Europäisches Gesellschaftsrecht - uni-bonn.de · 2011. 1. 25. · 2007, Art. 28-30 EGV, Rn. 1-160....

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Dr. Oliver Mörsdorf WS 2010/2011 Europäisches Gesellschaftsrecht § 1 Schrifttum I. Texte Sodan (Hrsg.), Öffentliches, Privates und Europäisches Wirtschaftsrecht, 11. Aufl. 2010 (AEUV, materielles deutsches Gesellschaftsrecht (HGB, AktG, GmbHG, kein UmwG!) Eine Zusammenstellung der zum Gesellschaftsrecht ergangenen EU-Richtlinien und -Verordnungen wird den Teilnehmern der Vorlesung im Sekretariat des Instituts für IPR und Rechtsvergleichung, Lehrstuhl Prof. Dr. Wulf-Henning Roth als Kopiervorlage zur Verfügung gestellt. Elektronisch sind EU-Sekundärrechtsakte und Urteile des EuGH abrufbar unter: www.eurlex.eu bzw. www.jura.uni-augsburg.de/fakultaet/lehrstuehle/moellers/materialien /4_gesellschaftsrecht II. Lehrbücher derzeit keine aktuelle Literatur: Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004 (Neuaufl. 2011) Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006 (Neuaufl. 2011) Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000 III. Beiträge in Kommentaren und Sammelwerken Engert, in: Langenbucher: Gemeinschaftsrechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, § 5 Kindler, in: Münchner Kommentar BGB, 5. Aufl., 2010, IntGesR (sehr grundlegend) Weller, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Kap.21 IV. Ausgewählte deutsche Monographien Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006 Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004 Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996 V. Fallbücher Groh/Nath, Fälle zum Internationalen Gesellschaftsrecht, 2010 § 2 Einführung I. Gegenstand Einfluss (inhaltliche Vorgaben und Wirkungsweise) des Rechts der Europäischen Union (EU) und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) auf nationales (deutsches) Gesellschafts-(Kollisions-)Recht. Neben rechtlichem Einfluss auch tatsächlicher Einfluss durch Anpassungsdruck auf nationalen Gesetz- geber (Steigerung der „Exportfähigkeit“ deutscher Gesellschaftsformen durch §§ 4a II GmbHG, 5 II AktG, § 5a GmbHG neu; „Flucht aus dem Gesellschaftsrecht“ durch Gesetzgeber [§ 15a InsO neu] und Rspr. [deliktische Qualifikation des „existenzvernichtenden Eingriffs“]). 1

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  • Dr. Oliver Mörsdorf WS 2010/2011

    Europäisches Gesellschaftsrecht § 1 Schrifttum I. Texte Sodan (Hrsg.), Öffentliches, Privates und Europäisches Wirtschaftsrecht, 11. Aufl. 2010 (AEUV, materielles deutsches Gesellschaftsrecht (HGB, AktG, GmbHG, kein UmwG!) Eine Zusammenstellung der zum Gesellschaftsrecht ergangenen EU-Richtlinien und -Verordnungen wird den Teilnehmern der Vorlesung im Sekretariat des Instituts für IPR und Rechtsvergleichung, Lehrstuhl Prof. Dr. Wulf-Henning Roth als Kopiervorlage zur Verfügung gestellt. Elektronisch sind EU-Sekundärrechtsakte und Urteile des EuGH abrufbar unter: www.eurlex.eu bzw. www.jura.uni-augsburg.de/fakultaet/lehrstuehle/moellers/materialien /4_gesellschaftsrecht II. Lehrbücher derzeit keine aktuelle Literatur: Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004 (Neuaufl. 2011) Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006 (Neuaufl. 2011) Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000 III. Beiträge in Kommentaren und Sammelwerken Engert, in: Langenbucher: Gemeinschaftsrechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. 2008, § 5 Kindler, in: Münchner Kommentar BGB, 5. Aufl., 2010, IntGesR (sehr grundlegend) Weller, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010, Kap.21 IV. Ausgewählte deutsche Monographien Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, 2006 Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004 Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996 V. Fallbücher Groh/Nath, Fälle zum Internationalen Gesellschaftsrecht, 2010 § 2 Einführung I. Gegenstand Einfluss (inhaltliche Vorgaben und Wirkungsweise) des Rechts der Europäischen Union (EU) und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) auf nationales (deutsches) Gesellschafts-(Kollisions-)Recht. Neben rechtlichem Einfluss auch tatsächlicher Einfluss durch Anpassungsdruck auf nationalen Gesetz-geber (Steigerung der „Exportfähigkeit“ deutscher Gesellschaftsformen durch §§ 4a II GmbHG, 5 II AktG, § 5a GmbHG neu; „Flucht aus dem Gesellschaftsrecht“ durch Gesetzgeber [§ 15a InsO neu] und Rspr. [deliktische Qualifikation des „existenzvernichtenden Eingriffs“]).

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  • II. Rechtsquellen 1. EU-Primärrecht/EWR: Grundfreiheiten a) Grundfreiheiten des EU-Primärrechts Recht der Europäischen Union (EU), geregelt u.a. im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV (seit dem Reformvertrag von Lissabon, zuvor Vertrag über die Europäische Gemeinschaft, EG). Supranationale Organisation mit eigener Rechtssetzungsbefugnis (s.u. 2.) AEUV gewährleistet als Teil des Primärrechts 4 Grundfreiheiten (Marktfreiheiten). Ziel: Verwirklichung des Binnenmarktes durch Beseitigung von Hindernissen für die freie Zirkulation von Produkten und Produktionsfaktoren, vgl. Art. 26 AEUV (ex Art. 14 EG). Verbot von Diskriminierungen und sonstigen Beschränkungen seitens der Mitgliedstaaten (negative Integration). Für das Gesellschaftsrecht relevante Grundfreiheiten: aa) Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49, 54 AEUV (ex Art. 43, 48 EG) bb) Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit gem. Art. 63 AEUV (ex Art. 56 EG) b) Grundfreiheiten des EWR Vertrag über Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zwischen Mitgliedern der EU und (ehemaligen) Mitgliedern der europäischen Freihandelsassoziation EFTA. Völkerrechtlicher Vertrag i.S. eines Freihandelsabkommens. Keine supranationalen Strukturen (insbes. keine eigene Rechtsetzungs-befugnis). Aber: Nahezu identische Regelungen zu den Grundfreiheiten (Art. 31, 34 EWRV: Niederlassungsfreiheit; Art. 40 EWRV: Kapitalverkehrsfreiheit). Auslegung durch EFTA-Gerichtshof (enge Anlehnung an Rspr. EuGH). Relevant für EWR-Mitgliedstaaten Island, Liechtenstein und Norwegen (nicht zugleich EU-Mitglieder). 2. EU-Sekundärrecht Innerhalb der EU (nicht: EWR) Erreichung des Binnenmarktziels durch Erlass von Rechtsakten zur Angleichung nationaler Rechtsvorschriften (positive Integration). Besondere Relevanz in Bereichen, in denen nationale Beschränkungen nach der Rechtfertigungsdogmatik der Grundfreiheiten aufrecht-erhalten werden dürfen oder zur Vermeidung einer Inländerbenachteiligung bei fehlender Recht-fertigungsmöglichkeit (s.u. § 3 I.1.b)). a) Richtlinien (Art. 288 III AEUV, ex Art. 249 III EG) An die Mitgliedstaaten gerichtet. Bedürfen der Umsetzung in das nationale Recht. Keine unmittelbare Anwendbarkeit im Horizontalverhältnis, aber: Pflicht zur RL-konformen Auslegung des nationalen Rechts (ausführlich zur Wirkung von RLen im Privatrecht s.u. § 4 I). Im Bereich des Gesellschaftsrechts (i.w.S., einschl. handelsrechtl. Publizität und Rechnungslegung) bislang Erlass von 14 RLen auf Basis von ex Art. 44 II lit.g EG (jetzt Art. 50 II lit.g AEUV). Regelungsschwerpunkte: Handelsrechtl. Publizität; Rechnungslegung; Partielle Harmonisierung des Rechts der „großen Kapitalgesellschaft“ (AG) einschl. des Umwandlungsrechts, punktuelle Harmonisierung des Rechts der „kleinen Kapitalgesellschaft“ (GmbH); Förderung der Mobilität grenzüberschreitend tätiger Unternehmen.

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  • b) Verordnungen (Art. 288 II AEUV, ex Art. 249 II EG) Unmittelbare Anwendbarkeit. Bedürfen keiner Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Im Bereich des Gesellschaftsrechts bisher Erlass von 3 VOen auf Grundlage von ex Art. 308 EG (jetzt Art. 352 AEUV) zur Einführung supranationaler Rechtsformen. Europäische Interessenvereinigung (EWIV), Europäische (Aktien-)Gesellschaft (SE), Europäische Genossenschaft (SCE), die letzten beiden flankiert durch RL zur Arbeitnehmermitbestimmung. Geplant: VO zur Einführung der Europäischen Privatgesellschaft (SPE: kleine KapitalG, entspr. GmbH: Vorschlag vom 25.6.2008). § 3 Einwirkung der Grundfreiheiten auf das nationale Gesellschafts(Kollisions-)Recht I. Allgemein zur Dogmatik der Grundfreiheiten (Wdh.) Literatur: Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 7; Herdegen, Europarecht, 12. Auflage 2010, §§ 14-18; Streinz, Europarecht, 8. Auflage 2008, § 12; Ruffert, JuS 2009, 97; grundlegend: Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 28-30 EGV, Rn. 1-160. 1. Gewährleistungsgehalt – Entwicklung der Dogmatik durch den EuGH am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit Artt. 34, 35 AEUV (ex Art. 28, 29 EG): „Maßnahmen gleicher Wirkung“ a) Diskriminierungsverbot bzw. Gebot der Inländergleichbehandlung. Erfasst unmittelbare und mittelbare (versteckte) Diskriminierungen = unterschiedliche Auswirkung formell unterschiedslos anwendbarer Maßnahmen durch Anknüpfung an Kriterien, die regelmäßig von Ausländern erfüllt werden (z.B. Sprache oder Wohnsitz im Ausland). Schwierige Abgrenzung zu bloßen Beschränkungen (vgl. sogleich [b]) b) Darüber hinausgehend: Beschränkungsverbot hinsichtlich unterschiedslos anwendbarer Maß-nahmen (EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8 – Dassonville). Problem: Inländerbenachteiligung? Nicht von Anwendungsbereich der Grundfreiheiten erfasst. Seit EuGH, verb. Rs. C-267/91 und 268/91 – „Keck“: Differenzierung zwischen unter das Beschränkungsverbot fallenden produktbezogenen Regelungen und nicht hiervon betroffenen Verkaufsmodalitäten. c) Rechtfertigung aa) Schranken (1) Geschriebene Schranken gem. Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV): Nur eng begrenzte Ziele, u.a. Öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, Schutz des Lebens/der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen ... Gilt für Diskriminierungen und Beschränkungen. (2) Immanente Schranken: Unionsgrundrechte (vgl. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger). Darüber hinaus: Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (vgl. EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon): Fülle möglicher Regelungsziele, teilweise identisch mit primärrechtlichen Zielvorgaben [Umweltschutz, Verbraucherschutz], aber auch: Kohärenz des Steuersystems etc.); Keine Verfolgung „wirtschaftlicher Gründe“ (st. Rspr. EuGH, vgl. Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831, Rn. 39 – Decker, = Keine Ermächtigung für protektionistische Wirtschaftspolitik). Rechtfertigungsgrund nur anwendbar auf Beschränkungen? (vgl. EuGH, Rs. 261/81, Slg. 1982, 3961, Rn. 12 – Rau/de Smedt: Erforderlichkeit einer „Regelung, die unter-schiedslos für einheimische wie für eingeführte Erzeugnisse gilt“). Neuere Rspr. tendiert zur Er-

