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Exemplartheorie: Verschiedene Ans¨ atze im Vergleich Jana Weiser [email protected] Institut f¨ ur Maschinelle Sprachverarbeitung Universit¨ at Stuttgart Azenbergstr.12, 70174 Stuttgart Diplomarbeit Nr. 58 Betreuer: PD Dr. Bernd M¨ obius Pr¨ ufer: PD Dr. Bernd M¨ obius 15. M¨ arz 2006 1

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Exemplartheorie:

Verschiedene Ansatze im Vergleich

Jana [email protected]

Institut fur Maschinelle SprachverarbeitungUniversitat Stuttgart

Azenbergstr.12, 70174 Stuttgart

Diplomarbeit Nr. 58

Betreuer: PD Dr. Bernd MobiusPrufer: PD Dr. Bernd Mobius

15. Marz 2006

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Zusammenfassung

In dieser Arbeit wird eine Ubersicht uber die Exemplartheorie inner-halb der Linguistik anhand der Literatur wichtiger Forschungsvertretergegeben.

Die exemplarbasierte Modellierung phonologischen Wissens nimmtExemplare als Beispiele von Wortern und kleineren phonetischen bzw.phonologischen Einheiten im linguistischen Gedachtnis an, die aus Wor-taktivierungsmustern hervorgehen. Sie werden in Modellsimulationenreich an phonetischen Details reprasentiert, um eine ungerechtfertigteParametrisierung zu vermeiden. Durch einen Vergleichsmechanismus derAhnlichkeitsubereinstimmung erhalt man ein Generalisierungsverhalten,ohne die Notwendigkeit der expliziten Speicherung von sprachlichen Pro-totypen oder normalisierter bzw. abstrakter Reprasentationsentitaten. Ei-ne Resonanzinteraktion zwischen phonetischer und nichtphonetischer In-formation liefert eine top-down-Verarbeitung sowie eine Reprasentationlinguistisch signifikanter Lautmuster.

Die aus der psychologischen Forschung hervorgehende Exemplartheo-rie wird hierin als flexible Konzeption innerhalb der Linguistik charakte-risiert, was sich in den unterschiedlichen exemplarbasierten Stromungenund vielfaltigen phonologischen Anwendungsbereichen widerspiegelt. Sieist nunmehr als Teilbereich der Phonologiedisziplin nicht mehr wegzuden-ken.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einfuhrung 51.1 Mentale Korrelate der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2 Exemplartheorie 72.1 Geschichtlicher Hintergrund der Exemplartheorie . . . . . . . . . 72.2 Annahmen der konventionellen Phonologie

versus Exemplartheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82.3 Die Sprachwahrnehmung uber Bausteine der

Exemplartheorie – Reprasentationseinheitenund Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3 Exemplartheoretische Forschung 143.1 Janet B. Pierrehumbert: Exemplar dynamics: Word frequency,

lenition and contrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.2 Stephen D. Goldinger: Words and Voices. Perception and Pro-

duction in an Episodic Lexicon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203.3 Keith Johnson: Speech perception without speaker normalization:

An exemplar model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343.4 Robert Kirchner: Preliminary thoughts on “phonologization” wi-

thin an exemplar-based speech processing system . . . . . . . . . 423.5 Patricia Kuhl: Human adults and human infants show a ‘per-

ceptual magnet effect’ for the prototypes of speech categories,monkeys do not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

3.6 Francisco Lacerda: The perceptual-magnet effect: An emergentconsequence of exemplar-based phonetic memory . . . . . . . . . 64

3.7 Frank H. Guenther, Michelle Hampson und Dave Johnson: Atheoretical investigation of reference frames for the planning ofspeech movements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

4 Literaturvergleich 784.1 Exemplarbasierte und vergleichbare Ansatze der vorgestellten Li-

teratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784.2 Traditionelle Phonetik-Phonologie-Modularisierung . . . . . . . . 97

4.2.1 Janet Pierrehumbert, Mary E. Beckman, D. Robert Ladd:Conceptual Foundations of Phonology as a LaboratoryScience . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

4.3 Exemplartheorien vs. abstraktionistische Theorien — integrativeAnsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994.3.1 Christophe Pallier, Angels Colome, Nuria Sebastian-

Galles: The influence of native-language phonology on le-xical access: exemplar-based versus abstract lexical entries 100

4.3.2 Kuniko Nielsen: The Specificity and Abstractness of Pho-netic Imitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

4.3.3 Robert Port: Phonology with Rich Memory: A Manifesto 103

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4.3.4 Noel Nguyen: The dynamical approach to speech percep-tion: from fine phonetic detail to abstract phonologicalcategories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

4.3.5 Joan Bybee: From usage to grammar: the minds responseto repetition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

4.3.6 Stephen D. Goldinger: Echoes of Echoes? An EpisodicTheory of Lexical Access . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

4.3.7 Amanda Boomershine: Perceiving and Processing Dialec-tal Variation in Spanish: An Exemplar Theory Approach 113

4.3.8 Jennifer Hay, Aaron Nolan und Katie Drager: From Fushto Feesh: Exemplar Priming in Speech Perception . . . . 115

4.3.9 Brynmor Thomas: In Support of an Exemplar-Based Ap-proach to Speech Perception and Production: A Case Stu-dy on the Merging of Pre-Lateral DRESS and TRAP inNew Zealand English . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

5 Diskussion 1175.1 Kategorialitat und Modularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1175.2 Von der Abstraktion zum Detailreichtum . . . . . . . . . . . . . 1225.3 Diskussion der Exemplarspeicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 1255.4 Diskussion des Prototypenansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

6 Schluß 1296.1 Phonologie bisher und kunftig — exemplarbasiert? . . . . . . . . 129

7 Danksagungen 131

8 Eidesstattliche Erklarung 132

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1 Einfuhrung

1.1 Mentale Korrelate der Sprache

Wie wird Sprache von Menschen wahrgenommen und produziert? Welche En-titaten werden in seinem Gehirn als reprasentative Strukturen fur Sprache ge-nutzt? Wie groß sind die im Gedachtnis gespeicherten Einheiten: Phrasen, Wor-ter, Wortsegmente oder Laute? Uber was fur ein “Baukastensystem”, Struktu-ren, Regeln oder Mechanismen verfugt das Gehirn, um die sprachlichen Baustei-ne zu einer unbegrenzten komplexen Sprachverwendung zusammenzusetzen, sodaß in einer spezifischen Sprache wohlgeformte Satze produziert und verstandenwerden konnen? Wie leistet das Gehirn die Erkennung mannigfach variierenderakustischer Muster fur eine sprachliche Einheit aufgrund verschiedener Eigen-schaften von Sprecherstimmen?

Traditionell wurden diese Fragen eher funktionell beantwortet: Es erschienhierbei sinnvoll, kleinste bedeutungstragende Einheiten (Bedeutung lexikalischoder bzgl. ihrer sprachspezifischen grammatischen Funktion) — Morpheme —zu finden, in die man Worter zerlegen konnte und Regeln aufzustellen mit de-ren Hilfe sich die Einheiten sprachwohlgeformt verknupfen ließen. Damit schienman der Vorstellung gerecht zu werden, daß das Gehirn einen begrenzten Spei-cher darstellt, der unmoglich jede einzigartige Kombination sprachlicher Einhei-ten behalt, sondern die unbegrenzte Produktivitat und Kompositionalitat vonSprache uber das Zusammenfugen einer weitaus geringeren Anzahl an sprachli-chen Basiselementen gewahrleistet. Sprachliche Verknupfungsregeln ließen sichnur uber eine Abstraktion der Sprachbausteine (Reprasentationen tatsachlicherSprachelemente) formulieren. Welcher Grad an Abstraktheit kommt tatsachlichbei der naturlichen Sprachverarbeitung im menschlichen Gehirn vor?

Der Bedarf an maschinellen Sprachanwendungen ist unbestritten. Ist es da-bei sinnvoll oder praktikabel, moglichst nah an der naturlichen Sprachverar-beitung zu bleiben bei der Aufgabe, Sprachverarbeitung mit dem Computer zusimulieren? Oder gilt es hierbei mittels Sprachverarbeitungsmodellen moglichtstspeicher- und laufzeitokonomische Losungen mit einem notwendigerweise hoher-en und vermutlich unnaturlicherem Abstraktionsgrad zu finden, da die maschi-nelle Sprachverarbeitungsleistung zur Zeit noch (und vermutlich langfristig) we-niger leistungsfahig als die menschliche ist? Klar ist, daß ein wissenschaftlichesInteresse vorliegt, die tatsachliche menschliche Sprachverarbeitung durch dasGehirn aufzuzeigen und moglichst mit dem Computer zu simulieren. Ob einesolche “naturnahe“ Verarbeitungsart maschinell bei den hierbei offensichtlichbegrenzten Ressourcen moglich ist und sich fur bestimmte Anwendungen lohnt,ist unklar — die Begrenztheit des Gehirns bleibt sicherlich noch eine Zeit langundefiniert.

Es wird vermutet daß die Speicherkapazitat des menschlichen Gedachtnissesbiologisch limitiert ist. Daher nimmt man Prozesse an, die empfangene man-nigfaltige Sprachelemente via Abstraktionsprozesse wie z. B. Sprechernorma-lisierung auf relativ wenige bzw. einfachere sprachliche Basiselemente bei derSprachwahrnehmung zuruckfuhrt. Die Abstraktion bedeutet also eine Reduk-

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tion vieler einstromender Sprachelemente auf eine geringere Anzahl abstrakterReprasentationselemente, die man haufig in linguistische Kategorien struktu-riert. In diesem Sinne werden theoretische Modelle der naturlichen menschli-chen Sprachwahrnehmung erstellt, die wiederum geeignete Strukturen fur de-ren Simulation am Computer benotigen. Ein traditioneller abstrahierender bzw.strukturierender linguistischer Ansatz ist der der Einteilung von Sprachlauten inKategorien. Liegen die linguistischen Kategorien bei der menschlichen Sprach-verarbeitung tatsachlich vor und sind sie selbst noch strukturell organisiert ent-sprechend den Vertretern des Prototypenansatzes?

Hier im exemplarbasierten Referenzrahmen wird angenommen, daß die inden sprachlichen Kategorien zusammengefaßten Einheiten detailreiche konkretwahrgenommene Exemplare oder Episoden sind. Dies steht im Gegensatz zu derhaufigen Annahme abstrakter Reprasentationseinheiten in den Kategorien dessprachlichen Gedachtnisspeichers seitens anderer Theorien. So sollen in dieserArbeit die tatsachlichen sprachlichen Reprasentationsstrukturen im Gehirn vorallem mit Hilfe der verschiedenen Forschungsarbeiten unter Kapitel 3 untersuchtwerden. Darin wird deren Verwendung beim menschlichen Sprachverarbeitungs-prozeß aufgezeigt — zumeist in der Sprachwahrnehmung in einigen Fallen aberauch in der Sprachproduktion — und durch die Implementation der entspre-chenden Modelle maschinell simuliert.

Nach dieser kurzen Einfuhrung folgt nun im Anschluß ein Kapitel (2) uberdie Exemplartheorie im Allgemeinen. In den Unterkapiteln werden deren Her-kunft, essentielle Prinzipien, Konstrukte und Mechanismen sowie Vergleiche zurTheorie der konventionellen Phonologie besprochen. Darauf folgt ein Haupt-kapitel (3) dieser Arbeit, in dessen Unterkapiteln Arbeiten wichtiger Vertre-ter der Exemplarforschung und ahnlicher Forschungsansatze vorgestellt wer-den. Beim Erortern der einzelnen Artikel soll gezeigt werden, wie die Forscherihre Sicht einer bestimmten exemplartheoretischen Richtung auf linguistischeThemen anwenden und andererseits versuchen, durch die exemplarbasierte Er-klarbarkeit von linguistischen Phanomenen ihren gewahlten Ansatz zu belegen.In einem weiteren Hauptkapitel (4) werden die verschiedenen exemplarbasiertenoder exemplartheorie-ahnlichen Ansatze interpretiert und miteinander vergli-chen. Dabei geht es zunachst im Unterkapitel (4.1) um die in (3) vorgestelltenArtikel. Im Unterkapitel (4.2) folgt zum Vergleich ein Einschub zur traditionel-len, d. h., nicht exemplarbasierten Sprachverarbeitung, wobei ein Artikel vonPierrehumbert (4.2.1) als reprasentative Arbeit diesbezuglich vorgestellt wird.Im Unterkapitel (4.3) werden im Einzelnen weitere interessante linguistische Ar-beiten umrissen, die Exemplare einbeziehen und zumeist Bezuge und Vergleichezur eher traditionellen bzw. abstraktionistischen Verarbeitung der jeweiligenProblemstellungen aufzeigen. Im Diskussionskapitel (5) wird in Unterkapitelnauf exemplartheoretisch korrelierende Themen wie Kategorialitat, Abstrakti-on und Detailreichtum, Exemplarspeicherung sowie Prototypen eingegangen.Das Schlußkapitel (6) liefert neben einer zusammenfassenden Charakterisierungder Exemplartheorie im phonologischen Referenzrahmen einen Ausblick auf diezukunftige Bedeutung der exemplartheoretischen Forschung innerhalb der Lin-guistik.

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2 Exemplartheorie

2.1 Geschichtlicher Hintergrund der Exemplartheorie

Exemplarbasierte Modelle entstammen ursprunglich der kognitiven psycholo-gischen Forschung mit dem Ziel die Speicherung von Wissen im menschlichenGehirn, dessen relevanter Teil gemeinhin als Gedachtnis bezeichnet wird, zu mo-dellieren. Die Exemplartheorie wurde also zuerst in der Psychologie als Modellder Perzeption und Kategorisierung eingefuhrt.

Die Entwicklung exemplarbasierter Modelle beginnt vor ca. 100 Jahren mitSemons fruhem Aktivierungsmodell der Perzeption ([91], [92]), wo vorkommen-de Instanzen bzw. Erfahrungseinheiten direkt und ohne jegliche Abstraktiongespeichert werden. Neue Erfahrungen werden als ahnlich zu alteren Erfahrun-gen uber eine teilweise Wiedererfahrung von Instanzen im Gedachtnis wahrge-nommen. Somit ist die Exemplartheorie keine Entdeckung der Linguisten —diese griffen die Vorstellungen bezuglich der Erfahrungswahrnehmung aus derPsychologie auf und ubertrugen sie auf die Erfahrung sprachlicher Einheiten.So erweiterte u. a. Johnson [43] den Exemplaransatz speziell fur Sprachlaute,indem er ein sehr erfolgreiches Modell zur Vokalkategorisierung aufstellte.

Obwohl es relativ wenige Studien gibt, die die Grundannahme der Exem-plarmodellierung testeten, namlich ob Menschen sich tatsachlich an einzelneExemplare erinnern (die Literatur der kognitiven Wissenschaft lieferte ledig-lich uberzeugende Demonstrationen, daß ein exemplarbasiertes Gedachtnis fursensorische Erfahrungen existiere), wurde diese von vielen Forschern als Ba-sis genommen und zahlreiche Exemplarmodellierungen erstellt. So ist es nichtverwunderlich, daß es keine einzige oder einheitliche Exemplartheorie gibt, son-dern verschiedene exemplarbasierte Varianten der Theorie in Abhangigkeit derverwendeten Modelle.

Nach dem Aufkommen der Exemplartheorie geriet diese uber einige Jahr-zehnte in den Hintergrund, erfuhr aber wiederum ausgehend von der psychologi-schen Forschung in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhundertseine Renaissance. So gehoren nunmehr exemplarbasierte Gedachtnismodellezum mainstream der modernen kognitiven psychologischen Forschung, derenCharakteristik sich bei Vertretern wie Hintzman [36] mit seinem multiple trace-Gedachtnismodell MINERVA 2 wiederfand oder bei Nosofsky [73], der Modellezu Erkennungs- und Kategorisierungsprozessen lieferte, in denen Performanz-effekte, d. h., Effekte der Vorkommenshaufigkeit, Prototypen oder Aktualitatdirekt aus dieser Art der Gedachtnisspeicherung hervorgehen.

In der linguistischen Forschung ist hinsichtlich der Exemplartheorie die Ideeder Prasentation linguistischer Kategorien als erfahrbare Instanzen linguisti-scher Objekte seit einigen Jahren prasent: Skousen [94] verwendet ein exem-plarbasiertes Erinnerungssystem fur Analogieprozesse in der Phonologie undhistorischen Linguistik; Goldinger [22] belegt die exemplarbasierte Speicherungvon auditiven Wortern in der Worterkennungsperformanz von Horern; Jusc-zyk [45] liefert ein exemplarbasiertes Modell fur die Phonologieaquisition beiKindern; Johnson [43] entwickelt exemplarbasierte Modelle fur die Sprechernor-

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malisierung und Sprachperzeption; Coleman [14] verwendet in seiner Forschungexemplarbasierte phonetische Reprasentationen, Pierrehumbert [79] modelliertAussprachevariationen und phonologisches Lernen mit einem exemplarbasier-ten Speichersystem — um nur einige Beispiele aus der heute immer popularerwerdenden Exemplarforschung zu nennen. Wichtig ist es, im Zusammenhangmit diesen Forschungen zu beachten, daß sie sich nicht auf eine einheitlicheExemplartheorie stutzen, sondern variierende Grundannahmen (jedoch mit ex-emplarbasierter Speicherung) verwenden.

2.2 Annahmen der konventionellen Phonologieversus Exemplartheorie

Um zu verstehen, warum sich die linguistische Forschung in den letzten 30 Jah-ren (wieder) mehr und mehr der exemplarbasierten Sprachverarbeitung zuwen-det, soll an dieser Stelle kurz die konventionelle Phonologie betrachtet werden.Deren empirische Probleme gaben den Anstoß, das weit verbreitete Vorgehenzu uberdenken und alternative (kognitiv geleitete) Ansatze zu erarbeiten.

Zunachst wird davon ausgegangen, daß die psychologische Kompetenz uni-versell und invariant uber die menschliche Spezies hinweg ist. Alle Menschenerlernen es, Sprache uber identische auditive Systeme zu horen, was sugge-riere, daß die auditive Identitat ein identisches phonetisches Inventar fur denkindlichen Spracherwerb zusichere. Die Sprache konne also — aus konventio-neller Sicht heraus — als eine Generalisierung uber das sprachliche Gedachtnisder Sprecher abstrahiert werden, werde aber auch auch mit jedem einzelnenGedachtnis bei ihrer Verarbeitung und Produktion verknupft. In der traditio-nellen Phonologie werden also gemeinsame sprachliche Reprasentationen uberdie Sprecher hinweg genutzt aufgrund der Behauptung, daß alle Sprecher auchgenau die gleiche Phonologie verwenden. Einige Forscher behaupten sogar, daßalle Sprachen eine Teilmenge eines spezienubergreifenden Inventars an Lautty-pen benutzen.

Die Phonologie liefert den Speichercode fur Worter und ist dabei maximaleffizient uber die Nutzung einer niedrigen Bitrate (an Speichermerkmalen). Siesagt voraus, daß Worter in einer abstrakten Form gespeichert werden. Die An-nahme eines abstrakten, d. h., sprecherunabhangigen, kontextunabhangien undbitratenunabhangigen Codes fur das Empfangen, Erinnern und Produzieren vonWortern ist die wichtigste Basis in der konventionellen Phonologie. Es wirdargumentiert, daß die Abstraktheit des Codes die Haufigkeit an gespeicherterVorkommensinformation limitiere. (Das heißt, die Haufigkeiten konnten als asso-ziative Verbindungen im Zusammenhang mit abstrakten phonologischen Kate-gorien aber nicht fur jedwede detaillierte kontextsensitive phonetische Variantegespeichert sein).

Die Einheiten fur Perzeption und Erinnerung seien diskret und segmentell(Vokale und Konsonanten) und liefern den einzigen Code fur die Spezifizie-rung lexikalischer Eintrage. Eine angenommene perzeptuelle Okonomie bestim-me, welche Merkmale in den Erinnerungsreprasentationen gespeichert werden.Der phonologische Code fur Worter sichert eine minimale Anzahl an Bits. Z. b.

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Chomsky und Halle [13] nutzten 12 binare Merkmale fur jeden Konsonantenoder jedes Vokalsegment. Diese wurden aus einem phonetischen Raum a prio-ri ausgewahlt, der ein Maximum von nur ca. 40 binaren phonetischen Merk-malen pro Segment nutzt. Das impliziere, daß die linguistische Verarbeitungund das linguistische Gedachtnis keine nichtlinguistischen Spracheigenschaftenverschlussele. Die phonologische Grammatik diene dazu, in einer symbolischenForm zusammenzufassen, was Mitglieder einer Gemeinschaft wissen und sie spie-le eine funktionelle Rolle in der Perzeption und Produktion, indem sie eine di-stinktive Einheit fur jedes Wort zum Erinnern und zur Manipulation wahrendder online-Regelverarbeitung liefere. Die Einheiten des phonologischen codesseien nicht aktive, sondern essentiell passive Entitaten.

Aus dieser konventionellen linguistischen Behandlung ergeben sich empiri-sche Probleme, die im Folgenden thematisiert werden. Die Dimensionalitat desphonetischen Raumes ist riesig: Man beobachtet in der linguistischen Forschungeine stark wachsende Anzahl relevanter phonetischer Parameter fur die Worti-dentifikation und es scheint nicht mehr moglich zu sein, lediglich kontinuierlicheWerte fur eine begrenzte Menge an Parametern einzubeziehen. Das suggeriert,daß es vermutlich kein festes phonetisches Vorab-Inventar gibt, das von allenMenschen geteilt wird.

Laut Port [84] gebe es keine Beweise, daß der phonetische Raum eine Großen-begrenzung hat oder irgendwelche universellen diskreten Kategorien. Er behaup-tet, daß die moderne Phonologie auf diese Abwesenheit reagiert, indem sie Li-teratur uber akustische oder artikulatorische phonetische Details nicht beachteund feinere Strukturen als außerhalb der Linguistik liegend betrachte.

Die Wichtigkeit der Wortspeicherung mit mehr als der minimalen distinkti-ven Information zeigt sich z. B. in der Problematik der unvollstandigen Neutra-lisation und der Erkennung starker perzeptueller Effekte seitens subsegmentalerakustischer Details oder des Sprachtimings. Studien der Dialektvariation zeigen,daß viele Teile des phonetischen Raumes kontinuierlich und nicht diskret sind.Die Daten implizieren des weiteren nicht-diskrete und nicht-segmentbezogeneEigenschaften in der Erinnerungs- bzw. Gedachtnisreprasentation. Die konven-tionell weniger einbezogene Vorkommenshaufigkeit von individuellen sprachli-chen Entitaten beeinflußt nachweislich phonotaktische Muster, die Performanzund Erkennungsschnelligkeit von Wortern oder anderen Einheiten sowie Ande-rungen in der Produktion phonetischer Details. (Haufige Worter tendieren z. B.dazu, Lenition-Anderungen zu umgehen, um die Aussprache zu vereinfachenoder zu beschleunigen, wahrend seltene Worter analoge oder diskrete Ande-rungen durchlaufen.) Die genannten Effekte sind kompatibel mit der Sicht,daß kognitive Wortreprasentationen die Haufigkeitsinformation intrinsisch in-volvieren. Haufigkeit ist jedoch nicht abstrakt, sondern hat eher die Form ei-nes Hintergrund-Aktivierungslevels fur jeden Laut, jede Lautvariante oder je-des Wort. Sie bestimmt, wie einfach eine sprachliche Entitat Aufmerksamkeitbekommt. Das suggeriert auch eine aktivere Einheitenart als unter der traditio-nellen Sicht.

Eine große Herausforderung fur die traditionelle Phonologie liefern seit etwa30 Jahren linguistische Forscher, die mit Hilfe von Wortlisten die exemplarahn-

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liche, konkrete, detaillierte auditive Erinnerung an Worter belegen (Goldinger,Pisoni, Hintzman, Nosofsky, etc.). Sie stellen damit das Phanomen eines rei-chen linguistischen Erinnerungsvermogens des Menschen neben die Erkenntnis-se aus dem psychologischen Bereich, z. B. zur detailreichen Bildspeicherung.Es wird dabei gezeigt, daß spezifische Außerungen inklusive einer konkretenSprecherstimme gespeichert werden. Die Daten zeigen allerdings nicht, daß esnicht genauso gut eine abstrakte Reprasentation geben konnte — die Exem-plarmodelle stehen jedoch fur den abstrakten Prototypenbeweis, ohne explizitePrototypen als Wortreprasentationen zu speichern. Generalisierte Informationenentstehen hierbei direkt aus den Exemplaren, d. h., die experimentellen Beweiseunterstutzten bisher keine abstrahierte Prototypenform als Wortreprasentation,die invariant uber die Sprecher ist. Diese Postulationen widersprechen stark derkonventionellen linguistischen Sicht, daß Worter nur in abstrakter Form gespei-chert werden.

2.3 Die Sprachwahrnehmung uber Bausteine derExemplartheorie – Reprasentationseinheitenund Mechanismen

In den hier vorliegenden Sprachwahrnehmungsmodellen sind die im Gehirn ge-speicherten sprachlichen Einheiten keine abstrakten sprachlichen Reprasenta-tionen, sondern konkret erfahrene Sprachelemente, die jedes einzeln mit sei-nen Eigenschaften vermerkt werden. Man nennt sie sprachliche Exemplare oderEpisoden. Hier seien zunachst einige die Exemplare umgebenden Grundbegriffe(wie Kategorien, Prototypen und Ahnlichkeit) und Prinzipien (wie Abstrakti-on, Aktivierung und Haltbarkeitsdauer) angesprochen, bevor genauer auf dieExemplareinheiten und deren Verarbeitungsmechanismen eingegangen wird.

Die gespeicherte Exemplarmenge sei nicht ungeordnet, was den Zugriff beider Erkennung sprachlicher Einheiten erschweren wurde, sondern in Kategorienorganisiert. So ist eine perzeptuelle Kategorie die Menge aller erfahrenen Instan-zen einer Kategorie und wird nicht durch einen abstrakten Kategorie-Prototypenprasentiert. Bei der Einordnung eines neu erfahrenen Sprachelements in eine Ka-tegorie — also seiner Kategorisierung — wird es mit jeder erinnerten Instanzeiner jeden Kategorie verglichen, was fur gewohnlich aufwandshalber auf Sum-men der Ahnlichkeit einer Kategorie basiert. Es gibt Modelle wie bei Hintzman[36], die den Kategorisierungsprozeß vereinfachen, indem sie sich verhalten, alswurde die Kategorisierung auf Kategorien von Prototypen basieren, was eineKategorieabstraktion zur Entscheidungszeit anstelle wahrend der Akquisitionbedeutet.

Das Resultat der Kategorisierung in einem Exemplarmodell der Sprachwahr-nehmung ist eine Assoziation zwischen den horbaren Eigenschaften der Exem-plare zu Kategorielabels. Dies ist in Abbildung 1 dargestellt. Beim Klassifi-kationsvergleich eines neuen Exemplars mit den horbaren Eigenschaften einesjeden gespeicherten Exemplares nehmen viele Modelle eine Aktivierung der Ver-gleichsexemplare an: Die aus dem Vergleich hervorgehende Ahnlichkeitsstarke

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Abbildung 1: aus Johnson [43], S. 148, Abb. 1.Eine Menge an Exemplaren, die auditive Eigenschaften mit kategorialen Be-zeichnungen (labels) in Beziehung setzt.

bestimmt die Hohe des Aktivierungslevels eines jeden Exemplars der Exem-plarmenge. Die Hohe der Summe der Exemplaraktivierungen in einer Kategorierechtfertigt die Mitgliedschaft eines neuen Kategorieexemplars zu dieser Kate-gorie.

Es wird entsprechend Johnson [43] angenommen, daß die Exemplare nichtnur fur die sprachliche Perzeption eine Rolle spielen, sondern auch die Sprach-produktion eines Sprechers leiten: Der Sprecher produziere sprachliche Einhei-ten, die mit seiner erfahrenen Exemplarmenge abgeglichen seien; es heißt hierbeientsprechend Johnson, der Sprecher stutze sich auf sog. ego-Exemplare. Dieswird i. Allg. Produktions-Perzeptions-Verbindung genannt.

Da in einem reinen Exemplarmodell alle Sprach-Exemplare aufgenommenund gesammelt werden, vermuten einige Vertreter der Exemplartheorie, daßes zu einer Uberfullung des Gedachtnisspeichers kommen konnte — entspre-chend Johnson [43] das sog. “head filling up problem” — daher nehmen mancheForscher Mechanismen an, die eine spezifisch begrenzte Persistenz der Exem-plare im Gedachtnis steuern. Andere Forscher entdeckten eine Parallelitat zuden Studien der Erinnerungsverfugbarkeit in der Bildwahrnehmung (Standing,Conezio, Haber [96]): Die Wiedererkennungsresultate von großer Genauigkeitund Langzeitlichkeit hierbei schienen den Bedarf an scheinbar unbegrenztemSpeicher zu gewahrleisten. Ein Exemplarmodell beansprucht ebenfalls eine er-

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heblich große Speichermenge; so wird vom Wortspeicher entsprechend Goldinger[24] angenommen, daß er ebenso stark und langanhaltend wie der Bildspeichersei. Zur Exemplarpersistenz wird angenommen, daß die erneute Aktivierung vonExemplaren durch neu aufgenommene ahnliche Exemplare, diesen einen neuenHaltbarkeitsintervall im bewußten Speicher gibt. Wie lang dieser neuerliche In-tervall sei, bleibt noch eine offene Frage, hangt aber mit der Aktivierungsstarke,d. h., der Ahnlichkeit dieser Exemplare mit dem aktuell ankommenden Exem-plar zusammen. Auch unbeantwortet ist die Frage, ob alle jemals erfahrenenExemplare im unbewußten Gedachnis unbegrenzt verbleiben. In diesen beidenPunkten bedarf es noch einige Experimente zur sprachlichen Kognition.

Ein Grund fur die Koexistenz verschiedener Sichten innerhalb der Exem-plartheorie liegt darin, daß bislang nicht zuverlassig ermittelt werden konnte,welche Verarbeitungsentitaten und -Mechanismen bei der kognitiven menschli-chen Sprachverarbeitung tatsachlich und nachweislich existieren.

Bei der Exemplarmodellierung stellt sich daher zuachst die Aufgabe, geeig-nete Reprasentationseinheiten fur die Exemplare zu wahlen. Einige Forscherwie Pierrehumbert [79] und Skousen [94] blieben hierbei auf der Ebene vonSprachlauten, was eine erfahrungsbezogene Extension der Lautkategorien be-deutet und einen leistungsfahigen Mechanismus zur Auswahl und Kompositionder kontextpassenden Einzellaute verlangt. Andere wie Wedel [104] oder John-son [44] nutzten ganze Worter als Verarbeitungseinheiten, was eine besondersgroße Speicherkapazitat fur die Extension der Kategorien der kontextuell ver-schiedenartigsten Außerungen samtlicher erfahrender Worter und Wortkompo-sitionen beansprucht. Johnson [44] argumentiert im Zusammenhang mit derSpeicherung auf der Wortebene, daß entsprechend der kognitiven Forschung ei-ne Erfahrung (auch linguistische) das Produkt des bewußten Gedachtnisses seiund Worter im Gegensatz zu Lauten bewußt erfahren werden — ein Statushingegen (wie auch ein Traum) sei keine bewußten Erfahrung, sondern Teil desnichtbewußten Gedachtnisses. Auch Edelman [16] beschreibt innerhalb der psy-chologischen Forschung, daß Worter als Kombination von Form und Bedeutungin den verschiedenen neuronalen Strukturen reprasentiert seien und miteinan-der interagieren, d. h., Worter bilden das fundamentale Grundgebaude in derbewußten Erfahrung von Sprache.

Nach der Entscheidung fur die Art bzw. Große der Reprasentationseinheiten(d. h., der Exemplare) muß fur ein jedes Exemplarmodell entschieden werden,welche deskriptiven Dimensionen der Exemplare wie zu reprasentieren seien.Pierrehumbert [79] und Wedel [104] trafen Annahmen uber die Sprachreprasen-tationen entsprechend ihrer Wichtigkeit fur den Horer. Nosofsky [72] nutzte furkompakte und datenbasierte Reprasentationen eine Skalierung zur Auswahl be-stimmter perzeptueller Dimensionen. Er hatte in seinem Experiment sehr ein-fache Stimuli, bei denen zwei perzeptuelle Dimensionen ausreichten. Im All-gemeinen wurde man jedoch zur Beschreibung von sprachlichen Exemplarenweitaus mehr Dimensionen benotigen — wie auditive, visuelle, propriozeptiveund motorische Kontrollreprasentationen. Nur fur die auditive Dimension alleinmußten Terme wie Formantenfrequenzen, lautliche Dauern, spektrale Musterund dynamische Reprasentationen der Daten reprasentiert werden.

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Johnson nutzte in seiner Studie [41] noch ausschließlich Formantenwerteals Dimensionen fur den Vokal-Exemplarraum. In seiner Studie [42] werdendie Exemplare bei ihm bereits umfassender als auditive Spektrogramme vonWortern reprasentiert. Diese Verarbeitung erscheint viel realistischer, da sie aufpsychoakustischen Daten basiert und Annahmen vermeidet, welche der vielenakustischen Merkmale fur ein gehortes Exemplar gemessen und gespeichert wer-den sollen. Johnson bewertet dies als bislang besten Ansatz, da es bisher nichtgenugend datengeleitete Beweise fur eine kompaktere Reprasentation gebe. Auf-grund ihres Detailumfanges erscheinen auditive Spektrogramme zwar problema-tisch, aber da es keine bestimmte Parametrisierung des perzeptuellen Raumesgibt, erscheint es sinnvoll, moglichst nahe am akustischen Sprachsignal zu blei-ben und die gleiche Gedachtnisreprasentation zu verwenden, die schon erfolg-reich bei Perzeptionsphanomenen niedrigerer Ebene wie z. B. Sprechernorma-lisierung verwendet wurde. Ein idealeres exemplarbasiertes Phonologie-Modellwurde außerdem noch visuelle und artikulatorische Informationen einbeziehen,was ein Maß an phonetischer Koharenz ergabe, die bei der Perzeption in denaktuellen Modellen bislang fehle, so Johnson [44].

Fur ein exemplarbasiertes Modell sind neben den o. g. Reprasentationsen-titaten auch Mechanismen zu deren Verarbeitung vonnoten. Bei der exemplar-basierten Stimulusverarbeitung ist es ein Schlusselprinzip, daß einander ahn-liche Exemplare sich bei Aufruf gegenseitig aktivieren. In einem Sprachper-zeptionsmodell setzt durch ein neu eingehendes Exemplar eine Aktivierungs-folge bestimmter bereits gespeicherter Exemplare ein, die abhangig vom Ver-gleichsergebnis derselbigen ist. Als Eingabe erhalt das Modell eine detaillierteStimulus-Entitat, deren Aktivierungsmuster zur Bestimmung ihrer Kategorie-mitgliedschaft genutzt wird, was zur Erkennung des sprachlichen Stimulus fuhrt.In einem Sprachproduktionsmodell hingegen liegt eine gewunschte Kategorie-ausgabe vor, deren Aktivierungsmuster die phonetischen Sprachdetails fur dieProduktion bestimmen soll. Fur die sprachlichen Aufgaben in beiden Modellie-rungsfallen wird ein Mechanismus fur das Exemplarahnlichkeitsmatching undeiner fur die Aktivierungsverteilung benotigt.

In den einzelnen Exemplarmodellen werden fur die Ubereinstimmungsver-gleichsoperation der Exemplare verschiedene Ahnlichkeitsalgorithmen verwen-det, deren mathematisches Funktionieren hier nicht gezeigt werden soll; popularist z. B. Nosofskys Algorithmus, der auch von Johnson [44] verwendet wird undHintzmans MINERVA-2 -Algorithmus [36], der ebenfalls von verschiedenen For-schern aufgegriffen wurde.

Beim Ahnlichkeitsvergleich in den Exemplarmodellen wurde haufig miß-verstandlich angenommen, daß es aufgrund des Fehlens abstrakter Kategoriepro-totypen auch keine Prototypeneffekte wie Generalisierung oder Abstraktion ge-be. Johnson [44] argumentiert diesbezuglich, daß die aggregierte Vergleichsant-wort des Ahnlichkeitsmatchingprozesses auf die Kategorieexemplare genau diegesuchte Generalisierungscharakteristik und ebenso ein Abstraktionsverhaltenaufweise, was die Annahme eines parallelen Prototypensystems uberflussig ma-che. Es sei also eine typische Eigenschaft exemplarbasierter Modelle, beim Ver-gleichsmatching eine “online-”Generalisierung zu produzieren.

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Ein weiterer Schlusselmechanismus in der Exemplarmodellierung ist der Re-sonanzmechanismus der Exemplare, der verhindern soll, daß sich die Aktivierunguber nichtphonetische Eigenschaften uber die Exemplarmenge hinweg verteilt.Schon bei Semon [91], aber auch bei Carpenter & Grossberg [11] wurde von eineradaptiven Resonanztheorie gesprochen; desweiteren bei Edelman [16], der einMapping neuronaler Subsysteme fur die Generierung von Bewußtsein annimmt.Sinn eines Resonanzprozesses ist es, daß er bei der Aktivierung einer beliebiggroßen Exemplarmenge schließlich immer zu einer eindeutigen Erkennungsent-scheidung fuhrt — so auch bei Hintzmans Modell [36]. Der Algorithmus der Ak-tivierungsverteilung soll hier im Einzelnen nicht beschrieben werden. Allgemeinsei hierzu jedoch gesagt, daß beim Exemplarvergleich aktiv werdende phoneti-sche und nichtphonetische Eigenschaften in eine Resonanzschleife gelangen, wo-bei nur die phonetischen Aktivierungen als relevant an das Exemplargedachtniszuruckgegeben und daraufhin fur den Ahnlichkeitsmatchingprozeß verwendetwerden. Dieser Resonanzmechanismus erlaubt es, ebenfalls in der exemplarba-sierten Phonologie Generalisierungen zu erhalten: die phonologischen Mustergehen aus der Resonanz zwischen semantischer und phonetischer Informationhervor.

3 Exemplartheoretische Forschung

3.1 Janet B. Pierrehumbert: Exemplar dynamics: Wordfrequency, lenition and contrast

Ursprunglich wurden exemplartheoretische Modelle zur Beschreibung der Ahn-lichkeit und Klassifizierung in der Perzeption entwickelt. Pierrehumbert [79]erweitert die Modellierung dergestalt, daß sowohl Sprachperzeption als auch -Produktion abgedeckt werden. Dabei soll ein Referenzrahmen fur quantitativeVoraussagen einer anwendungsbasierten Phonologie entstehen wie sie von Bybee[7] vorgeschlagen wurde. Dort wird ein Modell vorgestellt, welches die Erkennt-nis ableiten kann, daß die Abschwachung historischer Veranderungen starker beihaufigeren Wortern fortgeschritten ist als bei selteneren. Das Modell stellt Be-rechnungen zur Verfugung welche die Interaktion zwischen Produktionsgerauschund Abschwachung verdeutlichen. Eine realistische Behandlung wird uber diezeitlich fortschreitende Arbeitsweise eines phonologischen merger zur Verfugunggestellt, der von der Abschwachung einer markierten Kategorie ausgeht.

Pierrehumbert fuhrt ein, daß es in den letzten Dekaden beachtliche Bewei-se fur das Vorhandensein eines detaillierten phonetischen Wissens bei Horerngebe, so daß dies nicht zufriedenstellend nur mittels Kategorien und den katego-rischen Regeln der phonologischen Theorie allein modelliert werden konne. EinTeil der Beweise betrifft die systematischen Unterschiede zwischen den Spra-chen in ihren feinen Aussprachedetails. Pierrehumbert liefert in diesem Zusam-menhang einige Beispiele, wo Sprachen ein und dieselbe linguistische Kategoriekonsistent leicht unterschiedlich realisieren. Es heißt bei ihr, es gabe nicht eineneinzigen Fall, in dem analoge Phoneme zweier verschiedener Sprachen exakt

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das gleiche phonetische Ziel zeigten oder das gleiche Muster an phonetischerVariation in verschiedenen Kontexten. Daraus folgert sie, daß diese Ziele undVariationsmuster jeweils wahrend des Spracherwerbs erlernt werden mussten.Der anwendungsbasierte Referenzrahmen gibt vor, daß mentale Reprasentatio-nen von phonologischen Zielen und Mustern graduell wahrend der Erfahrungvon Sprache aufgebaut werden. Es gab die Entdeckung, daß die phonetischenDetails nicht nur mit Sprachen oder Dialekten erlernt werden, sondern selbstbei spezifischen Wortern eines gegebenen Dialekts. Diese Erkenntnis entstammteiner Studienserie von Bybee zu der Beziehung zwischen Worthaufigkeit undAbschwachung, insbesondere bei der Schwa-Reduktion und der Desilbifizierungvor englischen Sonoranten. Auf den Haufigkeitseffekten liegt in PierrehumbertsArtikel der Hauptfokus aber auch auf wortspezifischer Allophonie in bestimmtenFallen.

Pierrehumbert findet, daß die exemplartheoretischen Ergebnisse die Stan-dardmodelle der Phonologie und Phonetik in folgender Weise herausfordern:Zunachst werde in allen Modellen das Lexikon von der phonologischen Gram-matik unterschieden. Die exakten phonetischen Details einer Wortauspracheentstehe nach und nach, weil das Wort aus einem Lexikon erhalten werde unduber Regeln und Beschrankungen der Grammatik zu einer phonologischen Ober-flachenform des Wortes verarbeitet und an eine phonetische Implementierungs-komponente weitergegeben werde. Jene Komponente berechnet die akustischenund artikulatorischen Ziele, die das Wort als Sprache ausmachen. Sie arbeite ingenau der gleichen Weise mit allen phonologischen Oberflachenreprasentationenund die Ausgabe hange allein von den Kategorien und prosodischen Strukturender Reprasentationen ab. So gebe es allerdings mit der phonetischen Implemen-tation keine Moglichkeit, unterschiedlich auf verschiedene Wortrealisierungen zureagieren: Bei einer variablen oder graduellen Implementierungsregel entstehedie gleiche Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ausgaben fur alle Worter, die derstrukturellen Beschreibung der Regel entspreche.

Die zweite Herausforderung sieht Pierrehumbert in der Beziehung zwischenverschiedenen phonetischen Ausgaben und der spezifischen Worthaufigkeit, diebei generativen Standardmodellen nicht mit einbezogen werde. Sie behandeltendie Worthaufigkeit als Teil der linguistischen Performanz anstelle von Kom-petenz. Somit sei die Einbeziehung der Worthaufigkeit in einen traditionellenBereich der Linguistik - insbesondere der onditionierung der Allophonie - nichtollstandig angepaßt an den klassischen generativen Blickwinkel. Falls jedes Wortmit einem kompletten idiosynkratischen phonetischen Signal korrespondierenwurde, dann konnten solche Ergebnisse wie die von Bybee vollstandig in einemhochtransparenten wissenschaftlichen Modell formalisiert werden, so Pierrehum-bert. Es wurde dann einfach angenommen werden, daß gestische und akustischetemplates mit Wortbedeutungen assoziiert werden.

Die eigentliche Herausforderung bestehe aber laut Pierrehumbert darin, daßdie klassische Sicht wichtige Einsichten uber die mentale Phonologiereprasenta-tion liefere. Obwohl ein Wort idiosynkratische phonetische Eigenschaften habe,werde es als aus mehreren Einheiten an Lautstrukturen bestehend empfangen,die auch von anderen Wortern geteilt werden. Die Existenz dieser Teilstucke wie

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Phoneme, Mora oder Silben spiegele sich in einem produktiven Verhalten wie-der wie z. B. bei der Aussprache von Neologismen und Lehnwortassimilationen.Also musse ein korrektes Modell die Interaktion von wortspezfischem phoneti-schen Detail und generelleren Prinzipien phonologischer Strukturen beschreiben,verlangt Pierrehumbert.

Pierrehumberts beschreibt in ihrem Artikel wie sie eine formale Architek-tur entwickelt, die diese Regularitaten abdecke und generativ in dem Sinne sei,daß sie explizit fur die phonologischen Prozesse und Reprasentationen eintre-te und wie eine generative Grammatik vollstandig voraussagen konne, welcheAusgaben in einer jeweiligen menschlichen Sprache moglich seien. Das Modellerweitere die generativen Modelle um die Art der Organisation der lexikalischenReprasentationen und deren Konsequenzen fur die Sprachproduktion.

Im Modell wird angenommen an, daß detaillierte phonetische Erinnerungenmit individuellen Wortern assoziiert werden, was implizit wortspezifische Wahr-scheinlichkeitsverteilungen uber phonetische Ausgaben definiere. Pierrehumbertbeschreibt weiter, daß anstelle der strengen Unterteilung zwischen Lexikon undGrammatik der klassischen Modelle in diesem Modell zwei Generalisierungsgra-de uber die gleichen Erinnerungen reprasentiert werden, die stark miteinander inBeziehung stehen. Außerdem spiele die Haufigkeitsinformation eine intrinsischeRolle, weil sie implizit durch die Art dieses Speichersystems verschlusselt wer-de. Das ursprungliche exemplartheoretische Modell, das sich ausschließlich aufPerzeption und Klassifikation bezog und von dem das hiesige Modell mit seinenallgemeinen Modellannahmen abgeleitet ist, intendierte Pierrehumbert zu er-weitern zu einem Modell der Perzeption und Produktion; außerdem beschreibees die Konsequenzen der zeitabhangigen Perzeptions-Produktionsschleife.

Pierrehumberts Vorstellung ist es, im Exemplarmodell jede Kategorie imGedachtnis als große Wolke an erinnerten Entitaten dieser Kategorie darzustel-len. Diese Erinnerungen werden in einer kognitiven “Landkarte” so organisiert,daß Erinnerungen mit sehr ahnlichen Instanzen eng beieinander liegen und diemit unahnlichen weit voneinander entfernt. Die erinnerten Entitaten zeigen dieVariationsbreite, die die physischen Manifestationen der Kategorie enthullen.So zeigen die erinnerten Entitaten eines Vokals beispielsweise eine bestimmteVariationsbreite der Formantenwerte, der Grundfrequenz und der Dauer.

Das ganze System stellt eine Ubertragung zwischen Punkten in einem pho-netischen Parameterraum und den Bezeichnungen des Kategorisierungssystemsdar. Die Labels stehen fur ein bestimmtes Reprasentationsniveau oder fur be-stimmte Verbindungen zu anderen Reprasentationslevels. In einem solchen Mo-dell konnen die erinnerten Entitaten simultan auf mehr als ein Kategosisierungs-schema referieren. Wenn jede aufgerufene Entitat einer Kategorie als separatesExemplar abgespeichert wird, werden die viel vertretenen Kategorien offensicht-lich von zahlreichen Entitaten reprasentiert und umgekehrt. Der Unterschied inden Entitaten-Haufigkeiten ist ein ein Erklarungspunkt fur die angesprochenenHaufigkeitseffekte.

