Europarat und Europäische...

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Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention ANKE GIMBAL Die Integration in die etablierte europäische Staatenorganisation scheint ein begehr- tes außenpolitisches Ziel zu sein und zu bleiben, denn der Zustrom an neuen Mit- gliedern ist ungebrochen: Am 13.7.1995 wurden Albanien und - als erstes Land der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) - die Republik Moldawien in den Europarat aufgenommen. Die Beitritte der Ukraine und der früheren jugoslawi- schen Republik Mazedonien folgten am 9.11.1995. Auch außereuropäische Staaten wie die USA, Japan und Kanada drängen auf Mitarbeit, die USA genießt inzwi- schen Beobachterstatus. Am 28.2.1996 wurde - nach der Wiederaufnahme des Bei- trittsverfahrens, das Anfang 1995 wegen des Tschetschenien-Krieges ausgesetzt worden war - Rußland als nunmehr 39. Mitglied aufgenommen, im Gegensatz zu Kroatien, dessen Beitrittsgesuch zum wiederholten Male abgelehnt wurde. Im personellen Bereich wurde am 22.1.1996 eine wichtige Entscheidung getrof- fen. Die Parlamentarier wählten die erfahrene CDU-Politikerin Leni Fischer als erste Frau zur Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung und damit zur Nachfolgerin des wegen seiner abgelaufenen dreijährigen Amtszeit scheidenden spanischen Sozialisten Miguel Angel Martinez. Fischer, ehemals Lehrerin, ist seit 1976 Mitglied des Deutschen Bundestags; sie vertritt Deutschland in der Westeu- ropäischen Union (WEU) und seit 1985 in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Sowohl der Europarat als auch das Europäische Parlament werden nun von Deutschen geleitet. Der deutsche Gesetzgeber wurde vom Straßburger Gerichtshof für Menschen- rechte zurechtgewiesen. Im Oktober 1995 beurteilte er die Entlassung einer bereits fest eingestellten deutschen Lehrerin wegen angeblich mangelnder Verfassungs- treue als Verstoß gegen Meinungsfreiheit, Koalitionsfreiheit und gegen das Ver- hältnismäßigkeitsprinzip. Der „Extremistenerlaß" (Gemeinsamer Beschluß der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28.1.1972), dessen Rechtmäßigkeit 1975 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, ist damit hinfällig. Die Rich- ter halten den absoluten Charakter der Pflicht zur Verfassungstreue in Deutschland für bedenklich, denn die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gelten auch für Beamte, und eine derart strenge Loyalitätspflicht gebe es in keinem anderen Mitgliedstaat. Zwar kann Straßburg keine deutschen Urteile kassieren, die Straßburger Entscheidungen sind jedoch bindend. Deutschland wird wohl für den durch über 13.000 Berufsverbote dokumentierten „McCarthyismus"' Schadensersatz leisten müssen. Jahrbuch der Europäischen Integration 1995/96 375

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Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention

Europarat und Europäische MenschenrechtskonventionANKE GIMBAL

Die Integration in die etablierte europäische Staatenorganisation scheint ein begehr-tes außenpolitisches Ziel zu sein und zu bleiben, denn der Zustrom an neuen Mit-gliedern ist ungebrochen: Am 13.7.1995 wurden Albanien und - als erstes Landder Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) - die Republik Moldawien in denEuroparat aufgenommen. Die Beitritte der Ukraine und der früheren jugoslawi-schen Republik Mazedonien folgten am 9.11.1995. Auch außereuropäische Staatenwie die USA, Japan und Kanada drängen auf Mitarbeit, die USA genießt inzwi-schen Beobachterstatus. Am 28.2.1996 wurde - nach der Wiederaufnahme des Bei-trittsverfahrens, das Anfang 1995 wegen des Tschetschenien-Krieges ausgesetztworden war - Rußland als nunmehr 39. Mitglied aufgenommen, im Gegensatz zuKroatien, dessen Beitrittsgesuch zum wiederholten Male abgelehnt wurde.