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  • streckung auf mittelbare Diskriminierungen bzw. einheitlichem Rechtfertigungsgrund (zur Rspr. des EuGH und zum Diskussionsstand im Schrifttum: Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art 28-30 EGV, Rn. 82 ff.). bb) Schranken-Schranken = Verhältnismäßigkeit: Art. 36 AEUV bzw. sog. „Cassis-Formel“ (1) Geeignetheit (Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten) (2) Erforderlichkeit: Kein „milderes Mittel“ i.S. der Zweckerreichung durch weniger einschneidende Maßnahmen (Informationsmodell, gleichwertige Schutzmechanismen des Herkunftslandes) (3) Angemessenheit (fällt in Rspr. des EuGH regelmäßig mit Prüfung der Erforderlichkeit zusammen) 2. Wirkung a) Partizipation am allgemeinen Anwendungsvorrang des Primärrechts. Bindet Verbotsadressaten (s.u.3.) unmittelbar. D.h. Nichtigkeit primärrechtswidriger Sekundärrechtsakte (vgl. hierzu jüngst GA Kokott, Schlussantr. zu EuGH C-236/09 zur Nichtigkeit von Art. 5 II RL 2004/113/EG wg. Unvereinbarkeit mit Art. 6 I AEUV i.V.m. Art. 21 Gr-Ch); Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts (vgl. erstmals EuGH, Rs. 62/62, Slg. 1963, 1, Rn. 25 ff. – Van Gend & Loos zu ex Art. 12 EWG, jetzt Art. 30 AEUV: Verbot neuer Ein- und Ausfuhrzölle). Gilt auch für Grundfreiheiten (EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 5-7 – Van Duyn). Zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Primärrecht (Grundrechte) auch im Privatrecht (Horizontalverhältnis) vgl. EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 77 - Mangold). b) Primärrechtskonforme Auslegung von Sekundärrechtsakten. Unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. Allgemeiner Grundsatz (gilt auch für RL, s.u. § 4 I; für das Primärrecht erstmals: EuGH, Rs. 157/86, Slg. 1988, 673, Rn. 11 – Murphy zu ex Art. 119 EWG, jetzt Art. 157 AEUV: Entgeltgleichheit für Männer und Frauen; speziell für Grundfreiheiten [Arbeit-nehmerfreizügigkeit] vgl. nur EuGH, Rs. C-165/91, Slg. 1994, I-4661, Rn. 34 – Van Munster). Wegen normerhaltendem Charakter hat UkA Vorrang ggü. Nichtanwendung nationaler Norm. 3. Adressaten a) EU: Unionsgesetzgeber beim Erlass, EuGH bei der Auslegung von Sekundärrechtsakten b) Mitgliedstaaten und Untergliederungen aa) Legislative, etwa im Rahmen des Erlasses gesetzlicher Regelungen, welche Ausübung der Nieder-lassungsfreiheit von EU-Marktbürgern beeinträchtigen (Gesellschafts[Kollisions-]Recht, Deliktsrecht, Insolvenzrecht, Gewerberecht etc.). bb) Exekutive/Judikative: Pflicht zur unionsrechtskonformen Anwendung (bzw. Nichtanwendung, s.o. 2.a)) und Auslegung nationaler Gesetze (zur Rechtsfortbildung vgl. nunmehr für Richtlinien BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427 – Quelle). Anwendung und Fortentwicklung von Richterrecht etwa im Bereich des Gesellschaftskollisionsrechts (Sitztheorie, s.u. II.2.b)bb)(1)(b)). c) Marktbürger? Problem der Drittwirkung. Sind auch privates Handeln bzw. privatautonome Regelungen etwa in Verbandssatzungen oder (Tarif-)Verträgen an Grundfreiheiten zu messen? aa) EuGH (st. Rspr.) Grundfreiheiten (Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote) entfalten mit Ausnahme der Warenverkehrsfreiheit (vgl. EuGH, Rs. 311/85, Slg. 1987, 3801, Tz. 30 – Vlaamse Reisbureaus) unmittelbare Drittwirkung gegenüber intermediären Gewalten wie zB. Verbänden und Gewerkschaften (vgl. EuGH Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405, Rn. 20, 21 – Walrave; EuGH, Rs. C-41/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 83 – Bosman; EuGH Rs. C-438/05, Slg. – Viking). Unmittelbare Drittwirkung ggü. einzelnen Marktbürgern? Bisher nur ein Fall (EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 –

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  • Angonese betr. diskriminierende Einstellungspraxis eines einzelnen Arbeitgebers). Bisher noch kein Urteil, das einzelnen Marktbürger als Adressaten eines Beschränkungsverbots sieht. Schrifttum: Breitgefächertes Meinungsspektrum (Zustimmung/Ablehnung/vermittelnde Positionen). Neuer Ansatz W.-H. Roth, Festschr. Medicus, S. 393 ff.: Differenzierung zwischen Eingriffen Dritter in den Marktprozess (unmittelbare Drittwirkung) und dem Verhalten der am Marktprozess Beteiligten (keine unmittelbare Drittwirkung, Verweis auf Wettbewerbsvorschriften). bb) Darüber hinaus: Grundfreiheiten beinhalten Pflicht der Mitgliedstaaten, Marktbürger vor Beein-trächtigungen durch andere Marktbürger zu schützen (EuGH, Rs. C-265/95, Slg.1997, I-6959 – Kommission./.Frankreich; EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger). Folge: Staatshaftung bzw. mittelbare Drittwirkung (über unionsrechtskonforme Auslegung nationaler Gesetze, s.o. 2.b)). Vollwertige Alternative zu unmittelbarer Drittwirkung? (Problem: Gesetzes-mediatisierung i.S.d. unionsrechtlichen Vorbehalts des Gesetzes, vgl. EuGH, Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 – Hoechst; vgl. auch die parallele Diskussion in Deutschland zur Wirkung grundrechtlicher Schutzpflichten im Privatrecht, gute Übersicht und dezidierter eigener Standpunkt bei Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999)? II. Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) 1. Allgemein zur Niederlassungsfreiheit Literatur: W.-H. Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrecht, E.I: Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, Stand 2006.; Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, Kommentar, 2003, Artt. 43-48 EGV; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Aufl. 2007, Artt. 43-48 EGV. a) Gewährleistungsgehalt aa) Recht auf Etablierung auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (1) dauerhaft (Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV = ex Art. 49 EG) (2) zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit (Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV = ex Art. 39 EG)) bb) Formen (1) Primäre Niederlassungsfreiheit: Recht auf Etablierung einer den Schwerpunkt der unter-nehmerischen Tätigkeit bildenden Hauptniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat (2) Sekundäre Niederlassungsfreiheit: Recht auf Etablierung von Agenturen oder Zweig-niederlassungen bzw. Gründung/Erwerb von Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat unter Beibehaltung des unternehmerischen Schwerpunkts im Heimatstaat (zum weiten „Zweig-niederlassungs“-Begriff des EuGH und den hieraus erwachsenden Problemen s.u. 2.d)bb)(1)(b)). Im Bereich des (anteiligen) Erwerbs von Tochtergesellschaften (sog. Direktinvestitionen) bestehen Überschneidungen mit der Kapitalverkehrsfreiheit (s.u. III.1.d)). cc) Betroffene Maßnahmen Grds. Parallelen zu übrigen Grundfreiheiten (1) Diskriminierungsverbot = Verbot unmittelbarer/mittelbarer Ungleichbehandlung grenzüber-schreitender Sachverhalte ggü. rein nationalen Sachverhalten. Im Gesellschaftsrecht eher selten. Beispiel: § 1 UmwG (Beschränkung der Möglichkeit von Umwandlungen auf inländische Rechts-träger; a.A. EuGH, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805 – SEVIC: „Beschränkung“! Motiv?). Vgl. nunmehr die in Umsetzung der RL 2005/56/EG erlassenen §§ 122 a-l UmwG zur Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Verschmelzung von Kapitalgesellschaften. (s.u. 2.e)bb)(2)(a)).

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  • (2) Beschränkungsverbot (spätestens anerkannt seit EuGH Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37 – Gebhard, nunmehr ausdrücklich im Wortlaut des Art. 49 I 1 AEUV [ex Art. 43 I 1 EG] verankert). Fraglich: Anwendbarkeit der „Keck“-Grundsätze (s.o. I.1.b)), d.h. Beschränkungsverbot nur für Zugangshindernisse, nicht für allgemeine Standortbedingungen (Gewerberecht, Deliktsrecht)? EuGH hat Übertragbarkeit auf Kapitalverkehrsfreiheit angedeutet (EuGH, Rs. 463/00, Slg. 2003, I-4581, Rn. 61 – Kommission./.Spanien). Aussagen zur Niederlassungsfreiheit fehlen (vgl. hierzu jüngst GA Trstenjak, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-81/09, Rn. 74 ff., 116 f. auch zur Frage der Zulässigkeit einer Differenzierung zwischen Groß- und Kleinaktionären). Stärkere Integration in Volkswirtschaft des Niederlassungsstaates (im Vergleich zu den Produktfreiheiten) spricht grds. für Anwendbarkeit. Einordnung des nationalen Gesellschaftsrechts (Haftung etc.)? Differenzierung zwischen Gründung/ Erwerb von ausländischen Tochtergesellschaften und Zuzug durch Verlegung des Verwaltungssitzes? (3) Rechtfertigung: Weitgehende Übereinstimmung (der Sache nach) zu übrigen Grundfreiheiten (a) geschriebene Schranke: Art. 52 I AEUV (ex Art. 46 I EG): Rechtfertigung diskriminierender Regelungen aus Gründen der öffentl. Ordnung/Sicherheit/Gesundheit sowie Beschränkungsmöglich-keiten der Kapitalverkehrsfreiheit (Duplizität von Rechtfertigungsgründen, vgl. Art. 49 III AEUV). (b) immanente Schranke: Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer nationalen Regelung: Vier-Kriterien-Test („Gebhard-Formel“ entspr. „Cassis-Formel“): (aa) Anwendung in nicht diskriminierender Weise (Begrenzung auf Beschränkungsverbote? s.o. I.1.c)aa)(2)) (bb) zwingende Gründe des Allgemeininteresses (insbes.: Schutz von Gläubigern, Minderheits-gesellschaftern und Arbeitnehmern) cc) Geeignetheit: s.o.; dd) Erforderlichkeit, s.o. (Informationsmodell, Herkunftslandprinzip. Speziell zur Rechtfertigung der Anwendung inl. Schutzvorschriften auf Auslandsgesellschaften s.u. 2.e)cc)). b) Träger der Grundfreiheit aa) natürliche Personen bb) Nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften, die eines der in Art. 54 I AEUV (ex Art. 48 I EG) genannten Anknüpfungsmerkmale mit der EU aufweisen (Satzungssitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung) c) Adressaten (s.o. I.3). Frage der unmittelbaren/mittelbaren Drittwirkung wird für Nieder-lassungsfreiheit im Schrifttum kaum diskutiert (vgl. aber Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317). Denkbarer Anknüpfungspunkt: Vinkulierung von Namensaktien in Gesellschaftsverträgen/Satzungen gem. § 68 II AktG, Beispiel bei: Habersack, § 3 Rdnr. 9? 2. Insbesondere: Auswirkungen auf die Mobilität von Gesellschaften Literatur: Grundlegend: Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735; Kindler, in: MünchKomm BGB, 5. Aufl. 2010, IntGesR Rn. 98-147, 426-500. Eidenmüller u.a., in: Eidenmüller, Ausländische Kapital-gesellschaften im deutschen Recht, 2004, §§ 3, 4. Zu Einzelaspekten: Behrens, IPRax 2004, 20; (Zuzug) Leible/Hoffmann, EuZW 2003, 677; dies. BB 2009, 58 (Zuzug); Eidenmüller, JZ 2004, 24 (Zuzug); Mörsdorf, EuZW 2009, 97 (Wegzug); W.-H. Roth, IPRax 2003, 117; ders. IPRax 2006, 338 (Zuzug); Teichmann, ZIP 2006, 355 (Umwandlung); ders. ZIP 2009, 393 (Wegzug); Zimmer, NJW 2003, 3585 (Zuzug); Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545 (Wegzug). a) Gesellschaften sind wichtige Marktakteure im Binnenmarkt. Niederlassungsfreiheit dient wie alle Grundfreiheiten der optimalen Allokation wirtschaftlicher Ressourcen mit u.a. dem Ziel allgemeiner Wohlfahrtssteigerung. Voraussetzung: Möglichkeit von EU/EWR-Gesellschaften, über die ursprüng-

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  • liche Wahl und nachträgliche Änderung von Anknüpfungspunkten zu einzelnen Mitgliedsstaaten Standortvorteile auszunutzen. Niederlassungsfreiheit gewährleistet: aa) Ausnutzung wirtschaftlicher Standortvorteile (Kundennähe, Infrastruktur). Allgemein anerkannt. Parallele zu übrigen Grundfreiheiten; Gewährleistung der Verlegung des Schwerpunkts bzw. eines Teils der wirtschaftlichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat. bb) Umfasst Freiheit der Standortwahl neben Wahl des wirtschaftlichen Standorts auch (ggf. hiervon abweichende) Wahl des Rechtsstandorts (Wahl des liberalsten Gesellschaftsrechts) mit dem Ziel einer Kumulierung von Standortvorteilen? Gesellschaftsrechtliche Regeln als „Rechtsprodukte“, die von Staaten angeboten und von Unternehmern nachgefragt werden (Wettbewerb der Gesellschafts-rechte)? Sehr umstritten (zust. Eidenmüller: ZIP 2002, 2233, abl. Kindler, MünchKomm BGB, 5. Aufl. 2010, IntGesR, Rn. 363 f. m.w.N. zum Streitstand). Problem: Fehlende Berücksichtigung sog. stakeholders (Gläubiger, Arbeitnehmer). Gefahr eines race to the bottom. Rspr. EuGH uneinheitlich (s.u. d)bb)(1)(b)): Im Ergebnis in bestimmten Konstellationen (Gründungsfälle, Formwechsel) WdG (+). Unbeabsichtigte Folge oder angestrebter Zweck (vgl. Steindorf, JZ 1999, 1140, 1142; Behrens, IPRax 2000, 384, 389)? b) Einzelne Aspekte der Mobilität und potentielle Hindernisse im Recht der Mitgliedstaaten aa) Partielle Verlagerung der wirtschaftlichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat (1) Gründung von bzw. Beteiligung an rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat. Hindernisse bestehen vor allem im Sachrecht des Staats, nach dessen Recht die Gesellschaft errichtet ist (nationales Gesellschaftsrecht, insbesondere Sonderrechte inländischer [öffentlich-rechtlicher] Aktionäre, z.B. sog. golden shares). Wegen insoweit bestehender Über-schneidungen zur Kapitalsverkehrsfreiheit dort zu erörtern, s.u. III.2) (2) Gründung rechtlich unselbständiger „echter“ Zweigniederlassung neben fortbestehender, den Tätigkeitsschwerpunkt bildender Hauptniederlassung (zum weiterreichenden „Zweigniederlassungs“-Begriff des EuGH s.u. d)bb)(1)(b)): Keine wesentlichen rechtlichen Hindernisse in den betroffenen Mitgliedstaaten. Interessen des Hauptniederlassungs-(=Wegzugs-)Staates (-); Verkehrsinteressen des Zuzugstaates (wegen beschränkter Tätigkeit der ZwN eher schwach ausgeprägt). Berücksichtigung durch Offenlegungspflichten im Rahmen der RL 89/666/EWG (ZweigniederlassungsRL, zu den einzelnen Pflichten s.u. IV). bb) Verlagerung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat Verlegung des Verwaltungs- (und ggf. Satzungs-)Sitzes vom Staat, nach dessen Recht Gesellschaft gegründet wurde = Wegzugstaat) in anderen Mitgliedstaat (Zuzugstaat) ohne fortbestehende wesent-liche Wirtschaftstätigkeit im Wegzugstaat. (Sonderfall: Anfängliche Gründung einer Gesellschaft mit Verwaltungssitz in einem Mitgliedstaat nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates) Hindernisse: (1) Kollisionsrecht (IPR): Frage der Anknüpfung des Personalstatuts von Gesellschaften (= nationales Recht, nach dem Gesellschaft „entsteht, lebt und vergeht“). 2 mögliche Anknüpfungsmomente (ausführlich zu den beiden Haupttheorien einschl. vermittelnder Ansichten: Kindler, in: MünchKomm BGB, 5. Aufl. 2010, IntGesR, Rn. 351 ff.) (a) Gründungstheorie (im Hinblick auf Niederlassungsfreiheit unproblematisch): Rechtsverhältnisse der Gesellschaft beurteilen sich nach dem Recht, nach welchem die Gesellschaft errichtet ist (Registrierungsort, Satzung, Organisation) unabhängig vom Schwerpunkt der wirtschaftlichen