Pierrehumbert vertritt die Ansicht, daß die Fahigkeit des Gehirns zur Lang-zeitspeicherung von Exemplaren ist erstaunlich groß sei, wie verschiedene For-schungsexperimente bereits indizierten. Dennoch sei das sprachliche Volumen

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einer Person in ihrer Lebenszeit so groß, daß Pierrehumbert und andere Forschergeneigt sind keine individuellen Erinnerungen fur jede einzelne Verwendung ei-nes jeden Wortes anzunehmen. Die Exemplartheorie reagiert darauf, indem sieannimmt, daß Erinnerungen verfallen, berichtet Pierrehumbert. Das bedeute,daß Erinnerungen an Außerungen vom Vortag lebendiger seien als jede, diezeitlich weiter weg liegen. Außerdem werde ein granularer Parameterraum an-genommen, in dem die Exemplarreprasentationen vorliegen, was bedeute, daßExemplare mit zu feinen Unterschieden innerhalb der gleichen Krnung liegen —also als identisch verschlusselt werden.

Ein damit in Zusammenhang stehendes Phanomen sei, daß es einen soge-nannten gerade noch fur das Ohr unterscheidbaren Unterschied (JND: justnoticeable difference) beispielsweise in der Grundfrequenz gebe, der abhangigvon der Auflosung der anatomischen und neuronalen Mechanismen bei derVerschlusselung der Grundfrequenz sei. Wenn also der Unterschied bei zweisprachlichen Entitaten unterhalb dieses JND liegt, werden diese so gespeichert,daß sie identische Grundfrequenzen aufweisen. Ahnliche Beschrankungen in derAuflosbarkeit anderer perzeptueller Dimensionen motivieren die Granularisie-rung des phonetischen Parameterraums als Ganzen.

Auf diese Weise korrespondiert ein individuelles Exemplar, das in einer de-taillierten perzeptuellen Erinnerung besteht, nicht mit einer einzelnen perzeptu-ellen Erfahrung, sondern mit einer aquivalenten Klasse an perzeptuellen Erfah-rungen. Aufgrund dessen erscheint Pierrehumbert die Vorstellung begrundet,daß ein jedes Exemplar eine mit ihm assoziierte Kraft besitzt, die sich alszuruckbleibendes Aktivierungslevel etabliert. Die Exemplarverschlusselungenvon haufigeren und aktuellen Erfahrungen haben ein hoheres Aktivierungsle-vel als Exemplarverschlusselungen seltener und zeitlich entfernter Erfahrungen.

Pierrehumbert beschreibt weiter, daß bei Aufruf einer neuen Entitat, dieseentsprechend seiner Ahnlichkeit zu den bereits gespeicherten Exemplaren klas-sifiziert werde, wie es in der Exemplartheorie allgemein gehandhabt wird. Dieperzeptuelle Verschlusselung einer neuen Entitat wird in seinem relevanten Pa-rameterraum angeordnet. Die Ahnlichkeit eines Exemplares zu jedem einzelnengespeicherten Exemplar wird als deren Distanz im Parameterraum berechnet.Bei der Klassifikation einer neuen Entitat, wird die wahrscheinlichste Labelunganhand der Labelungen der Nachbarexemplare berechnet. Die Nachbarschaftum die neue Entitat herum hat eine feste Große und bestimmt die Menge anExemplaren, die die Klassifikation beeinflussen. Die summierte Ahnlichkeit derExemplare jedes instantiierten Labels dieser Nachbarschaft berechnet sich durchdie Ahnlichkeit zu einem jedem Exemplar, die sich durch die Aktivierung diesesExemplares gewichtet.

Die Aktivierung beschreibt Pierrehumbert als eine Funktion aus der Anzahlund der Aktualitat der phonetischen Entitaten am jeweiligen Ort im Exem-plarraum. In anderen Exemplaransatzen tragen alle Exemplare mit allen La-bels zur Klassifizierung bei; eine exponentielle Verfallsgewichtung uber die Di-stanz fuhrt jedoch dazu, daß die dem Stimulus nachsten Exemplare die Berech-nung dominieren. Die allgemeine Verhaltensweise dieser Modelle ist aber ahnlichdem Pierrehumberts Modell. Desweiteren konnten Aufmerksamkeitswichtungen

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eingefuhrt werden, die modellieren, wie verschiedene Kontexte, Erwartungenund Aufgabenanforderungen die Klassifizierung beeinflussen; dies wird aber inPierrehumberts Artikel nicht weiter behandelt.

Pierrehumbert außert zur Labellung, daß diese von der Beziehung zwischenden benachbarten Exemplarwolken abhange. Das “gewinnende” Label sei dasje-nige, welches uber alle Labels hinweg am wahrscheinlichen ist. So hat ein Labelmit zahlreicheren oder mehr aktivierten Exemplaren in der Nachbarschaft ei-ner neuen Entitat bei der Berechnung einen Vorteil. Weil haufigere Labels mitzahlreicheren Exemplaren assoziiert werden, da deren verbleibende Aktivierun-gen im Durchschnitt hoher sind, werden sie mehr Dichte und mehr aktivierteExemplarwolken haben. So sagt das Modell bei Einbezug von Ambiguitat eineTendenz zu den hochfrequenten Labels voraus, was auch von der experimentel-len Literatur gestutzt wird.

Die bei Pierrehumbert beschriebenen Klassifikationsregeln haben keine zeit-liche Skala und fassen nur das Endergebnis des Entscheidungsprozesses zusam-men. Die Entscheidungsregeln sollen synoptisch das Verhalten eines Hemmungs-und Aktivierungssystems reprasentieren. Die Summe der Exemplaraktivierungzeigt an, daß die Exemplare die Aktivierung auf verschiedene Label streuen,so daß die Aktivierung eines Labels eine kumulative Funktion aus der Anzahlund dem Aktivierungslevel der mit ihm aktivierten Exemplare ist. Der Vergleichzwischen den Zahlerstanden der verschiedenen Labels reflektiert die Ergebnissereziproker Hemmung zwischen den Labels, wobei das gewinnende Label dasjeni-ge ist, welches erfolgreich die Aktivierung seiner mitstreitenden Labels zuruck-drangt. Das Modell ist konsistent mit der Standardannahme, daß die Reaktions-zeiten fur phonologische und lexikalische Entscheidungen die beanspruchte Zeitzur Aktivierung und zum Beschreiten einer Entscheidungsschwelle reflektieren.

Zusammenfassend schreibt Pierrehumbert, daß der Exemplaransatz mit je-der Kategorie eine Wolke an detaillierten perzeptuellen Erinnerungen assoziiert.Die Erinnerungen werden als Funktion der Scharfe des perzeptuellen Systemsgranularisiert. Die Entitaten-Haufigkeit wird nicht offen im Modell verschlusselt,sondern gehort intrinsisch zu den kognitiven Reprasentationen der Kategorien.So haben haufigere Kategorien mehr Exemplare und hoher aktivierte Exemplareals seltenere Kategorien.

Im Folgenden schatzt Pierrehumbert die Bedeutung der Exemplartheorie in-nerhalb der Linguistik ein. Demnach biete die Exemplartheorie einen Weg, dasdetaillierte phonetische Wissen von Muttersprachlern uber die Kategorien ihrerSprache zu formalisieren. Weil die Exemplartheorie direkt die Verteilung phone-tischer Parameterwerte speichert, die mit jedem Label assoziiert werden, gebesie ein Bild des impliziten phonetischen Wissens eines Sprechers. Die Akqui-sition dieses Wissens konne als Akquisition einer großen Anzahl an Gedacht-nis-traces der Erfahrungen verstanden werden. Pierrehumbert behauptet, daßes kein vergleichbares Modell gibt, das das gleiche Niveau an beschreibenderAdaquatheit aufweist. Die Annahme, daß ein universelles symbolisches Alpha-bet existiert, das eine Schnittstelle zu einer universellen sensorisch-motorischenphonetischen Implementationskomponente bietet wie z. B. bei Chomsky undHalle [13] liefere weder die Moglichkeit, die extrem feinen Unterschiede uber

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Sprachen hinweg hinsichtlich ihrer Werte und Wahrscheinlichkeitsverteilungenan phonetischen Eigenschaften zu reprasentieren noch einen Einblick wie diesesdetailreiche Wissen erworben wird.

Ein weiterer Vorteil der exemplarbasierten Modelle sei ihre Behandlung vonPrototypeneffekten. Hier wurde festgestellt, daß eine neue in einer Kategoriegut positionierte Entitat ein besseres Beispiel dieser Kategorie darstellt, da sieschnell erkannt und hoher eingestuft wird als irgendein Beispiel der Kategorie,das zuvor erfahren wurde. Dieses Phanomen, das oft fur die Abstraktion mit-tels Prototypen sprache, folge direkt aus dem Exemplarmodell, wenn Gute alsdie Wahrscheinlichkeit des gewinnenden Labels interpretiert wird. Diese Guteerreicht nicht notwendig ein Maximum an einer Position des Parameterraumes,die tatsachlich von einem Exemplar besetzt wird. Eine zentrale Position in einerdichten Nachbarschaft von Exemplaren wird eine sehr hohe Wahrscheinlichkeiterreichen, selbst wenn es kein Exemplar an exakt dieser Position gibt. Somitmusse der abstrakte Prototyp nicht explizit berechnet und im Vorfeld gespei-chert werden, folgert Pierrehumbert.

Einen weiteren Vorteil eines Exemplarmodells sieht Pierrehumbert in sei-ner Fahigkeit zu erklaren, warum extreme Beispiele phonologischer Kategorienmanchmal als besser als modalere Beispiele bewertet werden. Das folgt aus derTatsache, daß die Wahrscheinlichkeit fur ein Label von der Aktivierung von Ex-emplaren mit diesem Label und von dem Wettkampf zwischen Exemplaren mitanderen Labels im gleichen Bereich der kognitiven “Landkarte” beeinflußt wird.Der steigende Abstand eines neuen tokens von allen Exemplaren mit wetteifern-den Labels hebt die subjektive Gute an.

Als letzte Starke des Exemplarmodells weist Pierrehumbert in ihrem Artikelaus, daß es eine Grundlage fur die Modellierung von Haufigkeitseffekten bietet,weil die Haufigkeit in die Mechanismen der Erinnerungsspeicherung und Klassi-fizierung von neuen Exemplaren in Kategorien einbezogen ist. Es sei dabei nichtnotwendig, spezielle Haufigkeitszahler aufzustellen, deren kognitiver und neuro-naler Status unklar ist. Die Exemplarmodelle sind mit den Annahmen uber dieneuronale Verschlusselung so ausgestattet, daß sie die experimentellen Haupter-kenntnisse uber Haufigkeitseffekte abdecken — inklusive eines Verstandnisses,warum Frequenzeffekte sowohl die Ausgaben der Entscheidungen, als auch dieGeschwindigkeit mit der die Entscheidungen getroffen wurden, betreffen.

Pierrehumbert konkludiert, daß die Exemplardynamik ein intrinsisches Mo-dell der Haupterkenntnisse der anwendungsorientierten Phonologie liefere. DieAnnahme, daß Menschen phonologische Kategorien erlernen, indem sie sich anviele gelabelte Entitaten dieser Kategorien erinnern, erklare deren Fahigkeitfeine phonetische Muster einer Sprache zu erlernen. Sie erklart auch, warumMuster inkrementell uber lange Zeitspannen der Erwachsenensprache hinwegmodifiziert werden und warum das Aufweichen historischer Veranderungen ty-pischerweise fur haufige Worter fortgeschrittener ist als fur seltene. Eine reali-stische Behandlung der Neutralisation, die auftritt, wenn eine markierte Kate-gorie mit einer unmarkierten kollidiert, werde ebenfalls geliefert. Modellberech-nungen mittels der Exemplartheorie bieten eine Anzahl an Voraussagen, derenGultigkeit einen großen Bereich fur die zukunftige Forschung aufzeigten, schließt

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Pierrehumbert.

3.2 Stephen D. Goldinger: Words and Voices. Perceptionand Production in an Episodic Lexicon

Eingangs beschreibt Goldinger in seinem Artikel [24] die historischen Ursprungeder Exemplartheorie, die heute auch episodische oder multiple trace -Theoriegenannt wird.

So sei der erste episodische Ansatz der von Richard Semon [91] und [92] ausdem Anfang des 20. Jahrhundert und bezieht sich zunachst auf das Erinnerungs-vermogen des Menschen. Es wird davon ausgegangen, daß jeder Reiz (nicht nurein sprachlicher) eine einmalige Spur - im Folgenden als trace bezeichnet - imGedachtnis eines Menschen hinterlaßt. Bei der Prasentation eines neuen Stimu-lus werden alle traces im Verhaltnis ihrer Ahnlichkeit dazu aktiviert und der amstarksten aktivierte trace gelangt ins Bewußtsein, so daß er “erkannt” wird. Mannimmt traces als einmalig an, um die Permanenz spezifischer Erinnerungen zuerklaren. Eine Herausforderung dabei sei es, von der Sammlung der idiosynkrati-schen traces zu abstrahieren. Eine Losung hierzu ist die einer uberblendeten bzw.gemischten Erinnerungsspeicherung und entstammt aus dem visuellen Bereich,wo verschiedene Gesichter einer Fotografie uberblendet werden und das Bildeines “generischen” Gesichts ergeben. Das geschhe, wenn ein einziger Ausloserverschiedene Gruppen von ehirnelementen simultan erregt. Semon nutzte dieseIdee bei der Antwort zahlreicher partiell redundanter traces auf eine Eingabewodurch Abstraktion entstehe. Unter anderem durch Aufkommen des Behavio-rismus verschwanden Semons Ideen aus dem mainstream der Psychologie.

Goldinger fuhrt weiter ein, daß mit dem Aufleben der kognitiven Wissen-schaften in den 1950er Jahren in den meisten Theorien minimalistische sym-bolische Reprasentationen verwendet wurden. Die Perzeption nahm theoretischdie Position des Informationsreduzierers ein, wobei uber sukzessive Ebenen derInformationsverarbeitung progressive abstrakte Reprasentationen aus analogenEingaben abgeleitet wurden. Im Vergleich dazu lag bei Semon eine Vermeh-rung der redundanten traces vor. Spater hingegen propagierte man eine re-prasentationelle Oknomie, die sich innerhalb der Sprachtheorien in der Ver-schlusselung spezifischer Episoden in kanonischen Reprasentationen oder Typenzeigte. Die extreme Signalvariabilitat in der Sprachperzeption bzw. Worterken-nung unterstutzte jedoch Semons Sicht, da die Spracheigenschaften so vielsei-tig beeinflußt werden, etwa durch phonetische Kontexte, prosodische Konturen,Sprechrate, Sprecherindividualitat etc. Man versuchte daher lange Zeit erfolg-los, invariante Muster fur automatische Spracherkennungssysteme zu finden.Die Sprachvariabilitat bei nominal identischen Wortern konnte scheinbar nurals perzeptuelle Aufgabe von Horern gelost werden, die eine problemlose Er-kennung leisten konnten trotz der Sprechervariabilitat, die sich in der Varianzder Vokaltraktgroße und -Form, Phonemproduktionsstrategien und Dialektenmanifestierte.

Die Annahme abstraktionistischer Worterkennungstheorien war, fuhrt Gol-dinger weiter, daß es Gedachnisprozesse gebe, die variable Stimuli auf kanoni-

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sche Reprasentationen ubertragen - so z. B. die Normalisierung lexikalischerEintrage. Die Normalisierung bedeutet eine Filterung “phonetisch irrelevan-ter” bzw. oberflachlicher oder außerlicher Informationen wie Stimmendetails,die von einer perzeptuellen Maschinerie verwendet und abgelegt werden, da-mit dem lexikalisch-semantischen Sprachinhalt gefolgt werden kann. Durch dieAnnahmen der Normalisierung und eines abstrakten Lexikons kam man zu derAuffassung, daß das Langzeitgedachtnis fur gesprochene Worter nur Bedeu-tungselemente reflektiere — Perzeptionselemente wie Stimmdetails gingen je-doch verloren. Entsprechend werden in den meisten Theorien die Stimmdetails- oft auch als “Rauschen” bezeichnet - nur als Transportmittel behandelt, dases aufzulosen gilt zur Ableitung phonetischer sowie lexikalischer Eindrucke undGewinnung abstrakter Informationen. Chomsky und Halle [13] bemerken in die-sem Zusammenhang, daß beim Erlernen eines neuen Wortes quasi nie der Groß-teil der gehorten salienten akustischen Signaleigenschaften wie Stimmqualitat,Außerungsgeschwindigkeit etc. gemerkt wird.

Nach den Forschungsergebnissen in der Worterkennung von Mullennix, Pi-soni und Martin [67] sei die Sprechernormalisierungshypothese kaum falsifizier-bar, so Goldinger. Sie fanden, daß verlangsamte oder verschwommene Worterum so schwerer erkannt werden, desto mehr Sprecher bei Experiment einbe-zogen waren. Das wurde so interpretiert, daß es der kapazitatsfordernde Nor-malisierungsprozeß war, der die Ressourcen der primaren Aufgabenperformanzbeanspruchte. Da aber kein konkreter Sprechernormalisierungseffekt gefundenwerden konnte (Nulleffekt), wurde geschlußfolgert, daß eine automatische Nor-malisierung die flussige Performanz fordere; dem stimmten weitere Verfechterzu. Die Sprechernormalisierungshypothese wird von den meisten Theorien furdie Vorab-Annahmen der abstrakten lexikalischen Reprasentationen benotigt,wobei sowohl die erhaltenen Nulleffekte wie auch die positiven Effekte als Nor-malisierungsbelege angesehen wurden. Die Untersuchungsaspekte, ob eine Nor-malisierung z. B. automatisch oder kapazitatsbeanspruchend sei, erwiesen sichaufgrund einer immer wieder auftretenden Zirkularitat als schwierig determi-nierbar.

Dementgegen stehe die gegensatzliche Annahme eines Mappings variablerSignale auf ideale Schablonen (templates) oder Prototypen, was eine Perzeptionohne Normalisierung moglich mache, konstatiert Goldinger. ReprasentationelleAnnahmen konnten die logischen Notwendigkeiten der Normalisierung mildern:z. B. ein Lexikon mit perzeptuellen Episoden, die mit den gesprochenen Worternverglichen werden ohne den Normalisierungseinschub. Auf diese Weise wurde dieNormalisierung zur uberprufbare Hypothese werden.

Zeitgenossische Theorien bezuglich des Gedachtnisses und der Kategorisie-rung nahern sich wieder Semons Theorie an, schreibt Goldinger. Sie propagierensog. global memory models, die einen parallelen Zugriff auf verschiedene Erin-nerungsspuren bieten. Das sei vergleichbar mit der multiple trace -Annahmeder konnektionistischen Modelle. Als Motivation fur diese exemplarbasiertenAnsatze zahle die immer wieder gefundene Speicherung von Erinnerungsdetailsnichtlinearer Stimuli verschiedener Domanen: Gesichter, Bilder, musikalischerpitch oder physikalische Dynamik. Die Anerkennung detaillierter Erinnerun-

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gen in der nichttraditionellen linguistischen Informationsverarbeitung (Prasen-tationsmodalitaten von Wortern, Ort einer Information auf Textseiten, exakteSatzformulierung, Persistenz visueller Details nach dem Lesen) trage ebensolcheErkenntnisse bei.

So fand Hintzman [37], daß die Worterkennung besser sei, wenn die Worterbzgl. Groß- und Kleinschreibung im gleichen Format prasentiert wurden. Jacobyund Hayman [40] fanden, daß eine Schriftbildanderung zwischen Studie und Testdie perzeptuelle Idenfikationsgenauigkeit reduzierte, wahrend Wortdetails imGedachtnis blieben, da die visuelle Wortperzeption auf das episodische Gedacht-nis angewiesen sei. Es wurde vermutet, daß Oberflachendetails auch bei derPerzeption gesprochener Worter im Gedachtnis persistent bleiben.

Goldinger fuhrt an, daß traditionelle phonetische Perzeptionstheorien inde-xikalische Sprachaspekte, wie “personelle Information”, Auskunft uber Spre-cheralter, -Geschlecht, emotionalen und sozialen Status sowie regionalen Ur-sprung ignorieren, deren Wichtigkeit werde aber durch die zuverlassige und ge-naue Erkennung selbst geringer Stimmtonanderungen belegt. Eine fruhere Stu-die von McGehee [64] befand, das das Langzeitgedachtnis fur Stimmen schwachsei — spatere Studien von Van Lancker, Kreiman und Emmorey [103] fandenhingegen ein zuverlassiges Stimmengedachtnis: Famose Stimmen wurden selbstruckwarts oder mit abnormer Geschwindigkeit abgespielt noch erkannt, Freundeam Telefon werden erkannt oder auch Konversationsmodi wie z. B. Sarkasmus.

Goldinger fuhrt in einem Kapitel uber das Gedachtnis fur Stimmen undWorter viele Studien an, die aufzeigen in welcher Weise Stimminformationengespeichert werden und daß diese stimmlichen Details eine bedeutsame Rol-le fur die menschliche Sprachverarbeitung spielen und keinesfalls so redundantseien, wie fruhere Forschungen annahmen. Viele Forscher (darunter Hintzman,Martin, Mullennix, Pisoni, Summers, Logan, Palmeri, Craik, Kirsner, Dunn, Ja-coby, Feustel, Shiffrin, Salasoo, Jusczyk) untersuchten die Sprechervariabilitatund deren Einfluß hinsichtlich des angenommenen Normalisierungsprozesses,der Kapazitatsbeanspruchung in der Sprachverarbeitungsleistung, der Prasenta-tionsmodalitaten (Sprechgeschwindigkeiten, Wiederholungsraten, Geschlechter-abhangigkeit, Stimmenbekanntheitsgrad usw.), sprachliche Erkennungsleistungund Speicherung der sprachlichen Entitaten. Der letztgenannte Punkt ist Gol-dinger insofern wichtig, als daß es ihm in seinem Artikel darum geht, Bele-ge dafur zu finden, daß das sprachliche Gedachtnis Episoden als Basisspei-chereinheiten fur Perzeption und Produktion verwendet, was seinen Gegen-ansatz zur traditionellen linguistischen Sicht der funktionalen typenbasiertenVerarbeitungs- und Speicherstrukturen verfestigen wurde. Gefunden wurdenErkenntnisse wie, daß der Recall in der Worterkennung tatsachlich durch ei-ne großere Sprechervariabilitat eingeschrankt werde, daß die Stimmenerwartunghierfur eine Rolle spiele, daß die Geschlechterspezifik noch starker die Erken-nungsleistung beeinflusse als eine großere individuelle Stimmenvariabilitat (Rol-le der voice connotations) und vieles mehr.

Goldinger fuhrt auch die Ergebnisse seiner eigenen Studien [26] und [23] zurUberprufung des seriellen Recalls bei der Worterkennung in Abhangigkeit vonder Sprechervariabilitat und zur Bewertung der episodischen Speicherung uber

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langere Zeitabschnitte an. Er fand einen Effekt der Stimmenahnlichkeit auf dieWortspeicherung – gleiche oder perzeptuell ahnliche Stimmen verbesserten dieWorterkennung auch bei großeren Wartezeiten zwischen den Stimulireprasenta-tionen, wobei im Allgemeinen bei allen Konditionen die Erkennungstrefferratenerwartungsgemaß uber die Zeit hinweg sanken. Dies last sich uber die Darstellun-gen in Abbildung 2 von Goldingers vorausgegangener Studie [23] nachvollziehen.

Bezuglich der Persistenz des Stimmeneffektes stellte Goldinger fest, daß ersich uber die Zeit hinweg verringere und nach einer Woche abwesend sei. Darausfolgerte er, daß die scheinbare Zugreifbarkeit episodischer traces gesprochenerWorter fur das bewußte Gedachtnis ungefahr einen Tag betrage und sich in-nerhalb einer Woche vermindere. Die Erkennungstrefferraten verringerten sichmit dem Anstieg der perzeptuellen Distanz zwischen Studien- und Teststimmen.Goldinger begrundet dieses Ergebnis damit, daß beim Zugreifen eines Testwor-tes auf einen episodischen trace eines stimmen-ahnlichen Studienwortes eine kor-rekte alteAntwort erhalten wird. Dabei senke sich die Wahrscheinlichkeit bzw.Starke eines Zugriffs mit verringerter perzeptueller Ahnlichkeit. Dass suggerieredesweiteren, daß die wahrend der Studie entstandenen traces genaue perzeptu-elle Details enthalten. Nicht ganz klar sei, so Goldinger, ob die traces selbst odernur deren Zugreifbarkeit innerhalb einer Woche zur Unsignifikanz verfallen.

Ein konzeptuell ahnliches Experiment zur Worterkennung fuhrte Goldin-ger durch, indem er die Worter unter Anwesenheit eines Rauschsignals in denStudiensessions prasentierte, was das unbewußte Gedachntis ansprechen sollte.Der persistentielle Unterschied zu den Daten mit dem bewußten Erinnerungs-vermogen war, daß die episodischen traces nun eine ganze Woche lang zugreifbarwaren. Zur Korrelation zwischen perzeptueller Ahnlichkeit und den Wiederho-lungseffekten bei der Vielstimmenkondition fand Goldinger, daß mit ansteigen-der perzeptueller Distanz zwischen Studien- und Teststimme die Wortidentifika-tionsraten sanken, was indizierte, daß die episodischen traces mit ihren genauenStimmdetails wahrend einer ganzen Woche einen Einfluß ausubten. Aus denErgebnissen dieser Experimente schlußfolgerte Goldinger, daß die episodischentraces eine mentales Lexikon bilden, da sie anscheinend im Gedachtnis bestehenbleiben und die Perzeption beeinflussen.

Goldinger nennt weitere Forscher, die episodische Theorien unterstutzen undModelle zur Sprachperzeption mit episodischen Reprasentationen entwickelten:so Jacoby ([39] und [40]) mit seiner Worterkennung via “nichtanalytische” Be-deutungen; Feustel, Shiffrin und Salasoo [18] mit einem hybriden Modell visu-eller Worterkennung via visuell-abstrakte Reprasentationen; Kirsner und Dunn[47] mit einer Worterkennungstheorie auf episodisch-prozeduralen records; sowieJusczyk [45], der Semons Ansatz in seinem WRAPSA -Modell der Sprachperzep-tion umsetzt, das eine episodische Speicherung und online-Abstraktion realisiert.Alle diese Theorien verwenden episodische Erinnerungs-traces mit perzeptuellenDetails (die abstraktionistische Theorien als “Rauschen” betrachten), wurdenaber trotz ihrer Vorteile bislang (außer bei Salasoo) kaum formal modelliert.

Die genannten Modelle bezeichnet Goldinger als Hybriden zwischen ab-straktionistischen und episodischen Sichtweisen. Mit Hitzmans MINERVA 2-Gedachtnis-Modell [36] intendierte Goldinger, ein reines episodisches Modell

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Abbildung 2: aus Goldinger [24], S. 42, Abb. 4.Erkennungs-Erinnerungsdaten aus Goldinger [23]. Die Trefferraten werden inverschiedenen Darstellungen als Funktion aus der Stimmenanzahl (2, 6 oder 10verschiedene Stimmen) und gleich- vs. verschieden-stimmige Wiederholungen(dunkle vs. helle Balken) prasentiert.

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vorzustellen und zu testen, um bei Nichtfunktionieren desselbigen eventuell dochwieder auf eine weniger extreme Modellform zuruckzugreifen. In Hitzmans MI-NERVA 2 -Modell wurde jede einzelne Erfahrung als unabhangige Erinnerungs-spur mit allen perzeptuellen Details gespeichert. Beim Empfangen eines Sti-mulus generierten die aktivierten trace-Aggregierungen eine bewußte Erfahrungtrotz des separaten Speichers und der idiosynkratischen Attribute der einzel-nen Exemplare. Wie bei Semon wurde von der Spezifitat und Generalitat desGedachtnisses und der Menge an Exemplar-traces ausgegangen.

Die Ergebnisse von Computersimulationen mit Hintzmans Modell ergabenein fur abstrakte Reprasentationen typisches Verhalten, schatzt Goldinger ein.Bei einer Worterkennungsaufgabe mit MINERVA 2 resultierte pro Wort eine po-tentiell riesige Sammlung partiell redundanter traces im Gedachnis. Die paralleleKommunikation der analogen Probe auf alle traces aktivierte die traces in derReihenfolge ihrer gegenseitigen Ahnlichkeit. Das Langzeitgedachtnis sendete dieMenge der aktivierten traces, die das sogennante Echo bildeten an das Bewußt-sein, wobei das Echo auch in der Probe nicht prasente Informationen enthielt —die Probe wurde mit vorausgegangenen Informationen im Gedachtnis assoziiert,beschreibt Goldinger das Modellverhalten. Als Echo-Eigenschaften wurden dieEcho-Intensitat und der Echo-Inhalt vermerkt. Die Intensitat bildete die tota-le Aktivierung im Gedachtnis durch die Probe; sie steigt proportional mit derGroße der Anzahl und Ahnlichkeit der traces zur Probe an. Es gibt dabei einenIndex der Stimulus-Vertrautheit zur Simulation von Erkennungsentscheidungendes Gedachtnisses. Der Inhalt ist die Antwort des neuronalen Netzes bzw. desLangzeitgedachtnisses auf die Probe. Er bildet jeweils eine einmalige Kombina-tion aus Probe und aktivierten traces, da eine parallele Antwort der traces imVerhatnis ihrer Ahnlichkeit erfolgt.

Wenn bei der Worterkennungsaufgabe ein bekanntes Wort in einer gewohn-ten Stimme prasentiert wurde (wobei wie schon angesprochen davon ausge-gangen wird, daß das Gedachtnis detaillierte traces der gesprochenen Worterenthalt), ergab sich eine starke Antwort von vielen traces, beschreibt Goldingerweiter. Die ahnlichen aktivierten traces kreierten ein “generisches Echo”, dassich zum Mittelwert der aktivierten Menge rucklaufig entwickelte, selbst wenneine exakte Exemplarubereinstimmung im Gedachtnis existierte. Bei einem sel-tenen Wort, das mit einer ungewohnten Stimme gesprochen wurde, war dieAntwort viel schwacher und es gab weniger traces. Hierbei erschien der Beitragdes exakten Matches zum Echo-Inhalt signifikanter, Wiederholungseffekte furungewohnliche Stimuli oder Kontexte waren starker. Fur jedes Modell wurdeeine kontextuelle Verschlusselung fur die Voraussage von Wiederholungseffek-ten bei bekannten Wortern angenommen; wegen der gleichen experimentellenEinstellung waren Stimmen-Effekte somit beobachtbar, so Goldinger.

Die jungste MINERVA 2 -Simulation von Goldinger (allerdings ohne ech-te Probanden) replizierte qualitativ die soeben beschriebenen Erkennungsdatendes bewußten Gedachtnisses. In seinem Modell traten die traces gesprochenerWorter als Vektoren binarer Elemente auf, da dies einige computationelle bzw.theoretische Vorteile inne hatte. Ein Wort wurde also als Vektor mit 100 Elemen-ten dargestellt, die Namens-, Bedeutungs- und Stimmeneigenschaften enthiel-

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ten. Jede Eingabe erzeugte einen neuen trace. Die traces wurden uber die Zeithinweg “vergessen”, indem zufallige Elemente auf Null gesetzt wurden. BeimExperiment wurden sechs verschiedene Stimmen verwendet und ein Lexikonmit 144 Wortern, wobei jedes mehrfach gespeichert wurde.

In einer Studiensession wurde ein Teil der Worter mit den verschiedenenStimmen prasentiert und das Modell kategorisierte und speicherte die traces,wobei die Moglichkeit bestand, Lexikonworter mit den spezifischen Kontextender Studienphase zu assoziieren. In der Testphase wurden alle Worter prasen-tiert inklusive der neuen Worter aus der Studienphase. Außerdem gab es dreiverschiedene Wartezeiten bzw. Vergessenszyklen zwischen Studie und Test.

Als Ergebnis des Modelltests stellte Goldinger fest, daß die Trefferraten furdie Versuche mit unveranderter Stimme hoher waren (wie auch bei den Datenmit menschlichen Probanden) und geringer wurden mit ansteigenden Verges-senszyklen. Fur die Versuche mit verschiedenen Stimmen verringerte sich dieDetailsensitivitat uber die Vergessenszyklen hinweg, wobei die Sensitivitat aufdas Maß der Stimmenanderung bzw. Ahnlichkeit zwischen Studien- und Test-stimme gerichtet war. Als Hauptergebnis schlußfolgerte er, daß MINERVA 2akkurat die qualitativen menschlichen Datenmuster voraussagte.

Im Zusammenhang mit den Worthaufigkeitseffekten ergab sich, daß der“gleiche-Stimme” -Vorteil geringer fur hochfrequente Worter war, weil sie vonvielen traces reprasentiert wurden. Die große Antwortmenge verdeckte die idio-synkratischen Details eines bestimmten traces im aggregierten Echo, was eineReduktion der Genauigkeit relativ zu den niederfrequenten Wortern bedeutete.Haufige Worter erhielten “generische” Reprasentationen im Bewußtsein, wertetGoldinger. Die Trefferratenergebnisse standen in Korrelation zu den Worthaufig-keiten. Sie waren hoher fur seltenere Worter. Der Stimmen stand ebenfalls inKorrelation mit den Worthaufigkeiten und war starker fur seltenere Worter,schließt Goldinger.

Goldinger beabsichtigte nicht nur wie in vielen Studien die Rolle der Exem-plare und deren lexikalische Reprasentationen in der Perzeption — insbesonderebei der Worterkennung — zu bestimmten, sondern dies auch fur die Sprachpro-duktion offenzulegen. Um eine Verbindung zwischen diesen beiden sprachlichenAufgaben herzustellen, nutzte er als gemeinsame Aufgabe das single word sha-dowing. Hierbei sollten Worter verschiedener Sprecher gehort und so schnellwie moglich wiederholt werden. Dabei wurde die Latenz zwischen Stimulus-und Antwortbeginn gemessen, die Auskunft uber die Schnelligkeit der Worter-kennung geben sollte. Entsprechend der originalen Theorie der Sprachmotoriklegte Goldinger die Hypothese zugrunde, daß Sprache von Prozessen empfangenwerde, die auch bei ihrer Produktion involviert seien.

Aus Porters Forschung [85] und [86] mit dem shadowing von Silben vermute-te Goldinger, daß die Artikulatorenkonfiguration direkt aus der Spracheingabeheraus abgeleitet werde. Dementgegen indizierten die Ergebnisse von Marslen-Wilson [61], daß selbst beim schnellen shadowing eine vollstandige lexikalische,syntaktische und semantische Analyse stattfinde und die Ergebnisse von Porternur bei bedeutungsloser silbischer Eingabe zu erzielen seien. Akustische Maße alsabhangige Variablen fur die Sprachproduktion wurden bis dato verhaltnismaßig

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wenig untersucht. Bei Wright [107] wurden lediglich langere Wortdauern undPausen bei seltenen Worten getestet und gefunden, daß die ungewohnte Artiku-lation zu einer langeren Vorbereitungszeit bzw. langsameren Ausfuhrung fuhre.Whalen und Wenk [106] fanden, daß bei Homophonen langere Wortdauern auf-treten, was darauf hindeute, daß die psychologischen Aspekte lexikalischer Re-prasentationen die akustischen Spracheffekte beeinflussen.

In Goldingers shadowing-Aufgabe ging es um die Hypothese, daß sich die Vo-kalcharakteristik der Probanden an die der Stimulus-Sprecherstimme annahere,was ßpontane Vokalimitation” genannt werde. Die Hypothese konnte von allenProbanden belegt werden und wurde auch von Olivers Daten [76] mit Kinder-Probanden gestutzt, die dazu tendierten, die Stimulus-Wortdauern zu realisie-ren. Mit Hilfe von Hintzmans Modell stellte Goldinger zur Stimmenimitation fol-gende Voraussagen bzgl. der unterschiedlichen Echo-Inhalte fur hoch- vs. nieder-frequente Worter auf: Unter der Annahme, daß sich die shadowing-Antwortenauf Echos grunden, was eine bewußte Erkennung von Eingabewortern involvie-re, sollte die spontane Imitation fur seltene Worter starker sein. Haufige Worterhatten generische Echos, die viele traces aktivierten, was die Idiosynkratien ei-nes bestimmten Wortes verdecken wurde. Die Echos seltener Worter hingegenseien mehr von alten traces beeinflußt, die dem neuen Stimulus ahneln, wertetGoldinger.

In Goldingers Pilotstudie wurden die Worter zunachst in einer Grundbe-dingung und dann in einer shadowing-Bedingung prasentiert, fur welche dieImitation getestet wurde. Eine Vorab-Analyse der Pilotdaten ergab beim Ver-gleich der oben genannten Reprasentationsbedingungen eine Korrelation zwi-schen Worthaufikeiten und deren Imitationsgrad. So zeigte sich, daß selteneWorter eine starkere Imitation hervorriefen und die shadowing-Latenzen schnel-ler waren als fur haufige Worter. Goldinger schlußfolgert daraus, daß die Sprach-produktion beim shadowing von episodischen Aspekten der lexikalischen Re-prasentationen beeinflußt zu sein scheinen. Das genannte Paradigma konnte erfur MINERVA 2 so nutzten, daß ein simultaner Zugriff auf die Echointensitatund den Echoinhalt moglich war. Dabei lieferten starkere Echos schnellere Ant-worten; falls die Sprache ein “readout” des Echos war, konnte der Echoinhaltabgeschatzt werden.

Vorausgegangene Theorien und Modelle lieferten eine Korrelation vonSprachperzeption und -Produktion uber die Gegenuberstellung modularerStrukturen und abstrakter Knoten ohne dabei sprachakustische Voraussagenzu machen. Die aktuelle Forschung Goldingers replizierte konzeptuell das Pilot-experiment, erweiterte aber die Basismethoden und nutzte andere Stimuli miteiner verbesserten Haufigkeitsabdeckung und -Balance — gesprochen von multi-plen Sprechern, die einen ausgedehnten Stimmenbereich abdeckten. Zehn Spre-cher mit einer maximalen gegenseitigen perzeptuellen Distanz wurden aus einererstellten Ahnlichkeitsmatrix aller Stimmenpaare ausgewahlt. Im Vergleich zumPilotexperiment, wo nur Grund- und shadowing-Bedingung verglichen wurden,manipulierte Goldinger in diesem fortfuhrenden Experiment auch Worthaufig-keiten, Wiederholungsanzahlen, Antwortzeiten und analysierte die shadowing-Daten. Das shadowing wurde fur die Worter unterschiedlich oft wiederholt (2,

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6 oder 12 mal), wobei die erste Reprasentation eines Wortes die episodischeErinnerungs-trace mit allen stimmlichen und kontextuellen Details kreierte; diespateren Reprasentationen bildeten den Nachahmungstest.

Entsprechend der Hypothese fur seltene Worter nahm Goldinger vorab an,daß es zur Imitation komme, falls der initiale trace einen prominenten Echo-Aspekt fur die nachste Reprasentation besitze. Zum Aspekt der Wiederholungs-anzahl stellte er noch drei neue Hypothesen auf: Die erste Hypothese behaupte-te, daß es bei haufiger Wortwiederholung schnellere Antworten gebe, da wegender ansteigenden Echointensitat mehr perfekte Ubereinstimmungen zur Stimu-lusentitat im Gedachtnis hinzukamen. Zum Zweiten fuhre eine vermehrte Wie-derholung zu einem ansteigenden Nachahmungsgrad, weil zum Stimulus ahnli-che traces bei jeder Wiederholung zum Echo hinzugefugt wurden. Goldingersdritte Hypothese spricht von einer Verminderung von Frequenzeffekten beimlauten Nennen von gedruckten Wortern.

Abstraktionistische Modelle erklaren die Interaktion von Reprasentations-wiederholungen mit anderen Effekten uber das sog. short-term-priming kanoni-scher Einheiten, wobei von niederfrequenten Wortern großere Wiederholungs-effekte vorausgesagt werden als von hochfrequenten. Bei MINERVA 2 erfolgtepro Wortwiederholung eine starkere Echocharakterisierung kontextspezifischertraces im Experiment. Damit sollten Antwortzeiten und die Interaktion derWorthaufigkeit mit der Wiederholungsanzahl bei der vokalen Imitation voraus-gesagt werden, intendierte Goldinger.

Als Problem mit der Imitation gibt Goldinger an, daß sie theoretisch nur alsspontane Antwort als relevant zu betrachten sei, da nicht klar sei, ob sie nur beimshadowing unabhangig von Worterkennungsprozessen oder grundsatzlich bei le-xikalischen Reprasentationen auftrete. Wegen des Einflusses der Worthaufigkeitauf die Imitationswahrscheinlichkeit erschien Goldinger aber eine zufallige odervorsatzliche Imitation als unwahrscheinlich.

Beim shadowing-Experiment gab es wieder eine Bedingung mit unmittelba-rer, d. h., so schnell als moglicher Wortwiederholung und eine mit verzogerterWiederholung nach einer 2-4-Sekunden Wartezeit (bei der sich eine vorsatzli-che Imitation zeigen sollte). Mit MINERVA 2 sagte Goldinger voraus, daß dieImitation uber Wartezeiten hinweg abnehmen sollte. Zunachst komme es zur un-mittelbaren Stimuluserkennung. Wahrend der Wartezeit dann, wo das Wort imGedachtnis-Arbeitsspeicher bis zur Sprechaufforderung behalten wurde, kommees zur kontinuierlichen Interaktion zwischen diesem und dem Langzeitgedacht-nis, deren Kommunikation vom Modell simuliert werde. Daraufhin werde einerucklaufige Entwicklung bezuglich der lexikalischen Kategorie initiiert, wobeijedes nachfolgende Echo naher an die zentrale Tendenz fruherer Gedachtnis-traces driftet. Das fuhre zu einer Schwachung der idiosynkratischen Details desoriginalen shadowing-Stimulus in der vorlaufigen Echo-Ausgabe.

Wahrend der perzeptuellen Analyse der Imitationsdaten erwies es sich furGoldinger als schwierig, ein Maß der Imitation eines Sprechers zu bestimmenbzw. eine operationelle Definition von Imitation zu erstellen. In der vorausge-gangenen Pilotstudie wurden nur akustische Parameter fur den Vergleich zwi-schen Subjektaußerung und Stimulus verwendet. Damit konnte ermittelt wer-

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den, welche der Subjektaußerungen (baseline oder shadowing) bzgl. bestimmterAspekte wie Dauer, Formantenfrequenzwerte usw. naher an der Stimulusen-titat lagen. Das wurde uber die totalen imitation scores berechnet. Nachteilhafthierbei war, beschreibt Goldinger, daß die akustische Analyse auf einer token-by-token-Grundlage zeitaufwendig und die psychologische Gultigkeit der Imita-tionszaherstande unbekannt seien. Auch erschien die Wichtung der Aspekte aufwillkurlichen Entscheidungen zu beruhen und es war nicht klar, ob die Nach-ahmungszahlerstande eine Annaherung an perzeptuelle Horererfahrungen seinkonnten.

Goldinger fuhrte daher perzeptuelle Tests zur Evaluation eines gultigen Imi-tationsmaßes durch. Dabei wurde naiven Horern je ein Stimulus der baseline-Kondition und der shadowing-Kondition so prasentiert, daß diese den Original-stimulus umgaben. Die Horer sollten daraufhin entscheiden, welcher der bei-den Stimuli eine bessere Imitation des Originalstimulus sei. Der Prozentsatzder Probanden, die korrekterweise den shadowing-Stimulus wahlten, lieferte einImitationsmaß fur das aktuelle shadowing-Experiment.

Somit konnte das Experiment die Pilotstudie um die folgenden Erkenntnis-se erweitern: Es gab eine starkere Imitation fur seltene Worter und bei mehrWortwiederholungen; schwacher war sie uber Wartezeiten hinweg. Desweite-ren war eine Interaktion dieser Faktoren festzustellen. Goldinger schatzt ein,daß die vorlaufigen Daten des Experimentes noch nicht zuverlassig beweisen,wie beim unmittelbaren shadowing Worthaufigkeit und Wiederholungsanzahlin Bezug auf die Imitation interagieren — ein Trend werde aber deutlich. Ab-bildung 3 zeigt diese shadowing-Ergebnisse anhand von vier Probanden mit dendrei verschiedenen Wiederholungsanzahlen, Worthaufigkeiten (seltene vs. haufi-ge Worter) und Kontroll- vs. shadowing-Bedingung; zur Signifikanzeinschatzungwurde die Zufallslinie in den Darstellungen mit angegeben. Die Ergebnisse zeig-ten jedenfalls, so Goldinger, daß der akustische Inhalt der shadowing-Sprachedie zugrundeliegenden Prozesse des lexikalischen Zugriffs reflektieren und fun-damental von den detaillierten Erinnerungs-traces beeinflußt zu sein scheinen.

In einem ans eigene Experiment anschließenden Abschnitt bespricht Goldin-ger Theorien der Sprechernormalisierung. Sie bedeute eine Filterung sprachli-cher Oberflacheninformationen wie Stimmdetails, was zu einer Reduktion einesStimulus auf essentielle Elemente fur den Vergleich mit abstrakten lexikalischenReprasentationen im Langzeitgedachtnis fuhre. Eine mit der Normalisierungs-hypothese im Zusammenhang stehende theoretische Grundannahme ist die derperzeptuellen Signalkonvertierung in Phoneme bzw. Worter via Informationsre-duktion und Ubereinstimmungsprozeduren im Gedachtnis.

Haufig wurden Stimmdetails in der Forschung als “Rauschen” bezeichnet,das der menschliche Sprachprozessor umgehen musse, um die phonetische Wahr-nehmung zu erhalten. So auch bei Nussbaum und Morin [74], die sagen, daß einHorer die Sprecherdifferenzen normalisieren musse, um die phonetische Sprach-struktur zu erkennen - was aber auch hier nicht unbedingt bedeute, daß dieStimmeninformation direkt wegfalle, sondern daß sie lediglich nicht als Trans-portmittel fur abstrakte sprachliche Informationen verstanden wird. Goldingerwertet dies als Teilwahrheit, da abstrakte Entitaten schließlich uber die Sprache

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Abbildung 3: aus Goldinger [24], S. 55, Abb 10.Kombinierte A*B-Klassifikationsdaten von vier shadowing-Probanden. Die obe-ren Darstellungen zeigen A*B-Imitationseinschatzungen fur die unmittelba-ren shadowing-Bedingungen; die unteren Darstellungen zeigen die verzogertenshadowing-Bedingungen. Jede Darstellung zeigt die Daten als Funktion ausWorthaufigkeit und Wiederholungsanzahl.