Im personellen Bereich wurde am 22.1.1996 eine wichtige Entscheidung getrof-fen. Die Parlamentarier wählten die erfahrene CDU-Politikerin Leni Fischer alserste Frau zur Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung und damit zurNachfolgerin des wegen seiner abgelaufenen dreijährigen Amtszeit scheidendenspanischen Sozialisten Miguel Angel Martinez. Fischer, ehemals Lehrerin, ist seit1976 Mitglied des Deutschen Bundestags; sie vertritt Deutschland in der Westeu-ropäischen Union (WEU) und seit 1985 in der Parlamentarischen Versammlungdes Europarats. Sowohl der Europarat als auch das Europäische Parlament werdennun von Deutschen geleitet.

Der deutsche Gesetzgeber wurde vom Straßburger Gerichtshof für Menschen-rechte zurechtgewiesen. Im Oktober 1995 beurteilte er die Entlassung einer bereitsfest eingestellten deutschen Lehrerin wegen angeblich mangelnder Verfassungs-treue als Verstoß gegen Meinungsfreiheit, Koalitionsfreiheit und gegen das Ver-hältnismäßigkeitsprinzip. Der „Extremistenerlaß" (Gemeinsamer Beschluß derRegierungschefs von Bund und Ländern vom 28.1.1972), dessen Rechtmäßigkeit1975 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, ist damit hinfällig. Die Rich-ter halten den absoluten Charakter der Pflicht zur Verfassungstreue in Deutschlandfür bedenklich, denn die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention(EMRK) gelten auch für Beamte, und eine derart strenge Loyalitätspflicht gebe esin keinem anderen Mitgliedstaat. Zwar kann Straßburg keine deutschen Urteilekassieren, die Straßburger Entscheidungen sind jedoch bindend. Deutschland wirdwohl für den durch über 13.000 Berufsverbote dokumentierten „McCarthyismus"'Schadensersatz leisten müssen.

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Ukraine - Rechtsstaatlichkeit auf Vorschuß

Die Parlamentarische Versammlung stimmte am 26.9.1995 während ihrer Herbst-sitzung der Aufnahme der Ukraine, die im Juli 1992 ein Beitrittsgesuch eingereichtund Gaststatus erhalten hatte, ohne Gegenstimmen zu. Der die Aufnahme des mit604.000 qkm Fläche zweitgrößten europäischen Staates empfehlende Bericht wür-digte die Bemühungen des Landes um eine demokratische und rechtsstaatlicheEntwicklung.

Ausschlaggebende Faktoren für die Zustimmung zum Beitritt waren also nichtdie tatsächliche Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, son-dern belohnt wurde der Weg dorthin. Die Ukraine verpflichtete sich im Gegenzug,innerhalb eines Jahres alle noch ausstehenden politischen Reformen so weit voran-zutreiben, daß die Normen des Europarats hinsichtlich demokratischer und rechts-staatlicher Strukturen und der Achtung der Menschenrechte erfüllt werden. Keinanderes Land hat sich bislang so umfassend festgelegt. Die Aufnahme des Landesin den Europarat bedeutet für die Ukraine, die Schwierigkeiten hat, ihre europäi-sche Rolle zu definieren, einen wichtigen Schritt voran in der Anbindung anEuropa.

Rußland - zweifelhafte Aufnahme kriterien

Aufsehen in der Öffentlichkeit und kontroverse Debatten erregte der Europarat mitder Entscheidung, Rußland aufzunehmen. „Unter dem Eindruck des Krieges inTschetschenien und der blutigen Geschehnisse im benachbarten Dagestan"2 hat dieParlamentarische Versammlung Ende Januar 1996 über den Beitritt Rußlands bera-ten - und ihn kurz darauf mit 164 Stimmen, 35 Gegenstimmen und 25 Enthaltun-gen, d.h. weit mehr als den erforderlichen zwei Drittel der Stimmen, befürwortet3.