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  • Tätigkeit (zu den unterschiedlichen Anknüpfungsmomenten vgl. Hoffmann, ZvglRWiss 101 (2002), 283 ff.). Gründungsrecht wird quasi „mitgenommen“. Historische Wurzeln im Recht ehemaliger Kolonialmächte. Heute praktiziert u.a. von England/USA/Niederlande/Dämemark (allseitige Kollisionsnorm), Schweiz/Italien/Japan (einseitige Kollisionsnorm, gilt nicht für Auslands-gesellschaften mit Verwaltungssitz im Inland!). Vorteile: Leichte Bestimmbarkeit des anwendbaren Rechts. Privatautonomie (vgl. Stellenwert der Rechtswahl im sonstigen IPR, Art. 3 Rom-I-VO). Nachteil: Rechtswahl der Gründer = Rechtsgeschäft zu Lasten Dritter (Gläubiger, Minderheits-gesellschafter, Arbeitnehmer) insbes. bei Gründung sog. „Briefkastengesellschaften“). Wettlauf der Staaten um das „liberalste“ Gesellschaftsrecht (race to the bottom, Delaware-Effekt) (b) Sitztheorie (im Hinblick auf Niederlassungsfreiheit problematisch): Entwickelt in Kontinental-europa. Heute (vorbehaltlich unionsrechtlicher Überlagerungen) u.a. praktiziert in Deutschland, Frankreich, Belgien. Rechtsverhältnisse der Gesellschaft werden nach dem Recht am Ort des effektiven Verwaltungssitzes bestimmt. Verlegung des Verwaltungssitzes führt zu Statutenwechsel, d.h. Rechtsverhältnisse der Gesellschaft beurteilen sich ex nunc nach Recht des (neuen) Sitzstaates. Führt je nach Ausprägung zu Nichtexistenz der nicht nach den Vorschriften des Sitzstaates gegründeten Gesellschaft mit allen daraus erwachsenden Folgen (u.a. fehlende Parteifähigkeit insbesondere in Aktivprozessen mit – je nach Fallkonstellation – enteignungsgleicher Wirkung, vgl. W.-H. Roth: IPRax 2003, 117, 120) oder zur ex-lege-Umwandlung in eine Rechtsform des Sitzstaates (Personengesellschaft). Vorteil. Berücksichtigung von Schutzinteressen der mit der Gesellschaft am Ort ihrer wirtschaftlichen Haupttätigkeit in Kontakt tretenden Verkehrskreise (Gläubiger etc.). Nachteile: Schwierige Lokalisierung des Verwaltungssitzes (vgl. Zimmer, Festschr. Buxbaum, 2000, S. 655 ff.), Gefahr hinkender Rechtsverhältnisse. (2) Sachrecht (aa) Wegzugstaat: Verknüpfung von Existenz/Rechtsform inländischer Gesellschaften an Bestehen eines inländischen Verwaltungs-(Satzungs-)Sitzes; (steuerrechtliche) Genehmigungsvorbehalte für die Verlegung des Verwaltungssitzes. (bb) Zuzugstaat: Sonderrecht (Offenlegungspflichten etc.) für nach ausländischem Recht gegründete Gesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz. bb) Grenzüberschreitende Umwandlungsvorgänge Betr. Verschmelzung, Spaltung, Formwechsel. Angestrebt wird nicht (zwangsläufig) Änderung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern (ggf. mittelbar zur Erreichung weiterer Ziele wie der Nutzung von Synergieeffekten) Änderung des „Rechtskleids“. Hindernisse im Recht der Mitgliedstaaten finden sich vor allem im Sachrecht (vgl. für Deutschland § 1 UmwG: s.u. e)bb)) c) Die Rechtsprechung des EuGH (alle Urteile lesen!) aa) EuGH, Rs. 81/87, Slg. 1988/5483 – Daily Mail (Wegzugskonstellation) Englische Investmentholdinggesellschaft beabsichtigt Verlegung ihres Verwaltungssitzes (= einziges Anknüpfungskriterium für Steuerpflichtigkeit im UK nach damaligem englischen Recht) in die Niederlande. Vorgang bedarf nach englischem Einkommens- und Körperschaftssteuergesetz der Genehmigung durch englische Finanzbehörden (Treasury Department). EuGH bejaht Vereinbarkeit der Vorschrift mit Unionsrecht. Niederlassungsfreiheit berührt nicht Recht des Wegzugstaates zur Wahl der Anknüpfungsmomente für die (Fort-)Existenz der nach seinem Recht errichteten Gesellschaften (= „Geschöpftheorie“. Arg. u.a.: Aufzählung der alternativen Anknüpfungspunkte in ex Art. 48 I EG = Art. 54 AEUV).

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  • bb) EuGH, Rs. C 212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros (Zuzugskonstellation i.w.S.) Dänisches Ehepaar gründet in UK zum Zweck einer ausschließlichen Geschäftstätigkeit in Dänemark Gesellschaft nach englischem Recht (private limited company, Ltd.) und beantragt sodann in Dänemark Eintragung einer Zweigniederlassung. Zuständige dänische Behörde verweigert Eintragung unter Hinweis auf fehlende Geschäftstätigkeit im UK / Umgehung dänischer Vorschriften zur Gründung einer funktionsäquivalenten dänischen Gesellschaft (Mindestkapital). EuGH bejaht Anwendbarkeit der (sekundären!) Niederlassungsfreiheit. Fehlende Geschäftstätigkeit im UK schadet nicht (Hinweis auf alternative Anknüpfungspunkte in ex Art. 48 I EG = Art. 54 AEUV: Satzungssitz im UK reicht aus!). Bewusstes Ausnutzen rechtlicher Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten (Gründung nach „liberalstem“ Gesellschaftsrecht) begründet allein keinen Rechtsmissbrauch. Durchsetzung des dänischen Mindestkapitalschutzes über Verweigerung der Eintragung einer Zweigniederlassung = Beschränkung. Rechtfertigung über zwingende Gründe des Allgemein-interesses (Gläubigerschutz) (-) wg. fehlender Verhältnismäßigkeit (Milderes Mittel: Selbstschutz der Gläubiger (Informationsmodell). cc) EuGH, Rs. C 208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering (Zuzugskonstellation) Niederländische Gesellschaft (Besloten Vennotschap, BV = GmbH) verlegt Verwaltungssitz von den Niederlanden nach Deutschland und macht nachfolgend vor deutschen Gerichten klageweise Mängel gegen deutsche Gesellschaft wegen fehlerhaft durchgeführter Sanierungsarbeiten geltend. Klageabweisung wegen fehlender Rechts- und Parteifähigkeit der BV. (Anwendung der Sitztheorie). EuGH verneint Vereinbarkeit dieses Ergebnisses mit Unionsrecht. Niederlassungsfreiheit verpflichtet Zuzugstaat zur Achtung der Rechts- und Parteifähigkeit der zuziehenden Gesellschaft „nach dem Recht ihres Gründungsstaates“. dd) EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art (Zuzugskonstellation i.W.S.) Niederländisches Gesetz über formal ausländische Gesellschaften (WFBV) enthält Verpflichtungen für nach ausländischem Recht gegründete Kapitalgesellschaften mit (beinahe) vollständiger Geschäfts-tätigkeit in NL. Pflichten betreffen Eintragung als „formal ausländische Gesellschaft“, erweiterte Offenlegungspflichten, Mindestkapital entsprechend den für niederländische Kapitalgesellschaften geltenden Vorschriften sowie Haftung der Geschäftsführer bei Nichterfüllung dieser Pflichten. Nach englischem Recht gegründete, ausschließlich in NL tätige Gesellschaft (Ltd.) ist im Handelsregister Amsterdam nicht mit dem Zusatz „formal ausländische Gesellschaft“ eingetragen. Handelskammer beantragt bei niederländischem Gericht entsprechende Änderung. EuGH: Unvereinbarkeit des WFBV mit Unionsrecht, d.h. partiell (Offenlegungspflichten) mit RL 89/666/EWG (ZweigniederlassungsRL), partiell (Mindestkapital, Geschäftsführerhaftung) mit Niederlassungsfreiheit. Anwendung inländischer Gläubigerschutzvorschriften auf EU-Gesellschaften = Beschränkung. Rechtfertigung (-) mangels Erforderlichkeit (Informationsmodell). ee) EuGH, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805 – SEVIC (Zuzugskonstellation, Hineinverschmelzung) Weigerung eines deutschen Registergerichts, die Verschmelzung einer luxemburgischen Gesellschaft auf deutsche AG in das Handelsregister einzutragen. Grund: Deutsches Recht sah vor Einführung der §§ 122 a-l UmwG Verschmelzungen nur zwischen inländischen Rechtsträgern vor (vgl. § 1 UmwG). EuGH: Verstoß gegen Niederlassungsfreiheit. Grenzüberschreitende Verschmelzung = wirksames Mittel, die im Gründungsstaat betriebene Tätigkeit ohne Unterbrechung (durch Liquidation und Neugründung) in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben. Ungleichbehandlung von EU-Gesell-schaften ggü. Inlandsgesellschaften = Beschränkung(!?): Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses grds. möglich (Schutz inländischer Gläubiger, Minderheitsgesellschafter und Arbeitnehmer). Aber: Verhältnismäßigkeit mangels Erforderlichkeit (-): Generelle Verweigerung einer grenzüberschreitenden Verschmelzung ≠ mildestes Mittel.

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  • ff) EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 – Cartesio (Wegzugskonstellation) Ungarische Kommanditgesellschaft beantragt bei ungarischem Registergericht Eintragung der rechtsformwahrenden Verlegung ihres Verwaltungs-(und Satzungs-)Sitzes von Ungarn nach Italien. Registergericht verweigert Eintragung unter Verweis auf ungarische Vorschrift, wonach Gesell-schaften ungarischer Rechtsform ihren „Sitz“ nicht (rechtsformwahrend) ins Ausland verlegen können. EuGH bejaht Vereinbarkeit mit Unionsrecht (entgegen GA Maduro, Schlussantr. zu EuGH C-210/06, Rn. 36!). Bestätigung der Aussage aus dem Urteil Daily Mail: Regelungsvorbehalt zugunsten des Wegzugstaates hinsichtlich Wahl der Anknüpfungspunkte für die (Fort)Existenz von Gesellschaften unter inländischer Rechtsform („Geschöpftheorie, s.o. aa)). Aber neue Aussage gegenüber Daily Mail (obiter dictum): Regelungsvorbehalt hinsichtlich Zuerkennung eigener Rechtform begründet keine Immunität gegenüber Niederlassungsfreiheit. Wegzugstaat muss Umwandlung der umzugswilligen Gesellschaft in Rechtsform des Zuzugstaates zulassen, soweit dies nach dessen Recht möglich ist. d) Folgerungen aa) Gründung von „echten“ Zweigniederlassungen (Begriff s.o.) Durch Niederlassungsfreiheit gedeckt. Beschränkungen seitens Zuzugstaat (eher selten, s.o. b)aa)(2)) bedürfen Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (Schutz betroffener Verkehrskreise, insbes. Gläubiger vor Problemen im Zusammenhang mit „importierten“ Gesellschaftsformen“). Über RL 89/666/EWG hinausgehende Offenlegungsvorschriften sind grds. abgeschnitten (Vollharmonisierung! Ausnahme: Art. 2 II RL). bb) Verlegung des Verwaltungssitzes (1) Vorgaben an den Zuzugstaat (a) Nachträgliche Verlegung des Verwaltungssitzes Pflicht des Zuzugstaates, Gesellschaft in der Rechtsform des Wegzugstaates anzuerkennen. Beinhaltet Recht auf identitätswahrende (aa) und rechtsformwahrende (bb) Sitzverlegung (aa) Anerkennung der fortbestehenden Identität. Zuzugstaat darf die nicht nach seinem eigenen Recht gegründete Gesellschaft nicht vorbehaltlich einer zeit- und kostenaufwendigen Neugründung als „nullum“ behandeln. (bb) Anerkennung der zuziehenden Gesellschaft in ihrer durch den Wegzugstaat verliehenen Rechtsform (h.M. spätestens seit EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art: vgl. BGHZ 154, 185, 188 ff.; Behrens, IPRax 2004, 20, 25; Eidenmüller, JZ 2004, 24, 25; Leible/Hoffmann, EuZW 2003, 677, 681; W.-H. Roth, IPRax 2006, 338; a.A. Kindler, in: MünchKomm BGB, 5. Aufl 2010, IntGesR, Rdnr. 111). Nicht ausreichend: Anerkennung der im Wegzugstaat erworbenen Rechts-fähigkeit unter gleichzeitiger ex-lege-Umwandlung in eine Gesellschaft inländischer Rechtsform (für diese Variante nach dem Urteil „Überseering“ noch: W-H. Roth, IPRax 2003, 117, 120 f.). (cc) Umsetzung der Vorgaben des EuGH im nationalen Sach- oder Kollisionsrecht? Niederlassungs-freiheit streitet nicht gegen bestimmte dogmatische Verortung im nationalen Recht sondern ausschließlich gegen die umzugswillige Gesellschaft belastende Wirkung des nationalen Rechts. Aber: Vom EuGH geforderte Anerkennung der zuziehenden Gesellschaft lässt sich de facto nur über eine – ggf. die nationale Regelanknüpfung überlagernde – Anwendung der Gründungstheorie im Sinne einer „Meta-Kollisionsnorm“, Begriff bei W.H.-Roth, IPRax 2006, 338) verwirklichen (heute h.M., vgl. BGHZ 154, 185, 188 ff.; a.A. Kindler, in: MünchKomm BGB, 5. Aufl 2010, IntGesR, Rdnr. 111). Art. 49, 54 AEUV als (versteckte) Kollisionsnorm?