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erkannt wurden und seine Daten suggerierten, daß eine Sprechernormalisierungkeine Informationsreduktion impliziere, sondern im Gegenteil eine Langzeitspei-cherung fur gesprochene Worter erkennen ließen.

Im gleichen Sinne unterstutzende Ergebnisse fanden Green et al. [27] bei ih-rem cross-gender McGurk illusion -Experiment, wo weibliche Gesichter mahn-liche Stimmen erhielten und umgekehrt. Dabei gab es die Suggestion, daß eineSignalnormalisierung bei der Perzeption schon sehr fruhzeitig in der Verarbei-tung erfolge, was eine Fusion abstrakter Reprasentationen ermogliche, wobei dieOberflachenreprasentationen jedoch zuganglich bleiben. Es zeigte sich, daß dieauditiven vs. visuellen Geschlechterunterschiede keine Auswirkung auf die Inte-gration der phonetischen Details hatte. Diese schienen bereits ausreichend ab-strakt fur eine Neutralitat trotz der bewußten Inkompatibilitat der geschlechter-uberkreutzten Gesichts-Stimmen-Paare zu sein. Daraus ließ sich schlußfolgern,daß es keinen Verlust an detaillierter Sprecherinformation bei der Neutralisie-rung von Sprecherunterschieden fur die phonetische Kategorisierung gebe.

Goldinger fand im Ubrigen in der Literatur keine Beweise fur eine Infor-mationsreduktion durch die Normalisierung. Sie werde lediglich als perzeptuelleKompensation und nicht als Filterung interpretiert. So behauptet Goldinger,daß es Computermodelle zur Vokalnormalisierung gibt, die eine friedliche Ko-existenz von Sprechernormalisierung und Stimmdatenspeicherung aufzeigten.

Einige Fragen zur Normalisierung blieben fur Goldinger dennoch offen. Soz. B. ob die Normalisierung nur ein laut-theoretisches Konstrukt sei oder abertatsachlich als reales Phanomen auftrete. Die meisten Theorien, so Goldinger,sahen die Normalisierung als logische Notwendigkeit entsprechend der allge-meinen Annahme eines abstrakten mentalen Lexikons an. Somit ergebe sichdie Notwendigkeit, das variable Sprachsignal in eine “normale” Form fur denVergleich mit der allgemeinen Speicherform zu konvertieren, schreibt Goldingerweiter. Ansatze ohne eine Normalisierung arbeiteten bislang nur mit reprasen-tationellen Annahmen oder einem episodischen Lexikon, das eine direkte Ubert-ragung gesprochener Worter auf detaillierte traces unterstutzte. Goldinger fuhrtan, daß die verfugbaren Daten bisher eine Normalisierung in der Realitat nichtunterstutzen.

Goldinger faßt zusammen, daß weder Forschung noch Theorie uberzeugendeArgumente fur eine Sprechernormalisierung liefere. Die Normalisierungshypo-these entstamme der theoretischen Annahme abstrakter lexikalischer Reprasen-tationen. Diese Reprasentationen und deren Zugriffsprozesse sollten in Fragegestellt werden, da die Zirkularitat der Hypothese durch die Daten gestutztwurde. Goldinger zeigt auf, das die episodischen Theorien hier eine neue Rich-tung weisten. Sie gehen von der gemeinsamen Annahme aus, daß die Sprachper-zeption eine Kategorisierung involviert, wobei die Kategorien keine abstraktenDaten enthalten mussen. Entsprechend der vorhandenen Daten werden bei derPerzeption automatisch detaillierte Episoden kreiert, die die spatere Perzeptionbeeinflussen und als Basissubstrat eines mentalen Lexikons anzusehen seien. Da-mit kommt Goldinger wieder auf die zu Anfang eingefuhrte Gedachtnistheorievon Semon zuruck, mit der bis dato relativ neuen Sichtweise, daß alle Stimuli imGedachtnis eine einmalige Spur hinterlassen und damit spezifische Erfahrungen

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und eine abstrakte Kognition ausdrucken.Goldinger bemerkte im Zusammenhang mit den aktuellen Ergebnissen zum

unbewußten Gedachtnis eine Art Renaissance bzw. einen Interessenanstieg bzgl.episodischer Modelle. Goldinger fuhrt einige Forschungsbeispiele an, wo der epi-sodische Ansatz wieder zu einer großeren Bedeutung gereichte: So forschtenSmith und Zarate [95] an einer Theorie, bei der soziale Entscheidungen aufMINERVA2 basierten, Logan [60] fand, daß die attentionelle Automatizitat imZusammenhang mit einer Sammlung multipler Instanzen im Gedachtnis stehe;Musen und Treisman [68] entdeckten, daß wahrend der Speicherung visuellerMuster beim Zugriff auf das unbewußte Gedachtnis fur ein jedes Mustervor-kommen eine separate episodische Entitat oder Exemplar abgelegt wird; Jacobyund Brooks’ Daten [39] suggerieren, daß Episoden der Perzeption dienen; Klatt[48] entwickelte das Modell Lexikal Access from Spectra Modell (LAFS), das einLexikon mit spektralen Schablonen zur Reprasentation akustischer Korrelatevon Sprachlauten in verschiedenen phonetischen Umgebungen beinhaltete undmultiple Schablonen (templates) zur Variabilitatsauflosung direkt im Gedacht-nis enthielt, was den Normalisierungsanspruch entspannte und potentiell nutz-liche Informationen nicht verwarf; Tulving und Schacter [102] entwickelten einGedachtnis-System Perceptual Reprasentation System (PRS) zur Identifikationperzeptueller Objekte bzw. Worter mit langzeitlich persistenten Reprasentatio-nen detaillierter perzeptueller Formen.

Hintzmans MINERVA 2 Ergebnisvoraussage-Modell [36] bezeichnet Goldin-ger als Goldstandard der Exemplartheorien. Wie schon bei Semon stehe hier-in die Spezifizitat und Generalitat des Gedachtnisses mit seiner Menge anExemplar-traces im Vordergrund. Es wurde als Lexikon-Modell zur Voraussagevon Frequenz-, Nachbarschafts- und priming -Effekten modifiziert. Simulationenmit diesem Modell sagten die Ergebnisse von Goldingers Experiment [23] unddem shadowing-Experiment voraus. Weitere Modelle wie z. B. Gillund und Shif-frins [21] Kontext-Modell und das Search of Associative Memory Modell (SAM)mit den genannten Annahmen (aber mit weniger extremer Exemplarbezogen-heit) sagten ebenfalls die Schlusselergebnisse voraus.

Goldinger nennt noch einige hybride Modelle, die Episoden zum Teil einbe-ziehen. Feustel et al. [18] entwickelten ein hybrides Lexikonmodell, das abstraktelexikalische Codes und episodische traces als Perzeptionsbeitrag verwendete, wo-bei die Episoden entitatenspezifische Wiederholungseffekte wiedergaben und dieabstrakten Codes dem Lexikon Stabilitat und Permanenz verliehen.

Ein ahnliches Modell etablierten Kirsner und Dunn [47], wo im Lexikonabstrakte Reprasentationen und episodische prozedurale records vorlagen. Beider Wortidentifikation gab es hier Prozesse, die Stimuli auf lexikalische Ein-trage ubertrugen, wobei die records der Prozesse als episodische traces gespei-chert wurden; auch Oberflachendetails (Stimme etc.) bildeten den record. Beider Wortidentifikation wurden altere records entsprechend ihrer Ahnlichkeit zurEingabe wieder angewendet.

Kolers [50] entwickelte ein record-Modell mit Logik. Hier sollte als Kriteriumdie Flussigkeit des Lesens von transformiertem Text das Gedachtnis fur per-zeptuelle Operationen reflektieren. Die visuellen Muster sollten dabei records

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vorausgegangener Operationen aktivieren. Allerdings vermutet Goldinger, daßKolers nur bewußte strategische Prozesse prufte, die auf ein schwieriges per-zeptuelles Problem angewendet wurden, wahrend bei Kirsner und Dunn alleperzeptuellen Prozesse ungeachtet ihrer Schwierigkeit oder Salienz eine Rollespielten. Worterkennung wurde dort mit ungewohnter Stimme untersucht, wasdie Fragestellung nach Normalisierungs- und matching-Prozeduren aufwarf. Siewurden in einem Record gespeichert, der bei einer spateren Identifikation desselben Stimulus mit einem starken Wiederholungseffekt verwendet wurde. Beieinem ahnlichen Stimulus kam es dann zu einer Teiweiseuberlappung der perzep-tuellen Operationen mit einem vorausgegangenen Record, was zu hinzufugendenSpeicherungen fuhrte. Die ansteigende Ausgesetztheit einer Stimme, Handschriftoder eines fremden Akzentes resultierte somit in einer zunehmenden Episoden-sammlung, was eine asymptotische (total normalisierte) Performanz unterstutz-te, beschreibt Goldinger.

In diesem Sinne fanden auch Nygaard, Sommers und Pisoni [75], daß ei-ne vertraute Sprecherstimme die Identifikation neuer Worter dieser Sprechererleichterte.

Als weitere Alternative zu den strengen Exemplarmodellen listet Goldingerkurz eine Reihe von verteilten Gedachtnis-Modellen auf. So z. B. McClelland undRumelharts Modell [63], wo Aktivierungsmuster Erinnerungs-traces in einemkonnektionistischen Netzwerk kreierten. Pro Stimulus ergab sich hier ein ein-maliger trace, der bei der Wiederholung seines Originalmusters erhalten wurde.Das Modell entwickelte abstrakte Kategorien uber eine Uberlagerung von traces.Die verteilten Modelle losten entsprechend ihrer Verfechter das Abstraktions-Reprasentations-Dilemma, wobei die Herausstellung von traces zu Abstraktionfuhrte, aber dennoch die Idiosynkratien spezifischer Ereignisse oder Erfahrungenzu einem gewissen Grad bewahrte. Goldinger sieht als Vorteil bei einem verteil-ten Netzwerk die Moglichkeit, eine zentrale Tendenz aus einer Exemplarmengerelativ einfach abzuleiten. Er sieht hingegen als kritisch, ob die Wiederholungeines alten Stimulus nach der Kombination verschiedener ahnlicher Muster zueinem gemeinsamen Substrat effektvoll fur eine adaquate Sensitivitat perzeptu-eller Details sei.

Abschließend bemerkt Goldinger, daß es viele unerklarte Ahnlichkeiten zwi-schen Theorien episodischer Speicherung und Perzeptionstheorien gebe und daßkaum ein Unterschied bestunde, falls bei beiden ein paralleler Zugriff auf einegroße Erinnerungsmenge vorausgegangener Episoden angenommen werde. Erstatuiert, daß die vorliegenden Daten und daraus resultierenden Erkenntnisseeine episodische Sichtweise auf ein mentales Lexikonmodell werfen und die Wor-terkennung vor dem Hintergrund zahlreicher detaillierter Episoden stunde. Beieiner abstraktionistischen Sichtweise ware durch die Normalisierung perzeptuel-ler Idiosynkratien von Wortern eine Identifikation von Entitaten als Typen furdie Horer moglich. Das Sprachsignal ist fur Goldinger kein gerauschvolles — daja oft als Rauschen charakterisiertes — Transportmittel linguistischen Inhalts,sondern ein integraler Aspekt einer spateren Reprasentation.

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3.3 Keith Johnson: Speech perception without speakernormalization: An exemplar model

Johnson [43] nutzt ein exemplarbasiertes Sprachwahrnehmungsmodell um zuzeigen, daß die menschliche Perzeption die Sprechervariabilitat ohne die Ver-wendung eines Normalisierungsprozesses handhaben kann. Johnson sieht dieSprechernormalisierung lediglich als hypothetischen perzeptuellen Prozeß zurReduktion von Unterschieden zwischen Sprechern bei der Identifikation lingui-stischer Kategorien.

Johnson verweist einfuhrend auf die gangigen Normalisierungskonzepte, beidenen zumeist ein Mapping sprecherspezifischer Reprasentationen auf relevantesprecherneutrale Abstraktionen im linguistischen Gedachtnisspeicher stattfin-de, wobei eine Modifikation der horbaren Reprasentationen des Sprachsignalszu dessen Erkennung notwendig sei. Er fuhrt einige Anwendungsbeispiele vonNormalisierungskonzepten aus der Forschung an und verweist auch auf die Ge-stikerkennung, die ebenfalls als Typ der Sprechernormalisierung gesehen werde(Gestik reprasentiere die abstrakte Sprechintention aber keine tatsachlichen Ar-tikulationsbewegungen).

Johnson beschreibt zunachst seine Sicht der Sprachwahrnehmung in Formeines Exemplarmodells. Er schließt dabei abstrakte Prototypen fur sprachlich-perzeptuelle Kategorien aus. Kategorien seien vielmehr durch alle erfahrenenInstanzen derselbigen gebildet, die qualitativ bzgl. ihrer kategorialen Reprasen-tativitat nicht unterschieden werden. Neue sprachliche Entitaten werden einord-nend kategorisiert, indem sie mit jeder erfahrenen Instanz aller Kategorien ver-glichen und der Kategorie mit der am besten ubereinstimmenden Ahnlichkeits-summe zugewiesen werden Wie bereits im Kapitel 2.3 angesprochen, beschreibtJohnson den Kategorisierungsprozeß als ein In-Beziehung-Setzen horbarer Ei-genschaften mit kategorialen Labels durch die Exemplarmenge. Dies wird inAbbildung 4 veranschaulicht: Die horbaren Eigenschaften konnen im Modell alsVektoren dargestellt werden, die von einem Exemplarknoten ausgehen. Sie ver-deutlichen die Ausgabe des peripharen auditiven Systems. Die Menge der Labelskann jede verfugbare Klassifikation bei der Exemplarspeicherung verdeutlichenwie z. B. linguistischer Exemplarwert, Sprechergeschlecht, Sprechername etc.Bei der Klassifikation einer neuen sprachlichen Entitat werden die horbaren Ei-genschaften mit denen eines jeden Exemplares verglichen und die resultierendeAhnlichkeit bestimmt die Hohe des Aktivierungslevels, das jedem Vergleich-sexemplar zugewiesen wird. Die sprachliche Entitat wird schließlich Mitgliedder Kategorie mit der hochsten Summe aller Aktivierungslevels.

Johnson beschreibt sein Exemplarmodell als Menge mathematischer For-meln, die folgende Modellparameter spezifizieren: horbare Ahnlichkeit undhorbare Eigenschaften von Exemplaren; der Aktivierungsgrad, zu dem eine emp-fangene Sprach-Entitat ein gespeichertes Exemplar entsprechend ihrer Ahnlich-keit aktiviert (ausgegangen wird von einem zu definierenden Grundaktivierungs-level); der Beleg fur die Mitgliedschaft einer Sprach-Entitat zu einer bestimmtenKategorie als Summe der Kategorie-Aktivierungen.

Fur die Uberprufung bzw. Manipulation bestimmter Effekte mit dem Mo-

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Abbildung 4: aus Johnson [43], S. 153, Abb. 3.Ein Exemplarmodell in Form einer Abdeckungslandkarte. Jede auditiveEingabe-Eigenschaft ist mit jedem Ort auf der Karte an moglichen Exemplarenverbunden und umgekehrt ist auch jeder Ort auf der Karte mit einer Menge ankategorialen Knoten verbunden.

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dell fugt Johnson Wichtungsparameter hinzu, “attention weights”, die ein Igno-rieren bestimmter Stimulus-Dimensionen ermoglichen, sowie Sensitivitatspara-meter, die den Einfluß entfernter Exemplare (bzgl. ihrer Ahnlichkeit) limitie-ren. Die Ahnlichkeitsfunktion kann auf diese Weise eine k-nachste-Nachbarn-Klassifikation liefern, wobei k eine zu spezifizierende Anzahl ist, z. B. fur eineAnwendung, in der nur besonders nahe Nachbarn zu betrachen sind. Durch denEinbezug von Aufmerksamkeitsgewichtungen als Modellparameter kann der per-zeptuelle Raum im Modell entlang der horbaren Dimensionen geschrumpft bzw.ausgedehnt werden. Nutzlich ist auch der kontrollierbare Sensitivitatsgrad furbestimmte horbare Eigenschaften im Kategorisierungsprozeß — so z. B. fur Ka-tegorisierungsaufgaben von Vokalstimuli bzgl. der ersten Formantenfrequenzen.Auch lassen sich die Aufmerksamkeitswichtungen so einstellen, daß bestimmteEigenschaften wie z. B. die Grundfrequenz ignoriert werden.

Johnson motiviert die Festlegung von initialen Grundaktivierungslevels alsModellparameter uber den Einfluß der Worthaufigkeit auf die phonetische Ka-tegorisierung, der vergleichbar mit Kuhls perzeptuellem Magnet-Effekt [53] sei:Demnach sollen haufigere Worter die Horerantwort anziehen, was im Modelluber eine tendenziell großere Basisaktivierung hochfrequenter Worter erklartwird. Nosofsky [72] statuiert hierzu, daß die Grundaktivierung das Subjekt ei-ner Zeitfunktion sei, was bedeutet, daß zeitlich neuere Exemplare eine hohereBasisaktivierung haben als altere. Es komme bei haufigeren Wortern zu ei-ner Aggregierung der Basisaktivierungslevels, da diese mehr neuere Exemplarehaben. Johnson vermutet, daß das Basisaktivierungslevel moglicherweise einenEinfluß auf die Sprachperzeption in der hoheren Levelverarbeitung habe: Bei derVoraussage des Vorkommens bestimmter Worter durch den syntaktischen odersemantischen Kontext werden die Basisaktivierungslevels dieser Worter ange-hoben. Das Basisaktivierungslevel in Johnsons Modell ist ebenfalls als Funktionexperimenteller Manipulationen variierbar. So z. B. zur Simulation von forced-choice -Sprachidentifikationsaufgaben: wo die Antwort aus einer bestimmtenAntwortmenge erzwungen werden soll, werden die Basisaktivierungslevels derverfugbaren Antworten auf eins gesetzt und die aus anderen Kategorien aufNull.

Eine Manipulation des Basisaktivierungslevels fuhrt also zu einer direktenVeranderung des Erkennungsprozesses. Die Steuerung des Basisaktivierungs-levels ist entsprechend Johnson fur folgende Aufgaben von Nutzen: Filterungzum Ausschluß bestimmter Antworten, als Simulationsmoglichkeit fur Kontext-effekte in sprachperzeptuellen Experimenten, fur Kontrasteffekte bei selektiverAdaption und anchoring -Paradigmen (Modifikation der internen perzeptuellenReferenten sind modellierbar als Anderungen des Basisaktivierungslevels) oderals Kontrastimplementation in einem Modell ohne Sprechernormalisierung, woz. B. die Aktivierungslevels fur alle Exemplare einer kontrastiven Kategorie an-gehoben werden.

Der von Johnson gefundene Sprecherkontinuitatseffekt, bei dem seitens desHorers eine Sprecherstimme als zeitlich konstant erwartet wird, kann uber dieAdjustierung des Basisaktivierungslevels aller Exemplare derselben oder einerahnlichen Sprecherstimme modelliert werden. (Der Mechanismus der Sprecher-

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Abbildung 5: aus Johnson [43], S. 151, Abb. 2.Ein auditiver Puffer zur typischen Verwendung in einem Exemplarmodell. Inder vertikalen Dimension wird ein quantisiertes auditives Spektrum reprsentiert,wobei jede Zeile eine Frequenzregion darstellt; die Zeit wird in der horizontalenDimension reprsentiert und schreitet von rechts nach links fort.

kontinuitat fuhre zu einer gesenkten Worterkennungsrate und -Genauigkeit beimultiplen Sprechern gegenuber der Situation mit einem gleichbleibenden Spre-cher.)

Der Zeitbezug im Exemplarmodell wird uber einen Puffer, der horbare Pa-rameter uber einen Zeitintervall hinweg aufnimmt, umgesetzt. Ein Vorschlagfur einen solchen Puffer ist in Abbildung 5 zu sehen. Die jetzt-Spalte hier-in reprasentiert das Kurzzeitgedachtnis fur auditive Parameter ankommenderSprachsignale. Wahrend des Zeitvergehens wird eine Bewegung der Zeitspal-ten von links nach rechts simuliert. Eine Zelle der Puffermatrix reprasentiertdie Verbindung von Exemplaren mit ihren horbaren Eigenschaften. Zu jederZeit, d. h., bei Hinzukommen einer neuen Zeitspalte, erfolgt eine Ahnlichkeits-berechnung zwischen hereinkommender Matrix und den auditiven Mustern allergespeicherten Exemplare.

Die Einfuhrung des Zeitbezugs im Modell fuhrt zu einem kontinuierlichen ho-hen Evaluationsbedarf, der laut Johnson kaum effizient mit einer seriellen Com-puterarchitektur — eher in einer Parallelverarbeitung mit Exemplaren als un-abhangigen Agenten — zu verarbeiten ist. Daher wurden verschiedene Ansatzefur zeitlich selektive Aufmerksamkeits- und Segmentierungsstrategien versuchtwie beispielsweise die Implementierung einer Segmentierungsroutine mit einemUberraschungsdetektor, wo die Matrixevaluation nur stattfindet, falls der au-ditive Vektor in der jetzt-Spalte deutlich unterschiedlich zur vorausgehendenSpalte ist. Johnson suggeriert, daß auch akustische Anderungen an Segmentie-

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rungsgrenzen den Erkennungsversuch auslosen konnten. Das bedeutet, es konneabgewartet werden bis der Matrixinhalt als Wort identifiziert wird. Auch rhyth-mische Aufmerksamkeits- bzw. Berechnungszeitpunkte seien denkbar, wo Be-tonungslokationen oder Silbengrenzen mit der Erkennung von Signalereignissenin Zusammenhang gebracht werden. Bis zum Zeitpunkt des hier beschriebenenArtikels von Johnson lag noch keine funktionierende Implementation des erar-beiteten Modells vor.

Johnsons Intention ist es, daß ein Exemplarmodell die Sprechervariabilitatkompensieren solle, ohne auf einen Normalisierungsprozeß zuruckzugreifen. Dasgeschehe, indem die horbaren sprecherunterscheidenden Eigenschaften in denExemplaren erhalten bleiben und mitgespeichert werden. Das bedeutet, das ahn-lichste Exemplar eines sprachlichen Kategoriemitglied entstamme vom selbenSprecher oder ruhre aus einer sehr ahnlichen Sprechererkennung her. Die spre-cherspezifischen Informationen werden in den Kategoriereprasentationen der Ex-emplarmenge im Langzeitgedachtnis gespeichert. Der Ahnlichkeitsvergleich furdie zu kategorisierenden Entitaten geschieht uber eine Referenz auf eine Unter-menge an ahnlichen Exemplaren.

Johnson argumentierte bereits in seiner vorausgegangenen Arbeit [41] fur einindirektes Modell der Sprechernormalisierung. Dort wurden Voraussagen fur dieVokalidentitat relativ zur erhaltenen Sprecheridentitat berechnet, was bedeutet,daß die resultierende Sprecheridentitat den Referenzrahmen fur die Berechnungder linguistischen cues lieferte. Das hiesige Modell bezeichnet Johnson ebenfallsals indirekt, da die Kategorisierung hier uber eine Referenz auf gespeicherteEntitaten mit Sprecherinformation erfolgt. Der Referenzrahmen, der gewisser-maßen ein Modell des Sprechers darstellt, ist inharent in der Exemplarmenge.Somit limitiert sich die Ahnlichkeitsberechnung auf Vergleiche mit Sprecheren-titaten, die eine ausreichende Nahe zur Kategorisierungsentitat aufweisen.

Johnson weist aus, daß ein Exemplarmodell eine Produktions-Perzeptions--Verbindung schaffe, indem nicht nur kategoriale Labels sondern auch artikula-torische Eigenschaften gespeichert werden. Er suggeriert, daß diese Verbindungauf der eigenen Sprache basiere. Das heißt, das vom Zuhoren abgeleitete und ge-nerierte Wissen basiere auf den eigenen Erfahrungen bzw. sog. ego-Exemplaren.Wenn also Sprache gehort wird, bewirke eine gestische Illusion, daß die norma-len, vom Horer gespeicherten Vokaltraktaktionen wahrgenommen werden undnicht etwa die tatsachlichen (wie etwa in Experimenten mit einem zungenlo-sen Sprecher die kompensatorischen) Artikulationen. Johnson gibt an, daß dieSprechintention ist die Meinungungsmitteilung sei und raumt ein, daß oft jedochnur ein ungefahres Verstehen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Kon-ventionen bezuglich Sprache und Welt zwischen Sprecher und Zuhorer moglichsei. Die resultierenden verschiedenen Referenzrahmen zur Außerungsinterpreta-tion fuhren zur Konstruktion von Illusionen innerhalb des eigenen semantisch-pragmatischen Referenzrahmens im Sinne von: “was ich denke, was du mein-test”, so Johnson.

Eine große Schwache eines Exemplarmodells sei Johnson zufolge die Spei-cherung eines jeden erfahrenen auditiven Musters. Das heißt, die Speicherungvon Exemplaren mit all ihren (Sprecher-) spezifischen horbaren Eigenschaften

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je an einem separaten Ortım Gedachtnis bzw. Gehirn erscheine vielen Forschernschlichtweg als unmoglich, da es sich um außerordentlich komplizierte und zuzahlreiche Entitaten handelt. Man sucht daher Wege ohne die explizite Speiche-rung eines jeden Exemplares.

Kruschke [51] schlagt ein konnektionistisches Exemplarmodell vor: Anstellevon Einzelexemplaren verwendet er eine Abdeckungslandkarte, die einen quan-tisierten perzeptuellen Raum darstellt, wobei jeder Ort auf dem Plan mit einemVektor an moglichen Eigenschaften korrespondiert. Jeweils eine Aufmerksam-keitswichtung regiert das Mapping je einer Eigenschaft auf einen Ort des Planes.Assoziationswichtungen leiten das Mapping zwischen Planlokation und Katego-rieknoten. Kruschke gibt an, die Wichtungen werden uber eine graduelle ver-erbende Prozedur mit Ruckmeldung uber die korrekte Kategorisierung erlernt.Das Modell erscheint Johnson hinsichtlich der begrenzten Empfangbarkeit in-krementeller Anderungen von Lautdauer, Pitch oder Timbre sinnvoll.

Es gab bereits einige Simulationen des Modells zur Demonstration bestimm-ter Eigenschaften und im Zusammenhang mit Johnsons Prasentationstyp-Effekt[42]. Im aktuellen Artikel wird von Johnson eine Vokalidentifikationsaufgabe mitHilfe des vorgestellten Exemplarmodells gezeigt. Grundlage dafur war ein Kor-pus mit allen englischen Vokalen, die von ca. 50 englischen Sprechern je 5 malgelesen wurden und 5 akustische Parameter (Grundfrequenz, Formantenfrequen-zen F1, F2, F3 und Vokaldauer) und kategoriale Labels (beabsichtigtes Wort,Sprechergeschlecht und -Identitat) enthielten. Es wurde von einer Korrelationder akustischen Parameter mit den abgeleiteten perzeptuellen Dimensionen desVokalraumes ausgegangen.

Nach der Aufnahme der gesprochenen Stimuli in den Exemplarkorpus wur-den alle Entitaten als unbekannt fur die Vokal-Indentifikation (Kategorie-Klassifikation) mittels der Modellformeln betrachtet. Die Basisakivierungslevelsaller Exemplare wurden auf den gleichen Wert 1 gesetzt, die Aufmerksamkeits-wichtungen eingestellt und die Sensitivitatsparameter uber Annaherungsalgo-rithmen zur Maximierung korrekter Vokalidentifikationen bestimmt. Bei der Er-gebnisevaluation lag der Gesamtanteil korrekter Ergebnisse beim Modell mit derpassendsten Parametereinstellung bei 80% (jede Aufmerksamkeitswichtung warhier gleich wichtig fur alle funf horbaren Dimensionen). Die Vokalidentifikations-genauigkeit des Modells war mit der menschlichen Fahigkeit zur Identifikationsynthetischer Vokale aus Mittelpunkt-Formantenwerten zu vergleichen. Johnsonfindet, das suggeriere auch, daß die hier verwendeten akustischen Maße adaquatfur weitere Modellstudien der Vokalperzeption seien. Die Ergebnisse der Voka-lidentifikation im Modells zeigen, daß eine Simulation der menschlichen Vokal-perzeption ohne Sprechernormalisierung durch das Modell moglich sei. In einerAufgabe zur Identifikation des Sprechergeschlechts wurde das Modell zur Maxi-mierung korrekter Ergebnisse angepaßt. Die großte Aufmerksamkeitswichtunglag auf der Grundfrequenz. Es konnten 99,8% korrekte Ergebnisse erhalten wer-den. Selbst mit den Parametereinstellungen aus der Vokalidentifikationsaufgabelag der korrekte Anteil bei 96%.

In einem weiteren Experiment zur Vokalidentifikation mit dem hier umris-senen Modell wurde das forced-choice-Experiment des hood-hud -Kontinuums

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aus Johnson [42] nachvollzogen. Es wurden hierfur zwei verschiedene Kontinuamit unterschiedlich hohen Grundfrequenzen synthetisiert. Fur den Vergleich derModellsimulation mit der Identifikationsperformanz der Horer wurde die Wahr-scheinlichkeit einer hood -Antwort pro Token berechnet, wobei von hohen zutiefen Grundfrequenz-Kontinua vorgegangen wurde. Johnson erklart, die Er-gebnisse zeigten klar einen Sprechernormalisierungseffekt: Menschliche Horeridentifizierten Entitaten mit hoher Grundfrequenz mehr als hood anstelle vonhud . Das fur die Vokalidentifikation optimierte Exemplarmodell zeigte den Spre-chernormalisierungseffekt ohne eine Adjustierung der Modellparameter.

Fur die Simulation des Ganong-Effekts [20] (Einfluß der Worthaufigkeit aufden Kategorisierungsprozeß) wurde die Wahrscheinlichkeit einer hood -Antwortbei den Tokens aus dem hood-hud-Kontinuum mittels der Manipulation derBasisaktivierungslevels als haufiger gesetzt. Johnson zufolge ahnelten die Er-gebnisse denen von Ganong ([20]) bei seiner Manipulation der Worthaufigkeitder Antwortalternativen: Es lag deutlich eine Tendenz zur haufigeren korrek-ten Wahrnehmung hochfrequenter Worter vor. Analog in Johnsons Experimentwurde bei hohem Aktivierungslevel von Exemplaren einer Kategorie folgerich-tig ein Eingabe-Exemplar als mehr zu derselbigen zugehorig kategorisiert. DieErwartungen der Sprachwahrnehmung seien also, so Johnson, uber die Manipu-lation der Basisaktivierungslevels modellierbar und verschieden interpretierbar:so beispielsweise die Erwartung, daß ein Wort hood vs. hud heißt — abhangigvom semantischen Kontext.

Des weiteren sollte der “Prasentationstyp-Effekt” von Johnson [42] mit demExemplarmodell simuliert werden. Dieser besagt, daß ein Sprechernormalisie-rungseffekt nur bei zufalliger vermischter Prasentation der Stimuli an den Horerauftrete und bei einer Blockierung der Grundfrequenz verschwinde. Analoge Ef-fekte seien gegeben bei der Vokalidentifikations- und Worterkennungsaufgabe:Die perzeptuelle Genauigkeit reduziere sich bei Produktionen durch verschiede-ne Sprecher in gemischter Prasentation. Das ware vergleichbar mit der Perzepti-on der gleichen Stimuli, die durch die Sprechererkennung blockiert werde. Mankonnte hierzu annehmen, daß die Horeraufmerksamkeit bei gemischter Sprecher-prasentation auf den akustischen Eigenschaften fur die Sprecheridentifikationliegt. Der Fokus liege also auf zwischen den einzelnen Versuchen variierendenStimulusdimensionen wie z. B. die der Grundfrequenz. Fur Johnsons Experi-ment ([42]) hieße das, daß die Aufmerksamkeit fur die Grundfrequenz in dergemischten Bedingung großer sei als fur die blockierte.

Mit dem vorliegenden Exemplarmodell simulierte Johnson das hood-hud-Kontinuum mit den zwei verschiedenen Prasentationstypen (gemischt vs.blockiert). Es wurden dabei Modellparameter gefunden, die am besten zu jedereinzelnen Kondition passten. Mit den Ergebnissen erfullten sich schließlich dieModellvoraussagen: Die Grundfrequenz-Aufmerksamkeitswichtung war fur diegemischte Bedingung großer; die Modellparameter fur eine beste Ubereinstim-mung in der blockierten Bedingung waren denen der Vokalidentifikationsaufgabeahnlich; beste Parametereinstellungen der gemischten Bedingung ahnelten de-nen der Geschlechteridentifikationsaufgabe. Johnson faßt zusammen, daß dieskonsistent mit der Hypothese sei, daß der Horerfokus auf Veranderungen der

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Sprecheridentitat in der gemischten Stimuli-Prasentation liege.Johnson konkludiert, daß er ein exemplarbasiertes Basismodell ausgearbeit

habe, das die Aspekte der menschlichen Vokalperzeption und der Sprechervaria-bilitat nachahme. Die Vokalnormalisierung sei hierbei grundsatzlich anders beider traditionellen Sicht hierauf. Ein Sprechernormalisierungsverhalten, das sichin der Vokalerkennung bei verschiedenen Sprechern und der Grenzenverschie-bung bei einer genaueren Vokaldiskriminationsaufgabe im hood-hud-Kontinuumzeige, werde nicht vom Reprasentationswechselprozeß verursacht, sondern ent-stehe aus der komplexen internen Struktur linguistischer Kategorien. Das Modellsei in der Lage, Variabilitaten beizubehalten und neue Entitaten zu handhaben,das bedeute, es nutze die Sprechervariabilitat bei der Sprachverarbeitung.

Die Sprachperzeption ohne eine Sprechernormalisierung stelle die Perzep-tion nicht als passiven Prozeß dar, sondern zeige vielmehr die Fahigkeit derHorer ihre Aufmerksamkeit selektiv auf verschiedene akustische Aspekte desSprachsignals zu verschieben, schlußfolgert Johnson. Auch werde ein zyklischesAufmerksamkeitsfokusieren angenommen und eine eventuelle Nutzung von top-down-Informationen zur Sensibilitatsvergroßerung fur ausgewahlte perzeptuelleKategorien. Diese Flexibilitatsquellen spiegeln laut Johnson also eher eine aktiveHorersituation wieder.

Dieses entsprechend aktive und flexible Exemplarmodell bindet keine Re-prasentationswechsel-Normalisierungsroutinen in den Prozeß der Sprachperzep-tion ein, also keine Sprechernormalisierung. Da der Fokus im Modell auf be-stimmte Variabilitatsquellen im Sprachsignal wie z. B. akustische Differenzenzwischen Sprechern gerichtet werden kann, erwartet Johnson, daß das Modellauch andere Variabilitatsquellen managen konne. So sei beispielsweise die Kom-pensation von Dialektvariabiltiat vorstellbar, und zwar uber die Nutzung von inden gespeicherten Exemplaren inharenten Dialektvariationen. Somit sei die Ent-stehung von Effekten wie Dialektgewohnung naturlich aus dem Modell herauserklarbar ohne das Erlernen einer “Dialektnormalisierungsregel”. Eine anderein dieser Weise zu handhabende Sprachsignalvariation ist die Anderung derSprechschnelligkeit, was sich in Vokalreduktion, Resilbifizierung oder extensivegestische Reorganisation zeige.

Obwohl der Fokus in diesem Artikel auf der Sprechervariabilitat lag, warein weiteres Ziel, ein allgemeines Modell zur Handhabung verschiedenster Va-riationsquellen des Sprachsignals zu entwickeln. Johnson schatzt insgesamt ein,daß ein Exemplarmodell eine wichtige Alternative zur traditionellen Sicht derSprachperzeption biete; es sei aber in weiteren Untersuchungen noch auszuspe-zifizieren und desweiteren noch Kontrollmechanismen fur dessen Flexibilitat zuerarbeiten.

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3.4 Robert Kirchner: Preliminary thoughts on “phonolo-gization” within an exemplar-based speech processingsystem

Robert Kirchner geht in seinem Artikel [46] von der Hyphothese aus, daß pho-nologische Muster direkt aus Betrachtungen der phonetischen Funktionalitatheraus entstehen. Problematisch daran sei, daß viele Lautmuster eine bestimm-te Stabilitat uber Entitaten und Kontexte hinweg zeigten, was kaum allein derPhonetik zugerechnet werden konne. Er vermutet daher, daß diese stabilen Mu-ster eher auf abstrakte und kategoriale Reprasentationen verweisen als auf reinphonetische. Kirchner beobachtet ein diachronisches Fortschreiten von einemunstabilen graduellen Variationsmuster hin zu einer stabilen kategorialen Alter-nation.

Entsprechend der Standardtheorie ging man von getrennten phonologischenund phonetischen Reprasentationslevels aus ohne einen eleganten Zugriff aufGemeinsamkeiten. Dabei wird kategorial zwischen einer phonologischen und ei-ner phonetischen Behandlung ohne partielle phonologisierte Variationsmuster(wie z. B. bei der englischen Vokalreduktion) gewahlt.

Dementgegen suggeriert Kirchner, daß Nichtubereinstimmungen zwischenphonologisierten Mustern und der reinen Phonetik als Eigenart eines exemplar-basierten Sprachverarbeitungssystems entstehen, das Eingaben erkennt und ausden Erinnerungsstucken einer jeden Spracheinheit mit Hilfe eines Lexikons Aus-gaben generiert. Kirchner gibt an, daß ein solches Exemplar-Modell bereits aufdie Sprachperzeption angewendet wurde, um das Problem einer Invarianzlucke-ßu losen: Sie bezeichnet die Unmoglichkeit invariante phonetische Realisierun-gen uber phonetische Kontexte und Sprecher hinweg zu evaluieren in Fallen, wosie zudem auch noch diskriminativ bzgl. ihrer Kontrast-Partner sind (dazu dasBeispiel: /tin/ ist nicht immer von /din/ oder /tim/ unterscheidbar).

Kirchner stellt in diesem Zusammenhang Johnsons Ansatz [43] vor, wonachphonologische Reprasentationen von lexikalischen Entitaten aus einer Exemplar-menge zuvor erhaltener Entitatenrealisierungen mit den entsprechenden phone-tischen Details bestehen sollen. Gute Ergebnisse lieferte der exemplarbasier-te Ansatz in der Forschung bereits bei der Kategorisierung von steady-state-Vokalen, bei Wortidentifikationsexperimenten, bei der produktiven morpho-phonemischen Variation im Finnischen und Englischen etc. Es wurde ermittelt,daß vor allem bei seltenen Wortern sprecherspezifische Eigenschaften von Wor-tentitaten als ein Teil der Wortreprasentation im Langzeitgedachtnis verbleiben;bei haufigeren Wortern ist ein individuelles Exemplar mit Nachbarexemplarender gleichen Extension vergleichbar, da die Exemplar-aktivierung immer aucheine ahnliche Exemplarkohorte aktiviert.

Ein solches Modell bedeutet unter dem phonologischen Blickwinkel eine ab-solute Abkehr zu den Annahmen der traditionellen linguistischen Theorie. Beidiesen altesten linguistischen Ideen, so Kirchner, wurden naturlichsprachlicheLautmuster uber die phonetische Funktionalitat elegant erklart, indem verstand-liche und motivierte Prinzipien der Biomechanik ohne weitere linguistische Vor-schriften verwendet wurden. Man kannte nur die regelbasierte Arbeitsweise, wie

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Abbildung 6: aus Kirchner [46], S. 5, Abb. 1.Architektur eines neuronalen Netzes, das ein exemplarbasiertes Modell imple-mentiert.

sie Chomsky und Halle [13] entwickelten: Die Charakterisierung von Lautsyste-men erfolgte uber rewrite rules, wobei das funktionale Prinzip nicht wirklichdeskriptiv und auch die explizite Analyse phonologischer Daten uberflussig war.Die spater entwickelte Optimalitatstheorie propagierte die explizite Charakteri-sierung phonologischer Muster uber Interaktionen mit schwachen Beschrankun-gen. Das fuhrte zu einer extremen Allgemeingultigkeit der Regeln und es wur-den ubergreifende linguistische Varianten aus Rangordnungen einer alternati-ven Beschrankungsmenge gefolgert. Die universelle Beschrankungsmenge wurdeinnerhalb der Optimalitatstheorie teilweise noch mit phonetischen Funktiona-lisatsprinzipien weiterentwickelt.

Die Grundlage von Kirchners Modell ist die Implementierung eines neuro-nalen Netzes, das ein exemplarbasiertes Sprachverarbeitungssystem mit einerhierarchischen Ableitungsstruktur darstellen soll. Darin gibt es Knoten in einerperzeptuellen und einer artikulatorischen Ebene, uber denen die Knoten der Ex-emplarebene liegen, diese werden wiederum von denen der zuoberst liegendensemantischen Ebene regiert. Dieses Ableitungsschema ist in Abbildung 6 dar-gestellt. Die Beschrankungen eines kompletten Sprachverarbeitungssystems wieAufwandminimierung, Homophonievermeidung sowie rhythmische und pragma-tische Wohlgeformtheit sollten modelliert werden und mit dem oben skizziertenlexikalischen Empfangs- und Speichersystem agieren.

Fur die Worterkennungsaufgabe laßt Kirchner eine semantische Ausgabe-reprasentation aus einer perzeptuellen Eingabereprasentation berechnen. EineEingabe im Modell besteht in der Aktivierung von perzeptuellen Knoten; z. B.die Aktivierung eines Knotens bei Frikativerkennung, welche als aperiodischeEnergie im Lautsignal wahrgenommen wurde. Die Ausgabe entspricht einem Ak-tivierungsmuster uber den semantischen Knoten. Die Aktivierungsberechnungergibt sich aus der Aktivierungsaufsplittung von einem Eingabeknoten zu denExemplarknoten und dann zu den semantischen Knoten; Verbindungsgewich-

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tungen zwischen den Knotenpaaren determinieren die Aktivierungsaufteilung.Die Lernfahigkeit als typische Eigenschaft von neuronalen Netzwerk-

Modellen wird bei Kirchner uber Operationen auf Verbindungsgewichtungenrealisiert. Anders als bei konnektionistischen Modellen gibt es hierbei keine “ver-steckten Einheiten”, d. h., nicht direkt interpretierbare interne Berechnungskno-ten des Systems sowie keine “Lehrer” fur Fehlerkontrolle und Gewichtungsre-gulierung. Ein einfacher Hebbianischer Lernalgorithmus besagt, daß bei jederVerarbeitung einer Eingabe ein neues Exemplar hinzugefugt werden soll.

Bei der Worterkennung in Kirchners Modell wird ein perzeptueller Kno-ten aktiviert, der wiederum Exemplarknoten und Knoten perzeptuell ahnlicherExemplare aktiviert; das bedeutet sie erhalten positive Wichtungen bzgl. desaktivierten perzeptuellen Knotens (Aktivierungsgewichtungen konnen sein 0, 1und -1 fur ungenutzte, aktivierte und inaktive Knoten). Dieser Aktivierungs-ablauf wird analogue probe genannt. Anschließend wird die Aktivierung aufdie zugehorigen semantischen Knoten aller analogen Exemplare weitergeleitet.Die Aktivierung bzw. Hemmung von semantischen Knoten orientiert sich ampragmatischen Kontext: Beim Erlernen semantischer Reprasentationen fur neueWorter erhalten alle Gewichtungsverbindungen semantischer Knoten zu einemExemplar einen positiven Wert (1).

Bei der Sprachproduktion berechnete Kirchners Modell einen Ausgabeplanneuromuskularer Kommandos an den Vokaltrakt aus einer semantischen Ein-gabereprasentation, die uber die Exemplarebene ubermittelt wird. Problema-tisch ist hierbei, daß bei noch nie ausgesprochenen Wortern die Exemplare mitden perzeptuellen Reprasentationen eventuell noch keine Reprasentationen aufder artikulatorischen Seite bzw. Null-Wichtungen der artikulatorischen Kno-ten haben, oder sie besitzen nur unangemessene Realisierungen fur den aktuel-len Kontext. Diese allgemeine systematische Wissenslucke in der Semantik-zu-Artikulationsarchitektur wird folgendermaßen uber die sogenannte perceptualEcho-Probe geschlossen: Falls es null-gewichtete Verbindungen bei der erstenSemantik-zu-Artikulation-Aktivierung gibt, erfolgt eine zweite Aktivierungs-wellle von der perzeptuellen Ebene her, wo ein perzeptuelles Produktionszielerstellt wird und uber ein Echo an die Exemplarebene weitervermittelt wird,wo alle dem perzeptuellen Ziel ahnlichen Exemplare aktiviert werden. Solche inder Weise aktivierten Exemplare gelangen dann auf die Artikulationsebene, woein eventuell vorhandener originaler Artikulationsplan modifiziert werden kann.Hier erfolgt auch das Mapping perzeptueller Eigenschaften aus der Exemplar-Erfahrungsbasis auf die artikulatorischen Kommandos. Dieses Verhalten wirdals sog. Phonologisierung bezeichnet, die die Folge der perzeptuellen perceptu-al echo probe sei. Der soeben beschriebene Ablauf bzw. Pfad der perzeptuellenEcho-Probe ist in der Ubersicht in Abbildung 7 dargestellt.

Kritisch bei den Reprasentationen sei, so Kirchner, daß moglichst rohell-inguistische Typen fur die Perzeption und Produktion vonnoten seien, die furdie Ahnlichkeitsberechnung in Eigenschaften zerlegbar sind.

Bei den semantischen Reprasentationen bestehe die Schwierigkeit darin, daßdie semantische Ahnlichkeit sowie die Erstellung einer universellen semantischenMerkmalmenge im Allgemeinen undefiniert ist — hier im Modell wird jedenfalls

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Abbildung 7: aus Kirchner [46], S. 7, Abb. 2.Pfad der perzeptuellen Echo-Probe bei der Sprachproduktion.

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jedem Morphem ein semantisch distinktiver Knoten zugewiesen.Bei den artikulatorischen Reprasentationen, die Aktivierungslevels, Zeitan-

gaben und Vokaltrakt-Muskelgruppen darstellen, ist keine artikulatorische Ahn-lichkeitsberechnung erforderlich, da es in Kirchners Modell keinen Aufwartsak-tivierungsfluß gibt.

Die perzeptuellen Reprasentationen sind bei Kirchner Anregungsmuster derbasilaren Membran, die vergleichbar zu den Informationen aus dem konventio-nellen akustischen Sprektrogramm sind, aber in perzeptuellen Einheiten (barkbzw. phon) skaliert werden. Fur die Ubertragung der auditiven spektrographi-schen Reprasentationen auf diskrete Knoten im neuronalen Netz wird quanti-siert, indem Kirchner das Spektrogramm in Zeitlinien von 10 ms unterteilt.

