundlage dient dabei das gegenwärtig vorhandene Grundlagenwissen. Nur ein solcher pragmatischer Optimismus kann gewähr-leisten, dass die Moral- und Rechtsgemeinschaft argumentativ gewappnet ist, wenn eine Technik morgen oder übermorgen zum Durchbruch gelangt. Was die Gentechnologie betrifft, ist im günstigsten Fall namentlich mit der Möglich-keit zu rechnen, dass in den nächsten Jahrzehnten Keimbahninterventionen auf den Menschen angewendet und auch für bestimmte Verbesserungen des Nach-wuchses eingesetzt werden können33.

II. Eugenik-Verbote im geltenden Recht

Richten wir nun den Fokus auf das geltende Recht. Zunächst stellt sich die Frage, wie die Methoden und Ziele einer liberalen Eugenik rechtlich geregelt sind. Die Regierungen verschiedener westlicher Staaten wurden im Laufe der 1980er-Jahre auf die Entwicklungen in der modernen Gentechnologie aufmerk-sam und setzten zur Abklärung des Regelungsbedarfs Expertenkommissionen ein34. In der Schweiz war es die nach ihren Vorsitzenden benannte «Amstad-Kommission», die 1988 einen Bericht über die Fortpflanzungsmedizin und die Gentechnologie vorlegte35. Auf der Basis dieses Berichtes erarbeitete das Parla-ment einen Verfassungsartikel, in den auch Regelungen zur Frage der Eugenik Eingang fanden und der 1992 als Art. 24novies (heute Art. 119 BV36) in Kraft trat.

31 Zu den ideologischen Funktionen eines genetischen Determinismus Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 24 ff.

32 So Agar (Anm. 15), S. 20.33 Vgl. bereits Amstad-Bericht, Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedi-

zin, Bericht vom 19. August 1988, BBl 1989 III 1053: «Es gibt keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass derartige Eingriffe [Genmanipulationen] beim Menschen undurchführbar wären.»

34 Die erste dieser Kommissionen war das 1982 von der englischen Regierung eingesetzte sog. «Warnock Committee» (Mary Warnock, A Question of Life, The Warnock Report on Human Fertilisation & Embryology, Oxford/New York 1985).

35 Amstad-Bericht (Anm. 33).36 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101).

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Der Bundesgesetzgeber normierte erstmals im Fortpflanzungsmedizingesetz von 199837 den Umgang mit bestimmten gentechnologischen Methoden. In den letzten Jahren haben sich, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, weitere Gesetze und Gesetzesprojekte mit der Regelung einzelner Aspekte der Gentechnologie im Humanbereich befasst.

1. Verbote auf Verfassungsstufe

Der erwähnte Art. 119 BV statuiert eine Reihe von Verboten im Bereich der Fortpflanzungsmedizin und der Gentechnologie. Für die Eugenik-Frage rele-vant sind zunächst die Verbote in Art. 119 Abs. 2 Bst. a BV:

«Alle Arten des Klonens und Eingriffe in das Erbgut menschlicher Keimzellen und Embryonen sind unzulässig.»

Damit sind die Methoden des Klonens und der Keimbahnintervention schon auf Verfassungsstufe absolut untersagt, unabhängig davon, ob sie therapeutische Ziele verfolgen oder der Optimierung dienen38. Interessant ist die Art und Weise, wie der Verfassungsgeber das Verbot von Keimbahninterventionen be-gründete. In den parlamentarischen Verhandlungen von 1990/91 wurde her-vorgehoben, dass mit diesem Verbot einer Praxis der Menschenzüchtung, das heisst einer positiven Eugenik, ein Riegel geschoben werden sollte. Der Ver-fassungsgeber wollte keine Menschen nach Mass, weil dies mit der Menschen-würde unvereinbar wäre39. Dieses Argument hätte an sich nicht gegen Keimbahninterventionen zu therapeutischen Zwecken gesprochen. Die Keim-bahntherapie wurde aber vor allem deshalb dem Verbot unterstellt, weil be-fürchtet wurde, dass die Technik für Perfektionierungsbestrebungen miss-braucht werden könnte40.

Dass positive Eugenik verfassungsrechtlich verpönt ist, zeigt sich noch deutlicher in einer anderen verfassungsrechtlichen Verbotsnorm, und zwar in Art. 119 Abs. 2 Bst. c BV. Der erste Satz dieser Bestimmung lautet:

37 Bundesgesetz vom 18. Dezember 1998 über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz; SR 810.11).

38 Die Verbote sind auch staatsvertraglich abgesichert, und zwar in Art. 13 Übereinkommen vom 4. April 1997 zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin; SR 0.810.2) und in Art. 1 Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens (Anm. 19).

39 AB 1991 N 598 (Koller, Bundesrat). Ebenso bereits Amstad-Bericht (Anm. 33), S. 1129 f.40 AB 1990 S 488 (Piller). Sodann wurde argumentiert, dass die Gentherapie an Keimzellen

und Embryonen unsicher und risikobehaftet sei und deren Entwicklung unzähliger Embryo-nenexperimente bedürfte (Amstad-Bericht [Anm. 33], S. 1129; Rainer J. Schweizer, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Bd. I, Basel/Zürich/Bern 1995, Art. 24novies Abs. 1 und 2 aBV, Rz. 57).

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«Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht an-ders behoben werden kann, nicht aber um beim Kind bestimmte Eigenschaften herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben».

Danach ist die Anwendung fortpflanzungsmedizinischer Verfahren unter anderem zulässig, um schwere Krankheiten zu verhindern, nicht aber um erwünschte Eigenschaften herbeizuführen. Diese Regelung betrifft die Auswahl von Keim-zellen und Keimzellenspendern sowie die Präimplantationsdiagnostik, während die anderen Methoden einer liberalen Eugenik im Rahmen der Fortpflanzungs-medizin – das Klonen, Keimbahninterventionen und die Em bry onenspende – auf Verfassungsstufe selber verboten sind (Art. 119 Abs. 2 Bst. a und d BV).

2. Verbote auf Gesetzesstufe

Die unterschiedliche verfassungsrechtliche Bewertung von negativer und po-sitiver Eugenik zieht sich wie ein roter Faden auch durch das Gesetzesrecht. In Konkretisierung von Art. 119 Abs. 2 Bst. c BV beschränkt das Fortpflanzungs-medizingesetz die Indikationen für die Anwendung von Fortpflanzungsverfah-ren auf die Behandlung von Unfruchtbarkeit und die Abwendung der Gefahr, dass eine schwere, unheilbare Krankheit auf die Nachkommen übertragen wird (Art. 5 Abs. 1 FMedG). Für die Auswahl von Keimzellen41 im Speziellen be-stimmt Art. 5 Abs. 2 FMedG:

«Durch die Auswahl von Keimzellen dürfen das Geschlecht oder andere Eigenschaften des zu zeugenden Kindes nur beeinflusst werden, wenn die Gefahr, dass eine schwere, unheilbare Krankheit auf die Nachkommen übertragen wird, anders nicht abgewendet werden kann.»

Von dieser Vorschrift ausgenommen ist die Auswahl von gespendeten Samen-zellen nach der Blutgruppe und der Ähnlichkeit der äusseren Erscheinung des Spenders mit dem sozialen Vater (Art. 22 Abs. 4 FMedG). Die letztgenannte Ausnahme hat aber nichts mit positiver Eugenik zu tun, sondern mit dem Schutz der Familie: Es soll nicht für jedermann offensichtlich sein, dass nicht der Ehemann der Mutter, sondern ein Dritter der genetische Vater des Kindes ist42.

Nach geltendem Recht ist nur die Spende von Samenzellen, nicht aber von Eizellen zulässig (Art. 4 FMedG). Die Auswahl von Samenspendern ist in Art. 19 Abs. 1 FMedG wie folgt geregelt:

41 Unter Keimzellen werden gemäss Art. 2 Bst. e FMedG Samen- und Eizellen verstanden. Die Vorschrift zur Auswahl von Keimzellen ist a fortiori auch auf die Auswahl von befruchteten Eizellen vor der Kernverschmelzung, sog. «imprägnierte Eizellen» (Art. 2 Bst. h FMedG), anzuwenden. Damit untersteht die Methode der Polkörperdiagnostik ebenfalls Art. 5 Abs. 2 FMedG (zu dieser Methode namentlich Bruno Imthurn et al., Preimplantation Diagnosis in Switzerland – Birth of a Healthy Child after Polar Body Biopsy, Swiss Medical Weekly 134 [2004], 259–261).

42 BBl 1996 III 268.

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«Spender müssen nach medizinischen Gesichtspunkten sorgfältig ausgewählt werden; nament-lich müssen gesundheitliche Risiken für die Empfängerin der gespendeten Samenzellen so weit wie möglich ausgeschlossen sein. Andere Auswahlkriterien sind verboten.»