Der Politische und Rechtsausschuß der Parlamentarischen Versammlung kon-statierte zwar, daß Rußland noch nicht alle Bedingungen erfülle, doch solle nachdem Prinzip „Integration statt Isolation" 4 verfahren werden, um eine neue Spal-tung des europäischen Kontinents sowie eine Gefährdung der Sicherheit Europaszu vermeiden. Man war der Ansicht, eine Ablehnung des Aufnahmeantrags spieleden Reformgegnern in Moskau in die Hände, während die Einbindung Rußlandsals Partner Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte stärke. Rußland ver-pflichtete sich unter anderem, durch Reformen das Rechtsstaatsprinzip zu gewähr-leisten, den Strafvollzug zu verbessern, Minderheiten besser zu schützen, dieEMRK am Tage des Beitritts zu unterzeichnen und innerhalb eines Jahres zu ratifi-zieren sowie den Vollzug von Todesstrafen auszusetzen und binnen drei Jahren dasentsprechende Protokoll zur Abschaffung der Todesstrafe zu ratifizieren. Zur Unter-stützung dieser Verpflichtungen wurde schon im Februar ein von Europarat undEuropäischer Kommission gemeinsames, mit 1,2 Mio. ECU kofinanziertes Pro-gramm zur Verbesserung der Organe und der Reform des Rechtssystems in derRussischen Föderation in die Wege geleitet, das bis Ende 1997 laufen soll. Esergänzt Maßnahmen der Europäischen Union im Rahmen von TACIS sowie des

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Europarats im Rahmen von DEMOSTHENE, LODE und THEMIS und zielt aufeine Stärkung der russischen föderalen Strukturen, die Einführung eines Mecha-nismus zum Schutz der Menschenrechte und die Reform des Rechtssystems. Ent-sprechende Programme gibt es bereits für Albanien (seit Anfang 1993), Estland,Lettland und Litauen (seit Anfang 1994) und für die Ukraine (seit Anfang 1995)5.

Rußland wurde darüber hinaus aufgefordert, internationale und nationale Kon-flikte künftig mit friedlichen Mitteln zu lösen. Der größere Teil der Abgeordnetenund Redner der Beitrittsdebatte im Parlament schien der Ansicht zu sein, daß Ruß-land dieses Programm einhalten wird. Vor allem Deutschland forcierte die Auf-nahme nachhaltig, so daß der russische Präsident, Boris Jelzin, insbesondere Bun-deskanzler Helmut Kohl - dem Jelzin anläßlich einer Rußlandreise Kohls eine„persönliche Medaille"6 verlieh - für die Hilfe beim Einzug Rußlands in den Euro-parat dankte7. Die Medaille erhielt anschließend auch Pavel Gratschow, damals dernach Jelzin zweithöchste Feldherr im Tschetschenienkrieg.

Für die Minderheit der Beitrittsgegner in Parlament und Öffentlichkeit setzteder Europarat bei der positiven Entscheidung über die Aufnahme hingegen seineGlaubwürdigkeit aufs Spiel: Die „russische Politik der verbrannten Erde" im Kau-kasus erinnere an eine „großrussische Mischung aus Unfähigkeit und Brutalität"8.Im Gegensatz zu den Befürwortern des Beitritts verlangte beispielsweise der ehe-malige US-Außenminister Henry Kissinger mehr Politik statt Psychotherapie, dennmehr Härte diene nicht nur dem Westen, sie helfe auch den Demokraten in Ruß-land9.

Das tatsächliche Verhalten Jelzins vor dem Aufnahmebeschluß ließ jedenfallsnicht auf ein Umdenken in der Tschetschenien-Politik schließen. Während seinSprecher erklärte, sein Land müsse umgehend in den Europarat aufgenommen wer-den, damit in Rußland nicht Kräfte an Einfluß gewännen, die den Tschetschenien-Konflikt mit unmenschlichen Methoden lösen wollten10, kündigte Jelzin gleichzei-tig vor dem Föderationsrat noch einmal die „bedingungslose Vernichtung" derbewaffneten Aufständischen, in Tschetschenien an. Und Jelzins Pressesprecherbewertete später gar die Aufnahme als „... Verständnis für die Methoden des Kremlim Kampf gegen die Terroristen in Tschetschenien"".