Die Aktivierungslevels der Knoten reprasentieren die Anzahl der Spezifikati-onspaare mit den temporalen Relationen; d. h., je mehr Instanzen es gibt, destohoher ist die Aktivierung. Kirchner gibt an, daß das Modell mit einer schnellenund einfachen Berechnungsmethode arbeite, aber einen massiven Speicherplatzbenotige, der entsprechend einiger Phonologen als nicht handhabbar charakte-risiert werde. Dies sei jedoch in der Realitat ein unwahrscheinliches Problem, danur Reprasentationen eines Knotens bzw. der semantisch-phonetische Knoten-inhalt als Verbindung zwischen Knoten gespeichert werde. Johnsons Ausweg ausdiesem sog. head-filling up-Problem ist die covering map -Strategie: Dabei werdenicht jedes neue Exemplar gespeichert, da schon sehr ahnliche vorhanden seien,sondern es werde nur die Haufigkeit von Exemplarentitaten einer bestimmtenRegion im perzeptuellen Raum vermerkt.

In einem Hauptkapitel geht es bei Kirchner um die Phonologisierung unddie perzeptuelle Echo-Probe. Diese Themen greift er am Beispiel der postvoka-lischen Sprirantisierung in der Sprache Tigray auf.

Als Eingabe fur sein Exemplarmodell verwendete er einen Datenkorpus mitvariablem Muster, d. h., gemischte Realisierungen mit postvokalem stop vs.postvokalischer Sprirantisieung (frikative Realisierung); letzteres trat haufigerim Kontext von tiefen Vokalen und bei schneller Sprache auf. Pro lexikalischeEntitat ergab sich eine Kohorte an Exemplaren mit einheitlichen semantischenund phonetischen Reprasentationen, wobei fur eine betrachtete Entitat in derRegel mehr Exemplare mit postvokalischem stop vorhanden waren. Entspre-chend des bereits beschriebenen Sprachproduktionsaktivierungsflusses aktivier-ten die semantischen Einheiten die Exemplarkohorten und diese wiederum dieperzeptuellen und artikulatorischen Reprasentationen. Daraufhin erfolgte dieperzeptuelle Echo-Probe mit ihrer Aktivierungsverteilung auf alle Exemplareproportional zu ihrer perzeptuellen Ahnlichkeit zur Initialkohrte. Bei der Ak-tivierung von Exemplaren mit einer Verbindung von Vokal und dorsalem Ob-struent zeigte sich, daß die Existenz einer großeren Anzahl an postvokalischenfrikativen Exemplarrealisierungen einen Hingezogenheitseffekt bewirkte: Ein in-itial aktivierter postvokalischer-stop-Realisierungsplan wurde durch die Echo-Probe uberschrieben und schließlich ausgegeben. Diese Ausgaben wurden alsneue Exemplare gespeichert, wodurch sich das mentale Lexikon zunehmend mitfrikativen Realisierungen fullte. Das fuhrte zu einer Musterverstarkung derge-stalt, daß eine unspirantisierte Ausgabe selbst bei sorgfaltiger Sprache nicht

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mehr moglich wurde.Diese Art der Musterverstarkung korrespondiere laut Kirchner mit dem pho-

nologischen Phanomen der lexikalischen Diffusion bzw. der graduellen Stabi-litatsausweiteung von haufigen zu seltenen Wortern uber eine Sprachgemein-schaft hinweg. Die Aktivierungsverteilung in exemplarbasierten Modellen pro-duziere durch die perzeptuelle Echo-Probe eine Art “analogen Druck”, der furdie Ausdehnung von Lautmustern auf ahnliche Entitaten sorge. Der sogenann-te analoge Druck steht im Gegensatz zu den weithin popularen phonetischenBeschrankungen der Phonologie. Wenn eine Beschrankung entsprechend einerkorrelierenden Eigenschaft wie z. B. Vokalprasenz bestand und uber alle En-titaten hinweg unverandert blieb, dann wurde von einem stabilen Muster ge-sprochen. Das heißt, man hatte in der traditionellen Phonologie eine typischeKonditionierung phonologisierter Muster an einer kleinen Menge kategorialerUnterscheidungen, die auch aus dem hiesigen Modell folgerbar waren.

Der Ansatz der Musterverstarkung durch haufige bzw. saliente Eigenschaf-ten in der Ahnlichkeitsberechnung stelle laut Kirchner eine Wiederbelebung derneogrammarianischen Unterscheidung zwischen phonetisch geleiteten und ana-log geleiteten Regularitaten dar. Kirchner weist aus, daß die Replikation pho-nologisierter Muster eine Instantiierung mit Exemplaren lexikalischer Entitatenbedeute, was ein sukzessives Erlernen bis hin zum Auftreten phonetischer Ande-rungen bewirke, die die Regularitaten bestehender Muster aufbrechen, so daßderen Produktivitat abnahme oder sich auflose. Dieses exemplarbasierte Mo-dellverhalten sei auch bei Mustern mit konsistenten Subgeneralisierungen bzw.Ausnahmen der Fall. Falls ein Muster schwach sei, erfolge keine Erweiterungder Ausgaben im Allgemeinen — falls es stark sei bezuglich einer morpho-syntaktischen Klasse, dann erfolge die Morphologisierungeines zunachst pho-nologischen Musters wie z. B. in Konsonantenmutationsparadigmen.

Der Ablauf der Aktivierung einer morpho-syntaktischen Klasse im Mo-dell aufgrund der Kombination semantischer und perzeptueller Ahnlichkeit be-schreibt Kirchner wie folgt: Zunachst liege eine schwache initiale Exemplar-aktivierung der morpho-syntaktischen Klasse vor. Die perzeptuelle Echo-Probeaktiviere die Exemplare wegen ihrer Ahnlichkeit weiter, d. h., sie “geben Druck”auf eine (z. B. spirantisierte) Realisierung weil die Ausgabe ein Mitglied diesermorpho-syntaktischen Klasse sei. Kirchner bewertet dieses Verhalten so, daßdie als “unnaturlich” gesehene sprachspezifische Konditionierung an phonologi-schen Mustern eine naturliche Behandlung erfahre, ohne daß sprachspezifischeBeschrankungen eingefuhrt werden mussten. Der “analoge Druck” zur Muste-rerweiterung sei somit eine universelle und allgemeine Beschrankung. Als wei-tere Mustererweiterungsbeispiele beschreibt Kirchner affikale Paradigmen beider Kohorte der englischen Pluralformen sowie das sog. “Familienahnlichkeits-Phanomen” bei der irregularen inflektionalen Morphologie der starken engli-schen Verben.

Kirchner vergleicht seinen exemplarbasierten Ansatz mit verschiedenen zen-tralen Aspekten der standardmaßigen Phonologischen Theorie. So ist die Ein-gabeform bei der Standardtheorie die sogenannte zugrundeliegende Reprasen-tation — im Exemplarmodell ist sie eine aktivierte semantisch definierte Ex-

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emplarkohorte. Der Ahnlichkeitsaspekt zeige sich auf der einen Seite durch dieEin-/ Ausgabe-Glaubhaftigkeits-Beschrankungsmenge, auf der anderen durchdie ahnlichkeitsbasierte Aktivierung der Echo-Probe. Wahrend in der phonolo-gischen Theorie zwei wichtige Grundprinzipien die paradigmatische Glaubhaf-tigkeit (z. B. in Form von Grundwort- bzw. Ableitungskorrespondenz) und diemorphologische Produktivitat sind, zeigt sich dies bei der Exemplarsicht in derAktivierung nicht nur eines Exemplares des aktuellen Wortes, sondern aller zurZielaußerung semantisch ahnlichen Exemplare.

Innerhalb der Phonologie außert sich die Optimalitatstheorie zur Behand-lung des phonologischen Kontrastes bzw. zum Glaubhaftigkeitsaspekt dahinge-hend, daß die phonologische Grammatik eine integrale Rolle in der Sprachwahr-nehmung spiele: Fur eine phonetische Eigenschaft korrespondiert der Grad, zudem die Eigenschaft einer Variation oder Neutralisation bei der Produktion wi-dersteht, und was fur eine dispositive Rolle sie bei der Worterkennung spielt (ihrkontrastiver Status), mit der Rangordnung der Eigenschaftsidentitat relativ zuden anderen Beschrankungen in der Grammatik. Jene Rangordnung modellieredie Aufmerksamkeit eines Individuums bei der Sprachverarbeitung. — Im Exem-plarmodell steht die Gesamtheit der Exemplare fur die genannte Rangordnung.Bei einer kontrastiven Eigenschaft teilt sich das Lexikon in Wortmengen bzw.semantisch konforme Exemplarkohorten, die entweder die Eigenschaft besitzenoder nicht.

Auf die Frage, warum Lautsysteme Kontraste selbst in Abwesenheit eines Mi-nimalpaares verwalten, lautet die phonologische Standardantwort, daß die Defi-nition des Kontrastes fur eine mogliche Wortmenge stehe; die Evaluation diesermoglichen Wormenge uber der Grammatik erfolge deshalb, weil Beschrankun-gen auf die Aufrechterhaltung von Kontrasten bzw. der perzeptuellen Distanzzwischen kontrastiv moglichen Wortern referierten. Kirchner hingegen bezeich-net es als Kuriositat, daß die Menge der moglichen Worter in der phonologischenEvaluation eine so fundamentale Rolle spiele, da sie periphar in der Sprachver-arbeitung seien und außerdem die Kenntis der tatsachlichen Worter wichtigersei. Die Annahme, daß die Wohlgeformtheit moglicher Worter aus der Extrapo-lation aus dem Lexikon tatsachlicher Worter ermittelt wird, erscheint ihm kon-trovers zur Standardtheorie mit ihrer Wohlgeformtheitsbestimmung aus einerGrammatikevaluation ohne Lexikonreferenz. Kirchner erscheint es naheliegend,daß notwendige Kontraste fur die Diskriminierbarkeit tatsachlich existierenderWorter auf Worter ohne Minimalpaare generalisiert werden — dies sei ein Effektder analogen Mustererweiterung.

Im Zusammenhang mit phonlogischen Kontrasten unter Verwendung derphonetischen Eigenschaftsunterscheidungen wie sie in der Phonologie traditio-nell eine Rolle spielen, zieht Kirchner wieder den Bogen zur Mustererweiterung,die so charakteristisch fur das exemplarbasierte Modellverhalten ist: Am Beispielvon Stimmhaftigkeitskontrasten (voicing) erklart er, daß die vielfaltige Kombi-nation aus phonetischen Unterscheidungen wie Verschluß-voicing, VOT (voiceonset time), Verschlußdauer etc. die perzeptuelle Robustheit vergroßern. Es wur-de beobachtet, daß bestimmte Merkmalskombinationen im Zusammenhang mitartikulatorischen Kontexten stehen und daß auch Kombinationen aufrechter-

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halten werden, die artikulatorisch nicht notwendig seien. Problematisch sei, daßdie Merkmalssammlung keine einheitliche auditive Charakterisierung habe. Essei nur klar, daß bestimmte Merkmalswerte und -Kombinationen aus artikula-torischen Grunden und mit der analogen Mustererweiterungsbeschrankung einstarkes Muster abgeben, das uber die analoge Erweiterung generalisiert werdenkonne, so Kirchner.

Kirchner schließt seinen Artikel mit der Einschatzung ab, sein exemplarba-sierter Ansatz fuhre bei Phonologisierungsthemen zu einer radikalen Vereinfa-chung der phonologischen Beschrankungsmenge, die mit den funktionalen Be-trachtungen identifiziert werde und aus dem Sprachgebrauch hervorgegangensei. Er merkt an, daß das Modell noch ausfuhrlich computationell getestet wer-den musse.

3.5 Patricia Kuhl: Human adults and human infants showa ‘perceptual magnet effect’ for the prototypes ofspeech categories, monkeys do not

In Kuhls Artikel [53] geht es um die interne Strukturierung perzeptueller sprach-licher Kategorien hinsichtlich der Typikalitat ihrer Mitglieder. Als strukturge-bendes Kriterium werden kategoriale Prototypen gesehen. Fur eine Kategoriestellt der Prototyp das aufgrund seiner lautlichen Qualitat idealste verfugbareKategorieexemplar dar. Er ist der Kategoriereprasentant, auf den beim Katego-risierungsprozeß vergleichend referiert wird. Wurde man die kategoriale Struk-turierung raumlich wiedergeben, so bezoge der Prototyp eine zentrale Positioninnerhalb der kategorialen Extension. Alle weiteren zur Kategorie gehorendenExemplarmitglieder - die Non- oder Nicht-Prototypen - ordnen sich konzentrischum ihn an. Soll eine Kategorie hinsichtlich der Nahe ihrer Exemplarmitgliederzum Prototypen genauer untergliedert werden, kann man noch (bei Kuhl vierverschiedene) Abstandsbereiche, sog. Orbits festlegen. Diese theoretische An-ordnung wird in den Abbildungen 8 und 9 veranschaulicht.

Kuhls zentrale Hypothese ist, daß der Kategorieprototyp in der menschli-chen Sprachwahrnehmung wie ein Magnet fur die anderen Kategoriemitgliederfunktioniert. Das heißt, ahnliche Nachbarstimuli werden von ihm assimiliertbzw. perzeptuell zu ihm hingezogen. Kuhl nennt dieses sprachliche Phanomenden perzeptuellen Magnet-Effektfur die Prototypen der Sprachkategorien. Siemochte mit ihren vier Experimenten, die sie im Artikel genau beschreibt, be-legen, daß der perzeptuelle Magnet-Effekt bei menschlichen Erwachsenen undKindern auftritt, aber bei Affen hingegen nicht. Zur Evaluation dieser Haupthy-pothese werden in den Einzelexperimenten die im Folgenden erlauterten Teila-spekte geklart.

Ausgegangen wird aufgrund vorausgegangener Studien davon, daß Sprach-stimuli bei menschlichen perzeptuellen Systemen in Kategorien gruppiert sind.Dies wird in der linguistischen Forschung haufig als kategoriale Wahrnehmungbezeichnet. Kuhl zeigt in ihrem ersten Experiment, daß eine spezielle interneOrganisation der Kategorien vorliegt, da Daten gewonnen werden konnten, die

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Abbildung 8: aus Kuhl [53] S. 95, Abb. 1.Formantenfrequenzwerte in mel fur die Stimuli, die einen zentralen Vokalsti-mulus umgeben. Die Stimuli bilden vier Orbits und acht Vektoren rund umden zentralen Stimulus. Die Stimuli auf jedem Orbit reflektieren eine speziel-le Distanz (in mel) zum zentralen Vokal (30, 60, 90 oder 120 mel vom erstenOrbit ausgehend); die acht Stimuli auf jedem Orbit unterscheiden sich in ihrerRichtung und dem Ausmaß ihrer Formantenfrequenzanderung.

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Abbildung 9: aus Kuhl [53] S. 95, Abb. 2.Der prototypische /i/-Vokal (P) und die Vokalvarianten auf den vier ihn um-gebenden Orbits (offene Kreise). Der nicht-prototypische /i/-Vokal (NP) undanalog wieder die Vokalvarianten auf den vier ihn umgebenden Orbits (gefullteKreise). Die Stimuli auf einem bestimmten Vektor uberschneiden sich, d. h.,sind die gleichen fur beide Stimuli-Mengen (offene Kreise, teilweise gefullt).

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suggerieren, daß Kategoriemitglieder als nicht gleichwertig wahrgenommen wer-den: Erwachsene menschliche Probanden konnten jedem Kategorieexemplar ei-ne Gradmessung der Kategorie-Gute hinsichtlich dessen Reprasentativheit bzw.Pototypizitat fur die Kategorie beimessen. Auch uber Studien mit ahnlich kom-plexen Stimuli aus anderen Domanen motiviert Kuhl die Einstufung von Sprach-stimuli in quantitativer (effektivere Wahrnehmung bestimmter Stimuli) undqualitativer (Gute der Stimuli einer Kategorie) Weise, welche deren Referenzauf ein prototypisches Kategorieexemplar charakterisiert. Im visuellen Bereichkonnte bereits belegt werden, daß “gute” Exemplare einer visuellen Kategorieeine schnellere Verschlusselung, dauerhaftere Existenz und bevorzugte Auswahlgegenuber anderen Kategorie-Mitgliedern provozierten; Beweise in der Varianzder Kategorie-Gute individueller Mitglieder wurden ebenfalls geliefert. Nebender Erforschung der Strukturierung sprachlicher Kategorien ist im ersten Expe-riment auch die Speicherung und das perzeptuelle Funktionieren der Prototypenund deren Reprasentationen im Langzeitgedachtnis relevant. In den weiteren Ex-perimenten werden die onto- und phylogenetischen Ursprunge der Prototypenuntersucht, wobei bei drei verschiedenen Probandenpopulationen (menschlicheErwachsene, menschliche 6-Monate-alte Kinder und Rhesusaffen) die AspekteNatur, Entwicklung und Sprachspezifizitat der Prototypen eine Rolle spielen.

In allen Experimenten wurden identische Stimuli mit nur geringer Variationder Techniken und Untersuchungsprozeduren verwendet. In einer vorausgegan-genen ontogenetischen Studie von Kuhl und Grieser [28] wurde der Effekt derStimulus-“Gute” in einem Vergleich mit von Erwachsenen vorbestimmten “gu-ten” und ßchwachen” Vokal-Stimulusreferenten ebenfalls fur Kinder gefunden:Es lag bei einem Prototypen eine Generalisierung uber signifikant mehr neueVokale vor als bei einem Referenten, d. h., es wurde eine effektiv großere Sprach-kategorie bei ersterem wahrgenommen, was suggeriert, daß Phonemkategorienvon Prototypen schon bei 6-Monate-alten Kindern reprasentiert sein konnten.Außerdem zeigte das vorausgegangene Experiment, daß es gemeinsame Spra-cheffekte wie z. B. kategoriale Perzeption sowohl bei nichtmenschlichen Tieren(Rhesusaffen) als auch bei kleinen Kindern gibt. Die Studie des vorliegendenArtikels sollte weiterfuhrend Aufschluß daruber geben, ob der Stimulus-Gute-Effekt, der bei Erwachsenen und kleinen Kindern gefunden wurde, auch beiTieren nachweisbar ist. Kuhl stellt die Hypothese auf, daß die von der phone-tischen Level-Reprasentation abhangige Sprachsignalverarbeitung (trotz nicht-spezienspezifischer Kategorie-Perzeptionseffekte) bei Tieren nicht demonstrier-bar sein sollte.

Hier seien noch einmal in Kurze die von Kuhl sukzessive behandelten Stu-dienthemen genannt: Das erste Experiment mit menschlichen Erwachsenendeterminiert, ob Vokalexemplare mit variierender Kategorie-Gute tatsachlichals zur gleichen phonetischen Kategorie zugehorig eingeschatzt werden. Daszweite Experiment mit Erwachsenen klart den Einfluß der wahrgenommenenExemplar-Typikalitat auf die perzeptuelle Variation einer Sprachkategorie. Imdritten Experiment wird der Einfluß der von den Erwachsenen etablierten Ty-pikalitat auf die perzeptuelle Organisation der Vokalkategorien bei Kindern un-tersucht. Experiment vier zeigt, ob der evaluierte Typikalitatseffekt fur mensch-

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liche Erwachsene und Kinder einmalig ist oder ob er ein grundlegender auditiverProzeß sowohl fur Menschen als auch fur Affen ist.

Fur Experiment 1 lag die Stimulusmenge einer Sprachkategorie mit aku-stischer Variation dergestalt vor, daß deren Einfluß auf kategoriale Typikalitatermessen werden konnte. Die Stimuli wurden entsprechend des Grades an akusti-scher Variation aus der Stimulusmenge der vorausgegangenen Arbeit von Grieserund Kuhl [28] generiert. Es wurden Stimuli mit quantisierbaren Varianzschrit-ten benotigt, um eine systematische Varianz der wahrnehmbaren Gute und denEinfluß des Abstands zum Kategorieprototypen auszumachen. Desweiteren wareine Testmethode zur Bestimmung des Einflusses der Kategoriegute eines Vo-kalstimulus auf die Perzeption anderer Kategoriestimuli vorhanden. Erwachsenesollten die quantitative Kategorie-Gute von 64 Varianten des /i/-Vokals je aufeiner Skala von 1 bis 7 festlegen — mit dem Ordnungswert 1 fur beste Ty-pikalitat und dem Werte 7 fur schwachste Reprasentativheit eines Exemplaresfur die Vokalkategorie. Daraus konnte die Erkenntnis geschlossen werden, daßes bestimmte Lokationen im menschlichen Vokalraum gibt, die fur die als ambesten gewerteten /i/-Instanzen bzw. Prototypen stehen. Der Vokal /i/ wurdeausgewahlt, da er universell in den Weltsprachen verwendet wird, desweitereneiner der drei Punktvokale ist, die an einer der extremsten Artikulationspositio-nen gebildet werden und akustisch besonders stabil ist (entsprechend Stevens’quantaler Theorie [97]); aus Tests ging außerdem hervor, daß Kinder bereits inder Lage seien, Instanzen von /i/ bereits korrekt zu kategorisieren.

Je 8 erwachsene englische Probanden sollten fur die Nichtprototypen- und diePrototypenbedingung die Typikalitat der /i/-Exemplare bezuglich des geschrie-benen englischen Wortes peep bewerten, ohne daß eine Referenz auf ein “gutes”Exemplar gegeben wurde. Wie auch fur die folgenden Experimente wurde dieLaut-Testanordnung computer-kontrolliert und selbstgesteuert: Bei Knopfdruckerfolgte die zufallsgesteuerte Stimulusreprasentation, wobei jeder Stimulus zufunf verschiedenen Zeiten via Aufschreiben einer Gutezahl auf einem Antwort-blatt gewertet wurde. Die Auswahl der Prototypen- und Nonprototypen-Vokaleerfolgte aus einer Vokalmenge aus der Synthese von Grieser und Kuhl [28], dieden ganzen typischen Formantenfrequenzbereich mannlicher Sprecher abdeckte.Der von allen Probanden als “bestes” /i/ eingeschatzte Vokal wurde als Pro-totyp genommen; der konsistent als am ßchwachsten” eingeschatzte — aber injedem Fall als /i/ gewertete — wurde als Nonprototyp deklariert.

Unter Verwendung der quantisierbar variierenden Stimuli wurde die Stimu-lusgeneralisierung je um den Prototypen und den Nonprototypen herum gemes-sen. Es wurde hierbei hypothetisiert, daß beim Test mit der Referenz auf denPrototypen ein großerer Generalisierungsgrad auftrete als im Nonprototypen-Fall, was auf eine interne kategoriale Strukturierung hindeute. Es wurde des-weiteren angenommen, daß der Generalisierungsgrad eines Stimulus bei nichtsi-gnifikanten Generalisierungsdifferenzen von seiner psychologischen Distanz zumPrototypen bzw. Nichtprototypen-Vokal abhangt. Strukturierung wird also beiKuhl uber eine breitere Generealisierung des Prototypen zu anderen Kategorie-mitgliedern definiert (als vergleichsweise bei einem beliebigen Nonprototypen).

Die Vokalkategorievarianten um den Prototypen und den Nichtprototy-

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pen herum wurden entsprechend ihres Abstands zu denselbigen in je vierOrbits gegliedert. Als Abstand verstehen sich die zunachst linearen Vokal-Formantenfrequenzwerte, die entsprechend ihrer pitch-Werte auf die mel-Skalakonvertiert wurden, was eine Stimulikreation mit perzeptuell unterscheidba-ren uniformen “Entfernungs-SSchritten vom Prototypen bzw. Nonprototypenermoglichte. Die Stimulisynthese mittels Klatts cascade parallel speech synthe-sizer [49] erfolgte uber die systematische Anderung des ersten und zweiten For-manten des Prototypen bzw. Nonprototypen um ein Ausmaß entsprechend desVarianten-Orbits. Daraus ergaben sich 8 Vokal-Varianten pro Orbit um die 2Referenzstimuli herum, also insgesamt 32 Stimulusvarianten.

Die Ergebnisauswertung der Gutebewertungen erfolgte uber ein 2-Wege-Analyse-System der Varianz (ANOVA), wobei der Effekt der Kondition Pro-totyp vs. Nichtprototyp und der Distanz-Effekt der Orbits gemessen wurde. DieGutewertungen waren fur die Vokal-Varianten um den Prototypen signifikanthoher als die um den Nonprototypen. Das heißt, die Wertungen der Stimulider frequenztechnisch zum Prototypen naheren Orbits tendierten auch dazu,die hoheren zu sein. Stimuli der Orbits um den Nonprototypen mit ihren deut-lich niedrigeren Bewertungen zeigten nur bei ihrer Annaherung an den von denPrototypen-Orbits okkupierten Vokalraum einen Werteanstieg. Der Prototypselbst erhielt von den Probanden durchschnittlich einen Gutewert von 6.7; derNonprototyp erhielt die Bewertung 2.0. So war der Haupteffekt der Konditi-on hochsignifikant. Der Abstandseffekt war fur die Stimuli um den Prototypenverglichen mit dem Nonprototypen viel symmetrischer – was einen Kondition-Distanz-Interaktionseffekt verdeutlicht — er war jedoch fur beide Falle einzelnauch hochsignifikant.

Die erwachsenen Sprecher des Englischen lieferten variierende Guteratingsfur die Vokalstimuli, die konsistent uber die Horer hinweg indizierten, daßdie /i/-Stimuli nicht als qualitativ gleichwertig wahrgenommen werden, son-dern daß es im Vokalraum eine bestimmte Region mit “besten” Exemplareneiner Kategorie gibt — mit gleichmaßigem und symmetrischem Sinken derStimulus-Gutewertungen fur die Exemplare um diese besten Instanzen her-um. Die Erwachsenen-Gute-Bemessungen der Stimuli wurde als Referenz furdie Klarung der Funktion von Sprachprototypen bei Erwachsenen, Kindern undAffen in den Experimenten 2 bis 4 verwendet.

In Experiment 2 wurde unter der Voraussetzung einer im vorangegangen Ex-periment etablierten internen Vokalkategorie-Struktur (die sich manifestiert invon Horern konsistent als reprasentativer oder weniger reprasentativer gewerte-ten Exemplaren mit entsprechend korrelierender Anordnung im Vokalraum) dieHypothese erforscht, ob die Typikalitat des Referentenexemplars die Perzeptionder anderen Kategorieexemplare beeinflußt. Das bedeutet, ein besonders re-prasentativer Prototyp sollte als ahnlicher zu samtlichen Kategoriemitgliedernwahrgenommen werden als ein beliebiger Nonprototyp und produziert einenbreiteren Generalisierungsgradienten, wenn er im Vergleich mit anderen Kate-gorieexemplaren als Referent auftritt.

Es wurden wieder 8 Erwachsene pro Kondition als Probanden genommen;diese hatten jedoch nicht an Experiment 1 teilgenommen, verfugten aber uber

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ein phonetisches Training. Der o. g. Prototyp von /i/ wurde als Referenzstimulusund die 32 umgebenden Vokalvarianten als Vergleichsstimuli fur die Diskrimi-nierungsaufgabe verwendet — und analog die Situation fur die Nonprototypen-Kondition. Die Probanden sollten mit einem Knopfdruck reagieren, wenn derReferentensprachlaut kam; er wurde zufallig von Vergleichssprachlauten abge-wechselt.

Es gab zwei Arten von Versuchsanordnungen: Zunachst Testversuche, in de-nen der Referenzvokal in einen Vergleichsvokal geandert wurde, wobei als Ant-wortarten hits (Treffer) oder misses (verfehlte Antworten) vermerkt wurden.Nur die Treffer wurden visuell bestarkt. Desweiteren liefen Kontrollversuche, indenen der Referenzvokal nicht verandert wurde und als Antwortarten correctrejections (korrekte Zuruckweisungen beim korrekten Ausbleiben von Antwort-reaktionen) oder false positives (falsche Antwortreaktionen) gezahlt wurden. DerUnterscheidungstest zwischen Referenzvokal und Vergleichsvokalen lief mit je 64Test- und Kontrollversuchen. Den Probanden war bekannt, daß alle Stimuli zurgleichen Kategorie gehorten und Aufgabe war es fur sie, auf Stimulusanderun-gen zu antworten. Vorangestellt wurde die Hypothese, daß es in der Prototyp-Kondition, d. h., mit prototypischem /i/-Referenzvokal weniger Unterschiedezwischen den neuen Vergleichsvokalvarianten und dem Prototypen geben sollteals bei der Nonprototypen-Bedingung, was infolgedessen die Diskriminierungbeim Prototypenreferenten schwieriger machen sollte als im anderen Fall.

Als Bewertungsmaße fur die zwei Bedingungen wurden die overall percentcorrect scores, d. h., der durchschnittliche prozentuale Stand der korrektenZahler, verwendet, der die Diskriminierungsschwierigkeit zwischen innerkate-gorialen Vokalvarianten und Referenzvokalen wiedergibt. Die miss-Antwortengaben Aussage uber die Fahigkeit der Probanden, Anderungen des Referenten-vokals zu erkennen, da ein Antwortausbleiben bedeutete, daß der Referenzvokalund der Vergleichsvokal als ahnlich empfunden wurden. Solche Falle wurden alsGeneralisierungsantworten gewertet, die der Generalisierungszahlers beschrieb.

Die Resultate konnten die Hypothese vom Typikalitatseinfluß auf die Wahr-nehmung intrakategorialer Vokalunterschiede nur bestatigen. So lag die akku-rate Erkennung von Vokalunterschieden bei einem overall percent correct scorevon uber 75% fur beide Konditionen. Die Diskriminierungsperformanz variier-te abhangig von der Typikalitat des Referenzexemplars, so daß Exemplare mithoherer Kategorie-Gute zu niedrigeren overall percent correct scores fuhrten. DieGeneralisierungszahlerstande waren fur die Prototypenbedingung tatsachlich si-gnifikant hoher. Somit wurde interpretiert, daß der Prototyp als ahnlicher zu sei-nen umgebenden Varianten wahrgenommen wurde als der Nonprototyp. Kuhlstatuierte, daß diese Ergebnisse fur das Vorhandensein einer internen Strukturbei sprachlichen Lautkategorien sprachen. Das 2-Wege-ANOVA-System erhieltwieder eine hohe Signifikanz fur die beiden Bedingungseffekte und fur den Di-stanzeffekt, sowie fur die Interaktion beider Effekttypen. Die Generalisierungsank fur beide Bedingungen, sobald sich der Vergleichsstimulus frequentiell vomReferentenvokal entfernten; d. h., entferntere bzw. unahnlichere Stimuli seienauch besser unterscheidbar, so Kuhl.

In diesem zweiten Experiment sollte die interne Kategoriestruktur uber die

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Diskriminierbarkeit zwischen Kategoriemitgliedern gezeigt werden, wobei es umdie Unterscheidbarkeit zwischen einem Referenzvokal und den Vergleichsvokalenin Abhangigkeit von der zuvor evaluierten Gute des ersteren ging. Kuhl vermu-tete, daß sich zwei qualitativ beliebige Referenten ohne das Vorhandensein einerinternen Kategoriestruktur bei Generalisierungstests ahnlich verhalten mußten,da die psychophysische Distanz gleichgesetzt wurde. Es wurde an dieser Stellehypothetisiert, daß ein besonders “gutes” Referenzexemplar (als zentraler Sti-mulus bzw. Prototyp) als ahnlicher zu mehr Exemplaren wahrgenommen werdenmusse als ein anderer. Dieser Typikalitatseinfluß des Referenten konnte belegtwerden, da bei jeder Distanz vom Referenten eine großere Generalisierung zuden Stimuli um den Prototypen festzustellen war. Somit konnte laut Kuhl auchdie interne Strukturierung nachgewiesen werden, da offensichtlich eine graduelleEinstufung von phonetischen Kategoriemitgliedern bezuglich ihrer kategorialenReprasentativheit bzw. Typikalitat ermittelbar war und die “besten” Exemplarein der Wahrnehmung eine zentrale Rolle spielten.

Die perzeptuelle Abstufung einer Kategorie fand Kuhl schwieriger nachzu-weisen, ließ sich aber mit Hilfe der Ergebnisse aus dem ersten Experiment ver-deutlichen, indem Kategoriemitglieder nicht als aaquivalent, sondern als “besse-re” oder ßchwachere” Exemplare der Kategorie perzeptuell klassifiziert werdenkonnten. Diese Reprasentativitatsabstufung zeigte sich im Sinken von Gute-Einschatzungen um eine besondere Lokation im Vokalraum der Kategorie herum— und zwar in konsistenter, systematischer und symmetrischer Weise. Katego-rien seien also perzeptuell mit einem Verweis auf den Gute-Aspekt organisiert,fand Kuhl. Die Schwierigkeit der Verifikation einer funktionalen Abstufung alsstrukturellen Organisationsaspekt ließ sich durch die Ergebnisse des zweitenExperimentes etwas klaren. Uber einen Unterscheidbarkeitsvergleich zwischenbzgl. der Gutebewertung verschiedenen Referenzstimuli mit allen anderen Ka-tegoriestimuli konnte ermittelt werden, daß Mitglieder von Sprachkategoriennicht aquivalent funktionieren. Der reprasentativere Prototyp wurde als ahnli-cher zu den anderen Mitgliedern befunden als ein Nonprototyp, was Kuhl alsVerweis auf die besondere funktionale Rolle des Prototypen bei der Perzeptionund Organisation von Kategorien sieht.

Daraus entwickelte Kuhl die zentrale Arbeitshypothese ihrer Studie, namlichdaß ein Prototyp wie ein perzeptueller Magnetfunktioniert: Er assimiliere um-gebende Kategoriemitglieder in großerem Maß als durch die reale psychophy-sikalische Distanz erwartbar ware. Das resultiere in einer effektiven Senkungdes (Ahnlichkeits-) Abstandes zwischen dem Prototypen und den ihn umgeben-den Exemplaren relativ zu einem beliebigen Nonprototypen, was eine scheinba-re Krummung des perzeptuellen Raumes um den Prototypen herum bedeute.Kuhl vermutet, daß es die Funktion des Magneten sein konne, eine Starkungdes Kategoriezusammenhalts zu bewirken. Mit dieser neuen Hypothese erge-ben sich die unmittelbaren Fragestellungen nach der Ursache und Herkunftdes perzeptuellen Magnet-Effekts, welche Kuhl zufolge darin liegen konnten,daß Sprachprototypen moglicherweise von bestimmten angeborenen Sprachme-chanismen spezifiziert seien oder als inharenter Effekt der zugrundeliegendenauditiven Stimulusverarbeitung gesehen werden konne; desweiteren stellt sich

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die Frage nach dem Vorhandensein des Effekts schon bei Kindern oder gar beinichtmenschlichen Spezies wie Affen.

Im dritten Experiment sollten die Diskriminierungstests des zweiten Er-wachsenen-Experiments bei den 6-7 Monate alten Kindern repliziert werden. Esgab je eine Gruppe von 16 Kindern, die den Prototypen und eine, die den Non-prototypen als Referenzstimulus erhielten. Alle Stimuli waren fur beide Gruppendie gleichen wie in den obigen Experimenten, es gab ebenfalls wieder zwei Ver-suchsarten (Test und Kontrolle) und die Untersuchungsmethode unterschied sichnur in dem Punkt, daß eine Kopf-Wende-Antwort anstelle eines Knopfdruckesals Antwortreaktion verwendet wurde.

Es sollte vergleichend zum Erwachsenenexperiment die Fragestellung geklartwerden, ob auch die Kinder der “Prototypen-Gruppe” eine großere Generalisie-rung zeigen als die der “Nonprototypen-Gruppe”. Als alternative Hypothesestatuierte Kuhl, daß die Kinder unbeeinflußt von der Typikalitat des Referen-ten seien (also kein Effekt der Prototypen- vs. Nonprototypen-Bedingung) undnur den Distanz-Effekt mit gleicher Generalisierung bzgl. der Varianten um diebeiden Referenzvokale zeigen.

Das Experimentvorgehen beinhaltete zunachst eine Konditionierung derKinder, daß sie eine Kopfwende-Antwort in Richtung eines visuellen Bestarkers(ein sich bewegendes Spielzeugtier mit Lichteffekt) produzierten, wenn ein sichwiederholender Sprachlaut sich veranderte.

In den Testversuchen wurde der Referenzvokal in einen Vergleichsvokalgeandert; in den Kontrollversuchen wurde der Referenzvokal nie geandert. DieAntworten fur die Wahrscheinlichkeitsberechnung einer false positive -Antwortund die drei weiteren moglichen Antwortarten (wie bei den Erwachsenen) wur-den gezahlt. Nur Treffer wurden visuell bestarkt. Die Testphasen waren zwei-stufige Trainingsphasen, die aus der Konditionierung und der Diskriminierungbestanden. Wahrend der Konditionierung liefen drei Testversuche, in denen derReferenzvokal in einen Vergleichsvokal aus den vier Orbits geandert wurde. DieKopfwende-Antworten sollten innerhalb eines 4.5 s Beobachtungsintervalls er-folgen.

In der Diskriminierungsphase, die nach der kritischen Performanz von dreierfolgreichen Testversuchen startete, wurden die Test- und Kontrollversuche mitgleicher Wahrscheinlichkeit laufengelassen. Die Vergleichsstimuli umfaßten dieacht Stimuli aus dem vierten Orbit; eine Bestarkung erfolgte nur bei korrekterAntwort in den Testversuchen innerhalb des o. g. Beobachtungsintervalls undnicht in den Kontrollversuchen. Sieben aufeinanderfolgende korrekte Antwortenmußten geliefert werden, andernfalls wurde das Probandenkind vom Experimentausgeschlossen.

Wahrend des eigentlichen Generalisierungstests wurden alle Kinder mit denkompletten 32 den jeweiligen Referenten umgebenden Vokalvarianten, die dieVergleichsstimuli darstellten, getestet. Jeder Vergleichsstimulus wurde in zweiverschiedenen Versuchen verwendet, wobei insgesamt wie bei den Erwachsenen128 Test- und Kontrollversuche in zufalliger Anordnung mit 30-40 Versuchen proTag innerhalb von 30 Minuten durchgefuhrt wurden. Wie bei den Erwachsenenwurde eine overall percent correct-Messung durchgefuhrt, die die gemeinsame

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Diskriminierungsgenauigkeit von Test- und Kontrollversuchen bestimmte; des-weiteren eine Messung der Stimulusgeneralisierung, die den Durchschnittspro-zentsatz der Testversuche angab, in denen Referent und Vergleichsvariante alsgleich wahrgenommen wurden.

Aus den Trainingsphasendaten ging hervor, daß die durchschnittliche An-zahl an benotigten Versuchen wahrend der Konditionierungs- und Diskrimi-nierungsphase sich nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen unterschied.Der Generalisierungstest ergab, daß die overall percent correct scores beiderGruppen signifikant uber dem Zufall lagen und sich in der Diskriminierungs-perfomanz signifikant unterschieden: Die Nonprototypen-Gruppe diskriminiertereferentenumgebende Varianten deutlich genauer, was die Ergebnisse aus demErwachsenenexperiment replizierte. Bei den Generalisierungszahlerstanden lie-ferte die Prototypen-Gruppe bei jeder orbitalen Distanz hohere Werte als dieNonprototypen-Gruppe. Wieder wurden die Haupteffekte der beiden Kondi-tionen und der Distanz mit dem 2-Wege ANOVA bestimmt und wie bei denErwachsenen fur die Gruppe der Prototypen-Kondition signifikant hohere Ge-neralisierungszahlerstande erhalten. Der Distanz-Effekt vom Referenzvokal wur-de als hochsignifikant eingestuft und war fur jede einzelne Gruppe signifikantebenso wie die Interaktion der Haupteffekte.

Alle Stimuli wurden auf einem gemeinsamen Vektor analysiert: Beide Kin-dergruppen wurden auf einer Teilmenge identischer Stimuli getestet mit demeinzigen Unterschied, daß in der einen Gruppe der Referent der Prototyp war,in der anderen der Nonprototyp. Somit anderte sich nur die Richtung der Stimu-lusanderung — die Stimuli selbst blieben gleich. Fur diesen Versuch wurde einepolynominale Trendanalyse der Interaktion zwischen Gruppenkondition und Di-stanz vollzogen. Hieraus resultierten signifikant unterschiedliche Antwortprofilefur die Gruppen mit quadratischem Trend: Beim Unterschiedhoren der Kinderder P-Gruppe wurde eine Bewegung auf dem Vektor weiter weg vom Prototy-pen deutlich. Das indiziert eine direktionale Asymmetrie in der Wahrnehmungintrakategorialer Unterschiede und verweist auf den Prototypeneffekt bzw. dasFunktionieren des Prototypen als perzeptueller Magnet.

Abschließend wurden die Gutebewertungen aus dem ersten Experiment mitden Generalisierungsdaten der anderen beiden Experimente verglichen und inBeziehung gesetzt. Das heißt, es wurde beobachtet zu welchem Grad die 32einen Prototypen umgebenden Vokalvarianten diesem ahneln. Die Berechnungder Rang-Korrelationskoeffizienten zwischen den Erwachsenen-Qualitatsbewer-tungen und den Generalisierungsgraden der beiden Experimente ergab in allenFallen hochsignifikante positive Korrelationen, auch zwischen den Erwachsenen-und Kinder-Generalisierungsantworten.

Kuhls Hypothese, daß auch die sprachlichen Kategorien von Kindern eineinterne Struktur aufweisen, konnte im dritten Experiment unterstutzt werden.Wie schon bei den Erwachsenen fuhrte die Referenz auf bessere Exemplare einerSprachkategorie, also auf einen Prototypen, zu einer großeren Generalisierunguber andere Kategoriemitglieder. Kuhl folgerte daraus, daß dabei der Proto-typ selbst bei 6-Monate alten Kindern wie ein perzeptioneller Magnet zu funk-tionieren schien. Diese Ergebnismuster erweiterten die vorangegangene Studie

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von Grieser und Kuhl [28], in der die Robustheit des Effekts mit einer doppeltso großen Stimulusanzahl und unterschiedlichen Trainingsprozeduren erforschtwurde.

Die Starke des Effekts zeigte sich in Kuhls aktueller Studie bei der Analy-se der Kinderantworten auf dem gemeinsamen Vektor, wo die gleichen Test-stimuli fur beide Gruppen im gleichmaßigen Abstand (in mel) vom Proto-typen/Nonprototypen entfernt lagen: Die Generalisierung vom Prototypen inRichtung Nonprototyp erfolgte sehr schnell — in umgekehrter Richtung gabes keine Generalisierung. Das indizierte entsprechend Kuhl, daß der Prototypein starker perzeptueller Anker einer Kategorie sei, der andere Stimuli in dieRichtung seines Kategoriezentrums zieht, was entsprechend eines perzeptuellenMagneten effektiv den Abstand zwischen den Stimuli an den Außenbezirkeneiner Kategorie und dem Prototypenzentrum verkurzt.

Die Ursprunge der Effekte, die Definition eines “guten” Stimulus bzw. dieEntstehung von Prototypen im Gedachtnis von Babys seien noch zu klaren: Eskann vermutet werden, so Kuhl, daß sie inharent im menschlichen auditativ-perzeptuellen System sind. Als Alternative sieht Kuhl die Moglichkeit, daß esbestimmte Lokationen im Vokalraum gibt, die besonders geeignet fur Vokalka-tegoriezentren sind. Das konne der Fall sein, weil die zugrundeliegende audi-tive Wahrnehmung mit einer Minimierung von Stimulusdifferenzen an diesenOrten arbeitet wie vergleichsweise in der kulturunabhangigen Farbwahrneh-mung: Die Forschungsergebnisse hierbei ergeben Antworten von Erwachsenenund Kindern auf bestimmte Farbungen als “fokale” Wellenlangen fur die Basis-Farbkategorien.

Die Hypothese, ob der perzeptuelle Magnet-Effekt den inharenten auditivenFahigkeiten attributierbar sei, beabsichtigte Kuhl uber die Effektbestimmung aneinem nichtmenschlichen Primaten zu ermessen, dessen auditive Fahigkeiten zudenen des Menschen vergleichbar sind. So sollte der perzeptuelle Magnet-Effektin einem vierten Experiment bei den Rheseusaffen getestet werden. In Kuhlsvorausgegangenen Studien war der Effekt der kategorialen Wahrnehmung beiAffen bereits replizierbar ([52]) gewesen. Die Ergebnisse demonstrierten, daßKlang- und Sprachdiskontinuitaten und deren Grenzen nicht einzigartig fur denMenschen sind. Diese Ergebnisse lieferten jedoch keine Aussage uber die interneOrganisation einer Kategorie und die Definition ihres “Zentrums”.

Ziel des vierten Experimentes war es, die Sprachperzeptionstests aus denExperimenten mit menschlichen Probanden mit mannlichen 1-3 Jahre altenRhesusaffen zu replizieren. Die Experimentieranordnung war ahnlich den voran-gegangenen Experimenten mit gleichen Stimuli, ahnlicher computergesteuerterMethode (Lautfreigabe uber einen Kopfhorer im Affenohr), nur geringer Ant-wortanderung in Form eines keylifts und als Bestarker bei richtigen Antwortre-aktionen einem automatischen Futterer.

Die Experimentprozedur erfolgte wie bei den Kindern uber Test- und Kon-trollversuche mit der Prasentation von je vier gleichen Stimuli pro Versuch (istder Beobachtungsrahmen); da die Affen aber uber einen langeren Zeitraumhinweg testbar waren, wurden sowohl die Prototypen- als auch die Nonpro-totypenbedingung bei jedem Tier innerhalb einer Stunde pro Tag getestet. In

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der Testprozedur orientierte man sich an dem vorausgegangenen Sprachstimuli-Perzeptionsexperiment von Kuhl und Padden [56]: Der Affe initiierte selbst desStart eines Testversuches, indem er einen Telegraphenschlussel druckte, was zurStimulusprasentation fuhrte. Er antwortete, indem er den Schlussel wieder frei-gab, sobald ein Lautwechsel erfolgte.

Es gab wiederum vier Antwortarten, wobei ein hit und ein correct rejectiondurch Futtererhalt bestarkt wurden. Bei einem miss und einem false positiveerfolgte keine Belohnung; außerdem wurde eine 7-Sekunden-Pause eingelegt,falls der Affe zudem den Schlussel schon wahrend der ersten beiden Stimuli ei-nes Versuchs losließ, was als early response, verfruhte Antwort gewertet wurde.Auch in diesem Experiment gab es eine Trainingsphase mit einer Konditionie-rung bis der Affe es gelernt hatte, den Antwortschlussel erst dann loszulassen,wenn ein Lautwechsel vorkam. Die Diskriminierungsphase dauerte solange an,bis ein Affe einen Zahlerstand von uber 75% korrekter Antworten innerhalb vondrei aufeinanderfolgenden Testsitzungen erreichte. Schließlich folgte wieder dieGeneralisierungsphase mit zwei mal 32 Referenzvokalvarianten (je eine fur denPrototypen und eine fur den Nonprototypen) in den Test- und Kontrollversu-chen.