Aufgrund dieser Regelung wäre eine Nobelpreisträger-Samenbank in der Schweiz auf jeden Fall widerrechtlich. Nicht ohne weiteres klar ist dagegen, ob mit der Auswahl von Spendern «nach medizinischen Gesichtpunkten» auch Untersuchungen von Spendern auf Erbkrankheiten erfasst sind. Der Wortlaut der Bestimmung lässt eine solche Interpretation zu, ist doch das Ziel, gesundheit-liche Risiken für die Empfängerin auszuschliessen, nur als Beispiel erwähnt. Auch die Systematik des Gesetzes stützt diese Interpretation. Denn die Gefahr, dass eine Erbkrankheit übertragen wird, ist in Art. 5 Abs. 1 FMedG ausdrück-lich als medizinische Indikation für Fortpflanzungsverfahren anerkannt. Ent-scheidend ist letztlich, welche Spenderuntersuchungen zum reproduktionsme-dizinischen Standard gehören. Für die Europäische Union ist dieser Standard in einer Kommissionsrichtlinie detailliert festgelegt. Danach ist ein «genetisches Screening auf autosomale rezessive Gene, die nach internationalen wissen-schaftlichen Erkenntnissen bekanntermassen zum ethnischen Erbe des Spen-ders gehören, und eine Prüfung des Übertragungsrisikos für in der Familie bekannte Erbkrankheiten nach Zustimmung des Betroffenen durchzuführen»43. Art. 19 Abs. 1 FMedG ist im Lichte dieses Standards auszulegen, damit im Interesse von Paaren so weit wie möglich verhindert werden kann, dass Erb-krankheiten auf das gewünschte Kind übertragen werden.

Von Interesse für die Eugenik-Frage ist weiter die Regelung der Präimplan-tationsdiagnostik. Art. 5 Abs. 3 FMedG verbietet diese Methode, das heisst die Untersuchung des Erbgutes von Embryonen in vitro. Der Gesetzgeber befürch-tete, dass eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik mit der «Gefahr unerwünschter Selektion» verbunden wäre und zu einem «Automatismus zwischen einem mutmasslichen genetischen Schaden und der Verwerfung des ungeborenen Lebens» führen würde44. Das Verbot der Präimplantationsdiag-nostik war also massgebend von der Angst vor eugenischen Tendenzen dik-tiert. Mittlerweile hat der Bundesrat aufgrund einer parlamentarischen Motion von 200445 eine Gesetzesvorlage erarbeitet, die eine Lockerung des Verbots vorsieht46. Danach soll die Untersuchung des Erbgutes von Embryonen in vitro in jenen Fällen erlaubt sein, in denen ein Paar Gefahr läuft, ein Kind mit einer schweren Krankheit zu bekommen. Tabu bleibt dagegen die genetische Untersu-

43 Richtlinie 2006/17/EG vom 8. Februar 2006, Anhang III Ziff. 3.6.44 BBl 1996 III 257.45 Motion der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates vom

2. September 2004 (04.3439): Zulassung Präimplantationsdiagnostik. Angenommen im Na-tionalrat am 16. Juni 2005 mit einem Stimmenverhältnis von 92 zu 63 (AB 2005 N 921), im Ständerat am 13. Dezember 2005 mit einem Stimmenverhältnis von 24 zu 18 (AB 2005 S 1131).

46 BBl 2009 1118 (Vernehmlassungsvorlage vom 18. Februar 2009).

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chung von Eigenschaften, die nichts mit einer schweren Krankheit zu tun haben.

Die unterschiedliche Bewertung von negativer und positiver Eugenik kommt auch im Bereich der pränatalen Untersuchungen während der Schwangerschaft zum Ausdruck. Das Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen47 bestimmt in Art. 11 Folgendes:

«Es ist verboten, pränatale Untersuchungen durchzuführen, die darauf abzielen:

a. Eigenschaften des Embryos oder des Fötus, welche dessen Gesundheit nicht direkt beein-trächtigen, zu ermitteln; oder

b. das Geschlecht des Embryos oder des Fötus zu einem anderen Zweck als der Diagnose einer Krankheit festzustellen.»

Mit dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber der Idee von Kindern nach Mass eine klare Absage erteilen48. Dagegen sind pränatale Untersuchungen generell erlaubt, wenn sie auf die Feststellung von Krankheiten abzielen. Für pränatale Untersuchungen des Erbgutes verlangt der Gesetzgeber eine geneti-sche Beratung. Diese darf nur der individuellen und familiären Situation der schwangeren Frau und nicht allgemeinen gesellschaftlichen Interessen Rech-nung tragen (Art. 14 Abs. 2 GUMG). Zudem muss die schwangere Frau gemäss Art. 15 Abs. 1 GUMG vor und nach einer genetischen Untersuchung ausdrück-lich auf ihr Selbstbestimmungsrecht hingewiesen werden. Wird beim Ungebo-renen eine schwerwiegende unheilbare Störung festgestellt, so ist die Frau auch über Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch zu informieren und auf Ver-einigungen von Eltern behinderter Kinder sowie Selbsthilfegruppen auf-merksam zu machen (Art. 15 Abs. 3 GUMG). Mit diesen Vorgaben will der Ge setzgeber sicherstellen, dass der Entscheid der Frau über einen Schwanger-schaftsabbruch infolge eines unerwünschten Untersuchungsergebnisses nicht einem Automatismus gehorcht, sondern möglichst frei und ohne sozialen Druck erfolgt.

Die bisher behandelten Gebiete betreffen alle die Anwendung gentechnolo-gischer Verfahren. Die staatliche Regulierung setzt indessen bereits früher an, nämlich bei der Forschung. So regelt das Stammzellenforschungsgesetz49 die zulässigen Ziele von Forschungsprojekten mit embryonalen Stammzellen. Die massgebende Bestimmung in Art. 12 Bst. a StFG lautet:

«Ein Forschungsprojekt mit embryonalen Stammzellen darf nur durchgeführt werden, wenn:

a. mit dem Projekt wesentliche Erkenntnisse erlangt werden sollen:

1. im Hinblick auf die Feststellung, Behandlung oder Verhinderung schwerer Krankheiten des Menschen, oder

2. über die Entwicklungsbiologie des Menschen;»

47 Bundesgesetz vom 8. Oktober 2004 über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG; SR 810.12).

48 BBl 2002 7410.49 Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003 über die Forschung an embryonalen Stammzellen

(Stammzellenforschungsgesetz, StFG; SR 810.31).

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Demzufolge wären Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen, mit denen Erkenntnisse über eine Optimierung menschlicher Eigenschaften erlangt werden sollen, gesetzeswidrig. Eine eigens auf die Forschung zu genetischem Enhancement abzielende Regelung enthält sodann der Bundesratsentwurf eines neuen Humanforschungsgesetzes vom 21. Oktober 200950. Dieser hält in Art. 24 für Forschung mit Embryonen oder Föten in vivo fest: «Forschungspro-jekte, die eine Änderung von Eigenschaften des Embryos oder des Fötus ohne Bezug zu einer Krankheit zum Ziel haben, sind unzulässig.»51

3. Frage nach der Legitimität der Verbote

Die dargestellten Regelungen lassen die Werthaltung des Verfassungs- und des Gesetzgebers in der Eugenik-Frage deutlich erkennen. Verfassungs- und Ge-setzgeber wollen eine liberale Eugenik, die im Interesse von Individuen prak-tiziert wird, nicht generell untersagen. Vielmehr sind die Methoden einer ne-gativen Eugenik, die der Verhinderung von Erbkrankheiten dienen, soweit zugelassen, als mit ihnen nach dem Urteil des Gesetzgebers nicht die Gefahr von Missbräuchen oder eines Dammbruchs hin zu einer positiven Eugenik verbunden ist. Ohne Ausnahme verboten ist dagegen positive Eugenik.

Aus einer historischen Perspektive ist dieser Befund einigermassen erstaun-lich. Denn die im Namen eugenischer Ideologien begangenen Verbrechen waren primär vom Wahn geleitet, schlechtes Erbgut auszumerzen52. Von daher erscheint zumindest auf den ersten Blick paradox, dass in der gegenwärtigen Diskussion praktisch nur die positive Eugenik, nicht aber die negative Eugenik mit den abscheulichen Ereignissen der Vergangenheit verglichen wird53. Histo-rische Vergleiche sind jedoch keine moralischen Argumente und schon gar keine verfassungsrechtlichen. Und solche Argumente gilt es nun zu bespre-chen. Die Frage lautet: Ist die differenzierte rechtliche Bewertung von negativer und positiver Eugenik gut begründet? Ist es legitim, positive Eugenik generell zu verbieten?

Die Frage nach der Legitimität der Eugenik-Verbote ist im hiesigen politi-schen Diskurs bislang kaum ernsthaft gestellt worden. Für die öffentliche Meinung erscheinen Bestrebungen nach genetischer Verbesserung unserer

50 BBl 2009 8163 ff.51 Zu dieser Bestimmung BBl 2009 8116.52 Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz (Anm. 5), S. 528 f., 560; Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16),

S. 104 f.53 Ebenso Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 106. Zu präzisieren ist, dass sowohl die

Ausmerzung schlechter Eigenschaften als auch die Auslese guter Eigenschaften auf der kollektiven Ebene letztlich im Dienste der Verbesserung des Genpools standen. Insofern war Eugenik als Programm immer positiv. Auf der individuellen Ebene waren jedoch die Mittel der Ausmerzung, also die Mittel einer negativen Eugenik, mit den schlimmsten Verbrechen verbunden.

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Nachkommen geradezu indiskutabel. In grossem Kontrast dazu findet in der Ethik und in der politischen Philosophie seit Jahren eine differenzierte Auseinan-dersetzung mit der Eugenik-Frage statt. Dabei befürwortet eine Reihe von einflussreichen Denkern vorwiegend angloamerikanischer Herkunft eine libe-rale Regulierung, und zwar auch in Bezug auf den Einsatz der Gentechnik zur Optimierung menschlicher Eigenschaften. Dazu gehören Autoren wie John Rawls, Robert Nozick, Jonathan Glover, Ronald Dworkin, John Harris, Norman Daniels, Nicholas Agar oder Julian Savulescu54.