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  • (dd) Umfang der Anknüpfung an das Gründungsrecht/Möglichkeit von Sonderanknüpfungen? Eine der umstrittensten Materien (Flut von Publikationen in den letzten Jahren). Kern des Problems: Welche Normen/Normkomplexe unterliegen Gründungsanknüpfung? Abgrenzung zu anderen kollisionsrechtlichen Anknüpfungsregimen (teilweise unionsrechtliche Regelung, z.B. (EUInsVO, Rom-II-VO). Bisher (spärliche) Vorgaben des EuGH: Verbot der Anwendung inländ. Regelungen des Gesellschafts-Außenrechts zu Mindestkapital und Haftung (EuGH, Rs. C-167/01; Slg. 2003, I-10155 - Inspire Art). Im Übrigen gilt auch hier: Niederlassungsfreiheit ist „blind“ gegenüber dogmatischen Strukturen des nationalen Rechts und verbietet lediglich eine bestimmte Wirkung. Folge: Kreis der von obligatorischer Gründungsanknüpfung betroffenen Normen/Normkomplexe richtet sich nicht nach tradierter kollisionsrechtlicher Qualifikation (=Einordnung von Regelungsbereichen des materiellen Rechts unter eine Kollisionsnorm) in den Mitgliedstaaten, sondern nach dem Potential einer entsprechenden Anwendung inländischer Normen, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch die zuziehenden Gesellschaft zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (Gebhard-Formel). Anwendbarkeit der Keck-Formel hinsichtlich inländischem „Verkehrsrecht“ (zB. allgemeines Deliktsrecht) als Standortbedingung s.o. 1.b)bb)(2))? Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses i.S.d. Gebhard-Formel; Schutz inländischer Gläubiger vor „importiertem Gesellschaftsrecht“ legitimes Ziel; Verhältnismäßigkeits-prinzip beachten (ausführlich: Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 3, Rn. 18 ff.). Zu berücksichtigen sind:

    • Möglicher Selbstschutz der betroffenen inländischen Verkehrskreise (Informationsmodell, etwa bei Vertragsgläubigern und (Mehrheits-)Gesellschaftern. Gilt dies auch für Delikts-gläubiger und Minderheitsgesellschafter?)

    • gleichwertiger Schutz durch Vorschriften des Wegzugstaates (Herkunftslandprinzip) • potentiell milderes Mittel des Zuzugstaates

    Welche Vorschriften des Zuzugstaates kommen neben dem Gründungsrecht zur Anwendung? Lässt sich nicht abstrakt, sondern nur im Hinblick auf die Regelungen eines konkreten Mitgliedstaates beantworten. (Für das deutsche Recht s.u. e)) (b) Sonderkonstellation: Anfängliche Gründung einer Gesellschaft mit Verwaltungssitz (= „unechte“ Zweigniederlassung) in einem EU/EWR-Staat nach dem Recht eines anderen EU/EWR-Staates (sog. „Gründungsfall“) Pflicht zur Anerkennung nach dem Gründungsrecht gilt nicht nur bei (in der Praxis eher seltenem) nachträglichen Auseinanderfallen von Gründungsstatut und Verwaltungssitz infolge Sitzverlegung, sondern auch bei anfänglichem Auseinanderfallen durch Gründung von „Briefkastengesellschaften“ (EuGH, Rs. C 212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros; EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 – Inspire Art). Ziel der Gründer: Wahl eines „liberalen“ Gesellschaftsrechts. Praktische Bedeutung? Für AG eher gering wg. Rechtsangleichung weiter Teile des mitgliedstaatlichen Aktienrechts durch die EU (Kapitalrichtlinie). Für GmbH und funktionsäquivalente Gesellschaftsformen in anderen Mitglied-staaten (Ltd., BV etc.) derzeit hohe Bedeutung („Siegeszug“ der Ltd.). Künftige Entwicklung im Hinblick auf Anpassungsreaktionen nationaler Gesetzgeber (vgl. § 5a GmbHG neu)? Problem: Im Hinblick auf von vornherein bestehende Inlandstätigkeit fehlt es in „Gründungsfällen – an Mobilitätskomponente (Kindler, in: MünchKomm BGB, 5. Aufl. 2010, IntGesR, Rdnr. 428). Enthält EuGH-Rspr. Bekenntnis zu einem Wettbewerb nicht nur der Wirtschaftsstandorte, sondern auch der Gesellschaftsrechte (s.o. 2.a)bb)? Offene Frage:

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  • Contra: EuGH behandelt Gründungsfälle dogmatisch nicht unter dem Aspekt der primären, sondern der sekundären(!) Niederlassungsfreiheit. Inländischer Verwaltungssitz = („unechte“) Zweignieder-lassung. Weiter Begriff der „Zweigniederlassung“. Tatsächlicher Tätigkeitsschwerpunkt im „Wegzug-staat“ ist nicht erforderlich bzw. wird ersetzt durch Satzungssitz (regelmäßig im Wegzugstaat belegen). Herleitung aus Art. 54 I AEUV (ex Art. 48 I EG). Pro: Ablehnung des Missbrauchseinwands unter ausdrücklichem Hinweis auf „Freiheit der Gründer, Gesellschaft in einem Mitgliedstaat zu errichten, dessen gesellschaftsrechtliche Vorschriften ihnen die größte Freiheit lassen“ (EuGH, Rs. C 212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros, Rn. 27). Aber: Relativierung dieser Rspr. im Urteil EuGH, Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Rn. 55 – Cadbury Schweppes? Auslandsgründung von Tochtergesellschaft = „rein künstliche – d.h. jeder wirtschaft-lichen Realität bare – Gestaltung“. Übertragbarkeit auf Centros-Konstellation? Es ging nicht um Durchsetzung von inländischem Gesellschaftsrecht sondern Steuerrecht. Höherrangigkeit von Fiskalinteressen ggü. Gläubigerinteressen? (2) Vorgaben an den Wegzugstaat Keine unionsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich einer beabsichtigten rechtsformwahrenden Verlegung des Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat. Regelungsvorbehalt aus den Urteilen EuGH, Rs. 81/87, Slg. 1988/5483 – Daily Mail und EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 – Cartesio, d.h. Gründungsstaat bestimmt, welche Anknüpfungsmerkmale mit seinem Gebiet eine Gesellschaft aufweisen muss, um sich nach seinem Recht zu gründen bzw. nach diesem Recht fortzubestehen („Geschöpftheorie“). Mit Niederlassungsfreiheit vereinbar sind daher: aa) Kollisions- oder sachrechtliche Verknüpfung inländischer Rechtsform mit inländischem Verwaltungssitz einschl. Verlust inländischer Rechtsform im Falle der Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland. bb) Verbot der Verlegung des Verwaltungssitzes unter dem Vorbehalt einer (finanz-)behördlichen Erlaubnis. Aber: Unionsrechtliche Vorgaben im Zusammenhang mit grenzüberschreitendem Formwechsel (obiter dictum aus EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 Rn. 112 – Cartesio). Vorgang im Anwendungs-bereich der Niederlassungsfreiheit; „Geschöpftheorie“ greift insoweit nicht, d.h. Gründungsstaat darf umzugswilliger Gesellschaft bei Grenzübertritt das (eigene) Rechtskleid ausziehen, diese aber nicht sterben lassen. (zum Formwechsel s.u. cc)(2)(a)) cc) Grenzüberschreitende Umwandlungen (1)Vorgaben an den Zuzugsstaat (a) Verschmelzung: (aa) Hinsichtlich Zulässigkeit und Modalitäten einer grenzüberschreitenden Verschmelzung von EU-Kapitalgesellschaften vgl. abschließende Regelung durch RL 2005/56/EG = intVerschmelzungsRL. (bb) Für alle anderen EU/EWR-Gesellschaften gilt: Aus EuGH, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805, Rn. 31 – SEVIC folgt Pflicht des Zuzugstaates zur grds. Zulassung einer Verschmelzung einer EU/EWR-Gesellschaft auf eine Gesellschaft inländischer Rechtsform (grenzüberschreitende [Hinein-]Verschmelzung), wenn Verschmelzung als Umwand-lungsmaßnahme inländischen Gesellschaften offensteht (Inländergleichbehandlung). Bedeutung der

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  • Umqualifikation des § 1 UmwG in bloße „Beschränkung“ durch EuGH (vgl. Rn. 23)? Keine Pflicht, Verschmelzungen generell zuzulassen. Mögliches Motiv: Eröffnung von Rechtfertigungsmöglich-keiten („Gebhard-Formel“) hinsichtlich des „Wie“ der Ausgestaltung im nationalen Recht (Urteil SEVIC, Rz. 24 ff.! Allgemein zur unklaren Grenzziehung des EuGH zw. Diskriminierung und Beschränkung und Tendenz zu einheitlichem Rechtfertigungsgrund s.o. I. 1.c)aa)(2)). Aber: EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 f. – Cartesio belässt Mitgliedstaaten Wahl der Anknüpfungspunkte für (Fort-)Existenz unter inländischer Rechtsform („Geschöpftheorie, s.o. bb)(2)). Gilt auch im Rahmen grenzüberschreitender Verschmelzung, d.h. keine Pflicht des Zuzugstaates „seine“ Rechtsformen“ für aufnehmenden Rechtsträger (Zielgesellschaft) bei Fehlen eines erforder-lichen Anknüpfungsmerkmals (z.B. inländischer Verwaltungssitz) zur Verfügung zu stellen. (b) Weitere Umwandlungsformen (Spaltung, Formwechsel) Vorgaben aus EuGH, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805 – SEVIC bezügl. (Hinein-)Verschmelzung übertragbar? Muss Zuzugstaat Spaltung/Formwechsel einer EU/EWR-Gesellschaft in inländischen Rechtsträger grds. zulassen, wenn spezielle Umwandlungsart für Binnensachverhalte zur Verfügung steht (Inländergleichbehandlung)? (so die wohl h.M., zum Streitstand vgl. Bayer/Schmidt, ZHR 2009, 735, 759 f.). Aktuelle Vorlage an den EuGH vom 17.6.2010 hinsichtl. Formwechsel (Rs. C-378/10). Arg. pro: EuGH stellt Verschmelzungen funktional in Kontext mit „anderen Umwandlungen“ (Urteil SEVIC, Rn. 19). Unwägbarkeiten: Verschmelzung (SEVIC) dient (auch) Erzielung von Synergieeffekten, andere Um-wandlungsformen (Spaltung/Formwechsel) dienen nur(!) der nachträglichen (partiellen) Änderung des Rechtskleids unter Ausnutzung rechtlicher Standortvorteile. Vorgang von Niederlassungsfreiheit erfasst? wohl (+), vgl. EuGH, Rs. C 212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros, s. o. d)bb)(1)(b)). Weitere Unsicherheit: Vorbehalt bestehender Umwandlungsmöglichkeit nach dem Recht des Zuzugstaates in EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641, Rn. 112 a.E. – Cartesio. Bedeutung? Wohl keine Relativierung des SEVIC-Urteils. Hinweis auf Regelungsvorbehalt des Zuzugstaates hinsichtlich der erforderlichen Anknüpfungsmerkmale „seiner“ Gesellschaften („Geschöpftheorie“)? (2) Vorgaben an Wegzugstaat (a) Formwechsel Aus EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641, Rn. 112 – Cartesio (obiter dictum) folgt Pflicht des Wegzugstaates, „seinen“ Gesellschaften identitätswahrenden Formwechsel in die Rechtsform eines anderen EU/EWR-Mitgliedstaats grds. zu ermöglichen (h.M. vgl. nur Bayer/Schmidt, ZHR 2009, 735, 754 f. m.w.N: A.A. Kindler, IPRax 2009, 189, 191) Problem: Erfasst Aussage auch isolierten Formwechsel ohne gleichzeitige Verlegung des Verwaltungssitzes? (vgl. Ausgangsfall Cartesio) Hintergrund: Isolierter Formwechsel beinhaltet ausschl. Wahl des (neuen) Rechtsstandorts / keine parallele Wahl des Wirtschaftsstandorts. EuGH, Rs. C 212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros lässt dies aber wohl zu, s.o. d)bb)(1)(b)). Folge: Möglichkeit („Ob“) eines grenzüberschreitenden Formwechsels bedingt Verbot der Auflösung und Liquidation wegzugswilliger Gesellschaft (zur alten deutschen Rechtslage, s.u. e)aa)(2)(a)) sowie Verbot der „Einmauerung“ inländischer Gesellschaften durch Unwandelbarkeit des Gesellschafts-statuts (UK). Beschränkungen des Wegzugstaates bezügl. des „Wie“ der Ausgestaltung bedürfen Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses („Gebhard-Formel“). Wegzugstaat kann Form-wechsel zum Schutz best. Personengruppen vor Verlust von unter altem Rechtskleid erworbenen Rechtspositionen an Voraussetzungen knüpfen; Vorbild: SE-VO/SCE-VO: Schutz der Minderheits-