Als Ergebnisse lagen bei jeder der beiden Bedingungen die overall percentscores signifikant uber der Zufallsmarke (50%). Aber es gab im Gegensatz zuden Ergebnissen beim Menschen keinen Unterschied in der Performanz zwischenden Prototypen und Nonprototypen-Referenzvokalen; die korrekten Ergebnisselagen bei beiden gleich bei ca. 70%. Auch die Generalisierungszahlerstande un-terschieden sich von denen vom Menschen: Der Distanzeffekt war zwar auchhochsignifikant, so daß die Generalisierung mit zunehmender Entfernung derStimuli vom Referenzvokal von Orbit 1 nach Orbit 4 sank, aber es gab hierangekoppelt und ausschließlich bei den Affen einen Effekt der Richtung der For-mantenfrequenzanderung. Die Stimuli bildeten acht Vektoren vom Referentenausgehend in die verschiedenen Richtungen entsprechend der Frequenzanderungder ersten beiden Formanten. Die Erwachsenen und Kinder zeigten einen hohenGrad an Symmetrie bzgl. der Frequenzanderungen entlang der Vektoren, wasdie Gute-Einschatzungen parallelisierte. Bei den Affen war das nicht so, dennsie hatten mehr Schwierigkeiten, sinkende Formantenfrequenzanderungen derStimuli zu erkennen als steigende. Das machte die Unterschiede im Generalisie-rungsgrad uber den Vektor bei ihnen aus.

In der Analyse der Ergebnisse mit einem 4-Wege ANOVA-System wurdendie Effekte der Reihenfolge (welche der beiden Konditionen bei einem Affenzuerst ausgetestet wurde), der Kondition (Prototyp vs. Nonprototyp als Refe-rent), der Distanz (die Entfernungsweite der Orbits 1-4 von den Referenten) unddes Vektors (Richtungen 1-8 der Formantenfrequenzanderung der Vergleichssti-muli) bestimmt. Der Reihenfolgeeffekt und seine Interaktion mit den anderenEffekten war nicht signifikant, d. h., die Performanz der Affen war davon nichtbetroffen. Eine Interaktion zwischen Bedingung und Distanz war in keiner Wei-se fur die Affen signifikant — fur die Menschen allerdings schon. Ausschließlichbei den Affen war hingegen die Distanz plus Vektor -Interaktion hochsignifi-kant: Der Affen Generalisierungszahler sank erwartungsgemaß mit zunehmen-

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Abbildung 10: aus Kuhl [53], S. 98, Abb. 4.Der durchschnittliche prozentuale Stand der korrekten Zahler (overall percentcorrect scores) — erreicht von: Erwachsenen (Experiment 2), Kindern (Expe-riment 3) und Affen (Experiment 4) jeweils in der prototypen (P) und nicht-prototypen (NP) Experimentbedingung. Bei den Erwachsenen und den Kin-dern (nicht jedoch bei Affen) gibt es einen signifikanten Unterschied in denZahlerstanden der beiden Bedingungen, wobei die korrekten Zahlerstande hoherfur die NP-Bedingung sind.

der Distanz, war aber asymmetrisch uber die Vektoren hinweg. Somit war auchdie Verktor-Konditions-Interaktion signifikant, da die Affen in der Prototypen-kondition mehr in Richtung eines bestimmten Vektorenbereichs (Vektoren 5-7)generalisierten und bei der Nonprototypenkondition mehr in Richtung andererVektoren (4-6).

Der Affen-Sprachlautwahrnehmung schien unbeeinflußt zu sein von der vonMenschen etablierten Kategoriegute, so daß sich kein Sprachprototypeneffekt furAffen beobachten ließ. Die Generalisierung um den Prototypen und den Nonpro-totypen war fur beide gleichwertig, aber eher abhangig von der psychophysischenDistanz zwischen Referenzvokal und Vokalvariante, sowie der Richtung der For-mantenfrequenzanderung (Vektoren-Effekt), welche fur den Menschen einflußloswar. Die Effekte zeigten laut Kuhl zwar ein “Mitgehen” der Affen, aber auch,daß die Typikalitat von Sprachlauten fur sie bedeutungslos war. Die Affen wur-den zwar im Gegensatz zu den Menschen jeder fur beide Konditionen getestet,aber statistische Tests zeigten, daß die Reihenfolge der Konditionentests kei-nen Einfluß hatte, so daß dieser Prozedurunterschied nicht von Belang fur dieErgebnisunterschiede sein konnte.

Aus Abbildung 10 gehen zusammenfassend die Ergebnisse der drei Pro-bandengruppen (Erwachsene, Kinder, Rhesusaffen) anhand der overall percentcorrect scores hervor und werden vergleichbar und jeweils mit Bezug auf diePrototypen- versus Nonprototypen-Bedingung dargestellt.

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Kuhl resumiert, daß das Fehlen des Typikalitatseffekts bei den Tieren nahelege, daß deren grundlegende auditive Prozesse, die als inharent fur die auditiv-perzeptuelle Verarbeitung angenommen wurden, bei ihnen nicht dem perzep-tuellen Magnet-Effekt unterliegen, der fur den Menschen eine deutliche Rollespielt. Das weist Kuhl als interessant aus, vor allem im Zusammenhang mitden vorausgegangenen Experimenten mit Kindern und jungen Tieren, worinGemeinsamkeiten in der Sprachperzeption bzgl. der kategorialen Wahrnehmungfestgestellt wurden. Mit der Untersuchung des perzeptuellen Magnet-Effekts lie-ße sich nun entsprechend Kuhl ein Trennungspunkt in der Lautwahrnehmungzwischen Kindern und Tieren etablieren.

In ihrer generellen Diskussion im Artikel erklart Kuhl abschließend, daß dieErgebnisse der Studie eine interne Strukturierung phonetischer Kategorien beimenschlichen Erwachsenen und Kindern suggerieren, nicht aber bei Tieren.

Aus Experiment eins konnte Kuhl ableiten, daß eine subjektive Einschatzungder kategorialen Adaquatheit bzw. Qualitat von Sprachstimuli moglich ist. Be-sonders reprasentative Kategorieexemplare ließen sich einheitlich und symme-trisch um eine bestimmte Lokation im Vokalraum fur den /i/-Vokal konsistentuber alle Horer hinweg bestimmen. Ein konkreter perzeptueller Effekt der Stimu-lusgute war nicht enthullbar — nur, daß diese sich graduell abstufen laßt. Kuhlnimmt an, daß die besten Exemplare (Prototypen) von sprachlichen Kategorienbei Erwachsenen mental reprasentiert werden. Das wurde dadurch indiziert, dadie Horer kein Modell zur Entscheidungsbegrundung zur Verfugung hatten aberdennoch scheinbar ein interner Gute-Standard uber die Horer hinweg vorlag.

Experiment zwei lieferte den Effekt der Stimulusgute bzw. den Stimulus-Typikalitatseinfluß auf die Perzeption von erwachsenen Horern. Bei der Auf-gabe, eine Ahnlichkeitsentscheidung zwischen Vokalvarianten einer Kategorieund den Kategoriereferenten zu treffen, ergab sich, daß samtliche Kategorie-mitglieder als ahnlich zu einem Prototypenreferenten empfunden wurden. Kuhlvermutet daraus, daß der Prototyp eine Assimilation naher Nachbarstimuli be-wirke, was zu einer scheinbaren Verkurzung der perzeptuellen Distanz zwischendenselbigen fuhre. Bei einem Nonprototypen-Referenten konnte dieses Verhal-ten nicht festgestellt werden. Das legte fur Kuhl die Schlußfolgerung nahe, daßeine interne Struktur von Sprachkategorien existiert, deren Organisation vonder kategorialen Gute bzw. Typikalitat abhangt und fur die die besondere Rolleeines Prototypen als perzeptueller Magnet charakteristisch ist.

Kuhl gibt an, daß das Phanomen des perzeptuellen Magnet-Effekts von wei-terfuhrendem Interesse auch fur andere Studienbereiche sei. So werde in derForschung der Perzeption von fremdsprachlichen Lauten berichtet, daß ahnli-che aber nicht identische Fremdsprachenlaute an einen Muttersprachenlaut per-zeptuell assimiliert werden. Kuhl schatzt ein, daß somit ein muttersprachlicherPrototypenlaut auch als perzeptueller Magnet gesehen werden konne, der sichwahrend der Entwicklung des Kindes etabliere und bewirke, daß Kinder ab ei-nem Alter von ungefahr 10-12 Monaten ihre vormalige Unterscheidungsfahigkeitfremdsprachlicher Laute nicht mehr realisieren konnen.

Weitere Erkenntnisse uber die funktionalen Eigenschaften von Prototypen inVerbindung mit Ergebnissen anderer kognitiver Wissenschaften wurden bereits

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erzielt. So ergaben Experimente uber die semantische Struktur induktiver Ent-scheidungen uber Kategoriemitglieder, daß die Typikalitat der Mitglieder starkvon der subjektiven Entscheidung beeinflußt wird (Rips [87]). Dabei erhohtdie großere Reprasentativitat einer Instanz, der eine Eigenschaft zugeschriebenwird, den Generalisierungseffekt auf andere Instanzen einer Kategorie oder Men-ge (das weist auf die vermutete Wahrscheinlichkeit hin, daß die anderen Mit-glieder jene Eigenschaft auch besitzen). Damit korrespondierende Ergebnissewurden auch aus dem Bereich der sozialen Kognition erhalten. Aus einer Studievon Mervis und Pani [65] mit lexikalischen Kategorien bei Erwachsenen undKindern ging hervor, daß eine angepaßte Generalisierung anderer Kategoriemit-glieder stattfinde, wenn ein initial wahrgenommenes Exemplar besonders “gut”war — bei einem ßchwachen” geschieht dies nicht. Themenverschiedene Studienaus den Bereichen soziale Kognition, lexikalische Kategorien und inductive rea-soning indizierten, daß die Funktion der Reprasentativheit bzw. Typikalitat einestarkere Generalisierung bedeute. Prototypen zeigten dabei (relativ zu Nonpro-totypen) eine gesteigerte Generalisierung uber andere Kategoriemitglieder, wasden perzeptuellen Magnet-Effekt wiederum reflektiere.

Kuhl vermutet, daß sprachliche Prototypen und die anderer Domanenescheinbar ahnlich funktionieren und motiviert, daß gezielte Untersuchungen vonSprach-Prototypen eine Beispielmenge liefern konnten, die allgemeinere Theo-rien uber Prototypen und deren Funktion in der Kognition erklaren wurden.

Im dritten Experiment wurde der Einfluß der Typikalitat und des perzeptuel-len Magnet-Effekts von Referenzstimuli auf die Perzeption der Sprachkategorienbei Kindern untersucht. Dabei wurde eine signifikant breitere Generalisierungbei prototypischen Referenzstimuli festgestellt, die mit den Gute-Bewertungender Erwachsenen korrelierte. Es wurden in dem Experiment mit Kindern sehrahnliche Antworten zu den Erwachsenen-Antworten mit dem gleichem idealen/i/-Referenten erhalten, was entsprechend Kuhl nahe lege, daß die Perzeptioneines Vokals bei 6-Monate alten Kindern gleichartig zu der von Erwachsenen sei.In der Analyse der Perzeptionsdaten von Stimuli auf dem gemeinsamen Vektorder Formantenfrequenzen zeigte sich im Vergleich der Gruppen, die den Pro-totypen bzw. den Nonprototypen als Referenten hatten, daß eine direktionaleAsymmetrie vorlag, zwischen dem Prototypen und dem Nonprototypen zu ge-neralisieren: Der “gute” Referenzvokal assimilierte die zwischen ihnen liegendenVokalvarianten starker als der ßchwache”.

Bei der Frage nach dem Ursprung von Vokalprototypen schon bei 6-Monatealten Kindern nimmt Kuhl zwei Moglichkeiten an: (I.) Die Prototypen gehorenzu einer angeborenen Ausstattung mit grundlegenden Mechanismen der auditi-ven Verarbeitung, welche Vokalprototypen fur bestimmte (“quantale”) Vokaledefinieren oder fur alle moglichen Vokale der Welt. Das mußte in Experimentennachgewiesen werden, wo Kinder den Prototypen-Effekt fur nie gehorte Vokaledemonstrierten. (II.) Die Horerfahrungen einer speziellen Sprache konnten dieOrganisation der Sprachkategorien mit Prototypen initiiert haben.

Linguistische Erfahrungen wurden bereits bei 12 Monate alten Kindern nach-gewiesen. Die Spracherfahrungshypothese wurde bereits durch Forscher aus Se-attle (USA) und Schweden in einem cross-language-Experiment bzgl. des per-

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zeptuellen Magnet-Effekts bei Kindern verfolgt mit der Hypothese, daß er nurfur die Muttersprachenvokale vorkommen sollte. In jener Untersuchung wirdsuggeriert, daß der perzeptuelle Magnet-Effekt durch linguistische Erfahrungenbeeintrachtigt wird, was die Hypothese von linguistischen Mutterspracherfah-rungen im Alter von 6 Monaten stutzt und zeigt, daß schon entsprechende Vo-kalreprasentationen im Gedachtnis vorhanden seien.

Kuhls viertes Experiment untersuchte die Unterschiede in der Strukturie-rung phonetischer Kategorien bei Kleinkindern und Affen. Die aktuellen Ex-perimente thematisierten die interne Struktur und psychologische Organisationvon Sprachkategorien, wahrend altere Studien eher auf die Grenzen von Sprach-kategorien fokusierten. Hier wurde nun von Kuhl suggeriert, daß die Grenzenvon Sprachkontinua inharent in der zugrundeliegenden auditiven Verarbeitungseien, aber die Organisationszentren sprachlicher Kategorien eine Verarbeitungauf hoherem Niveau erfordere. Das Isolieren der Unterscheidungslevels erklaredie evolutionare Grundung und spezielle Qualitat des Sprachsystems. Die Unter-suchung von Sprachprototypen bestimme den initialen Status des Sprachcodesund wie das Sprach-Ausgesetztsein zu den spezienspezifischen sprachlichen Re-prasentationen im Gedachtnis von erwachsenen menschlichen Sprechern fuhre.

3.6 Francisco Lacerda: The perceptual-magnet effect: Anemergent consequence of exemplar-based phoneticmemory

Francisco Lacerdas Intention seiner Arbeit [57] ist der Nachweis der Annahmenund Konsequenzen von Kuhls native language magnet theory [54] (im folgen-den NLM ), d. h., Kuhls Magnet-Effekt-Theorie, indem er ein mathematischesModell auf Sprachwahrnehmungsdaten von Kindern anwendet. Im Gegensatzzu Kuhl, wo der perzeptuelle Magnet-Effekt unmittelbar uber die Referenz aufPrototypen verankert ist, behauptet Lacerda, daß der Effekt lediglich aus dermetrischen Ahnlichkeitsoperation auf Exemplarsammlungen des Gedachtnissesbeschreibbar ist — ohne die Prototypenreferenz.

Einfuhrend bespricht Lacerda Grundlagen von Kuhls NLM und verweist aufderen kritische konzeptuelle Aspekte. Die Grundannahme von Kuhls NLM istdie Partitionierung des perzeptuellen Raumes in phonetisch relevante Katego-rien, die je von einem “besten Kategorie-Exemplar”, dem Kategorie-Prototypen,reprasentiert werden. Demnach funktionieren Prototypen als Referenzen furKlassen von Sprachsounds. Beim Perzeptionsprozeß komme es daher zum Ver-gleich von Instanzen von beispielsweise Vokalsounds gegen ein fokales prototy-pisches Exemplar.

Der Unterschied von Kuhls Prototypenansatz im Vergleich zum traditio-nellen Klassifikationsprozeß via Prototypen ist die Hinzunahme des folgendennichtlinearen Effekts: Die Funktion von Prototypen als perzeptueller Magnetfuhrt zur Anziehungsausubung auf einen eigenen spezifischen Einflußbereich,d. h., auf Stimuli, die auditive Reprasentationen in der Nachbarschaft des Pro-totypen produzieren. Eine Folge davon ist, daß die Diskriminierbarkeit (als ei-

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ne Funktion der psachoakustischen Distanz) zwischen Prototypen und Nach-barexemplaren nachweislich reduziert ist und wieder ansteigt, sowie sich dieExemplare perzeptuell vom Prototypen entfernen. Somit scheinen die proto-typenumgebenden Lautvarianten mit ihren Reprasentationen dem Prototypenperzeptuell ahnlicher zu sein als allen weiteren Exemplaren (per se aufgrundauditiver Distanz) und der perzeptuelle Raum erscheint hier gekrummt oder ge-bogen — im Gegensatz zum perzeptuellen Nachbarraum eines Nichtprototypen,wo die Diskrimierbarkeit proportional zur psychoakustischen Distanz ansteigt.Nichtprototypische Laute rufen also keinen solchen nichtliearen perzeptuellenMagnet-Effekt hervor.

Lacerda sieht Kuhls NLM [54] und Prototypentheorie als einflußreich fur dieForschung an Kategorie- und Diskriminationsthemen sowie fur die an Spracha-quisitionsprozessen. Bei letzteren ist ein wichtiger Aspekt, daß Prototypen beimLernen immer wieder verbessert werden, d. h., daß eine Neulokalisation dersel-bigen bei ihrer referentiellen Verwendung stattfindet musse. Allgemein strittigist die Motivation bzw. Notwendigkeit von Prototypen. Es sei Lacerda zufol-ge nicht klar, ob Kategorisierungsprozesse die Existenz echter Prototypen er-forderlich machen oder ob ein prototypenahnliches Verhalten allein aus einerExemplarsammlung heraus entsteht. In Lacerdas Artikel soll der perzeptuel-le Magnet-Effekt nur auf im Gedachtnis gespeicherten Exemplaren und einereinfachen Distanz-Metrik beruhen.

Trotz oder gerade wegen seiner Abkehr von Prototypen und Hinwendung zurAhnlichkeitsmetrik beim perzeptuellen Magnet-Effekt, beschreibt Lacerda in ei-nem Extrakapitel kritisch Sichtweisen auf Prototypen im Allgemeinen. Zunachstgeht er auf das Problem der Neuanordnung von Prototypen beim Spracherwerb-sprozeß ein. Darin, so Lacerda, musse ein Verlustmechanismus fur das Zuruck-geben nicht mehr funktioneller Prototypen enthalten sein. Der neue Prototypmusse eine großere Anziehungsmasseals alle ubrigen Lautvarianten fur seine Sta-bilitat im perzeptuellen Raum haben. Andernfalls ware das System nicht miteinem stabilen Magneten beschreibbar, gegen den “leichtere” Magneten ange-zogen werden. Bei Verminderung der Massenungleichheit ergabe sich ein Zwei-Massen-System mit einer Interaktion von zwei Elementen. Daraus erfolge dienotwendige Postulation von Kraften zur Stabilitatserhaltung bzw. Verankerungvon Magneten oder eines Prozesses zur Etablierung einer prototypenahnlichenStruktur im perzeptuellen Raum.

Weitere Theorien des Prototypenansatzes mit spezifischen festen Vokal-Prototypen-Lokationen werden bei Lacerda angesprochen. So gibt es Sprach-theorien mit akustisch-artikulatorischen Argumenten fur a priori -Lokationenvon Vokalprototypen — Lacerda jedoch befindet akustisch-artikulatorische Be-schrankunken fur Prototypen als fraglich. Lindblom [59] modellierte Vokalsyste-me mit einer gegebenen Anzahl an Vokalen, die mit Kuhls Prototypen uberein-stimmen und Beschrankungen bzgl. der maximalen Distanz zwischen Vokalenund artikulatorischer Machbarkeit aufweisen. Lacerda außert hierzu, daß Proto-typen nicht allein uber Beschrankungen im perzeptuellen und artikulatorischenSystem bestimmbar seien und sich stattdessen die Notwendigkeit beweglicherprototypischer Entitaten fur den Spracherwerbsprozeß aufdrange. Entsprechend

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einer Studie von Kuhl und Meltzoff [55] mit 3-5 Monate alten Kindern zeigtesich bereits nach einer nur wenige Minuten langen Ausgesetztheit der Kindergegenuber den Modellreprasentationen eine Neuarrangierung ihrer Prototypen-lokationen. Diese hohe Plastizitat der Prototypen erschien unvereinbar mit derEtablierung stabiler sprachenabhangiger Prototypen, die bei 6-Monate-altenKindern festgestellt wurde. Lacerda erklarte dies mit der Vermutung, daß esmoglich ware, daß fur ein Kind nur eine begrenzte Anzahl relevanter audio-visueller Kombinationen existieren konne. Lacerda schatzt desweiteren hierzuein, daß ein Prototyp fur eine Modifikation zu jedweden Zeitpunkt des Spra-cherwerbs plastisch sein musse. Dies reduziere aber die referentielle Rolle desPrototypen. Falls Prototypen jedoch nur als Effekt externer Simulationen auf-tauchten, gabe es keinen konzeptuellen Grund, sie anstelle ihrer reinen zugrun-deliegenden Exemplare zu verwenden.

In einem Hauptkapitel fuhrt Lacerda ein exemplarbasiertes Perzeptionsmo-dell zur Prasentation seiner Argumentation ein, daß Prototypen implizit imexemplarbasierten Kategorisierungsprozeß vorhanden seien und der perzeptu-elle Magnet-Effekt direkt aus dem exemplarbasierten Kategorisierungsprozeßheraus entstehe.

Im Modell wird vereinfachend angenommen, daß die Adressierung der Klas-sifikation sowie die Diskriminierung von Lauten durch eindimensionale Elementemoglich sei. Das bedeutet, eine determinierende Hauptdimension erlaube bereitsdie Diskriminierung der Stimuli wie beispielsweise bei einer Vokaldiskriminie-rung nur anhand des Offnungsgrads, da dieser lediglich uber den ersten For-mantenwert unterscheidbar ist. Somit lassen sich Vokale, die im Frequenzraumals multidimensionale Punkte darstellbar sind mit ihren verschiedenen Dimen-sionen, durch ihre Kovariation auch als Kombination eindimensionaler Fallebehandeln. Wahrend der Ausgesetztheit allophonischer Variationen beim Spra-cherwerb produziert das menschliche Gehirn verteilte Erinnerungsreprasentatio-nen von Exemplaren fur eine Kategorie entlang einer perzeptuellen Dimensioninfolge der Stimulusvariabilitat.

Die intendierte Arbeitsweise des Modells sollte es sein, neue Stimuli mit einerAhnlichkeitsmetrik auf Labels gespeicherter Exemplare aus der direkten Nach-barschaft des neuen Stimuli zu kategorisieren. Ein neuer Stimulus erhalt darausresultierend ein Kategorielabel. Es kann dabei zu einer Kategoriegrenzenver-schiebung gegen eine andere Kategorie B kommen, wenn eine Kategorie A einegroßere Exemplaranzahl enthalt. Die Entscheidungsfahigkeit des Modells bei derKategoriezuordnung ist immer sichergestellt, indem die Kategoriedominanz ge-genuber konkurrierenden Kategorien uber eine vorbestimmte Minimumschwelleder relativen Ahnlichkeit gewahrleistet wird. Somit ist es ausgeschlossen, daßein Stimulus als “unbekannt” kategorisiert wird,

Lacerda beschreibt in seinem Artikel einige mathematische Formeln, derenFunktionen das Modell darstellen, das den Kategorisierungsprozeß von Stimu-li abbilden soll. Die Class-Funktion beschreibt die relative Frequenz der Spei-cherung von Werten im Gedachtnis unter der Annahme von Stimuli die einenormale Verteilung, eine durchschnittliche Frequenz und eine Standardabwei-chung generieren. Die Neighb-Funktion bestimmt die Anzahl der Nachbarn ei-

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ner Kategorie eines bestimmten Stimulus. Desweiteren bestimmt eine Ahnlich-keitsfunktion sinngemaß die Ahnlichkeit eines bestimmten Stimulus zu zwei ver-schiedenen Kategorien; falls eine ausreichende Ahnlichkeit des Stimulus zu einerKategorie besteht, dann kommen alle Nachbarn des Stimulus ebenfalls aus die-ser Kategorie. Eine Diskriminierungsfunktion discr ist abhangig von der lokalenAnzahl-Variation an Exemplaren aus verschiedenen Kategorien und tragt dazubei, den perzeptuellen Magnet-Effekt ohne spezifische Prototypen zu simulie-ren. Das geschieht, indem die Funktion suggeriert, daß die Diskriminierbarkeitin der Nachbarschaft eines im Zentrum der Kategoriedistribution angenomme-nen Prototypen niedriger ist, als fur Randbereichsstimuli der Kategorie einesPrototypen.

Der perzeptuelle Magnet-Effekt zeigt sich in folgender Weise als Resultatder Distanz-Metrik, die auf den perzeptuellen Raum angewendet wird, wo dieStimulusreprasentationen gespeichert sind: Zunachst wird eine Teilweise-Uber-lappung von perzeptuellen Reprasentationen zweier Exemplare aus verschiede-nen Kategorien entlang einer relevanten perzeptuellen Dimension angenommen.Bei der Zuweisung neuer Stimuli zu den Kategorien kommt es zur Generierungdes perzeptuellen Magnet-Effekts aufgrund der genannten Annahme und infol-ge der Ahnlichkeitsfunktion, welche eine Krummung des perzeptuellen Raumesbeschreibt.

Aus dieser Vorgehensweise heraus schatzt Lacerda die Existenz von Kuhlssprachspezifischen fokalen Prototypen als fur die Klassen der Sprachlaute nichtnotwendig ein. Sie seien lediglich elegante funktionale Entitaten einer hoherenEbene, die eine besondere nichtlineare Metrik verlangen. Der von ihm vorge-stellte exemplarbasierte Ansatz fur den perzeptuellen Magnet-Effekt sei zu be-vorzugen, da er einfache Erinnerungsreprasentationen und eine kohortenbasierteperzeptuelle Distanz verwende.

Im Szenarium des Spracherwerbs bzw. der Sprachverbesserung zeige sichlaut Lacerda bei Kuhls Ansatz das Problem der notwendigen Neuanordnungvon Prototypen. Aufgrund der Abhangigkeit des Aquisitionsprozesses von derSprachausgesetztheit sollte ein Relokationsprozeß innerhalb des perzeptuellenRaumes nur auf der Basis von prozeßunterliegenden Exemplaren moglich seinund ohne die Verwendung expliziter Prototypen. Die stetige Verbesserung undAnpassung von Reprasentationen der kategorialen Organisation im Gedachtniswird in Lacerdas exemplarbasierten Modell als Folge des ErinnerungszerfallsalterExemplare charakterisiert. Der Einbezug eines Verfallstermes in der Ex-emplardistribution verdeutlicht: Reprasentationen von nichtaktivierten Exem-plaren werden dadurch ausgeblendet. Die Berechnungen inclusive des Termeserfolgen analog zum zeitlosen Modell.

Patricia Kuhl zufolge ([53]) sei der perzeptuelle Magnet-Effekt fur nicht-menschliche Spezien (Affen) nicht beobachtbar. Lacerda erweitert diese Hypo-these dahingehend, daß er den gesamten exemplarbasierten Referenzrahmen alsmenschenspezifisch betrachtet. Dies vermutet er, da sein exemplarbasiertes Mo-dell impliziert, daß der perzeptuelle Magnet-Effekt direkt aus dem Labelling vonExemplaren resultiere. Er entstehe gemeinsam mit dem Memorisierungsprozeß,wobei die Effekt-Ausdehnung in Abhangigkeit von der Relation der Stimulusan-

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zahlen in den konkurrierenden Kategorien steht. Desweiteren vermutet Lacerdadurch den Einsatz seines Modells, daß der perzeptuelle Magnet-Effekt als Folgedes Labellingprozesses nur dann bei Affen beobachtbar sein konne, nachdemdie verwendeten Stimuli bedeutungsvoll fur sie gemacht wurden. Dies zeigtenbereits Studienergebnisse im Zusammenhang mit verschiedenen Ansatzen bzw.Trainingstypen bei Tieren.

Lacerda testete sein Modell auf experimentellen Daten. Er verwendete dienaturlichen Gutebewertungen von Kuhls Studie [53] fur den amerikanisch-englischen /i/-Vokal entlang des Formantenvektors zwischen dem in jener Stu-die etablierten Prototypen und dem Nonprototypen. Die Bewertungen ent-sprachen einer groben Abschatzung der frequentiellen Verteilung im perzep-tuellen Raum. Zur Ableitung der Diskriminierungsfunktion zwischen den Vek-torelementen wurde eine Variation von Kuhls Kategoriegutewertungen vorge-nommen. Die Diskriminierungssensitivitat war eine Funktion der Distanz zumPrototypen. Eine Generalisierungsfunktion (entsprechend Kuhls Generalisie-rungszahlerstanden) wurde uber die Berechnung des Integrals der Diskriminie-rungssensitivitatsfunktion und Transformation in die Generalisierungsfunktionabgeleitet.

Die Muster von Lacerdas modellierten Berechnungskurven und Kuhls Gene-ralisierungskurven ahneln einander. Diskrepanzen zwischen den Modellvoraus-sagen und den experimentellen Daten ergaben sich, weil die Gutebewertungenentsprechend der Rangskala nicht die Intervallskala-Anforderungen erfullten.Daher wurde eine angepaßte Neuberechnung der Datensatze vorgenommen, sodaß sich die Ergenisse von Kuhls Arbeit ([53]) schließlich bestatigten. Durch dieGrundung der Modellvoraussagen auf der plausibleren Intervalskala verbessertesich die generelle Ubereinstimmung zwischen vorausgesagter und experimentel-ler Diskriminierung.

Lacerda konstatiert abschließend, daß das von ihm skizzierte exemplarba-sierte Modell einen direkten Zugang zum perzeptuellen Magnet-Effekt liefereund desweiteren interessante theoretische Eigenschaften inne habe. Er regt an,daß das Modell als einheitliche Beschreibung fur andere perzeptuelle Phanomenegenutzt werden konne, die derzeit in Untersuchung seien. Einschrankend gibtLacerda an, daß fur das Modell aber noch keine bedeutungsvolle numerischeSimulation vorlage. Die Vorteile seines Modelles seien, daß bei neuen kategorie-definierenden Exemplaren eine unmittelbare Reorganisation des perzeptuellenRaumes des Horers moglich sei. Außerdem lage das Berechnungsmodell naher ander Neurophysiologie als die Operationen des Prototypen-Ansatzes, obwohl esnicht die neurophysiologische Realitat nachahmen soll. Desweiteren beschreibedie exemplarbasierte Metrik implizit die Krummung des perzeptuellen Raumesum einen Prototypen.

Lacerda faßt die Ergebnisse seiner Studie mit der Einschatzung zusammen,daß Prototypen zwar adaquate Entitaten zur Beschreibung der funktionellenMerkmale des perzeptuellen Magnet-Effekts seien, jedoch nicht zu dessen Er-klarung notwendig waren.

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3.7 Frank H. Guenther, Michelle Hampson und DaveJohnson: A theoretical investigation of reference fra-mes for the planning of speech movements

Guenther et al. thematisieren in ihrem Artikel [33] die Sprach- bzw. Phon-emproduktion, bei der traditionell von invarianten Vokaltrakt-Formzielen imsprachmotorischen Kontrollsystem des Gehirns ausgegangen wird. Sie stellendiesen Ansatz in Frage und hypothetisieren stattdessen als einzige invarian-te Ziele auditiv-perzeptuelle Ziele, die multidimensionale Regionen im auditiv-perzeptuellen Raum darstellen.

Guenther et al. geben an, die auditiv-perzeptuellen Ziele entstunden wahrenddes Spracherwerbs bei der Entwicklung der neuronalen “Landkarte” bzw. derVernetzung des neuronalen Planes im auditiven System. Die neuronale Ubert-ragung bzw. das neuronale Mapping fur die Produktion der Sprachbewegungengehe uber Trajektorien vonstatten, die im auditiv-perzeptuellen Raum geplantund dann auf die Artikulatorbewungen ubertragen werden.

Forschungsziel ist es bei Guenther et al., den Referenzrahmen fur die sprach-motorische Planung zu verstehen, wofur ein grundlegendes Verstandnis der neu-ronalen Prozesse fur Sprachproduktion und -Perzeption, deren Interaktion sowiedes Spracherwerbs notwendig ist. Guenther et al. nutzen zur Illustration des ent-sprechenden Referenzrahmens das DIVA-Modell ([30], [31]). Dieses Modell isteine neuronale Netzwerk-Architektur, die verschiedene Mappings zwischen denReferenzrahmen wahrend einzelner Phasen (ahnlich den menschlichen Lallpha-sen) erlernt. Damit kann es zufallige Phonemkombinationen produzieren, wobeies im Artikel nur um Vokale gehen soll, obwohl fur andere Sprachlaute ein ahnli-ches Verhalten angenommen wird. Anstelle einer experimentellen Untersuchungbasiert der Artikel auf einer theoretischen Problemnalyse, greift dabei aber aufeinen großen Sprachdatenbereich zuruck.

Drei zentrale Themenpukte mochten Guenther et al. in ihrer Studie untersu-chen. Zunachst sollte festgestellt werden, ob fur das sprachmotorische Kontroll-system wirklich invariante Vokaltraktformziele (im Folgenden Konstriktionszielegenannt) bei der Phonemproduktion ausgeschlossen werden konnen. Dazu alter-nativ mußte als invariantes Artikulatorbewegungsziel ein auditives in Betrachtgezogen werden, das von den Parametern des akustischen Sprachsignals defi-niert und vom auditiven System umgeformt wird. (Beim gangigen Gegenansatzwurde das Gehirn das auditive Ziel einem motorischen Ziel gleichsetzen, daseiner gewunschten Vokaltraktform als Bewegungsziel entsprache.) Zuletzt sollteder Referenzrahmen fur die Trajektorien der Artikulatorbewegungen evaluiertwerden. Dabei stand die Fragestellung, ob der Referenzrahmen auditiv-raumli-cher Natur ist wie von Guenther et al. angenommen oder eher muskular unddann enger mit den Artikulatoren und Konstriktionszielen zusammenhangend.

Das von Guenther et al. verwendete Modell unterstutzt eine Kombinationaus Planung von Bewegungstrajektorien in raumlichen Koordinaten und Map-ping auf Muskelkontraktionen, und zwar unter dem Einfluß von Neigungen, diebestimmte Konstriktionspositionen oder -Bewegungen gegenuber anderen be-vorzugen lassen, um ein konkretes Bewegungsziel zu erreichen.

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Zur Veranschaulichung ihrer Annahmen geben Guenther et al. ein vergleich-bares Beispiel aus dem motorischen Bereich: Zur Ausfuhrung einer bestimmtenHandbewegung lost das Nervensystem ein komplexes Muskelaktivierungsmu-ster aus, um ein Bewegungsziel im dreidimensionalen Raum zu erreichen. Dabeiwird eine raumliche Position bzw. ein Ziel in eine motorische Form (z. B. Mus-kellangen) ubertragen. Der kritische Punkt hierbei — auch im Zusammenhangfur den sprachmotorischen Bereich zu sehen — ist, daß es laut Guenther etal.’s Annahmen keine spezifische Zielkonfiguration des Armes fur eine gegebeneZielposition der Hand gibt, sondern daß die Armkonfiguration ein ungeplantesErgebnis eines direktionalen raumlich-zu-motorisch-Mappings sei, das den Armin die Zielrichtung steuert.

Guenther et al. geben an, daß die vorhandenen Sprachproduktionsdaten,die auf Vokalen und Semivokalen beruhen, die Hypothese unterstutzen, daßdas sprachmotorische Kontrollsystem invariante auditiv-perzeptuelle Ziele beider Phonemproduktion verwendet. (Fur Konsonanten sei die Situation aller-dings weniger klar.) In Abbildung 11 werden die von Guenther et al.’s Mo-dell produzierten Daten fur die Amerikanisch-Englischen Vokale gezeigt. DiePlanung der Bewegungstrajektorien zu den Produktionszielen erfolgte in einemauditiv-perzeptuellen Raum. Auftretende Invarianzen bei Konstriktionslokationund -Grad entstunden bei der Ubertragung von geplanten auditiv-perzeptuellenTrajektorien auf Muskelkontraktionen und seien nicht als Ergebnis von invari-anten Konstriktionszielen zu sehen. Aus der Abbildung wird deutlich, daß dieModellarbeitsweise positiv zu bewerten ist, da die Modellproduktionsdaten of-fensichtlich sehr dicht an den naturlichsprachlichen Produktionsdaten liegen.

Als ausschlaggebende Problemstellung fur die Hypothesenevaluation erken-nen Guenther et al. die Tatsache der großen artikulatorischen Variabilitat furein einziges Phonem. Ein Sprecher verwendet oft kontextabhangig zwei komplettverschiedene Formen fur ein Phonem, was dazu fuhrte, daß die linguistischenForscher fur einen Laut parallel verschiedene Klassen etablierten. Problematischwar dabei die uneinheitliche Anzahl an gefundenen Lautklassen oder Lautvari-anten unter den Forschern, die z. B. fur den /r/-Laut zwischen 3 und 8 Pho-nemklassen aufstellten. In Guenther et al.’s Artikel wird fur den amerikanisch-englischen /r/-Laut gezeigt, daß dessen Variabilitat einfacher erklarbar sei durchdie Annahme, daß der Referenzrahmen fur Sprachbewegungen auditiv ist unddaß beim Produktionsprozeß das einzige invariante Ziel auditiv und nicht kon-striktiv ist.

Die Annahmen wurden mit Hilfe des neuen DIVA -Modells (gegenuber demvon vorausgehenden Forschungen [30], [31]) determiniert, das anstelle des oro-sensorischen einen auditiven Planungsraum hat, sowie eine forward map, dieartikulatorische Konfigurationen auf auditive Charakteristiken ubertragt. DasDIVA-Modell zeigt, daß zu Beginn der Produktion aus einem invarianten /r/-Ziel (abhangig von der Vokaltraktform bzw. des phonetischen Kontextes) einebestimmte /r/ -Artikulationsvariante entsteht. In Abbildung 12 wird ein sche-matischer Uberblick uber das DIVA-Modell gegeben.

Guenther et al. stetzen ihre Annahmen und Sichtweisen die Sprachproduk-tion betreffend ausfuhrlich mit einigen anderen linuistischen Theorien in Bezie-

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Abbildung 11: aus Guenther et al. [33], S. 19, Abb. 6.Typische Werte von F1 und F2 fur die Amerikanisch-Englischen Vokale (mar-kiert durch Kreuze) und die vom Modell produzierten Werte (markiert durchDreiecke) von einer neutralen Vokaltraktkonfiguration ausgehend. Die Ellipsenumgeben die typischen Werte und Modellwerte fur jeden Vokal.

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Abbildung 12: aus Guenther et al. [33], S. 5, Abb. 1.Uberblick uber das DIVA-Modell fur Spracherwerb und -Produktion. Die gefull-ten Halbkreise indizieren erlernte neuronale mappings wahrend der Brabbelpha-sen.

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hung.Zunachst stellen sie Bezuge der hiesigen Problemstellungen zur bekann-

ten motor theory, (motorischen Theorie, z. B. [58]) der Sprachperzeption her,die besagt, daß invariante artikulatorische Gesten oder motorische Komman-dos der Sprachperzeption unterliegen. Das bedeutet, daß bei der Identifikationvon Sprachlauten das Sprachperzeptionssystem mit den gesturalen Zielen desProduktionssystems zu Rate gezogen wird. Oft wurde diese Theorie bereits an-gefochten und erschien allgemein noch fragwurdiger falls sich herausstelle, daßselbst der Sprachproduktionsprozeß keine invarianten artikulatorischen bzw. Vo-kaltrakt-konstriktionsziele verwendet, sondern stattdessen nur Ziele, die wie beiGuenther et al. suggeriert, viel direkter mit dem akustischen Signal verbundensind. Umgekehrt bedeute der Beweisfall gesturaler Invarianten laut Guenther etal. einen Angriff auf die Vorstellung einer auditiven Sprachproduktionsplanung.Als Gemeinsamkeit beider Theorien ergebe sich die gleiche Dimensionenmengeals Basis fur Perzeption und Produktion – bei Guenther et al. wird argumentiert,daß diese vor allem auditiver Natur seien.

Desweiteren stellen Guenther et al. Bezuge zu einer phonologischen Haupt-theorie her, der artikulatorischen Phonologie von Browman und Goldstein [5].Bei ihr sind die Grundeinheiten der Phonetik und Phonologie dynamisch defi-nierte Gesten (gesturales Modell) mit Vokaltrakt-Konstriktionen als Referenz-rahmen. Die invarianten Ziele der Sprachproduktion seien Vokaltrakt-konstrikti-onsziele anstelle von akustisch-auditiven Zielen. Diese linguistischen gesturalenModelle sowie Saltzman und Munhalls aufgaben-dynamisches Modell [88] galtenlangjahrig als vollstandigste und einflußreichste Beschreibungen des Sprachpro-duktionsprozesses. Bei ihnen sind die phonetischen Einheiten selbst die auditiv-perzeptuellen Ziele – bei Guenther et al. hingegen sind es Regionen im auditiv-perzeptuellen Raum, davon ausgehend, daß verschiedene Außerungen des glei-chen Phonems auf der auditiv-perzeptuellen Ebene im Allgemeinen nicht iden-tisch sein werden.

Guenther et al. stellen in ihrem Ansatz sechs verschiedene Referenzrah-men fur die Sprachproduktionsplanung vor: den Muskellangen-Referenzrahmen,den Artikulatoren-Referenzrahmen, den taktilen Referenzrahmen, den Kon-striktionsreferenzrahmen, den akustischen Referenzrahmen sowie den auditiv-perzeptuellen Referenzrahmen, dem sie die großte Bedeutung beimessen. Dieeinzelnen Referenzrahmen und deren Zusammenspiel bilden das Kernstuck inGuenther et al.’s Artikel.

Der Muskellangenreferenzrahmen beschreibt die Langen, die Verkurzungs-geschwindigkeit und die kontraktilen Stadien der Artikulatormuskeln, was imNervensystem kodiert wird. Guenther et al. weisen aus, daß das sprachmoto-rische System jedoch keine invarianten Muskellangenziele nutzt, was bedeutet,daß verschiedene Muskellangenkonfigurationen unter verschiedenen Bedingun-gen durchaus die gleichen Phoneme produzieren konnen. Das wurde in einemExperiment mit Hilfe eines Beißblockes nachgewiesen, wo sich zeigte, daß derProband, der den Beißblock beim Sprechen benutzte, den gleichen Vokallautkompensatorisch erzeugen konnte, indem eine andere artikulatorische Muskel-gruppe aktiv wurde.

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Der Artikulatoren-Referenzrahmen wird gewissermaßen von den groben Be-wegungsfreiheitsgraden der Sprachartikulatoren gebildet, die mit der Muskula-tur zusammenhangen. Hier liegt dennoch eine niedrigere Dimensionalitat vor alsim vorigen Referenzrahmen, da die Bewegung mehrerer Muskeln in der Synergiemit einem einzelnen Bewegungsgrad korrespondieren kann. Daher werden beideRahmen nicht genau unterschieden, sondern oft gleichgesetzt. Die Spracharti-kulatoren werden vom Artikulator-Richtungsvektor und dem Positionsvektorbewegt mit je 7 Dimensionen entsprechend der gleichzahligen Artikulations-freiheitsgrade. Die resultierenden Artikulator-Positionen waren die Eingabe furdie Synthese eines akustischen Signals mit dem Modell. Schließlich erfolgte einMapping von im auditiven Raum geplanten Bewegungstrajektorien (mittels DI-VA) auf die Artikulatordirektions-Vektorebene. Der Artikulatorpositionsvektorwurde anschließend uber direktionale Kommandos aktualisiert.

Der taktile Referenzrahmen beschreibt Stadien von Druckrezeptoren auf dieOberflachen der Sprachartikulatoren. Er wurde aber im aktuellen Modell vonGuenther et al. nicht verwendet, da er vor allem fur die Konsonantenproduktionvon Bedeutung ist.

Die Koordinaten des Konstriktionsreferenzrahmens beschreiben dieSchlusselkonstriktionsorte und -Grade im Vokaltrakt. Die Beziehung zwischenKonstriktionsrahmen und Artikulatorrahmen besteht darin, daß eine gegebenebeschrankte Menge an Konstriktionslokationen und -Graden von einer unbe-stimmt großen Anzahl an Artikulatorenkonfigurationen erreicht werden kann.Das Zusammenspiel dieser 1:n-Beziehung mit invarianten Zielen und dem Map-ping zwischen Konstriktions- und Artikulatorrahmen ermoglicht es, artikulato-rische Beschrankungen zu uberwinden und alternative Artikulatorenkonfigura-tionen zur Produktion der Konstriktionen zu verwenden. Dieses Phanomen derNutzung verschiedener Bewegungen zum Erreichen eines Zieles unter verschie-denen Bedingungen ist unter der Bezeichnung motorische Aquivalenz bekannt(z. B. bei [1]).

Der akustische Referenzrahmen beschreibt die akustischen Signaleigenschaf-ten der Vokaltraktproduktionen wie Formantenfrequenz, Amplituden und Band-breiten. Das Nervensystem hat nur nach der Ubertragung des akustischen Si-gnals durch das auditive System Zugriff darauf. Das akustische Signal wird daheroft auch als auditiv-perzeptuelles Signal bezeichnet. Dieser auditiv-perzeptuelleReferenzrahmen entsteht aus der Umformung des akustischen Signales durchdas auditive System. Die resultierende Information kann auf ein Spracherken-nungssystem zur Lautidentifikation projiziert werden. Guenther et al. raumenein, daß das Verstandnis der auditiven Reprasentationen bislang noch unvoll-standig sei, da unklar ist, welche perzeptuell wichtigen Aspekte in welcher Weisedarzustellen seien.

Bei Guenther et al.’s aktueller DIVA-Implementation werden Millers [66] Re-prasentationen bzw. Referenzrahmen verwendet mit drei spezifischen Forman-tendimensionen und einer bestimmten sampling rate. Der von Miller definierteRaum erschien Guenther et al. gunstig aufgrund seiner relativen sprecherun-abhangigen Koordinatenkonstantheit. Der Referenzrahmen beinhaltet fur diePlanung von Sprachbewegungungstrajektorien einen Planungspositionsvektor,

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der den aktuellen Status der Artikulatorpositionen reprasentiert und sich ausder akustischen Ruckmeldung und der Modell-Ausgabe bestimmt. Weiterhingibt es noch die Ebene des Planungsdirektionsvektors, wo der Status mit derauditiv-perzeptuellen Zielregion verglichen wird. Zellaktivitaten auf dieser Ebe-ne reprasentieren die gewunschte Bewegungsrichtung in auditiv-perzeptuellenKoordinaten. Der sog. time course dieser Aktivitaten reprasentiert die geplanteBewegungstrajektorie; sie wird in eine entsprechende Bewegung der Spracharti-kulatoren transformiert, und zwar uber ein erlerntes Mapping des Planungsdi-rektionsvektors auf den Artikulatordirektionsvektor.