Der Schwerpunkt der russischen Interessen liegt wohl auch weniger in der Stär-kung der Demokratie als in der Sicherung eines Mitspracherechts in allen europäi-schen Angelegenheiten. Die mit dem Beitritt formal abgesicherte Ausweitung desrussischen Einflusses feierte eine russische Zeitung gar mit den Worten „der Euro-parat ist erobert" in der Sprache der Kriegführung als einen Sieg12. Für Fortschrittebei den Menschenrechten spricht auch nicht gerade, daß sowohl der ehemaligeVizepräsident des Obersten Gerichts der Sowjetunion wie auch zwei verdiente ehe-malige Militärstaatsanwälte - die Militärjustiz in der Sowjetunion war für ihreBrutalität bekannt - wissenschaftliche Mitarbeiter des Ausschusses für Menschen-rechte des russischen Föderationsrats sind13.

Der Optimismus hinsichtlich des positiven Einflusses des Europarats auf dierussischen Verhältnisse ist inzwischen einem Gefühl der Besorgnis gewichen. So

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zeigte der Europarat Betroffenheit über die allein im März vollstreckten 30Todesurteile - schließlich hatte Rußland sich erst im Februar verpflichtet, dieTodesstrafe auszusetzen. Auch mit dem Fortgang des Friedensprozesses in Tsche-tschenien war man nicht zufrieden. Die Parlamentarische Versammlung stellte fest,daß sich die Situation seit dem Beitritt sogar verschlechtert hatte und verurteiltedie gröbliche Mißachtung der Grundsätze und Prinzipien des Europarats sowie deshumanitären Völkerrechts durch die Regierung in Moskau14. Anders das Minister-komitee, das wegen der Präsidentschafts wählen im Juni/Juli 1996 Zurückhaltungübte und Moskau nicht offiziell mißbilligen wollte, oder, anders ausgedrückt, „auslauter diplomatischer Rücksichtnahme in Tiefschlaf verfiel"15.

USA - ein Gegengewicht

Einen allgemeinen Beobachterstatus hatte der Europarat bislang nur Israel aufGrund seiner besonderen politischen Situation eingeräumt, während die 1989 ein-geführte spezielle Form postkommunistischen Reformstaaten mit umfassender Mit-arbeit ohne Stimmrecht der Vorbereitung auf die Vollmitgliedschaft diente. ImJanuar 1996 wurde nun den USA der im August 1995 beantragte Beobachterstatusgewährt. Damit erhielten die USA die Möglichkeit, Beobachter in die Experten-ausschüsse des Europarats sowie zu einzelnen Ministerkonferenzen zu entsenden.

Vor allem Frankreich hatte die Mitarbeit nichteuropäischer Staaten zunächststrikt abgelehnt und auf der geographischen Beschränkung des Europarats auf denalten Kontinent bestanden. Die meisten Regierungen befürworteten jedoch denBeobachterstatus der USA, weil sie sich unter anderem ein amerikanisches Gegen-gewicht zur Aufnahme Rußlands versprachen. Auch wollte insbesondere Deutsch-land das amerikanische Dauerengagement in Europa erhalten wissen. Bedeutunghat diese Entscheidung für die Zusammenarbeit mit den USA bei der Förderungder Stabilität der neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Der Vorschlag, allenOSZE-Staaten die Beobachterrolle zu gewähren, und so den Kontakt zu deneuropäischen Überseeländern Kanada, Australien und Neuseeland auszubauen,wird noch diskutiert16.

Kroatien - eine folgerichtige Entscheidung?