In den Texten dieser Autoren lassen sich gemeinsame Argumentationslinien erkennen. Eine zentrale Rolle spielt die reproduktive Autonomie von Paaren und deren Wunsch, den eigenen Kindern eine vorteilhafte genetische Ausstattung mitzugeben. Der Staat brauche deshalb gute Gründe, um werdenden Eltern, die das Beste für ihre Kinder wollen, den Zugang zu eugenischen Massnahmen zu versperren. Dabei heben Analogien mit der Kindererziehung die Begründungs-latte für staatliche Eingriffe zusätzlich an: Der Staat, der gentechnologische Verbesserungen untersagen wolle, müsse plausibel machen, weshalb er gleich-zeitig der Steigerung der Leistungsfähigkeit mittels Erziehung, Ausbildung und Training nicht nur nichts entgegenstelle, sondern diese sogar fördere. Was die Zielsetzung betrifft, wird denn auch zwischen genetischer und pädagogi-scher Optimierung im Prinzip kein Unterschied gesehen. Anders fällt die Be-urteilung auf der Ebene der Mittel aus. Die besonderen Risiken und die grös-sere Wirksamkeit gentechnischer Eingriffe erforderten durchaus staatliche Regulierung. Diese müsse sich aber darauf beschränken, gezielt negative Aus-wirkungen der Gentechnologie zu verhindern; pauschale Verbote würden da-gegen über das Ziel hinausschiessen und die individuelle Freiheit zu stark einschränken.

Wie die Politik ist auch die Rechtswissenschaft von solcher Kritik praktisch unberührt geblieben. Ein vertieftes Nachdenken über die Eugenik-Verbote im geltenden Recht ist indessen aus zwei Gründen angezeigt: Zum einen sollten Verbote in einem freiheitlichen Rechtsstaat stets gut begründet sein. Gerade im Bereich der Gentechnologie ging das rechtsstaatliche Grundprinzip, wonach die Rechtfertigungslast für Verbote beim Staat liegt, teilweise vergessen. Ver-bote wie dasjenige von Keimbahninterventionen wurden aufgrund abstrakter

54 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M 1996, Übersetzung von «A Theory of Justice» (1971), S. 129; Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, München 2006, Übersetzung von «Anarchy, State, and Utopia» (1974), S. 412 ff.; Jonathan Glover, What Sort of People Should There Be?, Harmondsworth 1984; ders., Choosing Children: Genes, Disability, and Design, Oxford 2006; Ronald Dworkin, Playing God: Genes, Clones, and Luck (1998), in: ders., Sovereign Virtue: The Theory and Pratice of Equality, Cambridge, MA/London 2002, S. 427–452; John Harris, Clones, Genes, and Immortality. Ethics and Genetics Revolution, Oxford/New York 1998; ders., Enhancing Evolution. The Ethical Case for Making Better People, Princeton/Oxford 2009; Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16); Agar (Anm. 15); Julian Savulescu/Kahane Guy, The Moral Obligation to Create Children with the Best Chance of the Best Life, Bioethics 23 (2009) 5, 274–290.

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Befürchtungen gewissermassen auf Vorrat erlassen, ohne Nutzen und Gefahren solcher Technik konkret zu kennen. Zum andern weist die Regulierung der Gentechnologie eine internationale Dimension auf. So können Eugenik-Verbote durch eine Reise in einen Staat mit liberaleren Regelungen umgangen werden. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist darüber hinaus die Befürchtung, dass dereinst einzelne Länder die Gentechnologie für Verbesserungszwecke zur Verfügung stellen und sich dadurch bedeutende kompetitive Vorteile verschaf-fen könnten55.

Die Wirksamkeit einzelstaatlicher Verbote der Gentechnologie ist insofern begrenzt. Für den nationalen Verfassungs- und Gesetzgeber muss das zwar nicht unbedingt heissen, die bestehenden Verbote zu lockern. Es kann auch heissen, sich auf internationaler Ebene für den Erlass und die Durchsetzung universell gültiger Verbote einzusetzen. Solches Bemühen kann allerdings nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sich für diese Verbote einsichtige, verallge-meinerbare Gründe vorbringen lassen.

Um die Legitimität der geltenden Eugenik-Verbote zu beurteilen, muss der Rechtswissenschaftler nicht unmittelbar auf ethische Überlegungen zurück-greifen. Vielmehr steht ihm ein eigenes analytisches Instrumentarium zur Verfügung, und zwar in Form verfassungsrechtlicher Prinzipien. Dazu gehören die Menschen- und die Grundrechte, die Menschenwürde und öffentliche In-teressen. Im innerverfassungsrechtlichen Verhältnis können diese allgemeinen Verfassungsprinzipien Aufschluss geben über die Frage, ob die konkreten Ver-bote in Art. 119 BV legitim sind. Das heisst: Wenn sich herausstellt, dass die Verbote in Art. 119 BV mit den Grundrechten oder anderen Verfassungsprinzi-pien nicht vereinbar sind, liegt ein starkes rechtsstaatliches Argument für die Änderung dieser Verbote vor.

III. Grundrecht auf Eugenik?

Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung stellt sich zuerst die Frage, ob die Nutzung der Gentechnologie durch künftige Eltern grundrechtlich ge-schützt ist. Vor einiger Zeit erschien in der Harvard Law Review ein Aufsatz, der diese Frage bejaht. Behauptet wurde ein Grundrecht von Eltern auf alle Arten von Eugenik, und zwar auch auf positive Eugenik mittels Keimbahninterven-tionen56. Die Existenz eines solchen Grundrechts hätte zwar noch nicht zur Folge, dass der Staat zwingend sämtliche eugenischen Praktiken freigeben muss. Ein Grundrecht auf Eugenik würde aber bedeuten, dass der Staat quali-

55 Vgl. Peter Singer, Parental Choice and Human Improvement, in: Human Enhancement, Edited by Julian Savulescu/Nick Bostrom, Oxford/New York 2009, 277–290, S. 288.

56 Regulating Eugenics (ohne Autorenangabe), Harvard Law Review 121 (2008), 1578–1599, S. 1586 ff.

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fiziert rechtfertigungspflichtig ist, wenn er eugenische Praktiken verbieten will. Verbote sind in diesem Fall nur statthaft, wenn sie für die Wahrung von über-wiegenden öffentlichen Interessen zwingend notwendig sind.

1. Recht auf Verwirklichung des Kinderwunsches

In der schweizerischen Bundesverfassung und der Europäischen Menschen-rechtskonvention fallen für ein Grundrecht auf Eugenik verschiedene Anknüp-fungspunkte in Betracht. Im Vordergrund stehen die persönliche Freiheit und das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs 1 BV sowie Art. 8 EMRK). Das Bundesgericht und der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte haben aus diesen Grundrechten den Schutz des Kinderwunsches abgeleitet57. Daraus folgt, dass jedermann, der sich fortpflanzen will, ein Recht auf Zugang zu den Verfahren der Fortpflanzungsmedizin hat58.

Vorliegend stellt sich die Frage, ob staatliche Eugenik-Verbote die Verwirk-lichung des Kinderwunsches vereiteln können und damit in die persönliche Freiheit eingreifen. Was negative Eugenik betrifft, ist dies in der Tat der Fall. Das Risiko, ein schwer krankes oder behindertes Kind zu bekommen, kann Paare davon abhalten, eigene Kinder zu zeugen. Das Bundesgericht hat in den beiden Urteilen von 1989 und 1993 betreffend die Fortpflanzungsmedizin aus-drücklich anerkannt, dass eine natürliche Zeugung wegen genetischer Belas-tung unzumutbar sein kann und in solchen Fällen daher ein Recht auf Zugang zur Fortpflanzungsmedizin besteht59. Demzufolge haben Personen mit erbli-chen Belastungen ein Recht auf Zugang zu gentechnischen Mitteln, mit deren Hilfe sie ein gesundes Kind bekommen können. Insofern gibt es ein Grundrecht auf negative Eugenik. Dasselbe gilt aber nicht für positive Eugenik. Es kann zwar unzumutbar sein, ein Kind mit einer schweren Krankheit oder Behinderung zu bekommen. Es ist aber nie unzumutbar, ein gesundes Kind zu bekommen, das nicht verbessert ist. Aus der persönlichen Freiheit folgt damit ein Grundrecht auf negative, nicht aber auf positive Eugenik.

2. Recht auf Erziehung der eigenen Kinder

Ein Grundrecht auf Eugenik könnte sich weiter aus dem Recht der Eltern er-geben, für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Dieses Recht, das sich seinerseits

57 Gemäss Bundesgericht gilt der Kinderwunsch als Aspekt der persönlichen Freiheit (BGE 115 Ia 234 E. 5a S. 246 f., bestätigt in BGE 119 Ia 460 E. 5 S. 474 ff.), gemäss Europäischem Ge-richtshof für Menschenrechte als Aspekt des Privatlebens (EGMRE Dickson v. The United Kingdom vom 4.12.2007, Nr. 44362/04, Ziff. 66).

58 Dazu eingehend Mathias Kuhn, Recht auf Kinder? Der verfassungsrechtliche Schutz des Kinderwunschs, Zürich/St. Gallen 2008.

59 BGE 115 Ia 234 E. 5a S. 247; 119 Ia 460 E. 5a S. 475.

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aus dem Recht auf Familienleben gemäss Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 EMRK ableitet, schützt insbesondere vor Einmischung des Staates in elterliche Erzie-hungsentscheide60. Grundsätzlich geht es den Staat nichts an, ob und wie die Eltern ihre Kinder fördern. Daraus könnte man schliessen, dass es den Staat auch nichts angeht, wenn werdende Eltern für eine optimale genetische Aus-stattung ihrer Kinder besorgt sind. Demnach wären Entscheide darüber, welche Art von Kind ein Paar haben will, ebenfalls Teil der grundrechtlich geschützten Familiensphäre.