Dieses direktionale Mapping zwischen dem auditiv-perzeptuellen Referenz-rahmen und dem Artikulatorrahmen ist eine Schlusselkomponente im DIVA-Modell: Anstelle eines Mappings von Zielpositionen im auditiv-perzeptuellenRaum auf Artikulatorenkonfigurationen werden Bewegungsrichtungen imauditiv-perzeptuellen Raum in solche der Artikulatoren ubertragen. Es gibt alsokeine feste Artikulatorenkonfiguration fur jede Position im auditiv-perzeptuellenRaum, sondern unbegrenzt viele Konfigurationen, um eine gegebene Position zuerreichen. Die Verwendung des direktionalen Mappings fuhrt also dazu, daß daseinzige invariante Ziel fur einen Sprachlaut ein aiditiv-perzeptuelles Ziel ist, dasmit einer unbestimmt großen Anzahl von Vokaltraktkonstriktionen erreicht wirdund in Abhangigkeit vom phonetischen Kontext bzw. den Beschrankungen derArtikulatoren steht.

Die Projektionen von der Sprachlautkarte auf die Ebene des Planungsdirek-tionsvektors verschlusseln ein einziges erlerntes auditiv-perzeptuelles Ziel fur je-den Laut. Diese Ziele haben die Form von multidimensionalen Regionen (anstellevon Punkten) im auditiv-perzeptuellen Raum. Verschiedene Forscher versuchtenbereits auditiv-perzeptuelle Regionen zu belegen, wobei vielfach hypothetisiertwurde, daß diese Regionen bei der Herausbildung der neuronalen “Landkar-te” entstunden, was durch den perzeptuellen Magnet-Effekt bewiesen wurde.Krititisierenswert finden Guenther et al. die traditionelle Vorstellung, daß inva-riante Konstriktionsziele zu einem besseren Verstandnis der Sprachproduktionfuhrten. Jene Ziele jedoch seien ihnen zufolge nicht konsistent mit zahlreichentheoretischen Betrachtungen und experimentellen Daten.

Guenther et al. konkludieren, indem sie vor allem auf den Gegensatz zwi-schen konstriktionsbasierten und auditiv-perzeptuellen Theorien eingehen. Siepostulieren die invarianten auditiv-perzeptuellen Ziele anstelle der invariantenKonstriktionsziele fur die Sprachbewegungsplanung. Guenther et al.’s Beobach-tung einer relativen Invarianz von Konstriktionslokationen und Konstriktions-graden bei normaler Sprache konnte zwar als Beleg fur invariante Konstrik-tionsziele gelten, aber sie konnten eine ebensolche Invarianz auch bei einemKontrollsystem ohne invariante Konstriktionsziele zeigen. Ursache dieser un-gefahren Konstriktionsinvarianz sei die Tendenz, Bewegungen auszuwahlen, diedie Artikulatoren nahe der Zentren ihrer Bewegungsspannen halten. Dies sei ei-ne inharente Eigenschaft des neuronalen Mappings zur Trajektorienausfuhrungvom auditiv-perzeptuellen Planungsraum auf die Artikulatorenbewegungen.

Die Simulationen zeigten, daß das Erlernen des Mappings fur ein neuronalesNetzwerk allein wahrend eines Brabbelzyklusses moglich war. Ein Kontrollele-

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ment realisierte die ungefahre Konstriktionsinvarianz ohne explizite Konstrikti-onsziele (fur Vokale) und verwendete dabei nur das Mapping. Die Untersuchungwurde fur das amerikanisch-englische /r/ mit seinen zwei verschiedenen Kon-striktionsmustern beim gleichen Sprecher unter verschiedenen Kontexten durch-gefuhrt und lieferete schließlich einen Beweis gegen invariante Konstriktionsziele.Mit diesem Ansatz konnte eine gewisse Konstriktionsvariabilitat beim Bedarfmultipler Vokalkonfigurationen aufgrund von Artikukuloreneinschrankungen ge-zeigt werden. Das System realisierte einen hoheren Grad an motorischer Aqui-valenz als Systeme, die invariante Konstriktionsziele verwendeten. Somit limi-tierten invariante Konstriktionsziele unnotig die motorische Aquivalenzfahigkeiteines sprachmotorischen Systems und seien außerdem inkompatibel mit weiterenexperimentellen Daten.

Guenther et al. verweisen desweiteren darauf, daß ein direktes akkuratesFeedback bezuglich der Orte und Grade der Konstriktionen im Vokaltraktnicht generell in einer passenden Form fur die Bewegungsplanung dem zen-tralen Nervensystem zuganglich sei. Diese Informationen erscheint Guenther etal. aber als essentiell fur die Bildung einer Konstriktionsreprasentation. Einauditiv-perzeptuelles Feedback sei hingegen fur das Nervensystem verfugbar.Diese Erkenntnis finden Guenther et al. problematisch fur die Verfechter derKonstriktionsziel-Theorien.

Weitere Herausforderungen an die konstriktionsbasierte Sicht stellen Guen-ther et al. anschließend auf: So ergibt sich fur sie die Frage, wie das NervensystemKonstriktionslokationen und -grade aus dem taktilen und propriozeptiven Feed-back ableiten konne, bei der gleichzeitigen Annahme, daß das Mapping aus demorosensorischen Feedback fur jedes Individuum verschieden sei. Außerdem seidas Mapping wahrend des Individuenwachstums veranderlich und es gebe keindirektes Feedack fur die Konstriktionen, das fur das Erlernen des Mappings je-doch nonnoten ware. Dies ware laut Guenther et al. im auditiv-perzeptuellenModell einfacher, wo die genutzten Reprasentationen von Kontriktionsorten und-Graden nicht aus den taktilen und propriozeptiven Informationen organisiertwerden mussten. Dort wird stattdessen ein direktes auditiv-perzeptuelles Feed-back genutzt, das als Trainingssignal fur ein Vorab-Modell fungiert, das wie-derum die taktile und propriozeptive Information in den auditiv-perzeptuellenReferenzrahmen transformiert.

Weiter fordern Guenther et al. die Gegenposition durch die Erkenntnis her-aus, daß die meisten Probanden in Experimenten ein bei der Artikulationsauf-gabe verwendetes Lippenrohr (lip tube) kompensieren konnten, was eine Ande-rung der Orte und Grade der Zungenkorperkonstriktionen bewirkte. Das warenicht moglich gewesen, wenn sie invariante Konstriktionsziele verwendet hatten.Mittels Postulation eines zusatzlichen Lern-Mechanismuses, der zwischen denverschiedenen Konstriktionen verhandelt, ware die genannte Beobachtung in-nerhalb einer Konstriktionstheorie erklarbar. Guenther et al. schranken ein, daßdiese dann aber wieder recht komplex ware und Ahnlichkeiten zu einer auditiv-perzeptuellen Theorie aufweisen wurde.

Bei der Fragestellung, warum es anschienend interaktive Beziehungen zwi-schen Konstriktionen wahrend der Produktion verschiedener Phoneme gibt,

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suggerieren Guenther et al., daß dies eher konsistent mit invarianten auditiv-perzeptuellen Zielen ware. Ein weiteres Indiz gegen den Konstriktionsansatz seidas Phanomen, warum fur einen Sprecher total verschiedene Konstriktionskon-figurationen fur die Produktion ein und des selben Phonems vorliegen, so, wiedies am Beispiel des amerikanisch-englischen /r/ festgestellt wurde.

Guenther et al. rezitieren die gangige Behauptung, daß es nur fur eine mo-difizierte Konstiktionstheorie moglich ware, solche Ergebnisse zu akkomodieren— dabei konne ihnen zufolge eine Theorie der auditiv-perzeptuellen Ziele, dieein direktionales Mapping zwischen den Planungsrahmen und dem Artikulator-rahmen verwendet, diese Ergebnissammlung viel einfacher erklaren. Zum Bei-spiel wurde die Konstriktionstheorie zwei oder mehr Ziele fur einige Sprecherdes Amerikanisch-Englischen aufstellen und deren Gedankengange rekonstru-ieren, wann sich fur welches Ziel entschieden wird. Die Theorie der auditiv-perzeptuellen Ziele hingegen lieferte uber das DIVA-Modell einen Zugang (auchfur die Problematik der cross-speaker -Varabilitat) mit der einfacheren Annah-me eines einzelnen auditiv-perzeptuellen Zieles sowie eines Mappings zwischenden Planungsrahmen, das die verschiedenen Vokaltraktkonfigurationen fur /r/kontextabhangig erklart. Hierfur ware keine zusatzliche Machinerie fur die Ziel-auswahl notwendig.

Guenther et al. vermuten, daß die Argumente ihres Artikels auch fur ande-re Sprachlaute zutreffen; die starksten Behauptungen limitieren sie aber vor-erst nur auf Vokale und Semivokale. Andere Forscher suggerierten, daß ver-schiedene Sprachlautklassen in verschiedener Weise produziert werden konnten(z. b. [19]). Das bedeutet, daß einige Lautklassen eventuell invariante akustisch-auditive Ziele oder Zielregionen nutzen, wahrend andere hingegen invarianteVokaltraktformziele verwenden (z. b. [2]).

Guenther et al. motivieren die potentielle Wichtigkeit der Referenzrahmender Zielspezifikationen und der Sprachbewegungsplanung fur die Interpretationvon Sprachproduktionsdaten sowie fur das Zusammenspiel zwischen Sprachpro-duktion und -Perzeption. Sie geben weiter an, daß das Modell die konvexe-Regionen-Theorie bei Sprachzielen um die Domane der auditiv-perzeptuellenZiele erweitere. Guenther et al. zufolge liefere jene Theorie einen einheitlichenZugang zu Phanomenen wie: motorische Aquivalenz, kontextuelle Variabilitat,carry over coarticulation (ubergreifende Koartikulation), antizipatorische Koar-tikulation, Variabilitat infolge Sprechratenanderung etc. Sie außern die Vermu-tung, daß deren Erklarungen auch auf die Zielregionen im auditiv-perzeptuellenRaum anwendbar seien. Die Herausbildung dieser Regionen, deren Existenzdurch den nachweislichen perzeptuellen Magnet-Effekt bewiesen sei, konne alsEigenschaft bei der Entwicklung der neuronalen “Landkarte” im auditiven Sy-stem gesehen werden, schatzen Guenther et al. ein.

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4 Literaturvergleich

4.1 Exemplarbasierte und vergleichbare Ansatze der vor-gestellten Literatur

In diesem Unterkapitel geht es um die Gegenuberstellung der Literatur bzw.Forschungsansatze zur Exemplartheorie aus Kapitel (3). Es stehen sich deutlichgegenuber: (i) die Exemplartheoretiker — Pierrehumbert ([79], Kapitel 3.1),Goldinger ([24], Kapitel 3.2), Johnson ([43], Kapitel 3.3), Kirchner ([46],Kapitel 3.4) und Lacerda ([57], Kapitel 3.6), der sich auf Kuhls perzeptuellenMagnet-Effekt [54] bezieht — mit einer alternativen Exemplarkonzeption; (ii)Kuhl mit der Prototypentheorie ([53], Kapitel 3.5), die die Exemplartheorietangiert; und (iii) Guenther et al.’s Referenzrahmentheorie ([33], Kapitel 3.7),die meiner Meinung nach kompatibel zur Exemplartheorie ist. Ich nenneim Einzelnen kurz noch einmal die essentiellen Forschungsschwerpunkte und-Ergebnisse der Autoren, gehe bewertend auf bestimmte Aspekte ein und stellevergleichend die konzeptuelle Sichtweise heraus, unter der die Arbeiten stehen.Wahrend klar ist, daß verschiedene Modellierungen einer Theorie haufig undnaturlicherweise verschiedene Realisierungen bzw. Modellumsetzungen erhal-ten, soll aber auch verdeutlicht werden, daß es nicht die eine Exemplartheoriegibt, d. h., daß die zugrundeliegenden exemplartheoretischen Annahmen bereitsvariieren. Desweiteren soll in diesem Kapitel gezeigt werden, daß es neben denexemplartheoretischen noch alternative, aber ahnliche Forschungsansatze gibt.

Janet Pierrehumbert. ([79], Kapitel 3.1)Als eine der Hauptfursprecher der Exemplarmodelle beschreibt Pierrehumbert inihrem Artikel Exemplar dynamics: Word frequency, lenition and contrast ([79],Kapitel 3.1) detailliert die Sprachverarbeitung in einem exemplarbasierten Re-ferenzrahmen und dient damit als haufige Bezugsquelle und Orientierung fur dieexemplarbasierte Forschung anderer linguistischer Autoren. Dies ging aus mei-ner Literaturrecherche neben dem Finden konzeptuell deutlich variierender Ex-emplaransatze innerhalb von Vertretern der Exemplartheorie hervor. Ich nenneim Anschluß kurz einige Eckpunkte von Pierrehumberts exemplartheoretischerSicht.

Pierrehumbert fuhrt die Exemplartheorie in ihrem Artikel zunachst alsModell der Ahnlichkeit und Klassifikation innerhalb der Perzeptionsdisziplinein und nennt es als ihr Forschungsziel, eine exemplarbasierte Perzeptions-Produktionsverbindung und ein entsprechendes Modell fur quantitative Vor-aussagen einer anwendungsorientierten Phonologie zu entwickeln.

Pierrehumbert reprasentiert sprachliche Kategorien als Wolken erinnerterEntitaten, die inerhalb einer angenommenen kognitiven Landkarte so angeord-net sind, daß ahnliche Instanzen nahe beieinanderliegen. Die Variationsbreite derEntitaten einer Kategorie (z. B. das Spektrum der Formantenfrequenzen einesVokals) zeigt deren physische Manifestationen. Die perzeptuelle Verschlusselungeiner Wahrnehmungsentitat, also ihre Einordnung in ihrem relevanten Parame-terraum erfolgt uber die Berechnung ihrer Ahnlichkeit, d. h., ihres Abstands zu

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den bereits gespeicherten Exemplaren. Das geschieht uber den Vergleich bzw.die Wichtung der Aktivierung der Exemplare, die eine Funktion aus der An-zahl und der Aktualitat der phonetischen Entitaten am entsprechenden Ort desExemplarraumes ist.

Trotz der nachweislich großen Erinnerungskapazitat des Menschen gibt eskeine individuelle Erinnerung fur jede einzelne Verwendung eines jeden Wortes;Erinnerungen bzw. deren Exemplare verfallen uber die Zeit hinweg, was uberdie Abnahme der Aktivierungslevels gehandhabt wird.

Die Korrelation eines individuellen detailreichen Exemplars besteht mit ei-ner aquivalenten Klasse an perzeptuellen Erfahrungen und nicht zwingend mitder Einzelerfahrung. Das ist der Fall, da Exemplare mit zu feinen Unterschie-den (unterhalb des just noticible difference, gerade noch wahrnehmbarer Un-terschied) werden innerhalb der gleichen Klasse einer Kornung vermerkt, d. h.,als identisch verschlusselt. Pierrehumbert geht also von einem granularen pho-netischen Parameterraum aus, vermutlich auch aus Bezugen zur traditionellenAnnahme der kategorialen Wahrnehmung des Menschen heraus. Hierbei stelltsich allgemein das Problem der Auflosbarkeit perzeptueller Dimensionen, demschon zahlreiche Experimente nachgespurt haben.

Kurz gesagt, beinhaltet der Exemplaransatz bei Pierrehumbert die Assoziati-on einer Kategorie mit einer sogenannten Wolke aus detaillierten perzeptuellenErinnerungen, die als Funktion der Scharfe des perzeptuellen Systems granu-larisiert werden. Ihr ist die Entitatenhaufigkeit als Ausloser oder Katalysatoreiniger linguistischer Effekte wichtig, die sich im Gegensatz zu klassischen pho-nologischen Sprachmodellen in einem Exemplarmodell gut modellieren laßt. Sieist dabei aber nicht offen im Modell (ohne Haufigkeitszahler) sondern intrinsischin den kognitiven Reprasentationen der Kategorien verschlusselt: Haufiger imSprachgebrauch auftretende Kategorien haben mehr Exemplare, die auch hoheraktiviert sind als selten vorkommende Kategorien.

Wie schatzt Pierrehumbert die Bedeutung der Exemplartheorie ein und wel-che Stellung außert sie zu anderen im Zusammenhang stehenden Ansatzen?

Pierrehumbert behauptet, daß ein Exemplarmodell wie kein Modell andererAnsatze ein adaquates Bild des detaillierten impliziten Wissens von Sprecherngeben konne. Sie weist als weitere Vorteile aus, daß mittels des Exemplaran-satzes die Wissensaquisition (als Sammlung von Gedachtnis-traces bzw. Exem-plaren) und Portotypeneffekte (ohne die explizite Berechnung und Speicherungabstrakter Prototypen) gut nachvollzogen werden konnen. Pierrehumbert di-stanziert sich jedoch von einer echten Prototypentheorie. Weiterhin kritisiertsie die ursprungliche und noch heute vielfach populare Annahme eines univer-sellen symbolischen Alphabetes als Schnittstelle zu einer universellen sensorisch-motorischen Implementationskomponente (wie bei Chomsky und Halle [13]), dadamit nicht die feinen intersprachlichen Unterschiede bzgl. der Werte und Wahr-scheinlichkeitsverteilungen phonetischer Eigenschaften reprasentierbar noch de-ren Erwerb erklarbar sei.

Trotz ihrer starken Hinwendung zu Exemplarmodellen nimmt Pierrehumberteine Vermittlerposition ein, d. h., sie halt auch an der klassischen Phonologiefest. Sie sieht das exemplarbasierte Vorgehen nicht als Angriff auf die Phono-

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logie — da es nicht die gangigen Methoden nutze bzw. ihnen entgegenstehe— sondern als einen neuen Teil, der fehlende Puzzlestucke ausfullt: Sie sprichtvon Beweisen fur ein solch detailreiches phonologisches Wissen, das nicht zufrie-denstellend nur mittels Kategorien und den Regeln der phonologischen Theoriemodellierbar sei. Als Motivation fur die Exemplarforschung stehe auch die da-mit gute Erklarbarkeit von Haufigkeitseffekten, die insbesondere in ihrem Ar-tikel fokusiert werden. Pierrehumbert argumentiert fur ihre Hinwendung zurExemplartheorie aufgrund von Erkenntnissen, daß die mentalen Reprasentatio-nen phonologischer Ziele und Variationsmuster graduell wahrend der Erfahrungvon Sprache aufgebaut werden. Weiterhin weisen die Reprasentationen nicht nurdie ublichen groben Kategoriemuster und Regularitaten auf, sondern beinhaltenechten Detailreichtum, was nicht nur Sprachen und Dialekte betreffe, sondernselbst einzelne Worter eines Dialekts.

Innerhalb ihrer integrativen Haltung bzgl. Phonologie und Exemplartheoriesieht Pierrehumbert aber auch, daß die exemplartheoretischen Forschungsergeb-nisse die Phonologie und Phonetik herausfordern:(i) Pierrehumbert beschreibt die allgemeine Arbeitsweise gangiger Modelle, diezumeist in Lexikon und phonologischer Grammatik untergliedert sind. Sie ver-fahren in gleicher Weise mit allen phonologischen Oberflachenreprasentationenund machen die verschiedenen Ausgaben nur von den Kategorien und pros-odischen Strukturen der Reprasentationen abhangig. Kritikpunkt ist, daß einesolche sog. phonetische Implementierung keine Moglichkeit biete, unterschied-lich auf verschiedene Wortrealisierungen zu reagieren.(ii) Das zweite Problem sieht Pierrehumbert darin, daß der aufgrund der For-schungsergebnisse immer offensichtlicher werdende Zusammenhang zwischenverschiedenen phonetischen Ausgaben und spezifischer Worthaufigkeit nicht indie generativen Standardmodelle einbezogen wird. Stattdessen wird Worthaufig-keit dort als Teil der linguistischen Performanz anstelle von Kompetenz gesehen.(iii) Die eigentliche Herausforderung fur die linguistische Forschung sieht Pierre-humbert in der Entwicklung eines Modells, das die zwei Forschungsansatze und-Erkenntnisse vereint: Auf der einen Seite die exemplartheoretisch nachgewie-senen wortspezifischen Details und auf der anderen die generellen Prinzipienphonologischer Strukturen aus der klassischen Sicht (z. B. daß die mentale Pho-nologiereprasentation eines Wortes trotz seiner idiosynkratischen Eigenschaftenaus mehreren Einheiten an Lautstrukturen besteht, die wiederum von mehrerenWortern geteilt wird).

In diesem Sinn visiert Pierrehumbert als Ziel eine formale Modell-Architektur an, die die gefundenen phonologischen Regularitaten abdeckt undals generative Grammatik mogliche Ausgaben menschlicher Sprachen voraus-sagen kann. Sie soll die bisherigen Modelle um eine Organisation der men-talen lexikalischen Reprasentationen modifizieren, bei der detaillierte phone-tische Erinnerungen mit individuellen Wortern assoziiert werden. Die gangigeGrammatik-Lexikon-Unterteilung wird durch die Speicherung von Erinnerungen(Exemplaren) in zwei Generalisierungsgraden mit integrierter Haufigkeitsinfor-mation abgelost bzw. teilweise reprasentiert.

Abschließend argumentiert Pierrehumbert fur die Einbettung der Exem-

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plartheorie in die phonologische Forschung, da sie sehr anwendungsorientiertsei und sprachliche Fahigkeiten des Menschen bzw. linguistische Phanomeneschlussig und einfach erklare, so z. B.: das Erlernen phonologischer Kategorien;die Fahigkeit des Erwerbs feiner phonetischer Sprachmuster; deren langzeitlicheinkrementelle Modifizierbarkeit noch im Erwachsenenalter; Worthaufigkeits-effekte — unter anderem im Zusammenhang mit historischen Veranderungenvon Wortmaterial (Lenition); Neutralisierung und Koartikulation.

Stephen D. Goldinger. ([24], Kapitel 3.2)Stephen D. Goldinger ist ganz klar ebenfalls einer der Hauptvertreter der Ex-emplartheorie. Uber die Aspekte der stimmlichen Details, die in Sprecherva-riabilitatseffekten eine Rolle spielen, intendiert er in seinem Artikel Words andVoices. Perception and Production in an Episodic Lexikon ([24], Kapitel 3.2)Belege dafur zu finden, daß das sprachliche Gedachtnis Episoden als Basisspei-chereinheiten fur Perzeption und Produktion verwendet.

Er orientiert sich dabei an der historisch ursprunglichen episodischen SichtRichard Semons ([91], [92]) mit der Grundannahme, daß jeder (auch sprach-liche) Reiz im Gedachtnis eine einmalige trace (Spur) hinterlaßt. Beim Erhalteines neuen Stimulus komme es zur Aktivierung aller ahnlichen Spuren und dieam starksten aktivierte Spur gelange ins Bewußtsein und werde somit identifi-ziert. Das soll die Dauerhaftigkeit detailreicher Erinnerungen erklaren. Abstrak-tion entsteht bei dieser Sicht durch die Vermischung der zahlreichen teilweiseredundanten Spuren- bzw. Exemplar-Antworten auf eine Eingabe.

Goldinger beschreibt indes, wie die allgemeine Forschungsmeinung, bevorsie nunmehr wieder auf die episodische Sicht zuruckkommt, entgegen der indi-viduellen episodischen Speicherung sich immer mehr in Richtung minimalisti-scher symbolischer Reprasentationen wendete. An die Stelle der Ansammlungredundanter traces traten hierbei Reprasentationen, die uber succesive Verar-beitunsebenen, in denen die redundante Information herausgefiltert wurde, ausanalogen Eingaben zu progressiv abstrakten Formen uberfuhrt wurden. Daß esjedoch lange Zeit nicht moglich war, entsprechend der abstrakten Reprasentatio-nen solche invarianten sprachlichen Muster zur Etablierung automatischer Spra-cherkennungssysteme zu finden, indiziert, so Goldinger, daß diese extreme Si-gnalvariabilitat schließlich fur die episodische Sicht spricht. Durch die Grundan-nahme der abstraktionistischen Theorien, daß bei der Spracherkennung variableStimuli fur die Erkennungsaufgabe auf kanonische Reprasentationen ubertragenwerden mussten, ergab sich die Notwendigkeit eines Normalisierungsprozesses,der sog. “phonetisch irrelevante” bzw. Oberlacheninformation herausfiltert undals fur die Erkennungsaufgabe nicht brauchbare Information verwerfen sollte,damit der lexikalisch-semantische Sprachinhalt hervortreten konnte.

Goldinger betont insbesondere, da es in seinem Artikel vor allem auch umStimmdetails geht, daß diese (wie auch andere im episodischen Blickwinkelwichtigen Perzeptionselemente) bei einer solchen Modellierung mit einem ab-strakten Lexikon verloren gehen, da sie nur als “Rauschen” bzw. aufzulosen-des Transportmittel lexikalischer und abstrakter Information betrachtet wer-den. Im Zusammenhang mit der Sprechernormalisierung steht die gangige theo-

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retische Grundannahme einer perzeptuellen Signalkonvertierung in Phonemebzw. Worter via Informationsreduktion und Ubereinstimmungsprozeduren desGedachtnisses. Goldinger lehnt diese Sicht ab, da er durch seine Studien undauch in der Literatur keine Beweise fur eine notwendige Informationsreduktiondurch die Normalisierung vorfand und interpretiert sie lediglich als perzeptuelleKompensation. Goldinger bezweifelt die reale Existenz einer Normalisierungs-prozedur beim Menschen. Er raumt zwar ein, daß die Sprechernormalisierungs-hypothese entsprechend Forschungsergebnissen kaum falsifizierbar sei, es gebeandererseits aber auch keine Belege fur einen konkreten Sprechernormalisie-rungseffekt. Auch sei es in Forschungen nicht eindeutig klarbar gewesen, ob eineNormalisierung automatisch erfolge oder kapazitatsbeanspruchend sei. Goldin-ger sieht als Alternative zur Normalisierung z. B. die Moglichkeit, daß die Per-zeption uber eine Ubertragung der variablen Signale auf ideale Schablonen oderPrototypen erfolgen konne oder mittels eines episodischen Lexikons. Ansatzeohne Normalisierung arbeiten bislang mit reprasentationellen Annahmen odermit dem angesprochenem episodischen Lexikon, wo eine direkte Ubertragunggesprochener Worter auf die detaillierten traces erfolgt.

Neben der Sprechernormalisierung ist das episodische mentale Lexikon einweiteres bedeutendes Thema bei Goldinger. Semons Gedachtnistheorie zufol-ge (an der sich Goldinger orientiert) werden bei der Perzeption automatischdetaillierte Episoden kreiert, die die spatere Perzeption beeinflussen und dasBasissubstrat des Lexikons bilden. Die einmalige Spur bzw. trace eines jedenStimulus ermogliche schließlich die abstrakte Kognition. Eine gemeinsame An-nahme episodischer Theorien ist die Kategorisierung bei der Sprachperzeption,wobei die Kategorien keine abstrakten Daten enthalten mussen.

Da die experimentellen Beweise immer mehr fur eine langzeitliche Speiche-rung von Erinnerungsdetails sprechen, werden in der Forschung wieder zuneh-mend exemplarbasierte Theorien aufgegriffen und entsprechende Modelle ent-wickelt, von denen Goldinger einige kurz anspricht. Aus seiner eigenen experi-mentellen Forschung zur Sprechervariabilitat, die er uber die episodische Spei-cherung von Stimmendetails zu erklaren sucht, nennt Goldinger als untersuchteEffekte die Spracherkennungsleistung (Genauigkeit und Schnelligkeit), Persi-stenz bzw. Zugreifbarkeit sprachlicher Erinnerungen sowie als deren Einflußfak-toren die Stimmenahnlichkeit, die Geschlechterspezifik, Stimmenbekanntheits-grad und Prasentationsmodalitaten (Wiederholungsgeschwindigkeit und -Rate).Aus den Ergebnissen seiner Experimente schließt Goldinger, daß die episodi-schen traces mit den Stimmendetails aufgrund ihrer Persistenz ein mentales Le-xikon bilden, das die Perzeption beeinflußt. Dieses Konzept finde ich aufgrundder vorausgegangenen Argumentation in Kapitel 3.2 bzw. [24] als schlussig undwahrscheinlich.

Goldinger befindet, daß die episodischen Theorien trotz ihrer Vorteile bislangzu wenig formal modelliert wurden und die existierenden Modelle zumeist Hy-briden zwischen abstraktionistischen und episodischen Sichtweisen seien. Diesnimmt er als Motivation mit Hintzmans MINERVA 2 [36] ein reines episodi-sches Modell zu verwenden. Es ergab sich, daß mit MINERVA 2 akkurat diequalitativen menschlichen Datenmuster (aus den Experimenten) voraussagen

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ließen. Sie zeigten unter anderem die Korrelation der Stimmeneffekte mit denWorthaufigkeiten (z. B. der “gleiche-Stimme” Vorteil ist geringer fur hochfre-quente Worter). Goldinger hebt Hintzmans MINERVA 2 als eines der bestenErgebnisvoraussagemodelle fur die Exemplartheorien hervor. Die Verarbeitungder Exemplar-traces darin spiegele sowohl die Spezifizitat als auch die Gene-ralitat des menschlichen Gedachtnisses wieder. Trotz seiner Eingenommenheitvon dem von ihm verwendeten Modell, bespricht Goldinger zahlreiche weitereModelle anderer Autoren und sieht deren Chancen bzw. Beitrag zur exemplar-basierten Forschung.

Fur seine Untersuchung der Rolle der Exemplare bei der Sprachproduktionverwendet Goldinger als Experimentaufgabe das single word shadowing, wobeigehorte Worter verschiedener Sprecher so schnell wie moglich von den Proban-den reproduziert werden sollten, wobei Antwortzeiten, Genauigkeit, Abhangig-keit von der Wortwiederholungsanzahl und Imitationsgrad gemessen wurden.Goldingers Hypothese, daß sich die Vokalcharakteristik der Probanden an dieder Sprecherstimme annahere, konnte von allen Probanden belegt und als Kor-relation zu den Worthaufigkeiten festgestellt werden, daß die spontane Imitati-on fur seltenere Worter starker ausfallt. Desweiteren fiel die Imitation starkerbei mehr Wortwiederholungen aus und geringer uber Wartezeiten hinweg; eineInteraktion der verschiedenen Imitationseinflußfaktoren wurde festgestellt. DieErgebnisse erklart Goldinger mithilfe seiner Theorie der Echos, die aus den ak-tivierten traces gebildet werden und eine bestimmte Intesitat sowie einen Inhaltbesitzen. Goldinger faßt seine Ergebnisse zusammen, indem er behauptet, daßder akustische Sprachinhalt (bei der shadowing-Sprache) die zugrundeliegendenProzesse des lexikalischen Zugriffs reflektiere und einen deutliche Beeinflussungdurch die detaillierten Erinnerungs-traces aufzeige.

Goldinger weist abschließend aus, daß die Theorien uber eine episodischeSpeicherung und einige Perzeptionstheorien auffallend ahnlich seien und erdaher deutlich hinter einem episodischen mentalen Lexikonmodell stehe, beidem die Worterkennung uber zahlreiche detaillierte Episoden erfolge. Trotzdieser eindeutigen Positionierung raumt er ein, daß unter einer abstraktionisti-schen Sichtweise mit der Normalisierung der perzeptuellen Wortidiosynkratieneine typenbasierte Entitatenidentifikation ebenfalls moglich ware. Goldinger istjedoch uberzeugt, daß die Einzelaspekte eines Sprachsignals innerhalb seinerspateren Reprasentation erhalten bleiben und nicht nur linguistischen Inhalttransportieren.

Keith Johnson. ([43], Kapitel 3.3)Johnson als hier dritter Hauptvertreter der reinen Exemplartheorie thematisiertin seinem Artikel Speech Perception without Speaker Normalization. An Exem-plar Model ([43], Kapitel 3.3) wie vorausgehend Goldinger die Sprechervariabi-litat und damit auch das Normalisierungsproblem bei der Sprachperzeption. Erstellt sein eigenes Exemplarmodell vor und zeigt uber dessen Anwendung aufeine Vokalperzeptionsaufgabe wie die Stimmenvariabilitat ohne eine Normalisie-rungsprozedur gehandhabt werden kann. Wie Pierrehumbert [79] verweist John-son auf die Chance, mit einer Exemplarmodellierung nicht nur perzeptuelles Ver-

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halten sondern auch in eleganter Weise eine Perzeptions-Produktionsverbindungaufzuzeigen, da die exemplare Speicherung auch artikulatorische Eigenschaftenumfasse und aus den Erfahrungen des Zuhorens Produktionswissen generiertwerde.

Johnson argumentiert wie Goldinger [24], daß die Normalisierung nur ein hy-pothetischer Prozeß sei, von dem allgemein angenommen wird, daß er die Iden-tifikation linguistischer Kategorien erst ermogliche, indem er die Unterschiedezwischen den Sprecherstimmen reduziere. Das geschehe uber eine Ubertragungsprecherspezifischer Reprasentationen auf relevante sprecherneutrale Abstrak-tionen. Johnson jedoch schließt abstrakte Prototypen fur perzeptuelle linguisti-sche Kategorien aus.

Im Gegensatz zu Goldinger [24] thematisiert Johnson die Existenz linguisti-scher Kategorien starker und beschreibt eingehend den Kategorisierungsprozeß.So sind Kategorien bei ihm der Ordnungsrahmen fur alle erfahrenen Instanzen,die qualitativ eine bestimmte Ahnlichkeit bzw. eine Gemeinsamkeit in Bezugauf einen oder mehrere linguistische Aspekte aufweisen. Auch in Johnsons Ex-emplarmodell werden bei der Perzeption alle neu empfangenen sprachlichen En-titaten entsprechend ihrer Ahnlichkeit zu den bestehenden Kategoriemitgliedernkategorisiert, was einen Ahnlichkeitsvergleich mit jeder Instanz einer jeden Ka-tegorie involviert. Johnson setzt durch die Kategorisierung horbare Eigenschaf-ten mit kategorialen Bezeichnungen in Beziehung. Diese Ahnlichkeitsbeziehungmanifestiert sich in der Hohe des aktuellen Aktivierungslevels, das jedem Ver-gleichsexemplar zugewiesen wird.

Dieses individuelle Kategoriesierungsvorgehen, das jede Stimuluserfahrungvergleichend (womoglich noch mit allen einzelnen Vergleichsaspekten) einbe-zieht, erscheint mir zwar sehr aufwendig bzw. ressourcenbeanspruchend, ist abereine der Hauptessenzen eines Exemplarmodells, das sich ja gerade dadurch aus-zeichnet, daß alle empfangenen Informationen behalten und genutzt werden. Esgab bereits verschiedene Ansatze diesen offensichtlichen Aufwand zu reduzieren(moglichst ohne zu großen Informationsverlust wie bei einer Normalisierung) —einer davon ist der Prototypenansatz. Johnson spricht sich aber gegen Prototy-pen bei sprachlich-perzeptuellen Kategorien aus, da diese wieder eine Abstrak-tion bedeuten wurden.

Johnson beschreibt sein Exemplarmodell als implementierbare Formelmen-ge, die die Modellparameter spezifizieren und berechenbar machen. Dabei spie-len auch Sensitivitats- und Wichtungsparameter eine besondere Rolle, die uberdie Manipulation bestimmter Stimulusdimensionen die Simulation linguistischerEffekte ermoglichen. Durch sie kann der Einfluß bestimmter Exemplare auf dieModellberechnung gesteuert werden. In diesem Sinne laßt sich die experimen-tell nachgewiesene menschliche Aufmerksamkeit oder Erwartungshaltung bzgl.sprachlicher Aspekte simulieren, indem Aufmerksamkeitswichtungen den per-zeptuellen Modellraum entlang der etablierten horbaren Dimensionen erweiternoder einschranken. Auch der nachgewiesene Einfluß der Worthaufigkeit auf diephonetische Kategorisierung (ein traditionell unzulanglich modellierbarer Ef-fekt, so Johnson) laßt sich durch den Modellparameter eines bestimmten (eben-falls manipulierbaren) Grundaktivierungslevels zeigen. Diese Moglichkeit ver-

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gleicht Johnson mit Kuhls perzeptuellem Magnet-Effekt [53]: Die großere Grund-aktivierung haufiger Worter konnte fur die Anziehungskraft haufiger Worter aufdie Horerantwort stehen.

Der vielfach als schwierig zu modellieren empfundene Zeitbezug (der aberebenfalls exemplartheoretisch essentiell ist, da neuere Exemplare als wichtigerbzw. mehr aktiviert angenommen werden) wird in Johnsons Modell uber einenPuffer geschaffen, der horbare Parameter uber einen Zeitintervall hinweg auf-nimmt und die Bewegung der “Zeitspalten” von links nach rechts simuliert.Johnson raumt ein, daß der kontinuierlich hohe Evaluationsbedarf hierfur derar-tig groß sei, daß dies nur in einer computationellen Parallelverarbeitung realisier-bar sei bzw. Aufmerksamkeits- und Segmentierungsstrategien zur Vereinfachungerfordere. Ich empfinde den Zeitbezug, der ja die Wichtigkeit und den Verfall vonExemplaren beeinflußt, als sehr bedeutende und zu anderen Ansatzen neue undzusatzliche Eigenschaft im Exemplaransatz — er wird jedoch in vielen Exem-plarmodellen, wie ich finde, nur unzulanglich und nicht direkt implementierbarbeschrieben. So erlebe ich Johnson Modellierung disbezuglich als relativ kon-kret. Er fugt jedoch auch an, daß bis zum Erscheinen seines Artikels noch keinefunktionierende Modell-Implementierung vorlag.

Eine weitere Schwierigkeit mit der Exemplarmodelle kampfen, ist entspre-chend Johnson die Annahme der Speicherung eines einzelnen erfahrenen Mustersmit all seinen horbaren Eigenschaften. Das erfordert wiederum anspruchsvolleSpeicher- und Verarbeitungsressourcen und motiviert die Suche nach Moglich-keiten zum Behalten der Exemplarinformationen ohne eine explizite Einzelspei-cherung. Mir selbst erscheint es ebenfalls nicht wahrscheinlich, daß der Menschimmer jegliche Exemplare in ihrer uberaus großen Vielzahl und Komplexitatspeichert und langerfristig aufbewahrt, so daß es Vereinfachungsmechanismengeben konnte. Meine Gedanken hierzu werden im Diskussionskapitel nahererlautert.

Johnson beschreibt in seinem Artikel einige von ihm durchgefuhrte Expe-rimente mit Probanden, die er schließlich mit Simulationen durch sein Modellnachvollzieht. Zu den von ihm studierten linguistischen Aufgaben gehorten: (i)zwei Vokalidentifikationsaufgaben bzgl. der Vokalklassifizierung, (ii) die Simula-tion des forced-choice-Experiments von Johnson [42] mit dem vielfach studiertenhood-hud-Kontinuum, (iii) eine Aufgabe zur korrekten Identifikation des Spre-chergeschlechts, (iv) die Simulation des von Ganong [20] erforschten Effekts zumEinfluß der Worthaufigkeit auf den Kategorisierungsprozeß, sowie (v) die Simu-lation zu Johnsons vorausgehenden Erkenntnissen zum Prasentationstyp-Effekt([42]) — ebenfalls anhand des hood-hud-Kontinuums. Durch die Anwendungdes Modells auf diese Forschungsaufgaben konnten die jeweils passendsten Mo-dellparametereinstellungen herausgefunden und außerdem ermittelt werden, wiegenau das Modell die realen experimentellen Ergebnisse jeweils wiedergibt.

Johnson schatzt abschließend ein, daß sein erarbeitetes Exemplarmodelldie Aspekte der menschlichen Vokalwahrnehmung und Sprechervariabilitat ver-gleichbar nachahmt. Dabei verweist er darauf, daß es zwar bei den einzelnenAufgaben Sprechernormalisierungs-Verhalten zeige, daß dies aber ohne das Vor-handensein einer Normalisierungsprozedur und nur inharent aufgrund der kom-

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plexen exemplarbasierten Struktur der linguistischen Kategorien entstehe. DieSprachperzeption versteht Johnson aus seinen Experimenten hervorgehend nichtals passiven Prozeß, sondern insofern als aktiv, als daß die Horer ihren Auf-merksamkeitsfokus (zyklisch) auf bestimmte Aspekte des Sprechsignals — z. B.Variabilitatsquellen — verschieben. In dem Sinne ist sein Modell auch in derLage, sowohl die Signalvariabilitaten zu behalten und zu verarbeiten als auchneue Informationen bzw. Exemplare einzubinden.

Johnsons Ziel, ein flexibles allgemeines Modell zu entwickeln, das ver-schiedenste Variabilitasquellen sprachlicher Signale ohne eine expliziteSignalnormalisierung handhaben kann, konnte mit seinem Exemplaransatzerfullt werden. Er spricht sich nicht kategorisch gegen die traditionelle Sicht derSprachperzeption aus, sieht seinen exemplarbasierten Ansatz aber als wichtigeAlternative, die er noch in Folgeuntersuchungen genauer auszuspezifizierensucht.

Robert Kirchner. ([46], Kapitel 3.4)Robert Kirchner entwickelte und beschreibt in seinem Artikel Preliminarythoughts on “phonologization” within anexemplar-based speech processing system([46], Kapitel 3.4) ebenfalls ein Exemplarmodell zur Sprachverarbeitung; er stehtaber meiner Meinung nach nicht typisch bzw. ausschließlich fur die exemplar-theoretische Sicht. Mit seinem Konzept der “Phonologisierung” innerhalb desExemplarmodells schafft er Bezuge zu der traditionellen Sicht phonologischerMuster, wendet sich aber explizit von den Annahmen der traditionellen lin-guistischen Theorie ab, insbesondere von der Trennung in phonologische undphonetische Reprasentationslevels. Indirekt erscheint mir aber eine solche Auf-splittung — wenn auch unter anderen Bezeichnungen — ebenfalls bei ihm imModell aufzutauchen, wie weiter unten erlautert werden soll.

Die reine Phonetik-Phonologie-Aufgliederung findet Kirchner insofern kri-tisch, als daß er meint zu erkennen, daß die etablierten phonologischen Musterausschließlich und direkt aus der Betrachtung der phonetischen Funktionalitatheraus entstanden seien. Dieser Hypothese fugt er hinzu, daß Lautmuster je-doch eine Stabilitat uber Entitaten und limitierende Kontexte hinweg aufweisen,was seiner Meinung nach eher auf abstrakte und kategoriale Reprasentationenals nur auf phonetische Beschrankungen zuruckgeht. Kirchner regt daher dazuan, von der streng getrennten Phonetik-Phonologiebehandlung abzurucken undstattdessen partiell phonologisierte Variationsmuster in Betracht zu ziehen.

Das von ihm entwickelte Exemplarmodell weist eine spezifischere strukturel-le Exemplar-Organisation auf, als die vorab angesprochenen Modelle der ande-ren Exemplar-Vertreter. Die Architektur seines Modells, das der Implementie-rung eines neuronalen Netzes entspricht, zeichnet sich durch verschiedene hier-archisch gegliederte linguistische Verarbeitungsebenen aus, deren Knoten ubereine Ableitungsstruktur mit entsprechenden Mechanismen verbunden sind. Die-ses ableitungsbasierte Vorgehen mit verschiedenen Reprasentationsebenen erin-nert jedoch, wie ich finde, wieder an die traditionelle Verarbeitung (ausgehendvon zugrundeliegenden Strukturen hin zu Oberflachenstrukturen), von der sichKirchner eigentlich abzulosen versucht. Zumindest tritt an die Stelle der regel-

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basierten Ableitung bei ihm eine aktivierungsbasierte Ableitung, die den Bogenzur ublichen Exemplarverknupfung spannt.

Desweiteren hebt sich Kirchners Modell von den bisherigen Exemplarmodel-len ab, indem es einen besonderen Bezug zum Aspekt der Bedeutung sprachli-cher Entitaten schafft, sowie auch zu artikulatorischen Aspekten. Bei den ande-ren Modellen hingegen waren Semantik und Artikulation gleichrangige Aspekteunter vielen Exemplardetails, die nicht hervorgehoben wurden. Vordergrundigging es dort um samtliche perzeptuelle Eigenschaften des Sprachsignals, die dieExmeplarspeicherung charakterisierten.

Wiederum finde ich allerdings Parallelen von Kirchners Gliederung in se-mantische Ebene, perzeptuelle Ebene und artikulatorische Ebene zur gangigenlinguistischen Modularisierung in die sprachlichen Einzeldisziplinen wie Phone-tik (artikulatorischer Hintergrund), Phonologie (Regularitaten), Morphonologie(Wortstruktur), Semantik (Bedeutung und Weltwissen) usw. Vielleicht ist essogar intuitiv, daß der zur Strukturierung neigende Mensch tatsachlich eine indieser Weise strukturierte Verarbeitung im Gehirn vollzieht. Und scheinbar istes moglich, wie Kirchners Modell suggeriert, die Exemplarsicht in eine solchemodularisierte Verarbeitung einzubinden. Die Exemplarspeicherung bildet inseinem Modell namlich wiederum ein Extramodul bzw. eine Ebene, die in derHierarchie zwischen der semantischen Ebene und sowohl der perzeptuellen alsauch der artikulatorischen Ebene steht und top-down oder bottom-up mit ihnenuber den Aktivierungsfluß interagiert.

Die traditionelle linguistische Vorpragung, kommt bei Kirchner trotz sei-ner exemplartheoretischen Hinwendung zum Ausdruck, wenn er davon spricht,daß mit seinem lexikalischen Empfangs- und Speichersystem die kompletten Be-schrankungen eines Sprachverarbeitungsystems modelliert werden konnen undals solche gangige Regularitaten der Phonologie aufzahlt (Homophonievermei-dung, rhythmische und pragmatische Wohlgeformtheit, etc.).

Ein zentraler Punkt in Kirchners Modell ist der Aktivierungsablauf bei derWorterkennung, den er analogue probe nennt. Dabei geht die Aktivierung vonperzeptuellen Knoten auf Exemplarknoten und schließlich auf perzeptuell ahnli-che Exemplarknoten uber, was sich in den Aktivierungswichtungen der Verbin-dungen manifestiert. Schließlich geht die Aktivierung auch auf die zugehorigensemantischen Knoten der aktivierten Exemplare uber.

Bei der Sprachproduktion geht die Aktivierung von der semantischen Ein-gabereprasentation aus, auf die Exemplarebene uber und von dort auf die arti-kulatorische Ebene zur Berechnung eines Ausgabeplans neuromuskularer Kom-mandos. Ein weiterer Schlusselmechanismus in Kirchners Modell ist die per-ceptual Echo-Probe fur eine artikulatorische Ausgabe noch nie gesprochenenWortmaterials. Dabei kommt es infolge einer “Null-Semantik-zu-Artikulation-Aktivierung” von der perzeptuellen Ebene ausgehend zu einer zweiten Akti-vierungswelle, wobei ein nun erstelltes perzeptuelles Produktionsziel uber einEcho auf der Exemplarebene alle perzeptuell ahlichen Exemplare aktiviert, dieschließlich Knoten auf der Artikulationsebene entsprechen.