Als „politisches Kabarett"17 wurde die Nichtaufnahme Kroatiens in den Europaratin den Medien bezeichnet, denn Gründe, die bei Rußland nicht gegen den Beitrittsprachen, diskreditierten Kroatien.

Obwohl die Parlamentarische Versammlung im April 1996 positiv über den Auf-nahmeantrag Kroatiens entschieden hatte18, bemängelte das Ministerkomitee dieBeachtung der Menschenrechte, widersprach Mitte Mai erstmals den Empfehlun-gen der Parlamentarischen Versammlung und nahm Kroatien nicht in den Europa-rat auf: Kroatien erfülle hinsichtlich Menschenrechtsschutz und Demokratie nichtdie Anforderungen der Charta des Europarats an seine Mitglieder. Es mangele anMedienfreiheit, das Fernsehen sei verstaatlicht, der Einfluß der Regierung auf die

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Printmedien groß, die Unabhängigkeit der Justiz sei nicht garantiert, der Gewalten-teilung könne man nicht vertrauen, Minderheiten seien nur mangelhaft bzw. garnicht geschützt19.

Diese Haltung kann man nur als scheinheilig bezeichnen, denn bei der Bewer-tung der Fähigkeiten Kroatiens und Rußlands, dem Europarat beizutreten, wurdemit zweierlei Maß gemessen. Auch bei der Aufnahme Rumäniens, der Slowakeiund Albaniens wurden hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit Bedenken geäußert undletztlich in der Hoffnung auf Besserung hintangestellt. Die Gründe, die gegen eineAufnahme Kroatiens sprechen, hätten also auch gegen die Aufnahmeanträge ande-rer Staaten vorgebracht werden können, die in den vergangenen Jahren Mitgliedgeworden sind. Die Entscheidung des Ministerkomitees wurde maßgeblich von derEuropäischen Union beeinflußt, denn die EU-Staaten hatten vorher intern beschlos-sen, sich der Aufnahme zu widersetzen, da sie die laufenden Reformen und dieBefolgung des Abkommens von Dayton durch Kroatien unzureichend fanden20.Dies brachte dem Europarat den Vorwurf ein, sich nach den Wünschen der Europäi-schen Union zu richten.

Türkei - noch ein Problemfall

Die Diskussion über die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei trat - zumin-dest in der Öffentlichkeit - durch die spektakuläre Aufnahme Rußlands in den Hin-tergrund. Die Probleme, die im Vorjahr zur Einstellung der Arbeit der türkischenDelegierten geführt hatten, bedurften jedoch der Klärung. Ende April 1996 stelltedie Parlamentarische Versammlung fest, daß die Türkei ihre 1995 gemachten Zusa-gen im Bereich der verfassungsrechtlichen und legislativen Reformen weitgehendeingehalten hat. Allerdings wurde die Änderung von Art. 8 des Antiterrorgesetzes,der in der Vergangenheit immer wieder umstrittene Grundlage für schwerwiegendeMenschenrechtsverletzungen war und an Art. 10 EMRK angepaßt werden sollte,nicht als ausreichend angesehen. Trotzdem beendete die Parlamentarische Ver-sammlung die Weiterverfolgung der Entschließung aus dem Vorjahr, insbesonderedie Androhung des Ausschlusses, und regte die Aufnahme in das für MOE-Staatengeschaffene Beobachtungsverfahren an21.

Das Ministerkomitee äußerte sich zu diesem Thema nicht. Jedoch verhängte derEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juni 1996 erstmals Sanktionengegen die Türkei22. Das Land wurde zur Zahlung von Entschädigungen an dreiPersonen verurteilt, die ungerechtfertigt lange in Untersuchungshaft waren. ZweiOppositionspolitiker hatten zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft gesessen,bevor sie im Prozeß freigesprochen wurden. Der Gerichtshof folgte den Argumen-ten der türkischen Behörden nicht, die die lange Haftzeit mit Fluchtgefahr begrün-det hatten.