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  • gesellschafter (vgl. Art. 8 V SE-VO), Gläubigerschutz über Sicherheitsleistung (vgl. Art. 8 VII SE-VO), Schutz der Arbeitnehmer („Flucht aus der Mitbestimmung“, Verhandlungsmodell der SE-RL?). (b) Übertragbarkeit auf Pflichten des Wegzugstaates hinsichtlich anderer Umwandlungsarten ([Heraus-]Verschmelzung/Spaltung)? Zulässigkeit und abschließende Regelung grenzüberschreitender Verschmelzung von EU-Kapital-gesellschaften durch RL 2005/56/EG. I.Ü. Übertragbarkeit der o.g. für Formwechsel geltenden Grundsätze auf Verschmelzung unter Beteiligung von Personengesellschaften und Spaltung. e) Auswirkungen auf das deutsche Recht aa) Verwaltungssitzverlegung (i.w.S.) (1) Deutschland als Zuzugstaat = Verlegung des Verwaltungssitzes einer nach dem Recht eines anderen EU/EWR-Staats gegründeten Gesellschaft nach Deutschland bzw. Gründung einer Gesellschaft mit (anfänglichem) deutschem Verwaltungssitz nach dem Recht eines EU/EWR-Staats. (a) Ausgangslage. Traditionell keine Kodifikation des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts Zwischenzeitlich gescheiterter Entwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen (IPRG-E) aus dem Jahr 2008 sah für alle Gesellschaften Übergang zur Gründungstheorie vor (dazu Wagner/Timm, IPRax 2008, 81). Richterrechtlich gilt grds. Sitztheorie (vgl. RGZ 77, 19, 22). Verlegung des Verwaltungssitzes einer nach ausländischem Recht gegründeten Gesellschaft nach Deutschland führt ex nunc zur Anwendung deutschen Rechts (Statutenwechsel); nach ausländischem Recht gegründete („Briefkasten-“) Gesellschaft mit anfänglichem Verwaltungssitz in Deutschland wird nach deutschem Recht behandelt. Folge (ursprünglich): Fehlende Rechts-(und Partei-)fähigkeit der Auslandsgesellschaft wegen Nicht-einhaltung deutscher Gründungsvorschriften (strenge Sitztheorie, zur Kritik an dieser Rechtsfolge s. bereits oben 2.d)aa)(1)(a)(aa)). Seit BGHZ 151, 204 = NJW 2002, 3539: Ex-lege-Umwandlung der nicht im Handelsregister eingetragenen Auslandsgesellschaft in Personengesellschaft deutscher Rechtsform (je nach Gesellschaftszweck: oHG, GbR) bzw. (bei Einpersonen-Gesellschaften) Behandlung als Einzelkaufmann (modifizierte Sitztheorie). Problem u.a.: Persönliche Haftung der Gesellschafter ausländischer Kapitalgesellschaften. (b) Berücksichtigung der Rspr. des EuGH zur Niederlassungsfreiheit bedingt Zweispurigkeit des deutschen Gesellschaftskollisionsrechts für Zuzugsfälle (aa) Gesellschaftsstatut von EU/EWR-Gesellschaften wird nach der Gründungstheorie bestimmt (BGHZ 154, 185, 188 ff.). Überlagerung der Sitzanknüpfung („Meta-Kollisionsnorm“). Danach unterliegen der Gründungsanknüpfung:

    • Rechtsfähigkeit, körperschaftliche Verfassung und Beendigung der Gesellschaft

    • Außenrecht der Gesellschaft neben Kapitalstruktur und Haftung (insbes. Vertretung). Inländischer Rechtsverkehr ist ausreichend über Art. 12 EGBGB geschützt.

    • Innenrecht der Gesellschaft (Gesellschafterrechte, Geschäftsführung, Gewinnbeteiligung)

    Erst-Recht-Schluss aus Einbeziehung des Außenrechts. Innenrecht tangiert ausschl. Interessen der Gesellschafter. Schutz der Minderheitsgesellschafter über Informationsmodell.

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  • Problematisch: Qualifikation gläubigerschützender Normen im Grenzbereich zwischen Gesellschafts-recht einerseits und Delikts- bzw. Insolvenzrecht andererseits (z.B. Insolvenzverschleppungshaftung existenzvernichtender Eingriff, instruktiv zum Ganzen: Ulmer, NJW 2004, 1201)? Sowohl deliktische als auch insolvenzrechtliche Qualifikation können zu Anwendbarkeit deutschen Rechts auf Auslands-gesellschaften führen (Art. 4 I EuInsVO bei inländischer Insolvenzeröffnung; Art. 4 I, II Rom II-VO bei inländischem Aufenthalts bzw. Erfolgsort). Lösung des Qualifikationsproblems in 2 Schritten.

    • Kollisionsrechtliche Qualifikation (unions-autonom) anhand der vorrangig anzuwendenden EuInsVO bzw. Rom-II-VO zunächst ohne Berücksichtigung der Niederlassungsfreiheit. Funktionale Betrachtung. Indizwirkung des sachrechtl. Regelungsorts, aber: Unbeachtlichkeit einer taktisch motivierten „Flucht des deutschen Gesetzgebers/der deutschen Rspr. aus dem Gesellschaftsrecht“ (vgl. Neuregelung der Insolvenzantragspflicht in § 15a InsO i.R.d. MoMiG sowie Umqualifizierung der Rechtsfigur des existenzvernichtenden Eingriffs von gesellschaftsrechtl. Durchgriffshaftung in deliktische (Innen-)Haftung aus § 826 BGB durch BGHZ 173, 246 = NJW 2007, 2689 [Trihotel]).

    • Wenn Qualifikation zu Anwendbarkeit deutschen Rechts auf Auslandsgesellschaft führt (wohl

    (-) bei Haftung wg, existenzvernichtendem Eingriff, (+) bei Insolvenzverschleppungshaftung), etwaige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit prüfen. (Gilt auch für EuInsVO und Rom II-VO! Zum Rangverhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht und der Pflicht zur primär-rechtskonformen Auslegung s.o. I.2.a))? Rechtfertigung nach „Gebhard-Formel? Verhältnis-mäßigkeit (insbes. Erforderlichkeit) der Anwendung deutschen Rechts? (-) bei äquivalentem Gläubigerschutz im Gründungsstaat (vgl. art. 214 Insolvency Act 1986 UK: Geschäftsführer-haftung wegen wrongfull trading. Aber: Geltendmachung nur im Rahmen eines englischen Insolvenzverfahrens; Problem: Normenmangel).

    (bb) Für Nicht-EU (EWR)-Auslandsgesellschaften gilt – vorbehaltlich völkerrechtlicher Verträge (vgl. deutsch-amerikanisches Freundschaftsabkommen) – weiterhin die modifizierte Sitztheorie (so für den Zuzug einer nach schweizerischem Recht gegründeten Gesellschaft BGH BB 2009, 14, mit Anm. Lamsa – Trabrennbahn), d.h. Statutenwechsel und ex-lege-Umwandlung in deutsche Personengesellschaft. (2) Deutschland als Wegzugstaat Verlegung des Verwaltungssitzes einer nach deutschem Recht gegründeten Gesellschaft in einen anderen EU/EWR-Staat bzw. Gründung einer Gesellschaft mit (anfänglichem) Verwaltungssitz in einem anderen EU/EWR-Staat nach deutschem Recht Keine unionsrechtlichen Vorgaben („Geschöpftheorie“, s.o. d)bb)(2)). Deutsche Legislative/Judikative ist frei in Ausgestaltung des maßgeblichen Gesellschaftskollisions- und Sachrechts. (a) Rechtslage (alt) Keine Gründung deutscher Gesellschaft mit Verwaltungssitz im Ausland. Nachträgliche Verlegung des Verwaltungssitzes einer deutschen Gesellschaft ins Ausland führt zu Auflösung und Liquidation. Vgl. für Kapitalgesellschaften §§ 4a II GmbHG, 5 II AktG a.F. ⇒ Regelidentität zw. (notwendig inländischem!) Satzungssitz und Verwaltungssitz (i.w.S.). Personengesellschaften: Keine freie Sitzwahl. „Sitz“ der Gesellschaft (HR-Zuständigkeit für Eintragung oHG/KG gem. § 106 I HGB) = Verwaltungssitz. Ausländischer Verwaltungssitz entzieht oHG/KG der Registerkontrolle (Nachweise und Kritik an der h.M. bei Koch, ZHR 173 (2009), 101 ff.).

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  • (b) Rechtslage für Kapitalgesellschaften (neu) (aa) Sachrecht Im Rahmen des MoMiG Aufgabe der sachrechtl. Verknüpfung zwischen (Fort-)Existenz deutscher Kapitalgesellschaften und inländischem Verwaltungssitz durch Änderung der §§ 4a II GmbHG, 5 II AktG. Ziel: Ermöglichung des Wegzugs deutscher Kapitalgesellschaften ins Ausland. Steigerung der Exportfähigkeit deutscher Gesellschaftsformen ggü. ausländischen „Konkurrenzprodukten“ (Ltd.) im Rahmen eines level playing field. Parallel dazu: Steigerung der Attraktivität der deutschen GmbH durch Absenkung des Mindestkapitals für Existenzgründer (vgl. § 5a GmbHG: „Unternehmer-gesellschaft“ als neue Unterform der GmbH). (bb) Kollisionsrecht? Sachrechtl. Verzicht auf inländischen Verwaltungssitz beseitigt Hindernisse für Wegzug deutscher Kapitalgesellschaften bzw. Gründung deutscher Kapitalgesellschaft mit anfänglichem ausländischem Verwaltungssitz nur bei gleichzeitiger kollisionsrechtl. Anwendbarkeit deutschen Rechts. Unter Fortgeltung der Sitztheorie Wechselwirkung mit Kollisionsrecht des Zuzugstaates beachten (Sitztheorie ⇒ Statutenwechsel, Gründungstheorie ⇒ Rückverweisung auf deutsches Recht, Art. 4 I 2 EGBGB). §§ 4a GmbHG, 5 AktG i.d.F. des MoMiG = versteckte Kollisionsnorm i.S.e. Anwendung der Gründungstheorie? Sehr umstrittene Frage (vgl. zum Streitstand Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735, 746 ff. m.w.N.). BGH BB 2009, 14 – Trabrennbahn hält (für Zuzugs-konstellationen außerhalb der Niederlassungsfreiheit) an Sitztheorie fest, d.h. keine generelle Abkehr von Sitztheorie. Beschränkte (einseitige) Kollisionsnorm nur für deutsche Kapitalgesellschaften? Wortlaut und Systematik der §§ 4a II GmbHG, 5 II AktG (Regelung im Sachrecht) sprechen dagegen. Aber: Gesetzgeber wollte Wegzug ermöglichen. Nach Scheitern des IPRG-E (s.o. aa)(1)(a)) ist Ziel allein über sachrechtl. Regelung nicht erreichbar. bb) Grenzüberschreitende Umwandlungen Voraussetzungen und Rechtsfolgen grenzüberschreitender Umwandlungsvorgänge unter Beteiligung deutscher Rechtsträger beurteilen sich sowohl nach Kollisionsrecht auch nach dem hiernach anwendbaren Sachrecht. (1) Kollisionsrecht Vereinigungstheorie = Voraussetzungen beurteilen sich nach Gründungsrecht aller beteiligten Rechtsträger. Teilweise kumulative Anwendung (strengste Regelung dominiert), soweit Gesell-schaften gemeinsam tätig werden müssen (Abschluss des Verschmelzungsvertrags). Teilweise parallele Anwendung, soweit Gesellschaften isoliert tätig werden (Voraussetzungen wie etwa Um-wandlungsfähigkeit [vgl. § 1 UmwG], Beschlussfassung). (2) Sachrecht (a) Deutsche Rechtslage: § 1 UmwG beschränkt grds. Möglichkeit von Umwandlungen auf Rechtsträger mit (Satzungs-)Sitz im Inland. Ausnahme: §§ 122 a-l UmwG ermöglichen (in Umsetzung von RL 2005/56/EG [intVerschmelzungsRL]) Verschmelzung deutscher Kapital-gesellschaften mit EU/EWR-Kapitalgesellschaften. Nicht erfasst: Personengesellschaften, andere Umwandlungsformen (Spaltung/Formwechsel) und Umwandlungsvorgänge mit Beteiligung von Drittstaaten-Gesellschaften. (b) Aus Niederlassungsfreiheit folgt grds. Möglichkeit grenzüberschreitender Umwandlungen unter Beteiligung von EU/EWR-Gesellschaften, d.h. insoweit ist § 1 UmwG unionsrechtswidrig und außer Anwendung zu lassen. Aber: Durchführung einer grenzüberschreitenden Umwandlung erfordert