Eugenische Entscheide im pränatalen oder präkonzeptionellen Stadium haben zweifellos einen Einfluss auf das spätere Familienleben mit dem gezeug-ten Kind. Insofern lassen sich solche Entscheide bereits dem grundrechtlich geschützten Familienleben zurechnen. Das Recht auf Familienleben verbietet deshalb dem Staat, die genetische Ausstattung künftiger Kinder in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Das heisst, jede Form von staatlicher Eugenik würde dem Recht auf Familienleben diametral widersprechen.

Eine andere Frage ist aber, ob aus dem Recht auf Familienleben ein Recht auf Zugang zu eugenischen Methoden folgt. Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Der Staat greift nicht in das Familienleben ein, wenn er die Verfügbarkeit von eugenischen Methoden allgemein einschränkt. Ansonsten würde jedes Gesetz, das den Eltern irgendwelche Mittel zur Verwirklichung des Kindes-wohls vorenthält, in das Recht auf Familienleben eingreifen. Ein Verbot von Achterbahnen auf Jahrmärkten wäre genauso ein Eingriff in dieses Grundrecht wie die Festlegung eines Mindestalters für Kinobesuche. Unter dem Dach des Familienlebens würde ein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit einge-führt, wo doch im schweizerischen Verfassungsrecht ein solches gerade abge-lehnt wird61. Das Recht auf Familienleben schützt somit die Definitionsmacht von Eltern über das Kindeswohl, verleiht ihnen aber kein Recht auf Zugang zu Angeboten, die dem elterlich definierten Kindeswohl dienen.

3. Rechte von Kindern auf Integrität und Gesundheit

Ein Recht auf Zugang zu gentechnologischen Angeboten könnte sich auch aus den – stellvertretend von den Eltern wahrzunehmenden – Grundrechten des Kindes selber ergeben. In erster Linie steht das Recht auf physische und psychische Integrität gemäss Art. 10 Abs. 2 BV zur Diskussion. Ob aus dem Integritätsrecht ein Recht auf Eugenik folgt, hängt sowohl von der Methode ab als auch von den Zielen, die verfolgt werden.

Eine eigene Beurteilung erfordern jene Methoden, mit denen das Erbgut der Nachkommen direkt beeinflusst werden soll, das heisst Keimbahninterventio-

60 BGE 118 Ia 427 E. 4c S. 435.61 BGE 101 Ia 336 E. 7a S. 346 f.; 102 Ia 321 E. 3a S. 324 f. Aus der Lehre Jörg Paul Müller/ Markus

Schefer, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl., Bern 2008, S. 141 mit Hinweisen.

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nen62. Die Frage lautet: Haben menschliche Embryonen ein Recht darauf, mit-tels Keimbahninterventionen von genetischen Defekten geheilt oder sogar mit genetischen Vorzügen ausgestattet zu werden? Zunächst ist festzuhalten, dass Embryonen als solche im schweizerischen Recht keine Grundrechtsträger sind63. Indessen entfaltet das Integritätsrecht des künftigen Kindes eine Vorwir-kung auf die pränatale Phase64. Wird nämlich der genetische Defekt in der präna-talen Phase nicht behoben, dann wird dereinst das geborene Kind davon be-troffen sein. Indem der Staat die Behandlung von genetischen Defekten mittels Keimbahntherapie verbietet, greift er demgemäss in das Integritätsrecht von geborenen Kindern ein. Insoweit folgt aus dem Integritätsrecht ein Recht auf negative Eugenik mittels Keimbahntherapie65. Dagegen folgt daraus kein ent-sprechendes Recht auf positive Eugenik. Denn das Recht auf Integrität garan-tiert nicht das maximal erreichbare Wohl. Es schützt nur vor Krankheit, Behin-derung, Leiden und Schmerzen. Positive Eugenik ist aber etwas für Gesunde und fällt deshalb nicht in den Schutzbereich des Integritätsrechts.

Ein Recht auf positive Eugenik könnte sich hingegen aus dem in interna tio-nalen Menschenrechtsabkommen verbrieften Recht auf Gesundheit ergeben. So statuieren Art. 12 UNO-Pakt I66 und Art. 24 KRK67 ein Recht auf das erreichbare Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit. Das Verständnis von Gesund-heit als maximales Wohl lehnt sich an die Verfassung der Weltgesundheitsor-ganisation von 1946 an, wonach Gesundheit ein «Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen» ist68. Soweit Keimbahninterventionen geeignet sind, das individuelle Wohl zu steigern, sind sie folglich vom Recht auf Ge-sundheit gemäss Art. 12 UNO-Pakt I und Art. 24 KRK erfasst. In diesem Rah-men muss tatsächlich ein Recht auf positive Eugenik angenommen werden, beispielsweise ein Recht auf Verbesserung des biologischen Abwehrsystems. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein justiziables, das heisst unmittel-bar anwendbares und einklagbares Individualrecht69. Deshalb kann einem

62 Zur Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Methoden vorne Kap. I.2.63 Dazu eingehend Bernhard Rütsche, Rechte von Ungeborenen auf Leben und Integrität, Zü-

rich/Baden-Baden 2009, S. 93 ff.64 Rütsche (Anm. 63), S. 272 ff.65 Ebenso Wolfgang van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen. Zur Abwehr und

Begründung neuer Techniken durch subjektive Rechte, KritV 74 (1991) Heft 3–4, 257–278, S. 262 ff.

66 Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (SR 0.103.1).

67 Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107).68 Verfassung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946 (SR 0.810.1).69 Gemäss General Comment No. 14/2000 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und

kulturelle Rechte ist Art. 12 UNO-Pakt I nur im Bereich von sog. «Kernverpflichtungen» («minimal core obligations») justiziabel (Ziff. 43 und 60). Die Nutzung von Methoden, die reinen Optimierungszwecken dienen, gehört sicher nicht zum Kernbereich des Rechts auf Gesundheit.

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solchen Recht auch nicht dasselbe Gewicht zukommen wie dem klassischen Recht auf Integrität.

Anders als Keimbahninterventionen sind jene Methoden zu beurteilen, mit denen indirekt mittels Selektion von Embryonen, Keimzellen oder Spendern auf das Erbgut der Nachkommen eingewirkt wird. Die Nutzung solcher Methoden ist von vornherein nicht von den Rechten auf Integrität und Gesundheit erfasst. Der Grund liegt darin, dass durch die Selektion ein anderes Kind zur Welt kommt als ohne Selektion. Und nach den Gesetzen der Logik ist es unmöglich, dass das Integritätsrecht eine Vorwirkung auf einen Embryo entfaltet, der gar nie geboren wird, sondern ausgesondert oder gar nicht erst gezeugt worden ist70.

Zusammengefasst ergibt sich in der Tat ein Grundrecht auf Eugenik, und zwar auf negative Eugenik. Dieses Recht leitet sich aus der persönlichen Frei-heit von Wunscheltern und teilweise aus dem Integritätsrecht von Kindern ab. Nicht anerkannt ist dagegen ein Grundrecht auf positive Eugenik, einmal ab-gesehen vom nicht-justiziablen Recht auf Gesundheit, das zu einem gewissen Grad auch die Nutzung von Keimbahninterventionen zu Optimierungszwe-cken in Schutz nimmt.

IV. Gründe für Eugenik-Verbote

Der Befund, dass es prinzipiell kein Grundrecht auf Zugang zu den Methoden einer positiven Eugenik gibt, bedeutet noch nicht per se, dass staatliche Verbote solcher Methoden legitim sind. Staatliches Handeln muss sich auch dann auf anerkannte Gründe, das heisst auf den Schutz von öffentlichen Interessen oder Rechten Dritter berufen können und verhältnismässig sein, wenn es nicht in Grundrechte eingreift (vgl. Art. 5 BV). Allerdings muss das Gewicht dieser Gründe nicht gleich gross sein wie in Fällen, in denen Grundrechte berührt sind. Anschliessend werden verschiedene Gründe diskutiert, die ein Verbot positiver Eugenik rechtfertigen könnten.

1. Schutz der Menschenwürde

Zur Diskussion steht als Erstes die Menschenwürde. Wie schon angedeutet, begründete der Verfassungsgeber das Verbot von Keimbahninterventionen mit dem Schutz der Menschenwürde. Der damals zuständige Bundesrat Arnold Koller sagte dazu in der parlamentarischen Debatte Anfang der 1990er-Jahre:

«Zweifelsohne wird mit dem Schutz des Menschen vor den technologischen Risiken ganz zentral die Menschenwürde angesprochen. Es geht uns also nicht allein um einen vordergründigen

70 Dazu Rütsche (Anm. 63), S. 274 ff., 427 ff.

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Schutz der körperlichen Integrität im Sinne reiner Sicherheitsmassnahmen; der Schutz gilt dem Menschen als Person und als einmaligem, unverwechselbarem Subjekt. (…) Individualität und Unvoll-kommenheit gehören zum Menschen. Ihn an letztlich doch mehr oder weniger willkürlich aufge-stellten Normen zu messen verletzt die Menschenwürde zutiefst.»71

Diese Aussagen gehen davon aus, dass eugenische Massnahmen die Einmalig-keit, Individualität und Unvollkommenheit des Menschen bedrohen und folg-lich die Menschenwürde verletzen. Letztlich heisst dies nichts anderes, als dass der einzelne Mensch nicht über seine eigene Natur verfügen darf. Die biologi-sche Natürlichkeit wird zum verfassungsrechtlichen Prinzip erhoben und mit dem Gütesiegel der Menschenwürde versehen. Ein solcher Vorgang ist schon aus rechtstheoretischer Sicht höchst problematisch. Denn bei weitem nicht jeder teilt die Auffassung, dass das Natürliche als solches gut ist. Natürlichkeit ist ein partikularer Wert, der von persönlichen Sensibilitäten und Erfahrungen abhängt und daher in keiner Weise verallgemeinerbar ist72. Zumindest die fundamentalen Prinzipien der Verfassung, zu denen die Menschenwürde ge-hört, sollten jedoch nicht auf partikularen Werten gründen, sondern so weit wie möglich verallgemeinerbar sein.