Dieses aus der perzeptuellen Echo-Probe hervorgehende Verhalten nenntKirchner “Phonologisierung”. Die auf diese Weise generierten Ausgaben werden

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als neue Exemplare gespeichert, wodurch sich das mentale Lexikon zunehmendmit den phonologisierten Mustern fullt. Dieses Verhalten fuhrt laut Kirchnerzum Phanomen der Mustererverstarkung bzw. -Erweiterung, welches er in sei-ner Modellanalyse fokussiert und an Beispielen und ebenfalls mit Hilfe andererForschungsliteratur beschreibt. Im Zusammenhang mit der Mustererweiterungthematisiert Kirchner die Bedeutung distinktiver Lautkontraste. Er sieht dieVerwaltung derselbigen selbst bei Abwesenheit von Minimalpaaren ebenfalls alsEffekt der analogen Mustererweiterung, und zwar insofern, als daß durch siedie Kontraste fur die Diskriminierbarkeit tatsachlicher Worter auch auf Worterohne Minimalpaare generalisiert werden.

Durch die Musterverstarkung werden bestimmte (oppositionelle oder korre-spondierende) Muster zuruckgedrangt. Die verstarkten Muster jedoch erweiternihre Stabilitat graduell von haufigeren zu selteneren Wortern uber eine Sprach-gemeinschaft hinweg, was auch als lexikalische Diffusion bezeichnet wird. Ei-nige Wortentitaten seien als Effekt der Vorkommenshaufigkeit jedoch in derLage, dem genannten Anpassungsdruck an bestimmte lexikalische Muster zuwiderstehen. Kirchner beschreibt die Ausdehnung von Lautmustern auf ahnli-che Entitaten als eine Art “analogen Druck”, den die perzeptuelle Echo-Probeausubt und charakterisiert ihn als Gegenansatz zum traditionellen phonologi-schen Konzept der phonetischen Beschrankungen.

Eine der Schlusselaussagen Kirchners in diesem Zusammenhang ist, daß dieals “unnaturlich” gesehene sprachenspezifische Konditionierung an phonologi-schen Mustern durch den analogen Druck der perzeptuellen Echo-Probe ei-ne “naturlichere” Behandlung erfahre, die als universelle Beschrankung geltenkonne. Warum scheint Kirchner die Verhaltensweise seines Modells doch immerwieder mit den Termini der klassischen Phonologie auszudrucken, wenn er dochgerade von ihr abzurucken sucht? Diese Beschreibungsart erleichtert immerhinden Vergleich seines Exemplaransatzes mit den Prinzipien der standardmaßigenphonologischen Theorie, den Kirchner im Artikel ausfuhrlich vornimmt.

Das gangige Problem von Exemplarmodellen einen großen Speicherbedarffur die vielen Exemplare zu beanspruchen, lost Kirchner, indem bei seinemModell nur die Reprasentation eines Exemplarknotens bzw. dessen semantisch-phonetischer Knoteninhalt als Verbindung zwischen Knoten gespeichert wird.Er spricht in diesem Zusammenhang die Ahnlichkeit seines Vorgehens zu John-sons Strategie zum sog. head-filling-up problem [43] an, wo bei ahnlichen schonvorhandenen Exemplaren ebenfalls nicht jedes neue Exemplar gespeichert wird,sondern Haufigkeiten von Exemplarentitaten einer bestimmten Region im per-zeptuellen Raum vermerkt werden.

Das haufige Problem des kompliziert zu implementierenden Zeitbezugs imModell lost Kircher uber eine temporale Spezifikation seiner Knotenmerkmalebzgl. Simultaneitat und Prezedenz. Eine allgemein bekannte und auch bei Kirch-ner auftretende Schwierigkeit bei der Ahnlichkeitsberechnung im Modell ist dasErstellen einer universellen semantischen Merkmalsmenge, sowie die Aufstellungvon adaquaten Ahnlichkeitsmaßen im semantischen wie auch perzeptuellen Be-reich.

Im Zusammenhang mit seinen Hypothesen stutzt sich Kirchner kritischer-

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weise nur auf allgemeine theoretische Betrachtungen und Erkenntnisse ande-rer Forscher. Sein eigenes Exemplarmodell, dessen theoretischen Hintergrunder eingehend beschreibt, wendet er an, um das Phanomen der linguistischenMusterverstarkung anhand der postvokalischen Spirantisierung in der SpracheTigrya zu erklaren. Dafur hatte er einen gemischten Datenkorpus (mit Reali-sierungen postvokaler stops vs. postvokalischer Spirantisierung) zur Verfugungund zeigt uber den Aktivierungsflusses in seinem Modell die Entwicklung vonden Eingabe- zu den Ausgabereprasentationen. Dabei werden allerdings keineBezuge und experimentelle Vergleichsdaten geliefert, ob sich das linguistischePhanomen in der Realitat genauso vollzieht, bzw. wie genau das Modell naturli-ches Verhalten simuliert. Kirchner raumt abschließend ein, daß sein Modell nochausfuhrlich computationell getestet werden musse.

Kirchner zielt mit seinem Exemplarmodell darauf ab, Entstehung, Er-weiterung und Reduktion phonologischer Muster schlussiger zu erklaren, alses traditionelle Ansatze tun. Im Gegensatz zu der Arbeit der bereits vorge-stellten Exemplartheoretiker geht es hierbei also nicht nur um die Korrelateder menschlichen Sprachverarbeitung an sich, sondern um die Erklarungsprachlicher Regularitaten, die eigentlich von der klassischen Phonologieetabliert wurden. In den Arbeiten der zuvor von mir vorgestellten linguistischenExemplarforscher ging es darum, die allgemeine Aufgabe der Sprachperzeptionund -Produktion mit ihren Modellen aufzuzeigen; an die Stelle von Kirchnerskonkreten “phonologischen Phanomenen” tritt bei ihnen allgemein das Themavon beliebigen “Signalvariabilitaten”, die ein Exemplarmodell dort automatischdurch seine Organisation (inharent durch Detail- und Haufigkeitsinformation)handhabt — ohne eine komplizierte Ableitungsstruktur. Exemplare als zentralesprachliche Einheiten, deren Aktivierungsaspekt und die Vorkommenshaufigkeitahnlicher Exemplare ist allen genannten Exemplarmodellen gemeinsam (wennauch Kirchner zusatzliche Reprasentationen der einzelnen Ebenen einbezieht)und wichtig; unterschiedlich ist der strukturelle Referenzrahmen der Exemplaresowie der Erklarungsfokus der Modelle.

Patricia Kuhl. ([53], Kapitel 3.5)Patricia Kuhl liefert mit ihrem Artikel Human adults and human infants showa ‘perceptualmagnet effect’ for the prototypes of speech categories, monkeys donot ([53], Kapitel 3.5) einen Beitrag zur Pototypentheorie (die auch in der Lin-guistik Anwendung findet) sowie zur Analyse des menschlichen Sprachverarbei-tungssystems im Vergleich zur speziesubergreifenden lautlichen Verarbeitungdes Gehirns, hier die der Affen.

Bei ihr geht es nicht wie in den bisher erorterten Artikeln um exemplarba-sierte Forschung und vordergrundig um den Beleg von Gedachtnisstrukturen,die eine detaillierte exemplare Speicherung aufzeigen und aufgrund dessen ge-wisse linguistische Phanomene schlussig erklaren. — Sie setzt die Speicherungsprachlicher Entitaten in reprasentativen nicht genauer spezifizierten Formeninnerhalb linguistischer Kategorien voraus und konzentriert sich auf die lautlich-qualitative Unterscheidbarkeit der Kategoriemitglieder. Prototypenansatze undExemplaransatze gehen also gemeinsam von einer kategorialen Gliederung der

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Entitaten aus. Allerdings werden die Entitaten in einem Exemplaransatz alsgleichwertig hinsichtlich ihrer kategorialen Reprasentativheit betrachtet, was beieinem Prototypenansatz nicht der Fall ist.

Ich wurde die Prototypentheorie und die Exemplartheorie als alternativeAnsatze nebeneinander sehen, die sich nicht unbedingt gegenseitig ausschlie-ßen. Es gibt Exemplaransatze, die prototypische Exemplare vermuten (wie z. B.in Goldingers zuvor erorterten Artikel [24]) und im Gegensatz dazu aber auchsolche, die explizite Prototypen ganzlich ablehnen, weil sie als nicht notwendigangesehen werden, da prototypisches Verhalten aufgrund der Haufigkeitsinfor-mation in einer Exemplarmodellstruktur inharent vorhanden sei (siehe auchPierrehumberts [79] und Johnsons [43] weiter oben analysierte Artikel).

Bei Kuhl wird ebenfalls von sprachlichen Exemplaren gesprochen, obwohlsie nicht auf die Exemplare an sich fokussiert. Der hauptsachliche Unterschiedist, daß in ihrer prototypischen Sicht ein sprachliches Exemplar immer eineReferenz auf ein besonders “gutes”, “ideales” oder “reprasentatives” Katego-rieexemplar erhalt und mit diesem bei dessen Einordnung verglichen wird. —Rein exemplarorientiert wurde man jedes Exemplar mit jedem anderen in derSpeichermenge existierenden vergleichen ohne die Annahme “besserer” Exem-plare. Beim Prototypenansatz ist die Einschrankung der Vergleichsmenge nurauf einen Prototypen insofern vorteilhaft, als daß dies einen weitaus geringerenAufwand und Speicherressourcenbedarf als bei den reinen Exemplarmodellenbedeutet. Die “Typikalitat” von Exemplaren fur eine Kategorie wird in der Ex-emplartheorie nicht uber eine bestimmte Anordnung von Exemplaren innerhalbder kategorialen Exemplarextension realisiert, wie die Prototypentheorie diesgern durch eine raumliche Vorstellung veranschaulicht. Sie ist im Exemplaran-satz inharent durch die Verknupfung eines jeden Exemplars mit jedem weiterenuber die Starke der Aktivierung gegeben. Zudem druckt eine große Anzahl anhochaktivierten Exemplarverknupfungen zwischen bestimmten Exemplaren in-direkt aus, daß diese “typischer” fur die Kategorie sind. Ahnliches meint Johnsonvermutlich, wenn er in seinem o. g. Artikel [43] von prototypischem Verhaltenoder dem Prototypeneffekt auf Grund der Struktur und Haufigkeitsinformationin einem Exemplarmodell spricht. Verschiedene Ansichten bestehen zwischenden Exemplaransatze daruber, ob die Aktivierungsverknupfungen standig in-nerhalb aller Reprasentationen der kompletten Exemplarextension prasent odereinfach nur in einem bestimmten Extensionsbereich beim Vergleichsabruf eineseingehenden Exemplars kurzzeitig vorhanden sind.

Im Folgenden seien zur Verinnerlichung und zum Vergleich mit dem exem-plarbasierten Vorgehen noch einmal die wichtigsten Punkte aus Kuhls Prototy-pensicht und den Experimenten skizziert.

Kuhl geht es in ihrer Studie um die Hypothese, daß sprachliche Katego-rien eine interne Strukturierung aufweisen, die sich darin manifestiere, daß esinnerhalb der kategorialen Extension einen zentralen Kategorieprototypen alskategorie-reprasentativstes Exemplar gebe, um den sich konzentrisch alle weite-ren Kategoriemitglieder entsprechend ihrer Ahnlichkeit (hinsichtlich der lautli-chen Qualitat) zu ihm anordnen. Kuhl untergliedert die Abstandsbereiche zumPrototypen in ihren Experimenten in vier Entfernungsorbits, die nach außen hin

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bzgl. des Prototypen immer unahnlichere Exemplare enthalten. Alle Kategorie-mitglieder außer dem Prototypen gelten als Nichtprototypen. Kuhls Haupthy-pothese ist, daß der Prototyp auf die anderen Kategoriemitglieder nur in dermenschlichen Sprachwahrnehmung wie ein perzeptueller Magnet fungiert, derahnliche Nachbarstimuli anzieht bzw. assimiliert.

Zum Beleg der Hypothese untersucht sie zunachst im ersten Experimentmit erwachsenen Horern, ob die interne Kategoriestrukturierung uber die ver-schiedene aber konsistente Kategoriegute-Wahrnehmung von Stimuli seitens derProbanden nachzuweisen ist. Dies konnte bestatigt werden. In zwei weiterenExperimenten jeweils mit Erwachsenen und Kindern wurde die Wirkung dergefundenen individuellen Typikalitat von Exemplaren auf andere Exemplarefestgestellt: Falls als Prototypen eingestufte Exemplare die Vergleichsreferentenwaren, ergab sich ein wahrnehmbarer Hingezogenheitseffekt — Kuhls hypothe-tisierter perzeptueller Magnet-Effekt — ahnlicher Nachbarstimuli in Richtungdes Referenzstimulus. Dies war bei Erwachsenen und schon bei Kindern nachzu-weisen. Die Ergebnisse dieser zwei Experimente sollten im vierten Experimentmit nichtmenschlichen Primaten (Rhesusaffen) nachvollzogen werden. Es zeigtesich entsprechend der Hypothese, daß zwar Affen auf die kategoriale Gliede-rung ansprachen, jedoch die weitergehende intrakategoriale Gliederung in Formvon Prototypen mit einem perzeptuellen Magnet-Effekt konnte bei ihnen nichtnachgewiesen werden.

Zu Kuhls Versuch nachzuweisen, daß Affen nicht uber prototypischeGedachtnisreprasentationen und daran gekoppelt den perzeptuellen Magnet-Effekt verfugen, sei von meiner Seite kritisch angemerkt, daß die Affen ebennicht eine so intensive Sprachausgesetztheit im Vorfeld vorweisen konnten wiedie menschlichen Probanden inklusive der kleinen Kinder. Kuhl nimmt eben-falls schließlich an, daß eine Moglichkeit (neben der Moglichkeit der angeborenvororganisierten Sprachausstattung) der Entstehung der kategorialen internenOrganisation bei Kindern die Hor-Spracherfahrung durch eine gewisse Sprach-ausgesetztheit sei.

Kuhl weist aus, daß sich das Besondere unseres speziesspezifischen mensch-lichen Sprachcodes anscheinend darin zeige, daß sich dessen Strukturierung undVerarbeitung auf einem hoheren Niveau vollziehe, was anderen Spezies (z. B.Affen) nicht moglich ware. Mit Hilfe der isolierten Behandlung der sprachli-chen Verarbeitungslevels versuchte Kuhl die evolutionare Grundung und Qua-litat des menschlichen Sprachsystems herauszustellen. Ich finde es nicht un-wahrscheinlich, daß unser Sprachsystem eventuell mehr oder hohere Verarbei-tungsressourcen des Gehirns beansprucht, was schon allein dadurch indiziertwird, daß offensichtlich die Intelligenzleistung des Menschen uber der von vielenTieren steht. Aber ich finde die Vorgehensweise bei Kuhl nicht beweistrachtiggenug, um das menschliche Sprachsystem als spezieller oder komplexer anzuse-hen, als es ein tierisches Verstandigungssystem sein kann: Es mußte uberpruftwerden, ob die kommunikativen Laute, die Affen verwenden, nicht auch einegewisse Strukturierung aufweisen – vielleicht sogar eine, die fur uns Menschennicht wahrnehmbar ist, da uns die langerfristige “Affen-Sprachausgesetztheit”oder gewisse (eventuell nur in der Kindheit) sensible Sinne fehlen, die ein Affe

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jedoch fur seinen Wahrnehmungsbereich zur Verfugung hat. Das Zyklische ander Problemstellung behindert naturlich die Forschungsumsetzung: Wie sollenGliederungsaspekte an einem Sprachsystem wahrgenommen werden, fur das unsdie Wahrnehmungssinne fehlen?

Der Versuch des Nachweises von prototypischen Korrelaten im menschlichenSprachsystem ist fur einen exemplarbasierten Referenzrahmen von Belang. DerNachweis dieser Korrelate in der lautlichen Gedachtnisverarbeitungsleistungvon Tieren erscheint mir mittels Kuhls Arbeitsweise nicht adaquat bzw. ausrei-chend zu sein. Kuhls Prototypentheorie innerhalb der Linguistik und vor allemihre Theorie des perzeptuellen Magnet-Effekts ist jedoch einflußreich auf dieForschung bei Themen wie Kategorialitat, Diskrimination und Sprachaquisition.

Francisco Lacerda. ([57], Kapitel 3.6)Francisco Lacerdas Thema in seinem Artikel The perceptual-magnet effect: Anemergent consequence of exemplar-based phonetic memory ([57], Kapitel 3.6) istder von Kuhl [53] entdeckte perzeptuelle Magnet-Effekt, den er uber sein mathe-matisches Exemplarmodell zeigen will. Lacerdas zentrale Hypothese ist dabei,daß der Effekt, der bei Kuhl aus der Prototypenreferenz entsteht, bei seiner Sichtohne die Prototypen auskommt und sich stattdessen aus einer exemplarbasiertenKategorisierung mit einer metrischen Ahlichkeitsoperation ergibt. Lacerda stehtdamit eindeutig auf der Seite derjenigen Exemplartheoretiker, die die Existenzvon explitziten Prototypen ausschließen und allenfalls “prototypisches Verhal-ten” von Exemplaren annehmen.

Fur Lacerda sind Prototypen nicht real vorkommende, sondern lediglichadaquate und praktische Beschreibungsentitaten fur bestimmte Effekte wie denperzeptuellen Magnet-Effekt. Das mag ein Grund sein, weshalb er Prototypendoch immer wieder in seine Erklarungen einbindet. In diesem Sinn erklart Lacer-da, daß das Neue an Kuhls Prototypenansatz [54] im Vergleich zur klassischenPrototypentheorie die Hinzunahme eines nichtlinearen Effekts, also des perzep-tuellen Magnet-Effekts sei, der eine sog. Krummung des perzeptuellen Raumesversinnbildlicht. Das zeige sich darin, daß die perzeptuelle Distanz, d. h., die Un-terscheidbarkeit von Entitaten in der Nahe eines Prototypen sich drastisch ver-ringere, wahrend die Entitatendiskriminierbarkeit im Nachbarraum der ubrigenEntitaten — Nichtprototypen — linear, also proportional zur psychoakustischenDistanz ansteige.

Lacerda sieht in einem reinen Prototypenansatz folgende Kritikpunkte: Ent-sprechend Lacerdas Sicht mit mathematischem Hintergrund, musse es einenexpliziten Mechanismus fur die Neuanordnung bzw. das Etablieren adaqua-terer Prototypen geben. Das schließe einen Ruckgabemechanismus fur nicht-funktionale bzw. nicht mehr aktuelle Prototypen mit ein. Andernfalls wurdeeine Situation mit mehreren prototypischen Magneten (auch von unterschiedli-cher Anziehungsstarke) auftreten, welche das Referenzkonzept via Vergleichenmit einem stabilen Prototypenreferenten in Frage stelle. Es entstunde dann ein“ Mehr-Massensystem” mit interagierenden magnet-ahnlichen Referenten. Daswurde nicht mehr einem Prototypenkonzept entsprechen, dessen Essenz ja inder Reprasentativheit einer besten Instanz fur alle anderen Kategoriemitglie-

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der besteht. Somit musse es also Mechanismen fur eine stabile Verankerung vonPrototypen bzw. deren Neuorganisation geben, was aber in Kuhls Ansatz ([53],[54]) nicht explizit berucksichtigt werde.

Andere gangige Forschungssichtweisen von fixen sprachenabhangigen Proto-typenlokationen im perzeptuellen Raum, die akustischen und artikulatorischenBeschrankungen folgen, lehnt Lacerda ab, da der Spracherwerbsprozeß intuiti-verweise bewegliche prototypische Entitaten erfordere. Lacerda faßt seine Mei-nung hinsichtlich des Prototypenansatzes zusammen, daß aufgrund der Plasti-zitat der Sprache und im Zusammenhang mit Spracherfahrungs- und Lernpro-zessen nur plastische Prototypen sinnvoll waren (die dann entsprechende Pro-zesse zur Prototypenorganisation notwendig machen), deren referentielle Rollesich damit aber reduziere. Lacerda bevorzugt es daher, anstelle von Prototy-pen, die laut Kuhl Magneten fur ihre Nachbarinstanzen sind, reine Exemplarezu verwenden, deren Aktivierungsinteraktion entsprechend einer Distanz-Metrikmagnetenahnlich funktioniert.

Lacerda erklart mit seinem Modell wie die Kategorisierung von Exemplarenmittels der Ahnlichkeitsmetrik (und ohne Referenz auf einen kategoriereprasen-tativen Prototypen) deterministisch funktioniert, so daß die eindeutige Zuord-nung eines Kategorielabels fur ein eingehendes Exemplar sichergestellt ist. Da-bei kann es auch zu einer Kategoriegrenzenverschiebungen kommen. Unter denFunktionen seines mathematischen Modells befindet sich auch eine Diskrimi-nierungsfunktion, die simuliert, daß die Unterscheidbarkeit von Exemplaren ineinem bestimmten Nahebereich eines im berechneten Zentrum der Kategorie-distribution angenommenen Prototypen (also nicht eines konkret existierendenPrototypen-Exemplars) niedriger ist. Dies fuhrt zur Simulation eines gekrumm-ten perzeptuellen Raumes, was den perzeptuellen Magnet-Effekt ausmacht. InLacerdas Modell ist auch die Anpassung der kategorialen Organisation im Sin-ne des von ihm hervorgehobenen Spracherfahrungserwerbs durch die Ahnlich-keitsmetrik und entsprechende Funktionen gewahrleistet, was der exemplar-konzeptuellen Aktualisierung der Exemplarmenge durch neue Exemplare unddem “Erinnerungsverfall alter Exemplare” entspricht.

Lacerda bezieht eine positive Stellung zu Kuhls These (in [53]), daß der per-zeptuelle Magnet-Effekt fur nichtmenschliche Spezies wie Affen nicht vorhandenzu sein scheint und geht sogar soweit zu behaupten, daß der exemplarbasierteReferenzrahmen rein menschenspezifisch sei. Eine exemplarbasierte Speicherungvon Erfahrungen also nur beim Menschen? In welcher Weise speichern andereLebewesen dann Erfahrungen — oder speichern und verwalten sie eingehendeReize uberhaupt nicht? Ich finde Lacerdas Hypothese von der Exemplarspei-cherung nur beim Menschen etwas weitgegriffen, da er sie auch nur mit demStandpunkt belegt, daß der perzeptuelle Magnet-Effekt aus der Exemplarlabe-lung hervorgehe. Ist Lacerdas Gedankengang mit Umkehrschluß also folgender-maßen zu verstehen: Kein Magnet-Effekt bei Tieren beobachtbar — also keineExemplarlabelung — und daher gibt es bei ihnen auch keinen Exemplarreferenz-rahmen? Andererseits weist Lacerda aufgrund der Voraussagen seines Modellssowie anderen Studienergebnisse aus, daß wenn erreicht wurde, daß Affen be-stimmte Bedeutungen mit den Stimuli assoziierten, dann auch ein perzeptueller

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Magnet-Effekt bei ihnen beobachtbar sein mußte. Also doch ein Exemplarrefe-renzrahmen auch bei Tieren? Daß Affen mit bestimmten Stimuli Bedeutungenassoziieren und sich dies bei ihnen auch mit menschensprachlichen Stimuli errei-chen laßt, erscheint mit absolut moglich, wenn nicht sogar naturlich. Ich selbstfinde auch einen Exemplarreferenzrahmen bei den Tieren als wahrscheinlich,wenngleich dieser in seiner Komplexitat von dem der Menschen differieren magund naturlich eine Beweislieferung hierfur noch nicht vorliegt.

Wenn Lacerda abschließend die Vorteile seines mathematischen Exemplar-modells gegenuber einem Modell mit Prototypenansatz anspricht, nennt erunter anderem, daß sein Modell naher an der neurophysiologischen Realitatliege (ohne, daß diese nachgeahmt werden sollte). Dies fur sich zu beanspruchenempfinde ich als kritisch, da ja die neurophysiologische Sprachverarbeitungwohl nicht als allgemein geklart angesehen werden kann — wer weiß schonhundertprozentig wie diese Realitat aussieht? Wenn man das wußte, mußtennicht so viele Sprachverarbeitungsansatze miteinander konkurrieren und esware einfacher, adaquate oder aber zweckentsprechend geeignete Sprachverar-beitungsmodelle zu entwickeln.

Frank H. Guenther et al. ([33], Kapitel 3.7)Guenther et al. thematisieren in ihrem Artikel A Theoretical Investigation ofReference Frames for the Planning of Speech Movements ([33], Kapitel 3.7) imGegensatz zu den bisher besprochenen Artikeln der anderen Forscher fast aus-schließlich die Sprachproduktion. Bei ihnen ist im Zusammenhang mit sprach-lichen Entitaten auch mitnichten von Kategorien mit Exemplaren oder Proto-typen zu lesen — ihre Betrachtungsebene sind theoretische Referenzrahmen mitsprachlichen Zielen, die sich zunachst auf einer auditiv-perzeptuellen Planungs-ebene befinden und nach mehreren Ubertragungsschritten (entsprechend einermehrstufigen Verarbeitung im Gehirn) uber mehrere Referenzrahmen auf dieArtikulatorenebene gelangen. Wie spannt sich dabei der Bogen zu den Exem-plartheorien?

Bei der Sprachperzeption ging es bisher im Grunde genommen um das Map-ping eines empfangenen Stimulus (alias Exemplar) auf eine Vielzahl an ge-speicherten Exemplaren; bei Ubereinstimmung wurde das entsprechende Exem-plar erkannt bzw. kategorial einer bestimmten Exemplarmenge zugeordnet. BeiGuenther et al.’s auditiv-perzeptuellem Sprachproduktionsansatz gilt es umge-kehrt ein invariantes sprachliches Planungsziel auf eine Vielzahl an artikulatori-schen Zielen zu ubertragen und das adaquateste fur die Produktion bereitzustel-len bzw. artikulatorisch umzusetzen. Das bedeutet, bei Guenther et al. kommenmehrere Artikulationsziele in Frage — sie sind also variabel. Diese Sichtwei-se kollidiert mit dem traditionellen Sprachproduktionsansatz, der ublicherweisekonstriktionsbasiert ist und ahnlich dem traditionellen Perzeptionsansatz einemLaut regelbasiert anhand von Beschrankungen (hier kontextuelle oder artiku-latorische) bestimmte fixe bzw. invariante Konstriktionsziele der Artikulatorenzuordnet. Beim Exemplaransatz wird die regelgesteuerte Eingliederung von Lau-ten in fixe und grobkornige Lautschablonen (ohne Details wie z. B. Sprecherin-formation) abgelehnt und stattdessen ein Mapping auf konkrete feinkornige bzw.

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detailreiche Exemplare angenommen. Guenther et al. lehnen in ihrem Sprachver-arbeitungsansatz ebenfalls die Ubertragung lautlicher Ziele auf fixe bzw. inva-riante Schablonen (hier in Form von festen Vokaltraktkonfigurationen pro laut-liche Variante) ab. Die lautlichen Ziele, die sich zunachst im Gehirn in einemPlanungsraum befinden, den Guenther et al. auditiv-perzeptuellen Raum nen-nen, beschreiben sie als multidimensional bzgl. auditiver Eigenschaften. DiesenRaum konnte man mit dem Exemplarraum vergleichen, der ebenfalls multipleDetails fur jedes Exemplar enthalt, die mathematisch ebenfalls als Dimensionendarstellbar waren. So ließe sich sagen, daß Guenther et al.’s invariante auditiv-perzeptuellen Ziele bestimmten konkreten Exemplaren entsprechen, die fur dieProduktion abgerufen werden. Die artikulatorische Realisierung eines solchenspezifischen Exemplares erfolgt keinesfalls durch die (traditionell regelgeleitete)Auswahl einer einzigmoglichen fixen Artikulatorenkonfiguration, sondern erfolgtkontextabhagig bzw. artikulatorenabhangig (evtl. naturliche Einschrankungendurch Freiheitsgrade oder individuelle Einschrankungen z. B. durch Beißblocko. a.) durch eine individuelle Konfiguration — ein beliebiges detailreiches Ex-emplar wird uber eine individuelle Artikulatorenkonfiguration produziert.

Guenther et al.’s sprachliche Termini zur Beschreibung der Sprachver-arbeitung im Gehirn, die sich zwischen Bewegungstrajektorien, Planungsen-titaten, Muskellangen und -Kontraktionen, Motorik u. a. bewegen, scheinenvon der Perspektive her deutlich naher an der menschlichen Physis zu lie-gen, als die der bisher angesprochenen exemplarbasierten Forscher. Dies magauch durch Guenther et al.’s Verarbeitungsaufgliederung in verschiedene Refe-renzrahmen (Muskellangenreferenzrahmen, Artikulatorenreferenzrahmen, takti-ler Referenzrahmen, Konstriktionsreferenzrahmen, akustischer Referenzrahmen,auditiv-perzeptueller Referenzrahmen) so erscheinen. Guenther et al.’s Arbeitzur Sprachproduktion verbindet sich jedenfalls ebenso mit den bisher thema-tisierten Erkenntnissen aus der Perzeption, indem sie auf das Zusammenspielzwischen Sprachproduktion und -Perzeption verweisen, zu dem seine Referenz-rahmen der Zielspezifikationen und Sprachartikulationsplanung einen Interpre-tationsansatz liefern.

Guenther et al.’s Referenzrahmen-Mapping ist vergleichbar mit dem ex-emplarbasierten Ahnlichkeitsmapping, das Zuordnungen ohne phanomenspezi-fische Regeln abdeckt. Wie die Exemplartheorie davon ausgeht, daß sich diesprachliche Kompetenz uber die zunehmende Ansammlung von Erfahrungenbzw. sprachlichen Exemplaren in den Kategorien im Zuge der Sprachausge-setztheit aufbaut, stehen auch Guenther et al. auf dem Standpunkt, daß sichihre angenommenen invarianten auditiv-perzeptuellen Ziele in den Regionen desauditiv-perzeptuellen Raumes beim Spracherwerb wahrend der Entwicklung dersog. neuronalen Landkarte etablieren. Eine weitere Gemeinsamkeit zur den Ex-emplartheoretikern ist, daß auch Guenther et al. angeben, verschiedene linguisti-sche Phanomene wie die Phonemvariabilitat mit ihrem Forschungsansatz leich-ter erklaren zu konnen: mit der einfachen Annahme eines einzelnen konkretenauditiv-perzeptuellen Zieles und dem Mapping zwischen den Referenzrahmender Planung und dem der Artikulatoren, das die individuelle Vokaltraktkonfigu-ration kontextabhangig erklart ohne die Annahme einer zusatzlichen Maschine-

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rie oder Regelwerks fur die Auswahl einer artikulatorischen Zielkonfiguration.Neben den bereits oben angesprochenen Parallelen von Guenther et al.’s

theoretischer Studie zur Exemplarfoschung seien hier noch einmal kurz Guentheret al.’s Hauptevaluationspunkte zusammengefaßt:

Guenther et al.’s Ziel ist es, in der Sprachbewegungsplanung die traditio-nell angenommen invarianten Konstriktionsziele der Sprachartikulatoren auszu-schließen und anstelle derer invariante auditiv-perzeptuelle Bewegungsziele zubelegen. Ein weiteres linguistisches Thema, an dem sie ihre Hypothesen prufen,ist das der artikulatorischen Variabilitat fur ein einziges Phonem. Sie zeigenin Simulationen, daß ihr Modell ohne die Annahme invarianter Vokaltrakt-kon-striktionsziele sowohl das beobachtbare linguistische Phanomen der relativenInvarianz von Konstriktionslokationen und -Graden der Artikulatoren als auchderen nachweisliche gewisse Konstriktionsvariabilitat meistern kann (beim Be-darf multipler Vokalkonfigurationen beispielsweise aufgrund von Artikulatoren-einschrankungen — entsprechend der etablierten Theorie der motorischen Aqui-valenz (z. B. [1])).

Einige Schlusselthesen von Guenther et al.’s Modellierung sind: Die Existenzunbegrenzt vieler Artikulatorenkonfigurationen fur jede Position im auditiv-perzeptuellen Raum zum erreichen einer Position bzw. eines Ziels begrundet,daß es keine feste Konfiguration fur jede einzelne Position gibt. Das direktio-nale Mapping zwischen Planungsrahmen und Artikulatorrahmen bedingt also,daß das einzige als invariant zu bezeichnende Ziel bei der Sprachproduktionspla-nung ein auditiv-perzeptuelles Ziel ist und kein Konstriktionsziel. Das erlernteMapping wird deshalb als direktionales Mapping bezeichnet, da es bei der Uber-tragung anstelle von Zielpositionen um Bewegungsrichtungen geht. Man kanndaher auch von Bewegungstrajektorien sprechen, die im auditiv-perzeptuellenRaum geplant und auf die Artikulatorenbewegungen ubertragen werden. Dieauditiv-perzeptuellen Ziele haben die Form von multidimensionalen Regionen(und nicht von Punkten) im auditiv-perzeptuellen Raum.

Guenther et al. vermuten zwar, daß ihr auditiv-perzeptueller Sprachpla-nungsrahmen ohne invariante Vokaltraktformziele fur alle Sprachlaute zutref-fen moge, allerdings raumen sie auch die Moglichkeit ein, daß verschiedeneSprachlautklassen in verschiedener Weise produziert werden, wie einige For-scher annehmen. Das bedeutet, daß einige Lautklassen beispielsweise invarianteakustisch-auditive Ziele oder Zielregionen nutzen, andere hingegen invarianteVokaltraktformziele, die Guenther et al. in ihrer Forschung bei den Vokalenund Semivokalen ausschließen. Damit erscheint Guenther et al.’s sprachlicherReferenzrahmen als nicht so universell oder ubergreifend wie der der Exem-plartheoretiker, die fur alle sprachlichen Entitaten die gleiche zugrundeliegendeVerarbeitung im Gehirn annehmen unabhangig von lautlichen Kategorien.

Es gilt letztlich zu beachten, daß es sich bei Guenther et al.’s Sprach-produktionsansatz zunachst nur um eine theoretische Untersuchung handelt.Dennoch wird dessen Plausibilitat uber die Simulationen mithilfe des DIVA-Modells ([30], [31]) deutlich gemacht, das trotz des Fehlens einer experimen-tellen Vorgehensweise reale Sprachdaten verwendet. So kann die Produktions-Perzeptionsverbindung gezeigt werden sowie die Vernetzung und Ubertragung

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zwischen den Referenzrahmen.Es ware freilich etwas weitgegriffen Guenther et al. aufgrund der Parallelen

ihres Modells [33] zu den Exemplarmodellen ebenfalls als Exemplartheoreti-ker zu bezeichnen, da invariante auditiv-perzeptuelle Ziele eben doch nicht mitExemplaren bzw. Episoden gleichzusetzen sind. Lediglich laßt sich diesen Zie-len und dem Modell ein exemplar-ahnliches Verhalten bestatigen. Guenther etal. nehmen auch nicht Stellung zu Exemplarkonzepten oder ordnen ihre Sicht-weise in bestehende linguistische Stromungen ein; allenfalls sprechen sie vonkonstriktionsbasierten Theorien, zu denen ihre auditiv-perzeptuelle Theorie imGegensatz steht.

4.2 Traditionelle Phonetik-Phonologie-Modularisierung

Um die Oppositionsstellung und Herausforderung des Exemplaransatzes zur tra-ditionellen phonologischen Arbeitsweise deutlich zu machen, stelle ich im Fol-genden einen weiteren Artikel von Pierrehumbert bzw. Pierrehumbert et al.vor [81], der grundlegende Konzepte der Phonologie beschreibt. Daraus gehtdie typische Arbeitsweise der traditionellen Phonologie hervor mit ihrer starkenRegel- und Kategorien-Orientierung sowie ihrem Modularisierungskonzept (ins-besondere zwischen Phonetik und Phonologie). Dabei wird versucht, sprachlicheAspekte zu trennen und in verschiedene linguistische Disziplinen einzuteilen.Dies steht der Exemplartheorie entgegen, die anstrebt mit ihren Exemplarendie Merkmale verschiedenster linguistischer Teilbereiche in sich zu vereinen alsphonetische, phonologische, pragmatische, semantische etc. Merkmale, die dieExemplare definieren.

4.2.1 Janet Pierrehumbert, Mary E. Beckman, D. Robert Ladd:Conceptual Foundations of Phonology as a Laboratory Science

Pierrehumbert et al. behandeln in ihrem Artikel [81] die Ziele der Laborphonolo-gen und deren Themen der menschlichen Sprachverarbeitung wie Kategorialitat,Kompetenz und Performanz sowie Spracherwerb. Desweiteren nehmen sie aufverschiedene linguistische Forscher und deren Studien Bezug, angefangen beitraditionellen linguistischen Sichtweisen wie in Chomsky und Halle’s [13] Kon-zepten bis zu neueren Ansatzen wie in Guenther und Gjaja [32] mit neuerensprachlichen Reprasentationskonzepten. Es wird ein Uberblick gegeben, was dietypische Phonetik-Phonologie-Modularitat leistet; Pierrehumbert et al. nennendiesen modularen Sprachverarbeitungsrahmen Modified Extended Standard Mo-dularisation (MESM).

Zunachst ist ein großer Themenkomplex die Kategorialitat, die entsprechendder o. g. Modularisierung dem Phonologiemodul zugeordnet wird. Dieses Modulsei ohne graduelle, sich anhaufende Effekte und wird via diskrete Mathematikformalisiert. Dem gegenubergestellt wird das Phonetik-Modul mit seinen kon-tinuierlichen Variationen und graduell kumulativen Effekten, was entsprechendvia kontinuierliche Mathematik formalisiert werden kann. Eine Verbindung der

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beiden Module wird uber ein diskret-zu-kontinuierlich-Mapping geschaffen, dassogenannte phonetische Implementationsregeln verwendet.

Der MESM-Ansatz wird von vielen Forschern unterstutzt, wobei eine haufigeMeinung ist, daß die kategorialen Entitaten der Phonologie mentale Entitatenbzw. Klassen von Weltentitaten denotieren. Die kontinuierlichen raumlich-tem-poralen Ereignisse der Phonetik, die als real in der Welt existierend gesehenwerden, seien Worter, die Klassen von physischen Weltobjekten denotieren. BeiPierrehumbert wird die Sichtweise einer denotierenden Beziehung zwischen Pho-nologie und Phonetik skizziert.

Traditionell hatte diese Modularitat als Ziel, eine gute konzeptuelle Struk-tur zu schaffen, die das Phonologie-Mapping direkt und transparent darzustellenvermochte. So waren z. B. die Kategorien des so haufig in Studien thematisier-ten Vokalraumes weder arbitrar noch universell, sondern erlernt. Die Beziehungzwischen Lautwahrnehmung und phonologischer Kategorie schien sehr direktfur den Horer und passte zum unbewußten automatischen neuronalen Verar-beitungscharakter, jedoch nicht zu einer entsprechenden Vereinfachung in derwissenschaftlichen Theorie. Ein Problem in diesem Zusammenhang war, daß dieoben umrissene Phonetik-Phonologie-Beziehung komplex und abstrakt war undstarke mathematische Werkzeuge fur deren Formalisierung verlangte. So wurdeund wird ein direktes Mapping mit einer Phonologie-Phonetik-Modularitat, diebis in die fruhen 1990er Jahre popular war, nicht mehr universell akzeptiert.

Pierrehumbert et al. stellen in einem ausfuhrlichen Abschnitt eine großereAnzahl an Studienergebnissen anderer Forschern vor, wo Themen der Diskret-heit der Phonologie und der Komplexitat und Konstrastivitat phonologischerKategorien bearbeitet wurden. So wird im Einzelnen besprochen: die Kontro-verse, ob die Phonologie psychoakustische Nichtlinearitaten im physikalischenRaum bevorzuge; robuste Lautunterscheidbarkeit zur Bedeutungskontrastie-rung; konnektionistische Modellierungen bzgl. der Krummung des verschlussel-ten Parameterraumes aus einer generische Tendenz neuronaler Netzwerke her-aus; etc. Pierrehumbert et al. zeigen diese typischen Forschungsthemen der La-borphonologie anhand des Gegenuberstellens der verschiedenen Studien, ohneselbst die Problemstellungen abschließend oder zusammenfassend zu bewerten;d. h. es geht um die moglichen phonologischen Herangehensweisen (den Weg)und die phonologisch klarbaren Themen — und nicht vordergrundig um derenErgebnisbewertung (das Ziel).

Zu Themen der kognitiven Komplexitat schreiben Pierrehumbert et al., daßlexikalische Kontraste bzw. morphologische Alternationen eine Lautkenntnisund Korrelation zwischen Lauten und Bedeutungen im Lexikon involvieren. Siestutzen sich auf Werker und Stager [105], die hierzu bemerken, daß eine As-soziation zwischen Wortform und Lemma beim Menschen ab einem Alter von14 Monaten uber die Manipulation grober phonetischer Kontraste moglich sei.Eine Sensitivitat fur Sprachlaute und Antwortmuster auf feine phonetische De-tails wurde jedoch schon mit 11 Monaten als sprachspezifisch festgestellt. Somitund in Anbetracht der Große des neuronalen Umfangs fur die Verschlusselungzwischen Wortform und -Bedeutung nimmt man Grenzen bzgl. der Ausdehnungder phonologischen Differenzierung an.

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Ein weiterer großer Themenkomplex bei Pierrehumbert et al. betrifft dieKompetenz und Performanz sowie den Spracherwerb. Pierrehumbert et al. stim-men mit Chomsky darin uberein, daß der sog. steady state die ausgereifte lin-guistische Kompetenz beinhaltet. Sie zeichnet sich durch abstraktes, implizitesund synoptisches Wissen aus, das zusammen mit dem sprachlichen Wissen undseinen begrenzten bzw. finiten Bedeutungen eine unbegrenzte, d. h., produktivePerformanz gewahrleistet.

Die Autoren sprechen sich gegen die Annahmen der generativen Literaturaus, daß Wohlgeformtheitsbeurteilungen aufschlußreiche Daten uber die Kompe-tenz liefern. psycho- und soziolinguistische Studien zweifeln das ebenfalls an, daBeurteilungen uber “Wohlgeformtheit” subjektiven Meinungen unterliegen undanpassungsfahige metalinguistische Performanzen seien, die aufgrund von Er-wartungshaltung und Experimentier- oder Antwortvorlieben usw. zu Artefaktenfuhrten. So ließen sich schwerlich gute Beweistypen fur sprachliche Kompetenzfinden. Alle Sprachdaten kamen hingegen von der Performanz-Seite her; jedochkonne man nie die reine Performanz beurteilen, weil es Interpretationsproblemebzgl. der Daten, Natur und Kontext der Performanz gabe.

Entsprechend der traditionellen Konzeption sei der Spracherwerb ein Pro-zeß logischer Instantiierung von Variablen einer universellen Grammatik. Pi-errehumbert et al. distanzieren sich jedoch von dieser Sichtweise, da Studiener-gebnisse dieses Verstandnis der universellen Grammatik und des Phonologie-Erwerbs nicht stutzen bzw. in Fragen stellen.

Pierrehumbert et al. schließen ihren Artikel damit ab, daß es das Ziel derLaborphonologen sei, eine Spracherklarungstheorie mit dem Schwerpunkt aufder Entstehung der tiefen strukturellen Regularitaten von Sprache zu etablie-ren. Entsprechend der Chomsky-Tradition weisen sie des Menschen genetischeEmpfanglichkeit bzw. Pradisposition fur Sprache aus, welche sich in der logi-schen Instantiierung der universellen Schemata einer zugrundeliegenden Gram-matik manifestiere. Weitere potentielle Quellen, die die tiefen abstrakten unduniversellen Sprachcharakteristiken verursachen, werden angenommen und dazuangeregt, deren Zusammenspiel mit den notwendigen und optionalen Merkma-len furderhin zu erforschen.

4.3 Exemplartheorien vs. abstraktionistische Theorien —integrative Ansatze

Im Folgenden seien einige Arbeiten von Forschern skizziert, die fur ihre lingui-stischen Problemstellungen einen exemplarbasierten Rahmen verwenden abervielfach auch abstrakte phonologische Regularitaten bzw. Konstrukte einbezie-hen und diskutieren. Dies ermoglicht einen noch weiteren Blick auf die aktuelleExemplarforschung und verdeutlicht, daß es keine einheitliche Exemplarkonzep-tion gibt, sondern daß sie variabel und sogar mit traditionellen phonologischenKonzepten kombinierbar ist.

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4.3.1 Christophe Pallier, Angels Colome, Nuria Sebastian-Galles:The influence of native-language phonology on lexical access:exemplar-based versus abstract lexical entries

Zu der Debatte, wie die sprachlichen Reprasentationen im mentalen Lexikon desMenschen aussehen, liefert Pallier et al.’s Experiment [77] einige Anhaltspunk-te. Hierin ging es auch um die Frage der zwei konkurrierenden phonologischenSichtweisen, namlich ob es sich um abstrakte oder aber exemplarbasierte Ein-trage im mentalen Lexikon handele. Fur die abstrakten phonologischen Wort-reprasentationen im Lexikon stehen z. B. McClelland & Elman [62] und Norris[71]; wahrend z. B. Goldinger [24], Klatt [48] und Pisoni [83] fur die Speicherungvon Wortformen als detaillierte akustische traces eintreten.

Pallier et al. erforschten Worterkennungsprozesse mit flussig sprechendenzweisprachigen Spanisch- bzw. Katalanisch-Sprechern (die jedoch aufgrund ih-rer Herkunft entweder spanisch- oder katalanisch-dominant waren, trotz ihrerin der Kindheit starken Ausgesetztheit beiden Sprachen gegenuber). Sie wurdenin einer Entscheidungsaufgabe mit katalanischen und Nicht-Wortern getestet.Dabei zeigte sich, daß Minimalpaare, die sich nur in einem Merkmal unterschie-den, welches im Spanischen nicht distinktiv war, von den spanisch-dominantenHorern als Wiederholung wahrgenommen, d. h., als Homophone verarbeitet undvermutlich als solche in ihren mentalen Lexika gespeichert wurden. Im Gegen-satz dazu wurden die Wortpaare mit den katalanischspezifischen Kontrasten vonden katalanisch-dominanten Horern als separate phonologische Eintrage behan-delt. Dennoch zeigten die spanisch-dominanten Horer eine hohe Performanz ineiner lexikalischen Entscheidungsaufgabe mit katalanischen Wortern, die sichkaum von der der Katalanen unterschied.