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Albanien -fragwürdige Wahlmethoden

Die Parlamentswahlen in Albanien im Mai 1996 zeichneten sich nicht durch Frei-heit und Gleichheit aus. Die gezielte Fälschung bei der Stimmenauszählung, dieEinschüchterung von Wählern, Gewalttätigkeiten in verschiedenen Städten und derRückzug der Oppositionsvertreter aus den Wahlbüros - vom albanischen PräsidentSali Berisha „technische Unzulänglichkeiten" genannt23 - beeinträchtigten dieGlaubwürdigkeit des Urnengangs. Nachdem sich die größten Oppositionsparteienwegen des Vorwurfs massiver Wahlfälschungen und der Einschüchterung durch dieRegierungspartei (DP) sowie die Staatsorgane aus dem Wahlprozeß zurückgezo-gen hatten und auch bei den teilweisen Wahlwiederholungen nicht mehr angetretenwaren, bestimmt nun die DP allein die Gesetzgebung. Sie herrscht mit ihrer Zwei-drittelmehrheit der Mandate auch über die Verfassung.

Der Europarat hatte trotz der Entsendung von Wahlbeobachtern zunächst nichtsdazu zu sagen, obwohl die gegenwärtige Lage die demokratische EntwicklungAlbaniens gefährdet. Später kritisierte die Parlamentarische Versammlung denAblauf der Parlamentswahlen und forderte Neuwahlen.

Schwindende Glaubwürdigkeit und zuviel Nachsicht

Die Aufnahme eines Staates in den Europarat galt bislang als Gütesiegel für Rechts-staatlichkeit, Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte. Die Ablehnung desBeitritts Kroatiens entsprach den Kriterien. Die Aufnahme Rußlands in die bislanggeachtete Staatenorganisation gibt jedoch einigen Grund zu Zweifeln über die Auf-nahmebedingungen. Insbesondere der Mangel an Möglichkeiten, Regelverstöße zuahnden, stimmt bedenklich. Reformen sind dringend notwendig, denn nicht nurRußland kümmert sich nicht um die eingegangenen Verpflichtungen, wie die Besei-tigung der Todesstrafe, das Recht auf Zivildienst, die Anerkennung des Gerichts-hofs für Menschenrechte sowie Festnahmen ohne richterlichen Beschluß24. Dasbetrifft auch die Menschenrechts Verletzungen in Tschetschenien und in der Türkei,die fehlende Reaktion auf den Wahlverlauf in Albanien usw. Unter diesen Umstän-den ist absehbar, daß die Mitgliedschaft bald nur noch symbolische Bedeutunghaben wird.

14 Länder wurden in den letzten vier Jahren aufgenommen, die ihre juristischenund institutionellen Reformen noch vertiefen und ergänzen müssen. Das Überwa-chungssystem des Europarats (Monitoring), das auch bei „alten" Mitgliedstaatenzum Einsatz kommen soll, muß daher für die Einhaltung der von den Mitgliedstaa-ten übernommenen Verpflichtungen auch wirklich effizient sein, da andernfalls dieGlaubwürdigkeit des gesamten Europarats stark leiden würde23. Dies sieht wohlauch die Parlamentarische Versammlung. Sie schuf im April 1996 die Möglichkeitzu kurzfristigen Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten, die ihren beim Beitritt ein-gegangenen Verpflichtungen nicht nachkommen. Parlamentarier eines Landes, dasdie Grundprinzipien der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte verletztoder aber die Zusammenarbeit bei der Überprüfung seiner beim Beitritt eingegan-