Eine Interpretation der Menschenwürde im Sinne von Natürlichkeit ist aber auch in inhaltlicher Hinsicht nicht haltbar. Der Mensch strebt seit Urzeiten danach, die eigene natürliche Unvollkommenheit zu überwinden. Bildung, Kunst, Wissenschaft und nicht zuletzt die Medizin bezeugen auf eindrucksvolle Weise dieses urmenschliche Bedürfnis. Die Fähigkeit des Menschen zur Selbst-optimierung und Selbsttranszendenz gehört gerade zu seiner Natur, und es liegt nahe, in dieser Fähigkeit die Würde des Menschen zu erblicken. Dies entspricht denn auch einer traditionsreichen Interpretation der Menschenwürde, die auf die italienische Renaissance zurückgeht73. Danach besteht die Würde des Men-schen darin, dass er nicht wie die Tiere von der Natur auf bestimmte Ziele festgelegt ist, sondern in Freiheit das sein kann, was er von sich aus sein will74.

Ein wiederum anderer, in der gegenwärtigen Verfassungslehre stark vertre-tener Gehalt der Menschenwürde beruft sich auf den Kant’schen Imperativ, wonach der Mensch immer zugleich als Zweck und niemals bloss als Mittel zu

71 AB 1990 S 487; AB 1991 N 598 (Hervorhebungen durch den Autor). Sodann bereits Amstad-Bericht (Anm. 33), S. 1082.

72 Vgl. Kurt Bayertz, Die menschliche Natur und ihr moralischer Status, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Die menschliche Natur. Welchen und wie viel Wert hat sie?, Paderborn 2005, 9–31, S. 23 ff.; Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, Berlin/New York 2006, S. 118 ff.; Bernward Gesang, Perfektionierung des Menschen, Berlin/New York 2007, S. 114 ff.

73 Dazu David Heyd, Die menschliche Natur: Ein Oxymoron?, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Die menschliche Natur. Welchen und wie viel Wert hat sie?, Paderborn 2005, 52–72, S. 53 ff.

74 Vgl. Pico della Mirandola, De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1997, S. 9 und 13.

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behandeln ist75. Dieses Verbot der Totalinstrumentalisierung könnte ebenfalls gegen eugenische Verbesserungstechniken in Anschlag gebracht werden. Das Argument geht davon aus, dass werdende Eltern, die bestimmte Eigenschaften ihrer Kinder mittels Gentechnik positiv beeinflussen wollen, immer darauf abstellen, wie sie ihre Kinder gerne haben möchten. Massstab einer liberalen Eugenik sind demnach die elterlichen Vorstellungen eines guten Lebens. Daraus könnte geschlossen werden, dass im Rahmen einer liberalen Eugenik künftige Kinder in unzulässiger Weise für fremde Zwecke instrumentalisiert werden76. Besondere Anschaulichkeit erhält dieses Argument im Fall der Erzeugung eines sog. «Retterkindes», das heisst eines Kindes, das mittels Präimplantationsdia-gnostik so ausgewählt wird, dass es künftig als Spender immunkompatiblen Gewebes für ein schwer krankes Geschwister oder eine andere verwandte Person in Frage kommt.

Auch das Instrumentalisierungsargument ist jedoch nicht stichhaltig. Schon der Wunsch an sich, Kinder zu haben, ist ein elterlicher Wunsch und nicht ein Wunsch des Kindes, das noch gar nicht gezeugt ist. Abgesehen davon sind auch Entscheidungen über die Kindererziehung von elterlichen Vorstellungen eines guten Lebens geleitet. Niemandem käme deshalb in den Sinn, die Zeugung und Erziehung von Kindern als Totalinstrumentalisierung menschlichen Lebens und damit als Verletzung der Menschenwürde zu qualifizieren. Für gentechnische Einwirkungen auf die Nachkommen kann nichts anderes gelten. Ob ein Kind um seiner selbst willen geliebt und respektiert wird, entscheidet sich nach seiner Geburt und hängt kaum davon ab, wie stark bei dessen Zeugung fremde Zwecke mitgespielt haben. Aus diesen Gründen lassen sich eugenische Massnahmen von Eltern, ob sie nun der Verhinderung von Krankheiten oder der Optimierung dienen, nicht als unzulässige Instrumentalisierung qualifizieren77.

2. Schutz der Integrität

Weiter könnte der Schutz der Integrität von Nachkommen ein legitimer Grund sein, um eugenische Massnahmen zu verbieten. Grundsätzlich geht es um die

75 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Aufl. (1785), Frankfurt a.M. 1974, Nachdruck der Akademie-Ausgabe, S. 66 f. Vgl. aus der schweizerischen Verfassungslehre namentlich J.P. Müller/Schefer (Anm. 61), S. 2; Andreas Kley, Der Grundrechtskatalog der nachgeführten Bundesverfassung – ausgewählte Neuerungen, ZBJV 1999 301–347, S. 323 f.; Jean-François Aubert/Pascal Mahon, Petit commentaire de la Constitution fédérale, Zürich 2003, Art. 7, Rz. 5; Walter Haller, Menschenwürde, Recht auf Leben und persönliche Freiheit, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VII/2, Heidelberg/Zürich 2007, § 209, Rz. 15.

76 Vgl. Habermas (Anm. 15), S. 114 ff., 160 f.77 Ebenso in Bezug auf die Frage des «Retterkindes» Nationale Ethikkommission (Anm. 17), S. 48;

dies., Stellungnahme Nr. 14/2007, Präimplantationsdiagnostik II: Spezielle Fragen zur ge-setzlichen Regelung und zur HLA-Typisierung, Bern 2007, S. 18.

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Frage, wie mit den Folgen und Risiken einer neuen Technologie umzugehen ist, vor allem wenn gewisse Risiken zwar vorstellbar, aber noch nicht nachge-wiesen sind.

Das Problem der Risikoabschätzung stellt sich in erster Linie bei Keimbahn-interventionen. Nach gegenwärtigem Wissensstand steht ausser Frage, dass Keimbahninterventionen schon deshalb nicht auf den Menschen angewendet werden dürfen, weil sie für die behandelten Lebewesen mit sehr grossen Risi-ken verbunden wären. Ob Keimbahninterventionen jemals bis zum Stadium einer medizinisch anerkannten Methode entwickelt werden, lässt sich zurzeit nicht vorhersehen. Fest steht aber, dass bis dahin zahlreiche Forschungsversu-che an menschlichen Embryonen notwendig sein würden und in solchen Ver-suchen irgendwann auch gentechnisch veränderte Embryonen zu Kindern entwickelt werden müssten. Solche Forschungsversuche wären aus Sicht des Integritätsschutzes auf jeden Fall nur dann legitim, wenn die Risiken nicht in einem Missverhältnis zum Nutzen stünden78.

Für Keimbahneingriffe mit therapeutischer Zielsetzung könnte diese Bedin-gung angesichts des erwartbaren Nutzens für die Gesundheit durchaus in nicht allzu ferner Zukunft erfüllt sein. Für genetisches Enhancement wäre die Hürde dagegen bedeutend höher, weil der individuelle Nutzen weniger klar ausge-wiesen ist. Aber auch diesbezüglich ist mit Prognosen Vorsicht geboten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Risiken einer Keimbahninterven-tion dereinst so gering sind, dass selbst ein Einsatz für Verbesserungszwecke vertretbar sein kann. Selbst in diesem Fall bleiben aber schwer abschätzbare Risiken für spätere Generationen. Eine Verbreitung positiver Eugenik könnte die genetische Vielfalt der Menschheit und mithin deren Anpassungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen langfristig beeinträchtigen79. Auch in die-ser Hinsicht sind aber nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen der Gentechnologie in den Fokus zu rücken. So ist etwa durchaus denkbar, dass die Gentechnologie dem Menschen zu einer besseren Resistenz gegenüber Er-regern verhelfen und diesen vor Pandemien schützen könnte, welche immer häufiger und gefährlicher werden80.

Anders sind die Risiken jener eugenischen Methoden zu beurteilen, welche mittels Selektion von Embryonen, Keimzellen oder Spendern indirekt auf das Erbgut der Nachkommen einwirken. Für die Gesundheit der potenziellen Kin-der haben diese Methoden nach bisherigem Erkenntnisstand keine negativen Folgen. Insbesondere ist nicht bekannt, dass eine Präimplantationsdiagnostik,

78 Vgl. Art. 118b Abs. 2 Bst. b BV.79 Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M.

1987, S. 177 f.80 Vgl. H. Tristram Engelhardt, Die menschliche Natur – Leitfaden des Handelns?, in: Kurt

Bayertz (Hrsg.), Die menschliche Natur. Welchen und wie viel Wert hat sie?, Paderborn 2005, 32–51, S. 38 f.

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bei der einzelne Zellen von einem Embryo in vitro zwecks genetischer Unter-suchung abgelöst werden, Langzeitfolgen nach sich zöge81.