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  • nationale Regelungen hinsichtlich Voraussetzungen und Verfahren. Deutsches Sachrecht enthält ausschließlich Regelungen zur grenzüberschreitenden Verschmelzung (s.o. (a)). Lösung unklar: Unionsrechtskonforme (analoge) Anwendung der §§ 122 a-l UmwG (soweit passend)? Lückenfüllung durch Vorschriften für nationale Umwandlungsvorgänge (§§ 125, 204, 207 UmwG?) III. Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV = ex Art. 56 EG) 1. Allgemein Literatur: Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Auflage 2007; Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 56-59 EG, Stand: April 2009; von Wilmowsky, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 12. Art. 63 AEUV (ex Art. 56 EG) gewährleistet freien Kapital- und Zahlungsverkehr. Für Gesellschaftsrecht ist nur Kapitalverkehrsfreiheit (Abs. 1) relevant. a) Begriff „Kapitalverkehr“ und geschützte Verhaltensweisen „Kapitalverkehr“ ist im AEUV nicht primärrechtlich definiert. EuGH (st. Rspr.) misst Nomenklatur in Anhang I der RL 88/361 (KapitalverkehrsRL) Hinweischarakter bei: Kapitalverkehr umfasst danach neben Kreditgewährung und Immobilieninvestitionen u.a. Beteiligungen an Unternehmen in Form von aa) Direktinvestitionen = Möglichkeit der tatsächlichen Beteiligung an Verwaltung und Kontrolle einer Gesellschaft (Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit s.u. d)) bb) Portfolioinvestitionen = Erwerb von Wertpapieren (auch Unternehmensbeteiligungen) allein in der Absicht einer Geldanlage ohne beabsichtigte Einflussnahme auf Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens b) Gewährleistungsgehalt aa) Betroffene staatliche Maßnahmen Parallele zu übrigen Grundfreiheiten (s.o. I.1); Art. 63 I AEUV verbietet Beschränkung grenz-überschreitender Kapitalbewegungen (Zufluss, Abfluss, Durchfluss), binnenstaatliche Vorgänge sind nicht erfasst; Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot; Anwendbarkeit der „Keck“-Grundsätze = Unterscheidung zwischen Marktzugangshindernissen und allg. Standortbedingungen (s.o. I.1.b))? EuGH hat prinzipielle Anwendbarkeit angedeutet (EuGH, Rs.C-463/00, Slg. 2003, I-4581, Rn. 58 ff. – Kommission./.Spanien; EuGH, Rs. C-98/01; Slg. 2003, I-4641, Rn. 45 ff. – Kommission./.Vereinigtes Königreich, vgl. auch GA Trstenjak, Schlussantr. zu EuGH, Rs. C-81/09, Rn. 74 ff., 116 f., s.o. II.1.a)cc)(2)). Erfasst aber nur äußere Rahmenbedingungen für Kapital-verkehrsgeschäfte (Grundbuch- und Beurkundungsvorschriften etc.); nicht: Maßnahmen, die geeignet sind, Anleger von grenzüberschreitenden Investitionen abzuhalten und damit den Marktzugang zu beeinflussen (EuGH Kommission./.Spanien, s.o., Rn. 61).

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  • bb) Rechtfertigung (1) Schranken (a) geschriebene Schranken i.S.d. Art. 65 AEUV (abschließende Aufzählung der schutzfähigen Rechtsgüter): (aa) Art. 65 I AEUV: Recht zum Erlass von Maßnahmen im Bereich der Besteuerung von Kapitalerträgen, Maßnahmen zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Bereich Steuerrecht, Finanzmarktaufsicht, Meldeverfahren zur administrativen oder statistischen Information, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Strafrecht: Geldwäschebekämpfung) und Sicherheit (Beschränkung der Kapitalbewegungen verfassungsfeindlicher oder terroristischer Gruppen). (bb) Art. 65 II AEUV: Beschränkungsmöglichkeiten der Niederlassungsfreiheit (Duplizität von Rechtfertigungsgründen, zum Verhältnis der beiden Grundfreiheiten s.u.) (b) ungeschriebene Schranken: Zwingende Gründe des Allgemeininteresses („Cassis-Formel“). Nicht erfasst: Protektionistische Maßnahmen zum Schutz der einheimischen Wirtschaft (EuGH, Rs. 463/00, Slg. 2003, I-4581, Rn. 34 – Kommission./.Spanien). c) Begünstigte Kreis der Begünstigten reicht seit 1.1.1994 über den der sonstigen Grundfreiheiten hinaus. Geschützt sind natürliche und juristische Personen mit Ansässigkeit in einem (1) Mitgliedstaat (2) Drittstaat! Erga-Omnes-Wirkung (ohne Gegenseitigkeitsvorbehalt); erfasst nicht nur Beschrän-kungen des Kapitaltransfers zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten sondern auch zwischen Dritt-staaten untereinander. Beschränkungen durch Drittstaaten können durch Art. 63 I AEUV nicht geregelt werden (einseitig begünstigende Norm). Einseitige Liberalisierung = Beitrag der EU zur Öffnung der globalen Märkte. d) Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit Kapitalverkehrsfreiheit weist hinsichtlich des Schutzes von Unternehmensbeteiligungen Über-schneidungen mit (sekundärer) Niederlassungsfreiheit auf: Ein und derselbe Beteiligungsvorgang = Direktinvestition („Beteiligung an Verwaltung und Kontrolle“, s.o. a)aa)) sowie ggf. Niederlassungs-vorgang („sicherer Einfluss“, vgl. zuletzt Rs. C-543/08, Rn. 41 – Kommission./.Portugal III). Unterschiedlicher persönlicher Schutzbereich beider Grundfreiheiten (Drittstaatenfälle, s.o. c)(2)) bedingt Frage nach Rangverhältnis (vgl. zum Ganzen Germelmann, EuZW 2008, 596). Rspr. des EuGH zunächst uneinheitlich: 1. Rechtsprechungslinie (staatliche Sonderrechte, s.u. 2.a)) = parallele Anwendbarkeit (vgl. EuGH, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731, Rn. 56 – Kommission./. Portugal I, st. Rspr. bis EuGH, verb. Rs. C-282/04 und C-283/04, Slg. 2006, I-9141 Rn. 43 – Kommission./. Niederlande). 2. Rechtsprechungslinie (steuerrechtl. Sachverhalte): Vorrang Niederlassungsfreiheit, soweit staatl. Regelung ausschl. Beschränkung der Niederlassung („sicherer Einfluss“) zum Gegen-stand hat (EuGH, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2107, Rn. 33 ff. – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation). Zuletzt Übertragung dieses Ansatzes auf „Sonderrechts“-Fälle“(vgl. erstmals EuGH, Rs. C-326/07, Slg. 2009, I-2291, Rn. 33 – Kommission./.Italien). Offene Fragen: Beteiligungsschwelle für „sicheren Einfluss“ (positiv oder negativ = Sperrminorität)? Prüfung pauschal oder konkret im Einzelfall (Verfahrensart)? EuGH, Rs. C-492/04, Slg. 2007, I-3775, Rn. 21 – Lasertec hält 25% für unproblematisch. Tiefere Schwelle, wenn nach den Vorstellungen des nationalen Gesetzgebers faktisch sicherer Einfluss gewährleistet ist (vgl. auch Art. 2 I a RL

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  • 2004/25/EG = ÜbernahmeRL). Weitere Frage: Deckungsgleichheit Portfolioinvestition – Kapital-verkehr und Direktinvestition – Niederlassung (i.d.S. Germelmann, EuZW 2008, 596, 599, Fn. 38)? Rspr. EuGH gibt keinen klaren Hinweis: Vgl. einerseits EuGH, Rs. C-326/07, Slg. 2009, I-2291, Rn. 38 – Kommission./.Italien: Schwelle für „sicheren Einfluss“ i.S.d. Niederlassungsfreiheit wird höher angesetzt als Schwelle für effektive Möglichkeit der Beteiligung an Verwaltung; vgl. anderseits verb. Rs. C-282/04 und C-283/04, Slg. 2006, I-9141, Rn. 27 – Kommission./.Niederlande; zuletzt Rs. C-543/08, Rn. 57 – Kommission./.Portugal III: Auswirkungen auf Portfolioinvestitionen als separater Prüfungspunkt neben Beschränkung von Kontrollerwerb = Indiz für Gleichlauf Direktinvestition/Niederlassung? 2. Insbes.: Auswirkungen der Kapitalverkehrsfreiheit auf das nationale Gesellschaftsrecht Literatur: Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317; Spindler, RIW 2003, 850; Teichmann/Heise, BB 2007, 2577. a) Die Rechtsprechung des EuGH zu staatlichen Regelungen bzw. Sonderrechten (Golden Shares) in (teilprivatisierten) Gesellschaften aa) Gegenstand Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 II AEUV) gegen zahlreiche Mitgliedstaaten im Zusammen-hang mit staatlichen Regelungen bzw. Sonderrechten zur Sicherung (Wahrung) staatlichen Einflusses auf z.T. privatisierte Kapitalgesellschaften. Bedeutung? Fälle betrafen Begünstigung des Staates (Spezialfall); gleichwohl: Rückschlüsse auf Unionsrechtskonformität von Regelungen/ Sonderrechten zur Sicherung des Einflusses privater Anleger auch im allgemeinen Gesellschaftsrecht (dazu s.u. b))? (1) Regelungsbereiche: Beschränkung des Beteiligungserwerbs bzw. hierüber vermittelten Einflusses auf Tätigkeit der Gesellschaft (Höchststimmrechte, Sperrminorität, Entsenderechte in Gesellschafts-gremien, Kontrolle wichtiger Geschäftsführungs- bzw. Strukturmaßnahmen). (2) Inhalt: z.T. Verbot, z.T. Kontrolle (nachträglich in Form von Einspruchsrechten oder vorbeugend in Form von Genehmigungsvorbehalten). (3) Form der Regelung: z.T. hoheitlich (Gesetz/Verordnung), z.T. privatautonom im Rahmen der Gesellschaftssatzung, z.T. Mischformen (Satzungsregelung unter behördlichem Genehmigungs-vorbehalt). bb) Die Urteile im Einzelnen (lesen!) EuGH, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731 – Kommission./.Portugal I EuGH, Rs. C-483/99, Slg. 2002, I-4781 – Kommission./.Frankreich (Elf-Aquitaine) EuGH, Rs. C-305/99, Slg. 2002, I-4809 – Kommission./.Belgien EuGH, Rs. C-463/00, Slg. 2003, I-4581 – Kommission./.Spanien EuGH, Rs. C-98/01, Slg. 2003, I-4641 – Kommission./.Vereinigtes Königreich (BAA) EuGH, verb. Rs. C-282/04 und C-283/04, Slg. 2006, I-9141 – Kommission./.Niederlande EuGH, Rs. C-326/07, Slg. 2009, I-2291 – Kommission./.Italien EuGH, Rs. C-171/08, noch nicht in Slg. – Kommission./.Portugal II EuGH, Rs. C-543/08, noch nicht in Slg. – Kommission./.Portugal III