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genen Verpflichtungen verweigert, können künftig von den Beschlüssen oder dergesamten Arbeit der Versammlung ausgeschlossen werden. Wenn mindestens zweinationale Delegationen aus den 39 Mitgliedstaaten und zwei politische Gruppenspätestens zwei Wochen vor einer Sitzung der viermal im Jahr zusammentretendenVersammlung oder des in der Zwischenzeit tagenden Ständigen Ausschusses einenentsprechenden Antrag stellen, muß eine Debatte stattfinden. Die Geschäftsord-nung sieht mehrere abgestufte Formen von Sanktionen vor: Bei weniger schwer-wiegenden Vorwürfen gegen ein Land kann dessen Delegation mit einfacher Mehr-heit das Recht auf die Einreichung offizieller Dokumente sowie auf die Teilnahmean Abstimmungen entzogen werden. Das Rederecht bleibt den Abgeordnetenjedoch erhalten. Bei schwerwiegenden Verstößen eines Landes gegen die Normendes Europarats kann die betroffene Delegation mit einer Zweidrittelmehrheit ganzvon der Arbeit der Versammlung und ihrer Gremien ausgeschlossen werden. Damitverbunden kann das Ministerkomitee in Form einer Empfehlung aufgefordert wer-den, die Mitgliedschaft des Landes auf bestimmte Zeit ruhen zu lassen oder ganzzu beenden. Bei Beschlüssen über diese abgestuften Sanktionen, die bisher nurzum Ende eines Jahres eingeleitet werden konnten, dürfen die Mitglieder derbetroffenen Delegation nicht selbst abstimmen26. Einen ersten Erfolg kann die Sta-tutenänderung schon verzeichnen. Estland, schon seit 1993 Mitglied des Europa-rats, hatte die Europäische Menschenrechtskonvention als eine der wichtigstenBeitrittsvoraussetzungen erst im März 1996 vor dem Hintergrund der Statutenän-derung und dem drohenden Ausschluß von der turnusmäßig anstehenden Über-nahme des Vorsitzes des Landes im Ministerkomitee im Mai 1996 übernommen.

Jedoch ist nicht nur das Sanktionssystem reformbedürftig. Auf die geradezuexplosionsartige Erweiterung des Europarats, die seinen politischen Schwerpunktstetig weiter nach Osten verschob, muß jetzt eine „Phase der Konsolidierung" fol-gen27. Aufgabenstellung, Strukturen und Arbeitsteilung müssen überprüft werden,Reformen zur Vertiefung der Zusammenarbeit, zur Stärkung der Arbeitsfähigkeitund die Konzentration auf inhaltliche Arbeit sind notwendig. Da die Verwaltungheute über das gleiche Budget wie mit 23 Ländern vor sechs Jahren verfügt, drängtinsbesondere die Erhöhung der Finanzmittel für das Monitoring-System. Sonstversinkt der Europarat in die Bedeutungslosigkeit - die Präsidentin der Parlamen-tarischen Versammlung, Leni Fischer, beklagte schon die mangelhafte Beachtungdes Europarats in der politischen Wissenschaft, großen Teilen der Politik und derPublizistik28.

Anmerkungen1 So Kühnert, Hanno: Zu spätes Recht ist S. 5.

Unrecht, in: Die Zeit v. 06.10.1995, S. 83. 4 „Der Europarat vor der Aufnahme Ruß-2 Vgl. „Streit über die Aufnahme Rußlands in lands", in: FAZ v. 22.12.1995, S. 6.

den Europarat", in: Frankfurter Allgemeine 5 Vgl. Agence Europe v. 15.02.1996, S. 6 undZeitung v. 26.01.1996, S. 1. Agence Europe v. 12./13.02.1996, S. 11.

3 Vgl. auch Agence Europe v. 27.01.1996. 6 „Träger des Jelzin-Ordens", in: FAZ v.

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01.03.1996, S. 3.7 Gennrich, Claus: Die Europäer sollen in

einem Block leben und nicht in zweien, in:FAZv. 21.02.1996, S. 3.

8 „Noch nicht reif", in: FAZ v. 22.01.1996,S. 14.

9 Nonnenmacher, Günther: Prinzipien stattPersonen, in: FAZ v. 25.01.1996, S. 1.

10 „Falsche Nachsicht", in: FAZ v. 24.01.1996,S. 1.