Bei gendiagnostischen Methoden steht jedoch unter dem Gesichtspunkt des Integritätsschutzes nicht die Frage des Risikos für potenzielle Kinder im Vor-dergrund, sondern die Tatsache, dass diese Methoden zur Abtötung von Embryo-nen und Föten führen. Zwar kommt Ungeborenen nach geltendem Verfassungs-recht kein Recht auf Leben zu, und es ist auch schwierig, ein solches Recht ethisch zu begründen82. Die Opferung von Embryonen für eugenische Zwecke berührt aber doch zumindest die moralischen Gefühle einer Vielzahl von Per-sonen, die das werdende Leben aus unterschiedlichen Gründen für schützens-wert erachten. Solche moralischen Gefühle müssen zurücktreten, wenn die Gendiagnostik der Verhinderung von schweren Krankheiten dient und damit die Verwirklichung des grundrechtlich geschützten Kinderwunsches auf dem Spiel steht83. Anders präsentiert sich aber die Güterabwägung, wenn mittels Gendiagnostik die Verbesserung menschlicher Eigenschaften angestrebt wird. Für solche Zwecke liesse sich eine Selektion von Embryonen und Föten nicht leicht rechtfertigen.

Aus diesen Überlegungen ist zu schliessen, dass der Schutz der Integrität als solcher keine pauschalen Eugenik-Verbote begründen kann. Vielmehr sind auch die Methoden der Eugenik den allgemeinen Regeln zum Umgang mit den Folgen und Risiken von Techniken zu unterstellen. Diese Regeln verlangen eine situationsbezogene Beurteilung von Forschungsversuchen und medizinischen Behandlungen. Die grösste Herausforderung besteht dabei darin, den Nutzen von genetischem Enhancement angemessen zu gewichten. Gesetzgeber und Vollzugsbehörden werden diesbezüglich erst noch konsensfähige Massstäbe entwickeln müssen.

3. Schutz der Freiheit

Als möglicher Grund für Eugenik-Verbote fällt weiter der Schutz der Freiheit der Menschen in Betracht. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat zu bedenken gegeben, dass es infolge einer liberalen Eugenik Menschen geben würde, die nicht natürlich gezeugt, sondern von anderen Menschen gemacht sind. Eltern, die ihr Kind genetisch programmieren, würden für dessen Identi-tät einseitig eine Weichenstellung vornehmen, die nicht mehr revidierbar sei. Als Designer machten sie sich zum Mitautor eines fremden Lebens und griffen damit gleichsam von innen in das Autonomiebewusstsein eines Anderen ein.

81 Allerdings sind die Erfahrungen mit möglichen Folgen der Präimplantationsdiagnostik für die geborenen Kinder begrenzt, da diese Technik erst seit 1990 angewandt wird (Nationale Ethikkommission [Anm. 17], S. 11).

82 Dazu Rütsche (Anm. 63), S. 391 ff.83 Rütsche (Anm. 63), S. 515.

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Das programmierte Kind sei dadurch für sein ganzes Leben fremdbestimmt und litte «unter dem Bewusstsein, die Autorschaft für das eigene Lebensschick-sal mit einem anderen Autor teilen zu müssen»84.

Habermas trifft einen wichtigen Punkt, wenn er auf die Gefahren für die Autonomie der Nachkommen aufmerksam macht. Wenn etwa taube Eltern die Gentechnologie zu Hilfe nehmen, um ein taubes Kind zu zeugen, sind die Entfaltungsmöglichkeiten dieses Kindes von vornherein limitiert85. Allerdings beschneiden gentechnische Interventionen keineswegs per se die Autonomie der Nachkommen. So ist eine Praxis der negativen Eugenik geeignet, die Ent-faltungsmöglichkeiten der Nachkommen zu verbessern. Aber auch Interven tio-nen mit positiver Zielsetzung, beispielsweise zur Stärkung des Immunsystems oder zur Verbesserung des Gedächtnisses, könnten die Optionen und damit die Freiheit künftiger Individuen durchaus erweitern. Vorteilhafte natürliche Res-sourcen wie ein gutes Immunsystem oder ein gutes Gedächtnis legen ein Kind keineswegs auf eine spezifische Identität fest. Ein Kind, das mit solchen All-zweckmitteln ausgestattet wurde, ist unter Umständen sogar besser in der Lage, sich elterlichen Erwartungen zu verweigern und einen eigenen Lebens-plan zu verfolgen. Die Tatsache, dass das Kind seine günstigen Veranlagungen einem elterlich veranlassten gentechnischen Eingriff verdankt, ändert nichts an seiner Freiheit. Denn wir verdanken Vieles unseren Eltern, die für unser Wohl gesorgt und unsere Entwicklung gefördert haben, ohne dass wir uns deswegen fremdbestimmt vorkommen würden86.

Aus der Habermas’schen Unterscheidung zwischen «gezeugt» und «ge-macht» lässt sich damit kein prinzipieller Einwand gegen eine liberale Eugenik gewinnen. Immerhin folgen aber aus dem Prinzip der Freiheit bestimmte Grenzen. Eine liberale Eugenik ist nur soweit annehmbar, als sie die Entfal-tungsmöglichkeiten der Nachkommen wahrt oder steigert. Die Ethik spricht in diesem Zusammenhang vom Recht auf eine offene Zukunft, das nicht beein-trächtigt werden darf87. Andernfalls wäre nicht nur die Freiheit von bestimmten Individuen, sondern die Freiheit als konstitutives Prinzip von Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr.

84 Habermas (Anm. 15), S. 107 ff., 136 ff. (Zitat auf S. 137).85 Zu diesem Beispiel Agar (Anm. 15), S. 105 f.; Sandel (Anm. 16), S. 23 f.86 Vgl. zum Ganzen Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 174; Dieter Birnbacher, Haber-

mas’ ehrgeiziges Beweisziel, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 1, 121–126, S. 123 ff.; Agar (Anm. 15), S. 124 ff.; Sandel (Anm. 16), S. 28 f., 70, 101; Harris (Anm. 54, 2009), S. 139 ff.

87 Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 170 ff.; Agar (Anm. 15), S. 103 ff., 123 f.

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4. Schutz der Gleichheit

Neben der Freiheit ist auch das zweite rechtsstaatliche Grundprinzip – die Gleichheit – angerufen worden, um Eugenik-Verbote zu rechtfertigen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass die natürliche Gleichheit der Menschen zu den empirischen Grundvoraussetzungen von Demokratie und Menschenrech-ten gehört88. Gemeint ist Gleichheit in den fundamentalen Aspekten des Menschseins, unbesehen aller Unterschiede zwischen konkreten Menschen. Diese natürliche Basisgleichheit der Menschen könnte allmählich erodieren, wenn sich eine Praxis der positiven Eugenik etablierte. Die Menschheit könnte sich – wie in den negativen Utopien von Aldous Huxley und Lee Silver89 – mit der Zeit in mehrere biologisch differenzierte Klassen oder gar Arten aufspalten. Auf diese Weise würde das gemeinsame natürliche Band zwischen den Men-schen zerschnitten, und es drohte ein Zerfall von gesellschaftlicher Solidarität und politischer Ordnung. Die genetisch Benachteiligten würden entweder gegen eine solche Entwicklung gewaltsam aufstehen, oder sie würden unter-drückt und diskriminiert90.

Die genetische Aufspaltung der Menschheit ist ein langfristiges und drama-tisches Szenario. Das Gleichheitsprinzip könnte aber auch realer bedroht sein, wenn werdende Eltern beginnen würden, positive Eugenik zu praktizieren. Das Argument geht dahin, dass genetische Optimierungsmassnahmen voraus-sichtlich sehr teuer wären und daher nur den Reichen zur Verfügung stünden. Dadurch würden sich die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten noch einmal drastisch verschärfen. Privilegierte Kinder würden gewissermassen nicht nur mit «Silberlöffeln», sondern auch mit «goldenen Genen» auf die Welt kommen91. Eine Zulassung positiver Eugenik würde folglich die Chancengleich-heit untergraben.

Dagegen ist einzuwenden, dass es der Sozialstaat in der Hand hätte, die Kosten für bestimmte eugenische Interventionen zu übernehmen. Schon heute bezahlt die Krankenkasse die Kosten von pränatalen genetischen Untersuchun-gen, wenn ein gewisses Risiko besteht, dass der Embryo eine Veranlagung zu einer Erbkrankheit aufweist92. Ebenso wäre vorstellbar, dass gewisse gentech-

88 Fukuyama (Anm. 16), S. 151 ff.89 Aldous Huxley, Brave New World (1932), London 2004 (staatlich geschaffenes Kastensystem

von «Alphas», «Betas», «Gammas», «Deltas» und «Epsilons»); Lee M. Silver, Remaking Eden. Cloning and Beyond in a Brave New World, London 1998, S. 4 ff. (Aufspaltung der Mensch-heit in «Naturals» und «GenRich» als langfristige Folge von genetischem Enhancement).

90 Fukuyama (Anm. 16), S. 221 f.91 So Hillel Steiner, Silver Spoons and Golden Genes, in: Justine Burley (ed.), The Genetic

Revolution and Human Rights, Oxford 1999, 133–151.92 Art. 13 Bst. d Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obliga-

torischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV; SR 832. 112.31).