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  • Sonderfall mit Bezug zu Deutschland: EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 – Kommission./. Deutschland (VW-Gesetz) Deutsches VW-Gesetz (zur Umwandlung der VW-GmbH in eine AG) enthielt folgende Regelungen: Stimmrechtsbeschränkung auf 20% (§ 2 VW-G); Entsenderecht für je 2 Aufsichtsratsmitglieder zugunsten der Bundesrepublik und des Landes Niedersachsen (§ 4 I VW-G); Erhöhung der Sperrminorität für Strukturentscheidungen von 75% (AktG) auf 80% des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals (§ 4 III VW-G). EuGH: Vereinbarkeit mit Kapitalverkehrsfreiheit (-) Staatliche Maßnahme (+) ungeachtet des legislatorischen Motivs (= Festschreibung eines Kompromisses zw. potentiellen Anteilseignern der VW-GmbH/AG); Beschränkung der Kapital-verkehrsfreiheit (+): Kombination von Höchststimmrecht und Sperrminorität sowie Entsenderecht bedingen Diskrepanz zw. Investition und Einfluss öffentlicher Investoren ⇒ Abschreckung von Direktinvestoren. Keine Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, insbes. Wahrung der Interessen von Arbeitnehmern/Minderheitsaktionären. Sicherung staatlichen Einflusses ist entweder ungeeignetes Mittel oder sogar kontraproduktiv(!) hinsichtlich Zielerreichung (Möglichkeit des Handelns entgegen den Interessen der betroffenen Gruppen zur Wahrung weiterer Gemeinwohlbelange!). cc) Folgerungen Staatliche Regelungen/Sonderrechte sind unter folgenden Voraussetzungen nicht mit der Kapital-verkehrsfreiheit (und/oder Niederlassungsfreiheit, zur Konkurrenz s.o. 1.d)) vereinbar. (1) Vorliegen einer Beschränkung (a) Neutralität der Verträge hinsichtl. Eigentumsordnung der Mitgliedstaaten (Art. 345 AEUV, ex Art. 295 EG) gewährt keinen tatbestandlichen Freiraum für mitgliedstaatliche Beschrän-kungen. Möglichkeit der Verfolgung staatlicher Ziele in (teil-)privatisierten Gesellschaften wird auf Rechtfertigungsebene verlagert. Kritik: Rspr. = Ausdruck wirtschaftspolitischer Inflexibilität. Art. 345 AEUV ermöglicht vollständige Beibehaltung staatlicher Trägerschaft von Unternehmen (= Höchstmaß an Beschränkung des Kapitalverkehrs). Erst-Recht-Schluss hinsichtlich weniger eingriffsintensiver partieller Beibehaltung staatlichen Einflusses auf privatisierte Unternehmen? (so GA Colomer, Schlussantr. zu EuGH Rs. C-367/98, C-483/99 und C 503/99; Slg. 2002, I-4731, Rn. 65 f. – Kommission./. Portugal, Frankreich und Belgien, vgl. auch Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 56 EGV [Stand: 2009], Rn. 107 m.w.N.). (2) Keine hohen Anforderungen an Vorliegen einer „staatlichen Maßnahme“. Neben öffentlich-rechtlichen Handlungsformen (Gesetz, vgl. insbes. EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 – Kommission./.Deutschland) genügt auch privatautonome Regelung in Gesellschaftssatzung mit oder ohne (behördliche/ministerielle) Genehmigung durch Staat (EuGH, Rs. C-98/01, Slg. 2003, I-4641 – Kommission./.Vereinigtes Königreich; EuGH, verb. Rs. C-282/04 und C-283/04, Slg. 2006, I-9141 – Kommission./. Niederlande). Grund: Auch Satzungsregelungen einer mehrheitlich vom Staat gehaltenen Gesellschaft (Zeitpunkt beachten!) „beruhen“ letztlich auf staatlicher Entscheidung. Andernfalls droht „Flucht ins Privatecht“ (nunmehr unmissverständlich allein auf Zeitpunkt der Regelung abstellend: EuGH, Rs. C-543/08, noch nicht in Slg., Rn. 50 – Kommission./.Portugal III). (3) Potentiell beschränkend wirken sowohl staatliche Regelungen/Sonderrechte, die sich (diskriminierend oder nicht diskriminierend) unmittelbar als Verbot des Beteiligungserwerbs darstellen als auch Maßnahmen, die eine Verringerung des mit der Beteiligung verbundenen Einflusses zum Inhalt haben (Höchststimmrechte, Sperrminoritäten, Entsenderechte und staatliche Kontrolle von Struktur- bzw. Geschäftsführungsentscheidungen). Einzige Voraussetzung: Maßnahme behindert potentiellen Beteiligungserwerb durch ausländische Investoren bzw. macht diesen weniger attraktiv. Gilt wg. unmittelbarer Auswirkung auf Verwaltung und Kontrolle der Gesellschaft jedenfalls für Direktinvestitionen sowie wegen Kursrelevanz auch mittelbar für Portfolioinvestitionen? (vom

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  • EuGH erstmals in verb. Rs. C-282/04 und C-283/04, Slg. 2006, I-9141 – Kommission./.Niederlande problematisiert). bb) Rechtfertigung EuGH stellt strenge Anforderungen an Legitimität des Ziels und Verhältnismäßigkeit der staatlichen Sonderrechte (1) Legitimes Ziel (a) Öffentliche Sicherheit i.S.d. Art. 65 I b AEUV: Hierunter fällt nicht nur Gefahrenabwehr, sondern unter besonderen Voraussetzungen auch Daseinsvorsorge = Versorgung mit Gütern und Diensten, von denen das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen oder das Überleben seiner Bürger abhängt (z.B. Energieversorgung, vgl. bereits zur Warenverkehrsfreiheit EuGH, Rs. 72/83, Slg. 1984, 2727, Rn. 7 – Campus-Oil). Eng begrenzter Sektor (Grundversorgung), keine branchenübergreifenden Regelungen (vgl. EuGH, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731 – Kommission./. Portugal). Problem: Bedarf es konkreter Gefährdung hinsichtlich der Versorgung? EuGH scheint dies nicht (mehr) zu fordern (vgl. EuGH, Rs. C-543/08, noch nicht in Slg., Rn. 87 – Kommission./.Portugal III). (b) Zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen potentiell auch branchenübergreifende Sonderrechte des Staates in Unternehmen außerhalb des Bereichs der Grundversorgung. Aber: Hohe Anforderungen an Plausibilität des Ziels, d.h. insbesondere keine pauschale Berufung auf allgemeine wirtschaftspolitische Ziele (EuGH, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731 – Kommission./.Portugal I). Legitime Ziele sind: Versorgung mit wichtigen (aber nicht überlebenswichtigen) Gütern und Dienst-leistungen (postalischer Universaldienst) oder der Schutz von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern (EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 – Kommission./. Deutschland). (2) Verhältnismäßigkeit Es ist zu unterscheiden (a) Verhältnismäßigkeit (-): Verbot des Beteiligungserwerbs; per se Einschränkung des üblicherweise mit Beteiligung verbundenen Einfluss auf Verwaltung der Gesellschaft (Prinzip one share one vote) zugunsten des Staates (Höchststimmrechte, Sperrminoritäten, Entsenderechte) Bereits keine Eignung zum Schutz von Individualinteressen (Gläubiger, Minderheitsaktionäre, Arbeitnehmer) wg. fehlender Bindung des Staates an Unternehmensinteresse; jedenfalls keine Erforderlichkeit hinsichtlich weitergehender Ziele (Versorgung mit [lebens-]wichtigen Gütern und Diensten): Staatliche Kontrolle konkreter Struktur- bzw. Geschäftsführungsmaßnahmen (s.u. (b)) = milderes Mittel. (b) Verhältnismäßigkeit (+/-): Staatliche Kontrolle von Struktur- bzw. Geschäftsführungs-maßnahmen, die das staatlich verfolgte Ziel gefährden. Im Rahmen der Erforderlichkeit ist mildestes Mittel zu wählen. Tendenziell (+): System nachträglicher Untersagung bei Vorliegen konkreter, im Voraus bestimmbarer Kriterien (EuGH, Rs. C-305/99, Slg. 2002, I-4809, Rn. 49-53 – Kommission./. Belgien); tendenziell (-): Genehmigungsvorbehalt/fehlende Bestimmtheit (EuGH, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731, Rn. 50 – Kommission./.Portugal I). . b) Folgerungen für die Ausgestaltung des nationalen Gesellschaftsrechts im Übrigen Fallkonstellationen unter a) betrafen Regelungen bzw. Sonderrechte zur Sicherung staatlichen Einflusses in Unternehmen (Spezialfall, insbes. im Zusammenhang mit Privatisierungen). Übertrag-barkeit auf allgemeine Regelungen/Sonderrechte zur Sicherung privaten Einflusses / Verhinderung fremder Kontrolle auf Unternehmen bzw. weitere Regelungen des nationalen Gesellschaftsrechts mit nachteiliger Wirkung auf grenzüberschreitende Investitionen?

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  • aa) Erwerbsbeschränkungen, Höchst- bzw. Mehrfachstimmrechte, Entsenderechte Erwerbsbeschränkungen bzw. Abweichung vom Prinzip one share, one vote = Beschränkung von Direkt- und Portfolioinvestitionen (Behinderung des Kontrollerwerbs, Kursrelevanz). Es ist zu unterscheiden nach Art der Einführung: Nationales zwingendes Privatrecht (auch Gesellschaftsrecht) unterliegt grds. Kontrolle durch Grundfreiheiten. Ausnahme wg. internationaler Abdingbarkeit i.R.d. Wahl des Gesellschaftsstatuts durch Gründer (vgl. für zwingendes Schuldrecht EuGH, Rs. C-339/89, Slg. 1991, I-107, Rn. 16 – Alsthom Atlantique)? Rspr. auf Gesellschaftsrecht nicht übertragbar: Wahl des Gesellschaftsstatuts durch Gründer = Rechtswahl zu Lasten Dritter (Investoren). Keine Rechtfertigung aus wirtschafts-politischen Gründen, etwa Verhinderung der Übernahme inländischer Unternehmen, Förderung des Streubesitzes etc., s.o. a)bb)(1)(b). Kreis der betroffenen Normen im deutschen Recht gering: Zum (theoretisch auch den Einfluss privater Gesellschafter sichernden) VW-Gesetz s.o. a)bb). Branchenübergreifende Beschränkungen des Kontrollerwerbs an deutschen Unternehmen durch Ange-hörige von Drittstaaten(!) enthält neuerdings das (öffentlich-rechtliche) Außenwirtschaftsgesetz AWG (vgl. zur Vereinbarkeit mit der Kapitalverkehrsfreiheit W.-H. Roth, ZBB 2009, 257). Höhere Relevanz für deutsches Gesellschaftsrecht: Unterliegt auch Abschirmung von Unternehmen gegen fremde Einflussnahme durch privatautonome Gestaltung (Satzung) Kontrolle durch Kapitalverkehrs- bzw. Niederlassungsfreiheit? Mögliche Gestaltungen: Beschränkung des Anteils-erwerbs durch Vinkulierung von Gesellschaftsanteilen (vgl. §§ 68 II AktG, 15 V GmbHG), Höchst- und Mehrfachstimmrechte bzw. Entsenderechte (vgl. aber §§ 12 II, 134 I 2 AktG zur Unzulässigkeit von Höchst- und Mehrfachstimmrechten in deutschen börsennotierten AGs). Frage der Übertragbarkeit der Rspr. des EuGH zur Drittwirkung von Grundfreiheiten auf Kapitalverkehrs-freiheit (s.o. I.3.c)). (Mehrheits-) Gesellschafter bzw. Gründer als „intermediäre Gewalten“ i.S. einer unmittelbaren Drittwirkung (vgl. EuGH, Rs. C-41/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 83 – Bosman)? Jedenfalls: Schutzpflicht der Mitgliedstaaten zur Unterbindung freiheitsbeschränkender Maßnahmen Privater (mittelbare Drittwirkung, vgl. EuGH, Rs. C-265/95, Slg.1997, I-6959 – Kommission./. Frankreich). Folgt hieraus Pflicht zum Erlass zwingender, die Satzungautonomie der (Mehrheits-) Gesellschafter bzw. Gründer beschränkender Normen; Abwägung mit kollidierenden Rechtspositionen (Grundrechten) der Gesellschafter, z.B. Privatautonomie (zu Grundrechten als Schranke staatlicher Schutzgewährung vgl. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger)? bb) Sonstige investitionsbeschränkende Normen Weiteres Problem: Weitgehend zwingender Charakter des deutschen Aktienrechts gem. § 23 V AktG (Satzungsstrenge)? Möglichkeit der Beteiligung an Gesellschaft, deren Statuten frei verhandelbar sind, als Ausübungsform der Kapitalfreiheit? Sehr zweifelhaft; jedenfalls dient Satzungsstrenge selbst dem Anlegerschutz (Standardisierung von Anlageprodukten) und damit der Förderung des (grenzüberschreitenden) Kapitalverkehrs: Kollidierende Grundfreiheit als zwingender Grund des Allgemeininteresses? Ist flächendeckend zwingende Ausgestaltung des Aktienrechts erforderlich i.S.d. Verhältnismäßigkeit, oder bedarf es einer (weniger pauschalen) Rechtfertigung der zwingenden Ausgestaltung für einzelne Normen/Normkomplexe? (instruktiv zum Ganzen Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317, 361 ff.).