11 S. „Moskau nach der Aufnahme in den Euro-parat zufrieden und erleichtert", in: FAZ v.27.01.1996, S. 1 f.

12 Vgl. Diehl, Günter: Rußland im Europarat,in: Die politische Meinung, Mai 1996, S. 12.

13 Shroeder, Friedrich-Christian: Wie in Ruß-land Gesetze entstehen. Der Präsident undalte Genossen, in: FAZ v. 09.03.1996, S. 12.

14 Vgl. „Besorgnis im Europarat über Exekutio-nen in Rußland", in: Neue Zürcher Zeitungv. 23.04.1996, S. 5.; Agence Europe v.27.03.1996, S. 5.; „Europarat verurteilt Ruß-land", in: Das Parlament Nr. 19, 03.05.1996,S. 1.

15 Hausmann, Hartmut: Parlamentarische Ver-sammlung: Schwere Vorwürfe an Rußland,in: Das Parlament Nr. 20, 10.05.1996, S. 13.

16 „Die Ukraine und Mazedonien im Europarat.Amerika und Japan als Beobachter in Straß-burg?", in: NZZ v. 10.1 1.1995; Hausmann,Hartmut: Neue Mitglieder im Europarat.USA: Interesse an der Straßburger Organisa-tion, in: Das Parlament Nr. 47, 17.11.1995,S. 15.

17 Reißmüller, Johann Georg: Europa zurUnehre, in: FAZ v. 21.05.1996, S. 1.

18 Vgl. „Kroatien wird in den Europarat aufge-nommen. Entscheid der Straßburger Ver-sammlung", in: NZZ v. 25.04.1996, S. 1.

19 Rhinow, Rene: Kroatien in den Europarat? -Jetzt nicht!, in: NZZ v. 23.04.1996, S. 5.

20 Vgl. Agence Europe v. 15.05.1996, S. 4;Agence Europe v. 16.05.1996, S. 3; Haus-mann, Hartmut: Ministerkomitee lehnt ab:keine Aufnahme Kroatiens in den Europarat,in: Das Parlament Nr. 24-25, 7./14.06.1996,S. 12.

21 Hausmann, Hartmut: Forderungen des Euro-parats. Weitergehende Reformen in der Tür-kei, in: Das Parlament Nr. 19, 03.05.1996,S. 2.

22 „Menschenrechts-Gerichtshof: Sanktionengegen Ankara", in: FAZ v. 09.06.1995, S. 6.

23 „Der Westen übt deutliche Kritik an denWahlen in Albanien", in: FAZ v. 01.06.1996,S. 6.

24 Vgl. „Realitätsverlust", in: FAZ v. 05.02.1996, S. 10.

25 So der amtierende Präsident der OSZE, Fla-vio Cotti, in: Agence Europe v. 25.01.1996,S. 3.

26 „Sanktionsmöglichkeiten im Europarat.Druck auf die Mitglieder zur Einhaltung ihrerVerpflichtungen", in: NZZ v. 24.04.1996, S.5.

27 S. Hausmann, Hartmut: Europarat. Phase derKonsolidierung, in: Das Parlament Nr. 7,09.02.1996, S. 1.

28 Fischer, Leni: Ungenügend zur Geltung kom-mender Europarat, in: FAZ (Briefe an dieHerausgeber), v. 21.03.1996, S. 8.

Weiterführende LiteraturDiehl, Günter: Rußland im Europarat, in: Die

politische Meinung, Mai 1996, S. 11-14.Frankenberger, Klaus-Dieter: Der Europarat hat

seine Unschuld verloren, in: FAZ v.13.05.1996, S. 7.

Schumann, Klaus: The role of the Council ofEurope, in: Miall, Hugh (Hrsg.): MinorityRights in Europe. The Scope for a Transna-

tional Regime, Chatham House Papers, Lon-don, 1994, S. 87-98.

Winkler, H.: Democracy and Human Rights inEurope. A Survey of the Admission Practiceof the Council of Europe, in: Austrian Jour-nal of Public and International Law, Bd. 47,Nr. 2-3/1995.

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