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nische Verbesserungen sozialstaatlich aufgefangen würden93. In Betracht zu ziehen wäre insbesondere ein sozialer Ausgleich für sogenanntes kompensatori-sches Enhancement, das heisst Verbesserungen, mit denen natürliche Nachteile, die keine Krankheiten oder Behinderungen darstellen, beseitigt werden94. Dabei ginge es nicht um das Erlangen einer überdurchschnittlichen Leistungs-fähigkeit, sondern um die Vermeidung von Eigenschaften, die im gesellschaft-lichen Wettbewerb um Bildung, Arbeit und Partnerschaft einen offensichtlichen Nachteil bedeuten. Mögliche Beispiele sind eine unterdurchschnittliche Intelli-genz, eine aussergewöhnliche Kleinwüchsigkeit oder eine Neigung zu asozia-lem Verhalten.

Kompensatorisches Enhancement stünde damit gerade im Dienst der Chan-cengleichheit. Es ginge um nichts Geringeres als die Vision, die natürlichen Ungleichheiten zwischen den Menschen zu verringern. Davon ausgehend würde die normative Grenze nicht zwischen negativer und positiver Eugenik verlaufen, sondern zwischen einer kompensatorischen und einer rein leistungs-steigernden Eugenik. Legitim wäre eine liberale Eugenik, die sich nicht nur gegen Krankheiten, sondern allgemein gegen natürliche Nachteile richtet. Demgegenüber wäre eine eugenische Praxis, die nach natürlichen Vorteilen strebt – zum Beispiel nach Verringerung des Schlafbedürfnisses auf unter sechs Stunden pro Nacht – nach wie vor tabu.

Gegen eine solche Verschiebung der moralischen und der rechtlichen Grenze erhebt sich jedoch in verschiedener Hinsicht Einspruch. Zunächst wäre die vorgeschlagene Grenzziehung praktisch nicht durchführbar. So ist kaum vor-stellbar, dass eine Gentechnik entwickelt werden könnte, die mit klinischer Präzision natürliche Nachteile beseitigt, ohne dabei zugleich das Leistungspo-tenzial des erwarteten Kindes über den Durchschnitt zu heben. Die Gefahr von Überkompensationen wäre also gross. Unabhängig davon ist unschwer voraus-zusehen, dass sich der Normalbereich menschlicher Eigenschaften und Fähig-keiten immer weiter nach oben verschieben würde, wenn sich eine kompensa-torische Eugenik Bahn brechen würde. Es käme zu einer gentechnologischen Aufrüstungsspirale – was heute noch durchschnittlich ist, würde sich morgen als unterdurchschnittlich herausstellen95.

Hinzu käme ein weiteres Problem: Die Klassifizierung als natürlicher Nach-teil, der eugenische Massnahmen rechtfertigt, wäre stark bedingt durch subjek-tive Vorstellungen eines guten Lebens und durch die gegebenen sozialen Ver-hältnisse. Ob unterdurchschnittlich begabte Personen in einer Gesellschaft

93 James Hughes, Citizen Cyborg: Why Democratic Societies Must Respond to the Redesigned Human of the Future, Boulder 2004, S. 233 ff.; Colin Gavaghan, Defending the Genetic Su-permarket: The Law and Ethics of Selecting the Next Generation, London/New York 2007, S. 188 ff.

94 Dazu Gesang (Anm. 72), S. 69 ff.95 Vgl. Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 98 f.; Fukuyama (Anm. 16), S. 141 f. («Null-

summenspiel»).

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benachteiligt sind, hängt auch davon ab, wie viel an Chancen und Entfaltungs-möglichkeiten die Gesellschaft solchen Personen offenhält. Was ein natürlicher Nachteil ist, wäre somit kaum objektivierbar. Im Unterschied dazu lässt sich weit besser objektivieren, was eine Krankheit oder eine Behinderung ist96, weil es sich dabei grundsätzlich um Abweichungen von einem biologischen – und nicht von einem sozialen – Normalzustand handelt97.

Wenn sich zwischen einer kompensatorischen und einer rein leistungsstei-gernden Eugenik keine Grenze ziehen lässt, dann stellt sich wieder die ur-sprüngliche Frage, ob positive Eugenik als solche zuzulassen ist. Unter Ge-sichtspunkten der Gleichheit spricht Vieles für ein Verbot positiver Eugenik. Andernfalls wäre abzusehen, dass ein selbstzerstörerischer Wettlauf um den besten Nachwuchs einsetzt98. Dabei hätten bald jene Eltern einen uneinholba-ren Vorsprung, welche die besten Forscher und Ärzte bezahlen können. Kein Sozialstaat wäre voraussichtlich in der Lage, Ausgleich zu schaffen. Es müsste ja prinzipiell jeder einen Anspruch auf Bezahlung eugenischer Massnahmen haben, weil jeder unvollkommen ist. Von daher wäre ein rechtsgleicher Zugang zu den Methoden einer positiven Eugenik gar nicht zu bewerkstelligen. Ganz abgesehen davon würde sich die Kluft zwischen reichen und armen Ländern vergrössern. Auf lange Sicht wäre daher in der Tat zu befürchten, dass sich die Gesellschaften innerhalb und untereinander genetisch auseinanderdividieren.

Solche Befürchtungen treffen jedoch nicht in gleichem Masse auf sämtliche Bereiche einer positiven Eugenik zu. So würde die Möglichkeit, ein «Retterkind» zwecks Gewebespende für ein schwer krankes Geschwister zu zeugen, kaum Gleichheitsprobleme aufwerfen. Dasselbe gilt für die Wahl des Geschlechts in Situationen, in denen Eltern bereits Kinder haben und einen Ausgleich von Mädchen und Knaben innerhalb der Familie anstreben. Beide Fälle sind zwar insofern der positiven Eugenik zuzuordnen, als die Geburt von Kindern mit bestimmten positiven Eigenschaften angestrebt wird. Allerdings geht es dabei nicht um genetisches Enhancement. Denn das Ziel ist nicht die Zeugung besse-rer Kinder, sondern anderer Kinder, die nicht notwendig besser im Sinne von leistungsfähiger sein müssen. Insofern besteht in solchen Fällen kaum eine Gefahr für die Chancengleichheit.

Ein weiterer Bereich der positiven Eugenik, dessen Zulassung nicht unbe-dingt mit einer Verschärfung von Ungleichheiten verbunden wäre, betrifft Gesundheitsverbesserungen. Zu denken ist an gentechnische Verbesserungen des

96 Jonas (Anm. 79), S. 177; Thomas Luchsinger, Vom «Mythos Gen» zur Krankenversicherung. Gentherapie zwischen Ethik und Recht im internationalen Vergleich, Basel/Genf/München 2000, S. 42; Habermas (Anm. 15), S. 141 f.; Agar (Anm. 15), S. 85 f.

97 Der rechtliche Krankheitsbegriff erschöpft sich allerdings nicht im biomedizinischen Verständ-nis von Krankheit als Abweichung von der biologischen Norm, sondern nimmt zusätzlich subjektive und soziokulturelle Elemente auf (vgl. Myriam Schwendener, Krankheit und Recht. Der Krankheitsbegriff im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Basel 2008, S. 36 ff., 65 ff.).

98 Vgl. Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 154 f., 185.

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Immunsystems oder des Blutdrucks, eventuell auch an die Verhinderung von potenziell gesundheitsschädlichen Dispositionen wie solche zu Fettleibigkeit, Alkohol- oder Nikotinsucht – nicht aber an die Verlängerung der menschlichen Lebenserwartung an sich. Solche Eingriffe zielen nicht auf die Verhinderung spezifischer Krankheiten, sondern auf die Hebung des allgemeinen Gesundheits-zustands99. Indessen haben Gesundheitsverbesserungen mit der Prävention von Krankheiten gemeinsam, dass sie einem weitgehend verallgemeinerbaren Wunsch der Menschen entsprechen. Dies zeigt nur schon die Anerkennung des Rechts auf maximale Gesundheit in internationalen Menschenrechtsabkom-men100. Zudem liesse sich die Indikation für eugenische Massnahmen, die der Verbesserung der Gesundheit dienen, auf Paare beschränken, die entsprechend erblich vorbelastet sind. Ein sozialer Ausgleich der Kosten für derartige Mass-nahmen wäre insofern gut begründbar. Aus Sicht des Gleichheitsprinzips er-scheint deshalb ein Verbot von eugenischen Gesundheitsverbesserungen kei-neswegs zwingend.

5. Schutz der reproduktiven Autonomie

Als weiteres Argument für ein Verbot positiver Eugenik fällt der Schutz der reproduktiven Autonomie in Betracht. Das Argument basiert auf der Prämisse, dass erfolgreiche genetische Verbesserungen in einer Leistungsgesellschaft immer auch mehr oder weniger mit kompetitiven Vorteilen verbunden wären. Sicherlich sind Eigenschaften wie Schönheit und Intelligenz für ihre Besitzer auch als solche wertvoll, unabhängig davon, ob sie im Wettbewerb um Güter und Positionen Vorteile verschaffen. Solche Vorteile wären aber, wenn sie nicht direkt angestrebt werden, doch zumindest ein willkommener Nebeneffekt von genetischem Enhancement. Entsprechend müssten werdende Eltern, die sich genetischem Enhancement verweigern, für ihre Kinder Nachteile in Kauf neh-men. Dadurch würden Paare generell einem starken Druck ausgesetzt, für die Fortpflanzung die Gentechnologie in Anspruch zu nehmen101.

Dieser Druck auf werdende Eltern würde deren reproduktive Autonomie in zweifacher Hinsicht beschneiden. Zum einen sind Entscheidungen darüber, ob beim eigenen ungeborenen Leben eine genetische Untersuchung oder ein ge-netischer Eingriff vorgenommen werden soll, in hohem Masse von persönli-chen Werthaltungen abhängig. Wenn solche Entscheidungen nicht mehr unab-

99 Dabei ist denkbar, dass es in der Praxis zu einer Ausweitung des rechtlichen Krankheitsbe-griffs kommt und in der Folge bestimmte Gesundheitsverbesserungen als Prävention von Krankheiten qualifiziert werden.