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  • § 4 Angleichung und Vereinheitlichung des Gesellschaftsrecht durch EU-Sekundärrecht I. Allgemeines 1. Kompetenzen Literatur: Habersack, § 3, Rn. 35-41; Steindorff, EuZW 1990, 251. a) Erfordernis einer Kompetenzgrundlage Erlass von Sekundärrechtsakten (VO/RL) durch Organe der EU (Rat/Parlament) bedarf einer Kompetenzgrundlage zur Regelung des betroffenen Rechtsbereichs. EU verfügt nur über Regelungs-kompetenzen, die Mitgliedstaaten durch Verträge übertragen haben; i.Ü. verbleibt Kompetenz bei Mitgliedstaaten (Art. 4 I, 5 I, II EUV, Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung). Änderung des Kompetenzgefüges erfordert Änderung der Verträge durch die Mitgliedstaaten, d.h. keine Möglichkeit der EU, Kompetenzen durch autonome Rechtssetzung an sich zu ziehen (= keine Kompetenz-Kompetenz, vgl. aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts zuletzt BVerfGE 92, 203 = NJW 2009, 2267, Rn. 233 – Lissabon-Vertrag). Konkurrierende Kompetenz der EU wird begrenzt durch Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 III EUV). b) Kompetenzgrundlagen aa) Art. 50 II lit g AEUV (ex Art. 44 II lit g EG) Rechtsgrundlage für alle RLen zur Harmonisierung der nationalen Gesellschaftsrechte einschl. der flankierenden RLen für die supranationalen Gesellschaftsformen SE und SCE. Ermächtigung der EU zum Erlass von RLen(!) mit dem Ziel der Koordination von „Schutzbestimmungen ... im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter“. Umfasst (entgegen enger anmutendem Wortlaut) Harmonisierung des gesamten Gesellschaftsrechts i.w.S. inkl. unternehmerischer Mitbestimmung, Bilanzrecht und Kollisionsrecht (EuGH, Rs. C 97/96, Slg. 1997, I-6843, Rn. 18, 21 – Daihatsu). Dient primär Beseiti-gung von Niederlassungshemmnissen; ermöglicht darüber hinaus als besondere Ausprägung der allgemeinen Aufgabe/Kompetenz zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt gem. Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EG, s.u. bb)) sonstige binnenmarktfinale Maßnahmen (h.M., vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, § 44, Rn. 17), z.B. Abbau spürbarer Wettbewerbsverzerrungen (vgl. zu ex Art. 95 EG EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-419, Rn. 83, 84, 95 – Deutschland./. Parlament und Rat [Tabakwerbeverbot]), wohl auch allg. „Förderung“ des Binnenmarktziels (so allg. zur Aufgabe der Rechtsangleichung EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631, Rn. 21 – Reyners; zust. für ex Art. 95 EG [Art. 114 AEUV] W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal, Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 13, 38 ff.). Frage: Erfasst Art. 50 II lit g AEUV (abw. von Art. 114 AEUV) auch nicht-binnenmarktfinale Maßnahmen zum „Schutz von Gesellschaftern bzw. Dritten“ (ablehnend: Steindorff, EuZW 1990, 251, 253 f.)? Systematischer Kontext zur Niederlassungsfreiheit (vgl. Art. 50 I AEUV) sowie TB-Merkmal der „Erforderlichkeit“ i.S.d. Art. 50 II lit g AEUV sprechen dagegen; vgl. andererseits EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459, Rn. 28 – Centros: Rechtsangleichung als Korrektiv für nachteilige Folgen der Rechtswahl! Speziell zum legislatorischen Ziel der Verhinderung eines Wettbewerbs der Gesellschaftsrechte i.S.e. race to the bottom s.u. 3.d)aa)(1)(b)). bb) Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EG) = sog. allg. Binnenmarktkompetenz Ermöglicht grds. Erlass von RLen und VOen zur Beseitigung von Hemmnissen für die Grund-freiheiten (auch Niederlassungsfreiheit) sowie sonstige binnenmarktfinale Maßnahmen s.o. aa)) Aber: Keine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung supranationaler Rechtsformen (EuGH, Rs. C-436/03, Slg. 2006, I-3733, Rn. 46 – Parlament./.Rat zur Wahl der Rechtsgrundlage für VO (EG) Nr.1435/2003 = SCE-VO), daher keine Bedeutung für europ. Gesellschaftsrecht.

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  • cc) Art. 352 AEUV (ex Art. 308 EG) = Kompetenzergänzungsklausel Allgemeine Ermächtigung zum Erlass von Maßnahmen zur Verwirklichung der Vertragsziele ohne (ausreichende) spezielle Kompetenznorm; enthält wegen erhöhter Anforderungen an das Verfahren (Einstimmigkeit!) keine Durchbrechung, sondern besondere Ausprägung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Norm diente i.d.F. vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages als Rechts-grundlage zur Schaffung der supranationalen Rechtsformen EWIV, SE und SCE. Verfahren (nach Änderung durch Lissabon-Vertrag): Einstimmiger Ratsbeschluss und Zustimmung EP (Art. 352 I AEUV). 2. Rechtsakte Literatur: Allgemein: Habersack, § 3 III; Herdegen, Europarecht, 12. Aufl. 2010, § 8, IV; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, § 5 II. Speziell zur Privatrechtswirkung von Richtlinien: Mörsdorf, EuR 2009, 219. a) Richtlinien, Art. 288 III AEUV (ex Art. 249 III EG) aa) Rechtsnatur An Mitgliedstaaten, nicht an Marktbürger gerichtet. Verbindlichkeit grds. nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels; Wahl der Form und Mittel bleibt Mitgliedstaaten überlassen. Zweistufiges Verfahren ermöglicht Einbettung unionsrechtlicher Vorgaben in nationales Normgefüge unter weitestmöglicher Schonung nationaler dogmatischer Eigenheiten. Aber: Hohe Regelungsdichte zahl-reicher neuerer RLen führt zu faktischer Annäherung an VO (Problem: Subsidiaritätsgrundsatz, vgl. Art. 5 III EUV) bb) Mindestharmonisierung/Vollharmonisierung Umfang der Umsetzungsverpflichtung ergibt sich aus Auslegung der RL (zu den Methoden vgl. Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 11). Klärungsbedürftig (auch im Hinblick auf Feststellung der RL-Konformität nationalen Rechts durch Judikative) ist insbes. Frage, ob RL nur Mindestregeln vorgibt (Mindestharmonisierung), oder ob auch Vereinheitlichung „nach oben“ angestrebt wird mit der Folge der Unzulässigkeit strengeren nationalen Rechts (Vollharmonisierung); im Gesellschaftsrecht i.d.R. keine ausdr. Klarstellung für gesamte RL (anders: RLen zum Verbraucherschutz, vgl. Art. 14 RL 97/7/EG [FernabsRL]), d.h. Klärung für jede einzelne RL/RL-Vorschrift im Wege der Auslegung. Beispiel für Mindestharmonisierung: Art. 6 RL 77/91/EWG (KapitalRL): „Mindest“Kapital für AG; Beispiel für Vollharmonisierung: Gegenstände der Offenlegung gem. Art. 2 I RL 89/666/EWG (ZweigniederlassungsRL), vgl. EuGH, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155, Rn. 65 ff. – Inspire Art. cc) Einwirkungen auf das nationale Recht (1) Bindung des nationaler Gesetzgebers Gebot effektiver Umsetzung durch nationalen Gesetzgeber bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist. Grds. besteht Umsetzungsspielraum zur Erreichung des RL-Ziels; ggf. Reduzierung auf Null durch zwingende Vorgaben in RL bzw. (bei Sanktionen) Effektivitäts- und Äquivalenzgebot (vgl. zuletzt EuGH, Rs. C-40/08, Slg. 2009, I-9579, Rn. 38 ff. – Asturcom) Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet RL Vorwirkung, d.h. Mitgliedstaat darf keine Regelungen erlassen, welche Erreichung des RL-Ziels in Frage stellen (EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411- Inter

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  • Environnement Wallonie). Folgen fehlender/unvollständiger Umsetzung: Vertragsverletzungs-verfahren vor dem EuGH durch Kommission als „Hüterin der Verträge“ gem. Art. 258 AEUV (ex Art. 226 EG). Zudem ggf. Staatshaftung des säumigen Mitgliedstaates ggü. durch RL begünstigten Marktbürger (EuGH, verb. Rs. C-6/90-C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 29 ff. – Francovich). (2) Bindung der nationalen Judikative Erforderlichkeit eines nationalen Umsetzungsaktes (Unterschied zur VO) steht unmittelbarer Anwendung der RL in einem nationalen Gerichtsverfahren konzeptionell entgegen. Ausnahme: Möglichkeit des Marktbürgers, sich im Fall fehlender/nicht ausreichender Umsetzung ggü. Staat unmittelbar auf RL zu berufen (Vertikalwirkung, vgl. EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12 – Van Duyn). Aber: Keine Horizontalwirkung von RL zwischen Marktbürgern (st. Rspr. vgl. allgemein EuGH, Rs C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 20 – Faccini Dori; speziell abl. auch ggü. negativer Wirkung i.S.e. Nichtanwendung RL-widrigen nationalen Rechts EuGH, verb. Rs. C-397/01 – C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 109 – Pfeiffer u.a.; beachte aber faktische Horizontalwirkung von RL, die primärrechtl. Grundsatz konkretisieren, EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 77 – Mangold, hierzu Mörsdorf, EuR 2009, 219, 232 ff.). Bindung auch der nationalen Judikative an RL bedingt unionsrechtliches Gebot RL-konformer Auslegung nationalen Rechts (st. Rspr. seit EuGH, Rs 14/83, Slg. 1984, 1891 – von Colson & Kamann, allg. zur RL-konformen Auslegung, W.-H. Roth, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, 2. Aufl. 2010, § 14). Gilt erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist (EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 113 – Adeneler); umfasst nicht nur Umsetzungsakte, sondern auch vor Erlass der RL gesetztes Recht (EuGH, verb. Rs. C-397/01 – C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 115 – Pfeiffer u.a.); Pflichtumfang: Ausschöpfung des nationalen Methodenspektrums zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit der RL (st. Rspr., vgl. EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8 – Marleasing), umfasst für deutsche Gerichte auch Rechtsfortbildung (vgl. BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427 – Quelle). Aber: Keine Pflicht zur Auslegung nationalen Rechts contra legem (EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 110 – Adeneler). Gebot rlkA besteht unstr. für nationales Recht im Anwendungsbereich von RLen; Erstreckung auch auf nicht von RL erfasste Bereiche nationalen Rechts im Zusammenhang mit überschießender Umsetzung von RLen (z.B. Umsetzung der RL 1999/44/EG durch deutschen Gesetzgeber i.S.e. einheitlichen Regelung des Kaufrechts für Verbraucher und sonstige Personen)? EuGH, Rs. C-28/95, Slg. 1997, I-4161, Rn. 27, 32 – Leur/Bloem behandelt (und bejaht) ausschließlich (prozessuale) Berechtigung nationaler Gerichte zur Vorlage gem. ex Art. 234 EG (Art. 267 AEUV), keine Aussage hinsichtlich unionsrechtl. Verbot gespaltener Auslegung nationaler Norm (h.M., vgl. Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff. m.w.N.; a.A. W.-H. Roth, in: Festschr. 50 Jahre BGH, 2000, Bd. II, 847, 880 ff.). Aber: Auslegung nationalen Rechts kann einheitliche Auslegung gebieten (vgl. zu den Voraussetzungen Schulte-Nölke/Busch, in: Festschr. Canaris, 2007, Bd. II, S. 795, 810). b) Verordnungen, Art. 288 II AEUV (ex Art. 249 II EG) Funktional Vergleichbarkeit mit Gesetz auf nationaler Ebene. Bindet alle Organe der Mitgliedstaaten i.S. einer unmittelbaren Anwendbarkeit (auch im Horizontalverhältnis!). Zielt (mangels Umsetzungs-spielraum) nicht auf Angleichung, sondern auf Vereinheitlichung des Rechts. Daher ist VO (anders als RL) geeigneter Rechtsakt für Schaffung supranationaler Rechtsformen. 3. Aktueller Stand und Perspektiven der Gesellschaftsrechtsangleichung Literatur: Grundmann, ZGR 2002, 783 ff.; Habersack, Europ. Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 4; Hopt, ZIP 1998, 96; Schön, in Festschr. Mestmäcker, S. 838 ff.; Teichmann, in: Müller-Graff/ Teichmann, Europäisches Gesellschaftsrecht auf neuen Wegen, 2010, S. 43.

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  • a) Normbestand Bisher 14 RLen auf Basis von ex Art. 44 II lit g EG (Art. 50 II lit g AEUV) sowie 3 VOen zur Schaffung supranationaler Rechtsformen auf Basis von ex Art. 308 EG (Art. 352 AEUV) aa) Die einzelnen Rechtsakte (chronologisch nach dem Datum des erstmaligen Vorschlags) (1) Richtlinien (a) Verwirklichte Vorhaben Erste RL 68/151 /EWG (PublizitätsRL), aufgeh. zugunsten von RL 2009/101/EG Zweite RL 77/91/EWG (KapitalRL) Dritte RL 78/855/EWG (VerschmelzungsRL) Vierte RL 78/660/EWG (JahresabschlussRL) Sechste RL 82/891/EWG (SpaltungsRL) Siebente RL 83/349/EWG (konsAbschlussRL) Achte RL 2006/43/EG (AbschlussprüferRL) Zehnte RL 2005/56/EG (intVerschmelzungsRL) Elfte RL 89/666/EWG (ZweigniederlassungsRL) Zwölfte RL 89/667/EWG (EinpersonenGesRL) Dreizehnte RL 2004/25/EG (ÜbernahmeRL) RL 2007/3/EG (AktionärsrechteRL) RL 2001/86/EG (SE-ErgänzungsRL) RL 2003/72/EG (SCE-ErgänzungsRL) (b) (Vorläufig) gescheiterte Vorhaben Vorschlag für eine (fünfte) RL zur Struktur der Aktiengesellschaft Vorschlag für eine (neunte) RL zum Konzernrecht Vorschlag für eine (vierzehnte) RL zur Verlegung des Satzungssitzes innerhalb der EU (2) Verordnungen VO (EWG) Nr. 2137/85 (EWIV-VO) VO (EG) Nr. 2157/2001 (SE-VO) VO (EG) Nr. 1435/2003 (SCE-VO) geplant: VO zur Europäischen Privatgesellschaft (SPE) b) Harmonisierte Bereiche Sämtliche Harmonisierungsakte betreffen Kapitalgesellschaften aa) Handelsrechtliche Publizität (PublizitätsRL, ZweigniederlassungsRL) bb) Rechnungslegung (JahresabschlussRL, konsAbschlussRL, AbschlussprüferRL) cc) Gesellschaftsrecht i.e.S.: Harmonisierung hinsichtlich Beschränkung der Nichtigkeitsgründe und Vertretungsbefugnis des Leitungsorgans (PublizitätsRL). I.Ü. unterschiedlicher Harmonisierungsgrad hinsichtlich beider Arten von Kapitalgesellschaften: Teilharmonisierung des Rechts der [börsen-notierten] „großen Kapitalgesellschaft = Aktiengesellschaft (SE-VO, KapitalRL, VerschmelzungsRL,

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  • SpaltungsRL, AktionärsrechteRL), punktuelle Harmonisierung des