100 Vorne Kap. III.3.101 Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 16), S. 185; Leon R. Kass, Life, Liberty and the Defense

of Dignity. The Challenge for Bioethics, San Francisco 2004, S. 165; vgl. auch Luchsinger (Anm. 96), S. 36 f. (in Bezug auf negative Eugenik).

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hängig gefällt werden können, ist die persönliche Freiheit in einem elementaren Bereich betroffen. Zum andern würden Paare ohne Fruchtbarkeitsprobleme unter Druck gesetzt, zum Reproduktionsmediziner zu gehen anstatt sich na-türlich fortzupflanzen. Dies wiederum ist nicht nur mit Kosten, sondern auch mit Belastungen und Risiken verbunden, und zwar nicht nur für die Frau, sondern allenfalls auch für das künftige Kind102.

An dieser Stelle liesse sich einwenden, dass nicht nur eine Praxis der posi-tiven Eugenik, sondern auch eine solche der negativen Eugenik werdende Eltern unter Druck setzen und damit deren reproduktive Autonomie tangieren kann. Insofern wäre mit dem Schutz der reproduktiven Autonomie auch ein Verbot negativer Eugenik zu rechtfertigen. Wie gesehen folgt jedoch aus der reproduk-tiven Autonomie auch ein Recht auf Zugang zu den Methoden einer negativen Eugenik103. Im Bereich der negativen Eugenik ist damit die reproduktive Au-tonomie auf beiden Seiten betroffen: Ein Verbot negativer Eugenik würde die reproduktive Autonomie einerseits schützen, anderseits aber auch einschrän-ken.

Um dieses Dilemma aufzulösen, bedarf es einer Interessenabwägung. Dabei ist zu bedenken, dass der Wunsch, kein krankes oder behindertes Kind zu bekommen, für die allermeisten Eltern grosses Gewicht hat. Im Unterschied dazu ist der Wunsch, ein genetisch verbessertes Kind zu bekommen, weit we-niger wichtig und verallgemeinerbar. Eine Zwischenstellung nehmen Gesund-heitsverbesserungen ein. Der Wunsch nach solchen ist weitgehend verallge-meinerbar, jedoch nicht von gleichem Gewicht wie der Wunsch nach Verhinderung von Krankheiten. Ob der Wunsch nach Gesundheitsverbesserun-gen die drohende Gefährdung der reproduktiven Autonomie überwiegt, ist letztlich eine rechtspolitische Frage.

6. Schutz der öffentlichen Ordnung

Schliesslich ist damit zu rechnen, dass eine Praxis der positiven Eugenik ne-gative Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung haben könnte. Bereits an-gesprochen wurde die Befürchtung, dass sich Gesellschaften genetisch aus-einanderdividieren, was für die öffentliche Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene verheerende Konsequenzen mit sich brächte104.

Die öffentliche Ordnung ist aber noch direkter gefährdet. Wenn eine wach-sende Zahl von werdenden Eltern auf bestimmte Eigenschaften ihrer Nach-kommen positiv Einfluss nimmt, drohen soziale Ungleichgewichte. Wie rasch ein solcher Prozess verlaufen kann, zeigt die Geschlechterselektion in verschiede-nen Gebieten Ostasiens, wo die Verfügbarkeit pränataler Untersuchungen zu

102 Vgl. vorne Kap. IV.2.103 Vorne Kap. III.1.104 Vorne Kap. IV.4.

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einer dramatischen Veränderung des Verhältnisses von Mädchen und Knaben geführt hat105. Ebenso könnte die Verfügbarkeit genetischer Verbesserungsme-thoden zur Folge haben, dass im Verhältnis bald einmal mehr grosse, gut aus-sehende, hochintelligente, sozial angepasste und langlebige Menschen existie-ren. Im Zuge einer solchen Entwicklung würden sich die Bedürfnisstrukturen der Gesellschaft verändern. Die politische und soziale Ordnung, die sich über lange Zeiträume hinweg auf bestimmte Bedürfnisstrukturen eingerichtet hat, müsste sich in relativ kurzer Zeit anpassen. Gelänge ihr das nicht, würde sich bald einmal Unordnung breit machen106.

Solche Befürchtungen einer zerfallenden Ordnung sind indessen wiederum in Bezug auf bestimmte Bereiche einer positiven Eugenik zu relativieren. So kann praktisch ausgeschlossen werden, dass die Zeugung von «Retterkindern» einen Einfluss auf das soziale Gefüge haben würde. Alsdann würde auch die Zulassung eugenischer Geschlechtswahl zugunsten von Eltern, die schon Kinder haben, das gesamtgesellschaftliche Geschlechterverhältnis voraussichtlich nicht merklich verändern. Dies jedenfalls nicht in Gesellschaften, in denen keine si-gnifikanten Präferenzen für ein bestimmtes Geschlecht feststellbar sind107. Keine sozialen Ungleichgewichte drohen ferner von einer positiven Eugenik, die im Dienste von Gesundheitsverbesserungen steht. Wenn sich der Anteil von krankheitsanfälligen Menschen verringert, sind im Gegenteil günstige Auswir-kungen auf die öffentliche Ordnung zu erwarten. Die allgemeine Tendenz zu einer Verteuerung der Gesundheitsversorgung könnte vielleicht sogar gebro-chen und damit einer zunehmenden Rationierung von Gesundheitsleistungen entgegengewirkt werden.

V. Fazit

Das Gesagte bedeutet, dass die konsequente Unterscheidung zwischen negati-ver und positiver Eugenik im geltenden Recht im Prinzip auf guten Gründen beruht. Zwar wären mit Blick auf den Integritäts- und den Freiheitsschutz differenzierte Regulierungen positiver Eugenik denkbar. Der notwendige Schutz der Gleichheit wie auch die drohenden Beeinträchtigungen der repro-duktiven Autonomie und der öffentlichen Ordnung sprechen aber grundsätz-lich für ein Verbot positiver Eugenik.

In bestimmten Bereichen stösst jedoch ein Verbot positiver Eugenik auf Be-gründungsschwierigkeiten. Dazu gehören jene Methoden, die auf die Geburt

105 Fukuyama (Anm. 16), S. 120 mit Hinweisen (betreffend Korea, China und Nordindien). 106 Vgl. Nozick (Anm. 54), S. 413; Glover (Anm. 22), S. 195; Buchanan/Brock/Daniels/Wikler

(Anm. 16), S. 183 f.; Fukuyama (Anm. 16), S. 120 f., 140 f. 107 Gemäss bisherigen empirischen Untersuchungen lassen sich in westlichen Staaten keine

derartigen Präferenzen feststellen (Gavaghan, [Anm. 93], S. 135 ff. mit Hinweisen).

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von Kindern mit Eigenschaften abzielen, die keine Verbesserungen darstellen, nämlich die Auswahl von «Retterkindern» zwecks Gewebespende sowie die Ge-schlechtswahl durch Eltern, die bereits Kinder haben. Gegen diese Methoden liesse sich am ehesten mit dem Schutz des pränatalen Lebens (Verhinderung von Embryonenselektion) sowie dem Schutz der Würde und Freiheit des künftigen Kindes (Wahrung des Rechts auf eine offene Zukunft) argumentieren. Ob der Embryonenschutz der Auswahl von «Retterkindern» bzw. der Geschlechtswahl entgegensteht, ist mit Hilfe von Interessenabwägungen zu beurteilen. Und der Schutz von Würde und Freiheit spricht nur dann für ein Verbot dieser Methoden, wenn plausibel aufgezeigt werden kann, dass deren Anwendung die Entwick-lung der betroffenen Kinder zu autonomen Wesen behindern würde.

Nur schwer zu begründen ist darüber hinaus ein pauschales Verbot von gentechnisch herbeigeführten Gesundheitsverbesserungen. Solche Verbesserun-gen scheinen sowohl mit dem Schutz der Gleichheit als auch der öffentlichen Ordnung vereinbar zu sein. Ob sie mit dem pränatalen Lebensschutz und vor allem mit der reproduktiven Autonomie kompatibel wären, müsste wiederum aufgrund von Interessenabwägungen entschieden werden. Verfassungs- und Gesetzgeber werden sich früher oder später mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie die Vermeidung von Krankheiten und Behinderungen als ent-scheidendes Kriterium für eugenische Eingriffe aufrechterhalten oder dieses Kriterium massvoll öffnen wollen. Was die Forschung betrifft, stellt sich diese Frage im Grunde schon heute. Soll die Optimierung der Gesundheit als zuläs-siges Ziel der Humanforschung anerkannt werden108?

Von grosser Bedeutung ist schliesslich eine internationale Regulierung der Eugenik-Frage. Wünschbar wäre ein internationales Abkommen, das die Gren-zen einer liberalen Eugenik so klar wie möglich verankert. Dabei könnte der Vorschlag, positive Eugenik abgesehen von den erwähnten, klar zu definieren-den Ausnahmen zu verbieten, durchaus Chancen auf breiten Konsens haben.

108 Bereits Ende der 1980er-Jahre sprachen sich einzelne Mitglieder der Expertenkommission Humangenetik und Reproduktionsmedizin dafür aus, «gentechnische, nicht diagnostisch-therapeutische Eingriffe am Menschen, an Keimzellen und Embryonen in vitro (…) zu Forschungszwecken nicht zum vornherein auszuschliessen, um der Forschung einen gewis-sen Freiraum zu lassen» (Amstad-Bericht [Anm. 33], S. 1130).

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