Das suggeriere, so Pallier et al., daß obwohl die spanischen bilingualen Spre-cher das katalanische Lexikon problemlos meistern, mussen sich deren lexika-lische Reprasentationen von denen der nativen Katalanen unterscheiden. Dasscheinbare Kuriosum liegt in der Beobachtung, daß die Probanden auf bestimm-te Zweitsprachenkontraste bei phonemischen Perzeptionsaufgaben nicht sensitivaber bei der Wortidentifikation sehr wohl sensitiv auf dieselbigen reagierten. Pal-lier et al. raumen ein, daß dies konsistent mit Lexikonmodellen ware, in denenWorter direkt als konkrete Exemplare gespeichert werden.

Dennoch bevorzugen Pallier et al. zur Interpretation ihrer Daten die abstrak-tionistische Sicht, die bzgl. schwieriger Phonemkontraste in einer Zweitspracheangibt, daß sich der Sensitivitatsmangel aus der Reprasentation entsprechenderMinimalpaare als Homophone erklart. Dieser Sensitivitatsmangel wird hier alsSchwierigkeit gesehen, separate phonetische Kategorien fur bestimmte Laute ei-ner Zweitsprache zu entwickeln. Die abstrakten Wortreprasentationen werdendem akustischen Sprachstrom als normalisierte, sprachenspezifische phonolo-gische Reprasentation entnommen, die dann aus phonologischen Merkmalen,Phonemen, Silben oder einer Kombination daraus besteht. Das heißt hier, eswird eine Ubereinstimmung bzw. Ubertragung eines Paares an Zweitsprachen-phonemen als Assimilation auf ein einziges ahnliches Muttersprachenphonemvorgenommen. Pallier et al. fugen hinzu, daß ein einmal erworbener abstrakter

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phonologischer Code trotz langjahriger Ausgesetztheit einer zweiten Sprache nurschwer zu modifizieren sei. Obwohl die akustische Information fur das Sprach-perzeptionssystem verfugbar sei, dringe sie nicht bis ins Lexikon durch.

Fur eine mogliche episodische Sichtweise liefern Pallier et al. aber auch einenInterpretationsansatz: Demnach konnten die Worter auch in einem akustischenFormat als sprachenunabhangig gespeichert vorliegen und nur die Vergleichs-metrik hinge von der Horersprache ab. Daher konnten bilinguale IndividuenSprachlaute zweier verschiedener Sprachen akustisch in gleicher Weise wahr-nehmen, aber das Empfangen der Sprachinformation im Gehirn unterscheidetsich bzgl. der genutzten akustischen Parameter. Das bedeutet, die lexikalischenReprasentationen der katalanischen und spanischen Horer wurden sich nichtunterscheiden sie enthalten in beiden Fallen die komplette linguistische undnichtlinguistische Information nur der Weg zu deren Abruf aus dem Lexikonsei sprachenabhangig. Pallier et al. erklaren diese Sicht als nicht unmoglich, nurmusse die Funktionsweise des Abrufmechanismuses geklart werden. Er scheinegrundsatzlich sensitiv gegenuber akustischen Informationen von Spracheinga-ben zu sein, jedoch insensitiv gegenuber bestimmten akustischen Eigenschafteneiner Zweitsprache, deren Sprachlexikon eigentlich gemeistert wird (in vorlie-genden Fall andert sich die Vergleichsmetrik spanisch-dominanter Horer nichtadaquat zu den katalanischen akustischen Eigenschaften).

Die exemplartheoretischen Vertreter (Goldinger [24], Schacter & Church [89],Pisoni [83] etc.) sprechen nicht von Sensitivitatsunterschieden im Vergleichsme-chanismus. Sie geben nur an, daß ein direkter Vergleich zwischen dem aktuellenakustischen Signal und erinnerten akustischen Mustern stattfinde — und zwarunter der Assoziation vieler akustischer matches aus der großen Sammlung al-ler Wortformen. Sie sprechen auch von einer bewiesenen Sensitivitat gegenubernichtlinguistischen Oberflachendetails bei sprachlichen Erkennungsaufgaben.

Obwohl Pallier et al. sich nicht ganzlich der exemplarbasierten Sichweiseverschrieben haben, fassen sie abschließend drei Argumente zusammen, die dieexemplarbasierte Sicht unterstutzen, daß Instanzen von Zweitsprachen-Minimal-paaren sich nicht die gleiche lexikalische Reprasentation teilen und somit nichtals Homophone verarbeitet werden: (i) die in verschiedenen Studien nachge-wiesene Erhaltung der Fahigkeit zum Wahrnehmen neuer nichtnativer sprach-licher Kontraste, (ii) die mogliche Speicherung der Wortformen im mentalenLexikon in akustischem Format und damit verbunden (iii) die Bewahrung derdetailreichen akustischen Information fur die Perzeption von zweitsprachlichenKontrasten.

4.3.2 Kuniko Nielsen: The Specificity and Abstractness of PhoneticImitation

Kuniko Nielsen wendet sich in ihrer Studie [70] ebenfalls der Frage zu, wie diementale Reprasentation von Sprache bzw. Lautstrukturen aussieht, indem siedies uber die Bestimmung der Spezifitat und Abstraktheit bei der phonetischenImitation uberpruft.

Nielsen folgt dabei dem exemplarbasierten Vorgehen und erweitert mit ih-

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rem Experiment zu VOT-Imitationseffekten (VOT: voice onset time) die Ar-beiten von Shockley et al. [93] (ebenfalls VOT-Imitation) und Goldinger [25](F0-Verschiebung als Imitationseffekt nach gehorten F0-manipulierten Stimuli),die bereits herausfanden, daß Horer sensitiv auf wahrgenommene Variationensowohl gegenuber globalen phonetischen Dimensionen (wie z. B. bzgl. overallpitch range) als auch gegenuber feinen phonetischen Details einzelner Segmente(z. B. bzgl. Aspirationsgrad) reagieren. Goldinger fand außerdem einen worts-pezifischen Vorteil der Imitation: Es gab großere Imitationseffekte bei seltenerenWortern was exemplarbasierte Theorien voraussagen. Das bedeutet, daß je ge-ringer die Anzahl der mit einem Wort assoziierten Exemplare ist, desto großerist das Gewicht bzw. die Bedeutung jedes neuen Exemplars.

Weiterhin konnte sich Nielsen auf aktuelle Studien stutzen, die herausfanden,daß traces episodischer Erinnerungen bei der Sprachperzeption erhalten bleibenund daß die Perzeption und Produktion plastischer sei als vorausgehend ange-nommen: Imitationsparadigmen hatten gezeigt, daß Sprecher ihre Produktionenin Richtung des Gehorten verschoben.

Das Experiment von Nielsen selbst sollte untersuchen, inwiefern die VOT-Imitation uber neue Instanzen des gleichen Phonems generalisiert wird, oder obein neues Phonem in die gleiche naturliche Klasse fallt. Außerdem sollte geklartwerden, ob die Sprecher sowohl verlangerte, als auch verkurzte VOT imitieren,selbst wenn letzteres eine Abschwachung des linguistischen Kontrastes bedeutenwurde. Da Goldingers Studie [25] zwar die Prasenz von Wortgroßenreprasenta-tionen enthullte, aber nicht die Große der vom Imitationseffekt beeinflußtenEinheiten, sollte dies bei Nielsen ebenfalls erortert werden.

Im Experiment wurde die Aspiration auf dem Phonem /p/ manipuliert, ana-lysiert und der Aspekt der lexikalischen Haufigkeit der Stimuli kontrolliert. Niel-sen fand heraus, daß Subjekte, die verlangerte VOT horten, ihren eigenen VOTauch signifikant im Vergleich zu den baseline tokens steigerten; jedoch erga-ben sich keine signifikanten Anderungen bei verkurzten VOT. Weiterhin zeigtesich, daß die Imitationen uber neue Instanzen von /p/ generalisiert wurden (ge-nauso wie beim neuen Segment /k/), was indizierte, daß die Große der imitier-ten linguistischen Einheiten subphonemisch ist. Die Ergebnisse zur lexikalischenHaufigkeit (im Zusammenhang mit Goldingers wortspezifischen Vorteil) wareninsofern aussagekraftig, als daß die bereits gehorten Instanzen einen signifikantstarkeren Imitationseffekt zeigten, als die im Vorfeld nicht gehorten, was aufReprasentationen auf der Wortebene hindeutet.

Nielsen belegt mit ihren Ergebnissen außerdem die Sensitivitat von Spre-chern gegenuber abstrakten linguistischen Strukturen, die sich in phonetischemKontrast und subsegmentalen Reprasentationen zeigt. Zugleich konnte sie denexemplartheoretisch vorausgesagten wortspezifischen Vorteil der phonetischenImitation mit ihren Daten replizieren.

Nielsen vertritt eine Vermittlerposition zwischen abstrakten und konkreten(auf spezifische Details bezogenen), d. h., exemplarbasierten Ansatzen indem siekonkludiert, daß die erhaltenen Ergebnisse nach einem linguistisch-informiertenExemplarmodell der Sprachperzeption verlangen, das sowohl subsegmentale Re-prasentationen als auch solche auf der Wortebene einbindet und zudem noch

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Wissen uber linguistische Kontraste speichert. Sie geht also nicht davon aus,daß die eine Sicht die andere ausschließt, sondern versucht vielmehr beide zukombinieren. Da also jede der beiden Sichtweisen den Ergebnissen nach weiter-hin moglich ist, konnte man sie als nicht aussagekraftig ansehen. Wenn manunbedingt eine binare Ergebnis-Entscheidung zwischen zwei Hypothesen treffenund somit eine der beiden Hypothesen falsifizieren muß, ist eine solch negativeBewertung der kompositorischen Herangehensweise folgerichtig. Andererseits:Warum sollte der Mensch mit seinem uberraschend großen Speicherpotentialauch nicht in der Lage sein, sowohl detailreiche Exemplare und sprachenspezi-fische Regularitaten zu verwalten — inklusive der Mechanismen beides mitein-ander abzustimmen?

4.3.3 Robert Port: Phonology with Rich Memory: A Manifesto

Robert Port, der sich in seinem “Manifesto” [84] sehr stark fur die Exemplar-theorie einsetzt, schließt dennoch die Abstraktion nicht vollig in seinem exem-plarbasierten Phonologie-Konzept aus. Er behauptet, daß die Existenz detail-lierter episodischer Erinnerungen unanfechtbar sei, aber auch, daß Prototypenoder abstrakte Wortreprasentationen vermutlich existieren. Allerdings schrankter ein, daß diese fur das Empfangen, Erinnern und Produzieren von Sprache einenicht so essentielle Rolle spielten. Die abstrakten Strukturen der Phonologie sei-en lediglich dazu in der Lage die Verarbeitungsgeschwindigkeit zu vereinfachenbzw. die Gedachtnisspeicherung (das Erinnerungsvermogen) via des traditionel-len semiotischen Blickwinkels von Sprache als Symbolsystem zu unterstutzen.

Port unterstreicht deutlich, daß die menschliche Sprachverarbeitung nichtvon einem abstrakten low bit rate code fur Worter abhangt, sondern, daß dieWortreprasentationen konkreter sind, als die abstrakte Linguistik angibt undindividuell unterschiedlich fur jeden Sprecher seien. Jeder Sprecher sei ein ein-maliger Empfanger mit einem einmaligen auditiven Prozessor und einer einma-ligen Geschichte bzgl. seiner Sprachausgesetztheit. Port beschreibt dies so, daßdie Sprecher in der Realitat nicht jedes mogliche sprachliche Muster sondernnur eine Teilmenge daraus horen; sie kultivieren bestimmte Sprachmuster ent-sprechend ihren attentionalen Neigungen und solche, die die Sprachperzeptionunterstutzen; gegenuber ungewohnten Mustern scheinen sie hingegen taub zusein. Das Masse des zur Verfugung stehenden sprachlichen codes fur das episo-dische Gedachtnis sei groß – es beschranke sich jedoch auf jene Musterfragmente,die dem Sprecher fur seine episodische Perzeption nutzen; dies lerne ein Sprecheraus seiner linguistischen Erfahrung heraus.

Port suggeriert, daß Sprachakquisitionsition der Kinder mit ihrer sehr fruhensprachenspezifischen Perzeptionsspezialisierung (noch vor der Aussprache eige-ner erster Worter) einen Hinweis darauf gebe, daß auch das phonetische Wissenvon Erwachsenen von den erlebten Spracherfahrungen beeinflußt zu sein scheint.Dies aber wiederlege die traditionelle Annahme einer universellen Phonetik, aufdie jeder zugreifen kann.

Port vermutet, daß nicht nur die traditionLinguistenuisten sondern auch diemeisten Menschen Sprache bzw. Worter als aus Segmenten bestehend wahrneh-

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men, was auf die allgegenwartige Rolle der Lese- und Schreibfahigkeit zuruck-zufuhren sei. Selbige sei zuachst schwierig zu erwerben, was indiziere, daß de-ren segment- oder lautbezogenes Material vermutlich nicht besonders nahe ander tatsachlichen mentalen Reprasentation von Sprache liege. Gleichzeitig seisie aber nutzlich fur das schriftliche Festhalten von Sprache, machtig fur vie-le kognitive Aktivitaten und sinnvoll aufgrund der visuellen Orientierung desMenschen. Jedoch, behauptet Port, spiele die Große der segmentalen Einheiten(Konsonanten, Vokale) eine untergeordnete Rolle fur die Sprachverarbeitung ineinem Sprecher-/ Horer-Gehirn. Er schlagt vor, bei der Vorstellung der tatsachli-chen mentalen Sprachdarstellung, von der strengen lautbasierten Segmentierungder Phonologen abzurucken.

In Ports favorisiertem episodischen Modell sind phonologische Strukturendichte Verteilungen spezifischer Sprachepisoden in einem hochdimensionalenRaum aus auditiv-phonologischen (A-P) Merkmalen. Jede Episode sei also einPunkt im A-P-Raum und hat ein eigenes Aktivierungslevel. Das sei eine Ei-genschaft, die von Kurz- und Langzeitfaktoren von Eisoden mit der gleichenKategorisierung beeinflußt wird, als da waren beispielsweise Signallautstarke,Haufigkeit benachbarter Lautmuster mit der gleichen Clustergroße, Silbengroße,Wortgroße, Klarheit des auditiven Signals etc. Solche “Wolken” aus phoneti-schen Punkten im A-P-Gedachtnis leisten Folgendes:(i) Ihre episodischen Merkmale spezifizieren die Eigenschaft einer Episode inForm eines Vektors aus A-P-Merkmalen; sie haben kategoriale und detaillierteauditive Eigenschaften (beispielsweise im Zusammenhang mit Zeitintervallen,Stimmenqualitqualitat usw.), sowie semantische Eigenschaften entsprechend desKontextes.(ii) Beim Auftreten einer neuen Episode wird unter Betrachtung der ganzenEpisodendistribution eine Ahnlichkeitsberechnung zur Identifikation der neuenEpisode mittels der kategorialen Merkmale ihrer nachsten Nachbarn und Hin-tergrundaktivierungslevels durchgefuhrt.(iii) Sie beeinflussen uber die Erkennungsfunktionfunktion und die Aktivierungs-levels der Episodendistribution, welche Muster schließlich fur eine Produktionverwendet werden. (Besonders Kinder neigen dazu, Dinge wieder genauso aus-zudrucken, wie sie gehort wurden.)

Port unterstutzt die Entwicklung von Modellen fur das Worterlernen, Er-innern und Erkennen im Sinne der exemplarbasierten Modelle von Hintzman,Nosofsky, Kruschke u. a., mit Hilfe derer die Phonologie seiner Meinung nacheine angepaßte Exemplarmodellform fur die Sprachkategorisierung entwickelnkonne. Jede linguistische Episode wurde darin ein hochdimensionales Gedacht-nis-Feld beeinflussen, das mit langen bitstring -Merkmalen modelliert werdenkonne. Sie wurden die detaillierten episodenvariablen phonetischen Details re-prasentieren, desweiteren die semantischen Merkmale, die Orthographie usw.Port weist aus, daß dieser Raum mit den Annahmen der Phonologen und Phone-tiker vergleichbar ware, auch, da die phonologischen Generalisierungen in diesemRaum als Teilmenge der Merkmale reprasentiert waren. Die Prototypenformenvon Wortern (entsprechend dem gangigen sprachlichen Beschreibungsdenkender traditionellen Linguisten) wurden leicht vom System berechnet werden. Das

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waren diejenigen Merkmale, die uber viele Episoden hinweg gleich sind.Port schlagt fur die Modellierung vor, anstelle der ublichen random-bitstrings

aus der mathematischen Psychologie lieber tatsachliche akustische Parameteraus Aufnahmen zu verwenden, etwa so, wie in Pierrehumbert [80]. So ein Modellwurde eine Worterkennung unterstutzen, die auf der Statistik der Distributio-nen basiert und damit naturliche Phanomene mit einbezieht (wie inkompletteNeutralisierung, sprachliche Anderungen, Effekte dialektaler Variation etc.), diemit den diskreten, abstrakten und symbolischen Sprachmodellen bisher nicht er-klarbar seien — so Port. Er behauptet weiter, daß Sprachen sich zwar an einsymbolisches System aus Lauten, Wortern usw. grob annaherten (wegen derGrunde, aus denen Symbolsysteme etsp. Newell-Simon, Chomsky und Turingnutzlich erscheinen), aber in der Realitat kein symbolisches System sein konn-ten, da die Sammlung phonologisch-motorischer Muster zwischen den Sprachendramatisch differiere.

Grundsatzlich regt Port dazu an, daß Linguisten ihre Verarbeitungsdogmenaufgeben sollten sowie auch die Idee, daß liguistische Fakten auch psychologischeFakten seien. Die Phonologie sollte stattdessen als soziale Institution zur gene-rellen Beschreibung der Sprache einer Gemeinschaft gesehen werden, so Port.

Ports Argumente, die seine auschließliche Exemplarorientierung deutlich ma-chen, klingen nachvollziehbar und einleuchtend. Nichtsdestotrotz darf man nichtvergessen, daß es sich bei seiner Arbeit um eine rein theoretische Betrachtunghandelt, die keine eigenen experimentellen Belege liefert. Port verwendet alsonur die Studienergebnisse anderer Forscher — vermutlich grundlich recherchiert— und dafur erscheint mir seine Argumentationsweise und Hypothesenaufstel-lung zu forsch bzw. selbsteingenommen und sogar provokativ. Es ist die Frage,wie die Wissenschaftlichkeit einer solchen den eigenen Hypothesen vorbehaltlo-se Herangehensweise zu beurteilen ist — jedenfalls ist es vermutlich ja geradeder Effekt eines “Manifests” innerhalb der Wissenschaftsdokumentation, starkeReaktionen hervorrufen zu wollen, die Diskussion und damit auch die Forschungselbst anzuregen, welchen ich insofern nicht negativ bewerten wurde. Die Fragestellt sich nur: Ist politikahnlicher Stoff bzw. diese Art und Weise der Argumen-tation innerhalb der Wissenschaft angebracht? Zudem sei kritisch angemerkt,daß Port korrekte Literaturverweise bzw. eine Bibliographie in seinem Artikelvermissen laßt.

4.3.4 Noel Nguyen: The dynamical approach to speech perception:from fine phonetic detail to abstract phonological categories

Noel Nguyen thematisiert in seinem Vortrag [69] ebenfalls die Opposition zwi-schen abstraktionistischen und Exemplarmodellen der Sprachperzeption. Ergeht dabei besonders auf die potentielle Rolle phonetischer Details bei der Per-zeption bzw. dem Sprachverstandnis ein, die in den abstraktionistischen Mo-dellen eher minimiert wird und wo Sprache auf relativ kontextunabhangige ab-strakte Merkmale ubertragen wird.

Er motiviert seinen Arbeitsansatz wie die anderen exemplarorientierten For-scher, indem er auf jungste Forschungsbelege verweist, die suggerieren, daß

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Horer eine große Sensitivitat gegenuber phonetischen Details besitzen und daßdie lexikalischen Reprasentationen ebenfalls feine phonetische Informationenenthalten. Außerdem unterstutzt er ein nichtlineares dynamisches Modell derSprachperzeption von Tuller und Kollegen [101], wo perzeptuelle Kategorienmit Attraktoren einer potentiellen Funktion assoziiert werden und stellt dieseskurz vor.

Nguyen skizziert den abstraktionistischen Oppositionsansatz, indem er des-sen wichtiges Konzept der perzeptuellen Normalisierung hervorhebt, die zugrun-deliegenden phonologischen Reprasentationen als abstrakt, diskret und kontext-frei mit einer arbitraren semantischen Beziehung zwischen den phonologischenReprasentationen und phonetischen Formen beschreibt, sowie die Existenz ei-nes mentalen Lexikons als Menge permanent gespeicherter kontextunabhangigerWorteinheiten ausweist.

Ausfuhrlicher fuhrt er den exemplarbasierten Ansatz ein, wobei als einigeseiner Vertreter Elman [17], Bybee [8], Johnson [43], Goldinger [25], und Pierre-humbert [80] u. a. genannt werden. Ihren Ansatzen ist gemeinsam, daß Worterund hochfrequente grammatische Konstruktionen im Gedachtnis als Liste vonExemplaren gespeichert werden, die hochgradig kontextabhangig sind und feinephonetische Details mit indexikalischer und linguistischer Information enthal-ten.

Wie die Exemplareinheiten hingegen aussehen, ist in den einzelnen Ansatzensehr unterschiedlich. In einigen Modellen haben Exemplare keine interne Struk-tur und bilden unanalysierte auditive Reprasentationen, so z. B. bei Johnson[43]. Haufig wird angegeben, daß die phonologischen Einheiten wie Segmen-te und Silben dann erst ins Horerbewußtsein dringen, wenn ein ankommendesSprachsignal auf das mentale Lexikon ubertragen wird. Somit seien diese Einhei-ten ein temporares Nebenprodukt der lexikalischen Aktivierung und entstundenals Verbindungen zwischen zeitalignierten phonetisch ahnlichen Teilstucken vonExemplaren. In manchen Modellen werden Worter als Basiseinheit der Sprach-perzeption genommen, in den meisten jedoch gibt es keine solche, sondern eswird von Einheiten verschiedener Große ausgegangen, die simultan aktiviert wer-den, wobei tendenziell großere gegenuber kleineren Einheiten bevorzugt werden(so z. B. bei Grossberg und Myers [29]).

Das Konzept der phonetischen Ahnlichkeit ist in den Exemplarmodellenimmer wieder zentral, denn es bestimmt das Aktivierungsmuster im lexikali-schen Raum und die Entstehung der sublexikalischen Einheiten. Eine weitereexemplartheoretische Hauptrolle spielt die Verwendungshaufigkeit lexikalischerEntitaten sowohl fur die Perzeption als auch dafur, wie die Worter und Kon-struktionen im Gedachtnis reprasentiert werden. In kombinatorischen Paradig-men (Bybee und McClelland [10]) umfaßt das phonetische bzw. phonologischeWissen sowohl token-spezifische Details als auch abstrakte Muster wie z. B.CVC-Schemata.

Zum Phanomen der allophonischen Variation nimmt die ExemplartheorieNguyen zufolge in folgender Weise Stellung: Die Entstehung segmentaler Ein-heiten basiere auf der auditiven Ahnlichkeit uberlappender Exemplarteile; dar-aus resultiere ihre Kontextabhangigkeit. Die kategoriale Klassifizierung eines

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phonetischen Segments bestimmt sich aus dessen substanziellen Eigenschaftenund nicht aus dessen Verteilung (Bybee [8]). So werden phonetische Entitatenals Mitglieder der gleichen Kategorie klassifiziert, wenn sie entsprechend ahn-lich bzgl. ihrer akustischen bzw. artikulatorischen Eigenschaften sind. Pegg &Werker [78] geben dabei an, daß allophonische Varianten schwieriger zu unter-scheiden seien als phonemische Kontraste. Fur Phanomene wie: subphonemischeVariation bei VOT und silbeninitialen Stops, koartikulatorische Muster (z. B.V-to-V), Resonanzeffekte bei Liquiden, Stimmhaftigkeit in der Coda usw., dieentscheidend fur das Sprachverstandnis seien, spielen die feinen phonetischenDetails eine entscheidende Rolle.

Nguyen faßt schließlich drei Hauptannahmen der Exemplarmodelle zusam-men:(i) Die feinen phonetischen Details haben einen direkten Einfluß auf die Musterder lexikalischen Aktivierung.(ii) Die entstehenden segmentalen Einheiten basieren auf der auditiven Ahn-lichkeit zwischen uberlappenden Teilen von Exemplaren und sind daher kon-textabhangig.(iii) Diese Einheiten – unabhangig ihrer Generalitat – entstehen aus den Lau-ten, denen die Horer ausgesetzt sind; keine Rolle hingegen spielen abstraktephonologische Entitaten wie z. B. leere Onsets oder fließende Segmente.

Nguyen kritisiert jedoch einige Punkte bei den reinen Exemplarmodellen. Someint er, daß diese nicht erklaren konnen, wie die allophonische Variation vonHorern gehandhabt wird (auch bei Peperkamp et al. 2003). Weiterhin befindeter, daß die Rolle der auditiven Ahnlichkeit und der induktiven Generalisierungbei der Entstehung phonologischer Kategorien zu stark betont wird. Und alsletzten Kritikpunkt fuhrt er an, daß mithilfe der Exemplarmodelle nicht erklartwird, warum Horer manchmal insensitiviv bezuglich Variationen in den Ober-flachen von Wortern sind (wie auch bei Pallier et al. [77]).

Die genannten Problemstellungen nutzt Nguyen als Motivation, den dyna-mischen Exemplaransatz von Tuller, Case, Ding & Kelso [101] kurz vorzustel-len. Dieses perzeptuelle Modell ist ein nichtlineares dynamisches System, dessenVerhalten von seinem vorausgegangenen Status und einigen Kontrollparame-tern abhangt. Es zeigt Eigenschaften, die von anderen Exemplarmodellen geteiltwerden wie Detailsensitivitat und Vorkommenshaufigkeit; anders ist jedoch, daßperzeptuelle Kategorien nicht isomorph zu auditiven Sprachmustern sind. DieZugreifbarkeit einer Wahrnehmung, ihre Stabilitat und Starke sind Funktionender akustischen Eigenschaften des Stimulus, der vorausgegangenen Wahrneh-mung sowie den kombinierten Effekten des Lernens, der linguistischen Erfah-rung und der Aufmerksamkeitsfaktoren. Wahrend die akustische Charakteristikdes Stimulus einen Einfluß auf die Form der potentiellen Funktion hat, wirddieser Einfluß durch eine nichtlineare Funktion ubereignet und außerdem kom-biniert mit hochgradig kognitiven Faktoren wie Aufmerksamkeit und Training.Das Systemverhalten zeigt somit qualitative Anderungen uber die Zeit hinwegund unter dem Einfluß der Kontrollparameter (z. B. abrupter Wechsel in dieRichtung eines anderen Attraktors). Die Attraktoren, die mit der potentiellenFunktion assoziiert werden, konnen als eine Diskretisierung des perzeptuellen

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Raumes gesehen werden. Dennoch ist die potentielle Funktion selbst kontinu-ierlich und ebenso ist es auch das Laut-Wahrnehmungs-mapping.

Die Experimente von Tuller und Kollegen [101] untersuchten die perzeptuel-le Dynamik sprachlicher Kategorisierung fur einen solchen Fall, daß die Stimulientlang einer bestimmten akustischen Dimension prasentiert wurden (hier: say-stay-Kontinuum). Die Ergebnisse konnten die Voraussagen von Nguyens dyna-mischem Modell stutzten.

4.3.5 Joan Bybee: From usage to grammar: the minds response torepetition

Meiner Beobachtung nach ist Joan Bybee eine weitere Vertreterin fur eine Ver-mittlerposition zwischen abstrakter und Exemplar-Speicherung von Sprache immenschlichen Gedachtnis, wie aus ihrem Artikel [9] heraus deutlich wird. Siegeht dabei vom anwendungsbasierten Blickwinkel aus vor und thematisiert dietraditionell hochgeschatzte Grammatik von Sprachen als abstrakte Struktur, dieaber mit den einzelnen Spracherfahrungen, d. h., Exemplaren, eng verbunden istund daraus entsteht. Auf diese Weise wird eine naturlich wirkende Verbindungbzw. Symbiose zwischen traditionellen (abstrakten) und neueren (exemplarba-sierten) Sichtweisen geschaffen. Um diese Perspektive zu belegen, erarbeitet sieein Exemplarmodell, das sich sowohl an phonologische als auch an semantischeReprasentationen anpaßt und ihre Untersuchungsdaten beschreibt.

Bybee erklart einfuhrend, daß eine Grammatik bisher unter den Linguisteneinvernehmend als kognitive Sprachorganisation verstanden wurde, wobei dieanwendungsorientierten Theoretiker dies so konkretisierten, daß diese Organi-sation aus den Erfahrungen eines Menschen mit der Sprache entstunde. BeiBybee wird dieses Verstandnis noch um die einzelnen Erfahrungsfacetten erwei-tert: Ihr zentrales Thema ist die Vorkommenshaufigkeit von Einzelerfahrungenbzw. gleichen Instanzen. Sie hypothetisiert, daß das Gedachtnis auf die Wieder-holung (von Erfahrungen bzw. bestimmten erfahrenen sprachlichen Instanzen)mit der Herausbildung einer Grammatik reagiert. Hier stehen sich also wie-der gegenuber: konkret vs. abstrakt und Verwendung (-Nachfrage) vs. Theorie(Grammatik), welche sich jeweils gegenseitig bedingen. Weiter behauptet By-bee, daß die Nutzungshaufigkeit der linguistischen Instanzen oder Konstruktio-nen die Reprasentationen sowie die Sprachvariation beeinflußt. Dies zeige sichim Sprecherwissen bezuglich konventionalisierter Phrasen und deren Robust-heit gegenuber Sprachanderungen. Bybee nimmt fur die Reprasentationen alspassenden Typus Konstruktionen an.

Bybee berichtet, daß bestimmte Konstruktionsinstanzen ihre eigene Prag-matik, semantische und phonologische Charakteristik erwerben konnen. DieseFormbarkeit von Konstruktionen umfasse außerdem Grammatikalisierungspro-zesse, die weitere Anderungen produzieren. Damit sind Anwendungsereignis-se gemeint, die die Reprasentation bzgl. Morphosyntax und Phonologie be-einflussen und eine Exemplarreprasentation (bei Bybee als Konstruktion) furdie Spracherfahrungen notwendig machen. Die kognitive Sprachreprasentation- Grammatik - ist abstrakt (wie alle kognitiven Kategorien) und verbindet sich

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mit den Einzelerfahrungen, was sich uber die Fahigkeit des menschlichen Ge-hirns zeigt, die Spracherfahrungen bzgl. Identitat und Ahnlichkeit zu sortierenund zu kategorisieren. Haufige Konstruktionsinstanzen funktionieren dabei alszentrale Mitglieder von Konstruktioskategorien und behalten ihre Form langerunter dem Druck neuer sprachlicher Anderungen.

Als Motivation, weshalb sich Bybee fur eine konstruktionsbasierte Reprasen-tation ausspricht, fuhrt sie die folgenden Vorkenntnisse an. Bybee geht davonaus, daß gesprochene oder geschriebene Diskurse haufig durch die Verwendungkonventionalisierter Wortsequenzen charakterisiert werden, die formale Sprache,Idiome oder Kollokationen enthalten konnen. Diese haufigen besonderen Wort-sequenzen scheinen eine unterschiedliche Gedachtnisverarbeitung zu erfordern.So ist von Idiomen bekannt, daß sie gebrauchliche (einfache) Worter mit einervoraussagbaren Morphosytax enthalten, die aber eine erweiterte oft metapho-rische Bedeutung besitzen. Sie benotigen aufgrund ihrer unvorhersagbaren Be-deutung eine lexikalische Reprasentation - jedoch mit Bezugen zu den Kompo-nentenwortern (auch in anderen Kontexten) und allgemeineren Konstruktionen,von denen ihre Bedeutungsaspekte abgeleitet sind. Das wurde eine organisier-te bzw. strukturierte Speicherung von Wortmaterial belegen, so Bybee, bei derWortsequenzen sowohl lexikalische Reprasentationen als auch Assoziationen zuanderen Vorkommen des gleichen Wortes haben konnen. Kollokationen, auch“Prefabs” (prefabricated word combinations) genannt, sind sprachenubergrei-fend sowie in ihrer Form und Bedeutung voraussagbar. Bybee gibt an, daß siedeshalb und trotz ihrer Wahrnehmung als gewohnlich (da haufig in Diskursenauftretend) eine eigene Speicherung indizieren: Im Sprachgebrauch werden nichtabstrakte Strukturen instantiiert, sondern spezifische Instanzen der Strukturenwiederverwendet, um neue Außerungen zu kreieren. Dies entspricht der Sicht-weise, daß eine Grammatik direkt aus der Spracherfahrung folge und deshalbmutierbar sei anstatt statisch, kategorial oder fixiert. Somit wurde Sprache alsdynamisches System gesehen werden vergleichbar zu einem biologischen, daskeine a-priori-Struktur besitzt, sondern dessen Struktur aus der Wiederholungvieler lokaler Ereignisse entstehe, schatzt Bybee ein.

An diesem Punkt wird klar, daß Bybees integrativer Ansatz, der abstraktegrammatikalische Strukturen in ein Exemplarmodell einbindet, auch die exem-plarbasierte Seite deutlich betont. Als Grammatik werden keine als abstrakteStrukturen manifestierte Regeln gesehen, die direkt im Gedachtnis gespeichertwerden, sondern sie ist eher ein abstraktes Konstrukt zur linguistischen Beschrei-bung typischer bzw. haufiger Assoziationen zwischen gespeicherten Exemplaren.

Ziel in Bybees Untersuchung ist es, ein Exemplarmodell mit einer Gramma-tik zu entwickeln, in der es eine Exemplarreprasentation mit Konstruktionen alsBasiseinheiten der Morphosyntax gibt; d. h., die Konstruktionen besitzen Exem-plarreprasentationen, die von den verwendeten spezifischen Instanzen beeinflußtwerden. Wenn Bybee in ihrer Modellierung von einer Exemplarreprasentationder Konstruktionen spricht, ist damit die Zusammengruppierung von Wort- oderPhrasenexemplaren mit Ahnlichkeiten in verschiedenen Dimensionen im kogni-tiven Speicher gemeint. Diese Gruppierungen nennt sie Konstruktionen und daskonnen sein: (i) Idiome mit festem lexikalischen Inhalt, (ii) teilweise gefullte Idio-

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me, (iii) Konstruktionen mit einigem festen Sprachmaterial oder (vi) abstrakteKonstruktionen. Die Idee ist, da solche Prefabs und Idiome haufig vorkommen,auf Sequenzen an vordefinierten lexikalischen Auswahlen zu referieren anstattauf eine abstrakte Grammatik. Weil sich diese Grammatik aus den spezifischenInstanzen der Sprachverwendung zusammensetzt, handelt es sich um eine Ex-emplarmodellierung.

Bybee verwendet eine Version der Exemplarmodellierung, die sich an Nosofs-kys [73] und Goldingers [23] Arbeit mit dem Thema der Reprasentation pho-netischer Variation orientiert. Darin wird jedes Erfahrungsexemplar in einemorganisierten Netzwerk als Teil eines Verschlusselungsprozesses klassifiziert, derdie Reprasentationen selbst beeinflußt. Ahnliche, aber zu bereits existierendenExemplaren nicht identische Instanzen werden als eigene Exemplare reprasen-tiert und neben ahnlichen Exemplaren gespeichert, um Cluster von Kategorienzu bilden. Somit besteht die phonetische Form eines Wortes aus einer Mengean einander ahnlichen phonetischen Exemplaren. Die entstehenden Exemplar-cluster konnen hierarchisch gegliedert werden. So wird eine phonetisch ahnlicheExemplarmenge mit der gleichen Bedeutung gemeinsam geclustert und als einhoheres Level als ein Wort oder eine Phrase reprasentiert. Konstruktionen ent-stehen bei nahestehender Speicherung von Phrasen mit formaler Ahnlichkeitund semantischer Koharenz. Neue Konstruktionen werden aus spezifischen In-stanzen alterer allgemeiner Konstruktionen kreiert.

Bybee verwendet in ihrer Modellierung Johnsons Ansatz [43], bei dem diegespeicherte Information uber die Exemplare den phonetischen, linguistischenund sozialen Kontext, semantische und pragmatische Details, Aspekte von Ex-emplarreprasentationen bzgl. ihrer Veranderung uber die Zeit hinweg sowie ihreVerwendungshaufigkeit beinhaltet. Es gilt anzumerken, daß bei einem Erwach-senen eine nur einmal erfahrene Phrase einen geringeren Einfluß auf deren Ex-emplarreprasentationen hat (relativ zu den akkumulierten schon existierendenExemplaren) als bei einem Kind mit seinem beschrankteren Erfahrungsschatz.In einem dergestalt hochorganisiertem Netzwerk an Morphemen, Phrasen undKonstruktionen ist die Unterscheidung zwischen spezifischer und verteilter Spei-cherung schwierig, da beide Verarbeitungstypen zu gleicher Zeit vorkommen; sieist probabilistisch und auf der Erfahrung des Sprachbenutzers beruhend.

Bybee untermauert ihren Ansatz, indem sie auf die erwiesene hohe Speicher-kapazitat des Gedachtnises eingeht und auf nichtlinguistische Erkenntisse refe-riert, die Goldinger [23] und Johnson [43] zufolge detailliert und extensiv seinsollen. Sie bespricht auch die Frage nach der Reprasentation der Wiederholungvon Erinnerungen an (besonders wichtig fur das Erlernen regular wiederkehren-der phonologischer strings oder Worter).

Bybee spricht auch den Verfall von Erinnerungen uber die Zeit hinweg an.Daraus ergeben sich zwei Hauptfahigkeiten des Gedachtnises (auch fur die Er-klarung linguistischer Phanomene): der Aufbau von Starke bei wiederholten Er-innerungen sowie der Abbau nichtwiederholter Erinnerungen. Zu diesen beidenMerkmalen kommt noch die Moglichkeit der Reorganisation von Erinnerungenz. B. bei Anderungen in der Sprache, wo es laut Bybee [6] zu einer Reorganisa-tion in einem Exemplarcluster komme, die in einer geringeren Variationsbreite

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resultiere.Als Grammatikalisierung bezeichnet Bybee die Kreation einer neuen Kon-

struktion außerhalb einer bestimmten Instanz oder bereits existierenden Kon-struktion. Dieser Prozeß bewirkt Anderungen in der Phonologie, Semantik oderStruktur bei haufigen Konstruktionen.

Bybee faßt abschließend zusammen, daß die kognitive Organisation der Spra-che, die sich in der Vielzahl der gespeicherten Exemplare und Konstruktionensowie deren vielfaltigem typischen Verknupfungsnetz manifestiert, Grammatikgenannt wird und die Erfahrungen mit der Sprache wiedergibt.

4.3.6 Stephen D. Goldinger: Echoes of Echoes? An Episodic Theoryof Lexical Access

Stephen D. Goldinger steht zwar ganz auf der Seite der exemplarbasierten For-scher, dennoch thematisiert er in seinem Artikel [25] auch die Frage nach ab-strakten Aspekten bei der Sprachperzeption: Ist der lexikalische Zugriff reinepisodisch oder auch abstrakter Natur?

Goldinger verwendet Ergebnisse seiner shadowing-Experimente, um uber dieImitationsstarke (aus der Wiederholungsaufgabe seiner Worter und Nichtworterhervorgehend) den Detailreichtum der gespeicherten Sprachmuster und damitderen episodischen Charakter daran deutlich zu machen. Dies setzt er gangi-gen Theorien entgegen, in denen idiosynkratische Aspekte der Sprache wie z. B.Stimmdetails als Rauschen betrachtet und daher bei der Perzeption herausge-filtert werden. Aus dem Test seiner Daten mithilfe von Hintzmans episodischemModell MINERVA 2 [36] schlussfolgert Goldinger, daß detaillierte Episoden dasBasissubstrat des mentalen Lexikons darstellen.

Goldinger ist einer der linguistischen Forscher, der lexikalische Prozesse alsuber die Perzeption hinausgehend wahrnimmt. So weist er darauf in, daß in denLaborstudien die lexikalischen Prozesse als nur auf die Perzeption der lexikali-schen Formen begrenzt gesehen werden; außerhalb dessen jedoch verlange eineKonversation beispielsweise noch syntaktisches Parsing, Ambiguitatsauflosungund vieles mehr. Einfache episodische Modelle seien daher bisher kaum in derLage, eine Satz- oder Diskursverarbeitung erklaren, weil echte Konversation imBereich der Ideen stattfinde, ohne auf tangentiale Informationen wie Stimmde-dails zu fokussieren; das wiederum deute auf eine gewisse perzetuelle Abstrakt-heit der naturlichen Sprache hin.

Daruberhinaus gibt es unterschiedliche Ergebnisse bzgl. der Zuverlassigkeitvon oberflachenspezifischen Effekten bei der Wortperzeption. Das laßt entspre-chend Goldinger vermuten, daß die angenommenen episodischen traces keineperzeptuellen Analoge sind, die nur von den Stimuluseigenschaften komplettdefiniert werden, sondern daß sie ganze perzeptuell-kognitive Objekte sind, diesowohl von perzeptuellen Formen als auch von kognitiven Funktionen spezifi-ziert werden. Goldinger verweist damit zusammenhangend auf die Diskrepanzzwischen der Laborsituation, wo linguistische Ereignisse bzw. Worter als Tragerder Episoden in experimentellen Versuchen in der Perzeption an sich fokussiertwerden vs. der Situation sich naturlich ereignender Sprache. Dort sind Worter

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subordinierte Entitaten und die Episoden verdeutlichen die Bedeutungselementeanstatt die selbst Perzeption hervorheben.

Bedeutungselemente oder Ideen sind Goldinger zufolge uber kurzere oderlangere Episoden verteilt, was flexible (nicht zwingend wortbasierte) episodi-sche Grenzen verlange. Das episodische Lexikon muß also keine ausschließlicheWortsammlung sein, sondern kann eine reiche linguistische history enthalten, dieWorter z. B. in verschiedenen Kontexten, Nuancen, Schriftarten oder Stimmenwiedergibt. Die Erfahrung eines Wortes in verschiedenen Kontexten ermoglichtes, seinen Haufigkeitsstatus, seine syntaktischen Rollen und assoziativen Ver-bindungen zu anderen Wortern festzustellen. Quellen redundanter Informationkonnen entsprechend psychologischer Annahmen bei der Perzeption und Spei-cherung abgestimmt und ausgetauscht werden. Das Speichern von Wortern invariablen Kontexten fuhre zum Verfolgen von Myriaden von Wegen zuruck zu ei-nem Wort, so Goldinger. So sei es mit Hilfe von Hintzmans MINERVA2-Modellmoglich, durch die Speicherung von ganzen Satzen als Episoden lexikalischeAmbiguitatsauflosungen zu erklaren.

Hinsichtlich der lexikalischen Reprasentationen laßt sich unter der Sicht fle-xibler episodischer Grenzen behaupten, daß bei der Speicherung von Worternals kleine Teile großerer Satze jegliches kontextfreie Empfangen von Wortma-terial abstrakt erscheine das entsprache auch Semons Voraussage ([91], [92]).Goldinger fugt hierzu an, daß die meisten Worter tatsachlich funktionell ab-strakt seien, selbst wenn sie episodisch reprasentiert werden. Andererseits gebees aber auch Worter, die funktionell episodisch sowohl ihrer Form nach als auchihrer Funktion nach erscheinen, da sie in gewisser Weise einmalig sind oder ei-ne begrenzte Teilnahme an Diskurs-Episoden reflektieren. Fur beide Falle fuhrtGoldinger treffende Wortbeispiele an.

Goldinger stellt neben die Fahigkeit des Erinnerns an Einzelepisoden auchdie Fahigkeit des Menschen, in bestimmten Situationen, Worter in ihren ab-strakten Merkmalen wahrzunehmen. Ob fur diese Aufgabe im menschlichenGedachtnis tatsachlich pro Wortepisode auch eine Referenz auf eine abstrak-te Wortreprasentation abgelegt wird, oder ob die in einer Situation benotigtenausschließlich abstrakten Wortinformationen “online” aus den Worteinzelepiso-den herausgelesen (“was in allen gleich ist”) und produziert werden das isteine offene Frage. Wie immer ist es einfacher, die sprachlichen Fahigkeiten ei-nes Menschen und Eigenschaften sprachlichen Materials zu evaluieren, als diedahinterstehenden mentalen Reprasentationen herauszufinden und zu belegen.

Trotz seiner Bezuge zum abstrakten Charakter der Wahrnehmung mancherWorter, steht Goldinger ganz innerhalb der exemplartheoretischen Sichtweise. Indiesem Sinne konkludiert er: Gespeicherte Wortformen seien nicht abstrakte Re-prasentationen aus Informationen von Episoden, innerhalb derer sie empfangenwurden; stattdessen seien sie Exemplare, die unter anderem sprecherspezifischeInformationen enthalten. Die damit in Zusammenhang stehende Normalisie-rung sieht er entsprechend seiner exemplarbasierten Theorie des Lexikons alseine Moglichkeit an, Worter zu empfangen, die invariante phonologische Infor-mationen aus einer invarianten Sprecherinformation enthalten — nicht jedochals einen Prozess, der diese Informationen aus der Erinnerung an ein Wort zu

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eliminiert.

4.3.7 Amanda Boomershine: Perceiving and Processing DialectalVariation in Spanish: An Exemplar Theory Approach

Amanda Boomershine bespricht in ihrem Artikel [3] wie Sprecher eines gegebe-nen Dialekts Spracheingaben, die sich von eigenen Dialekt unterscheiden, ver-arbeiten und speichern. Ihre Studienergebnisse erklart sie unter Verwendungdes exemplartheoretischen Ansatzes, zieht aber zum Vergleich den traditionel-len phonologischen Ansatz heran und zeigt, wie dieser mit der Verarbeitung vonvariablen Spracheingaben und Sprechern umgeht.

In ihrem Experiment handelte es sich bei den Stimuli um spanische Worterund Nichtworter, die von nativen Sprechern des Mexikanischen und Puertori-kanischen produziert wurden. Diese beiden Dialekte wurden ausgewahlt, da sieeine signifikante phonologische Variation aufweisen. Sprecher anderer Dialek-te bestimmten anhand des Sprachmaterials die Merkmale bzw. Variablen, dieals dialektale Indikatoren fungierten. Die gefundenen dialektalen Unterschiedewurden in drei weiteren psycholinguistischen Untersuchungen zu Perzeption undVerarbeitung uberpruft.

Folgendes waren die die drei Untersuchungsaufgaben: In einer Wortwieder-holungsaufgabe sollten gehorte spanische Worter mit moglichst großer Schnel-ligkeit und Genauigkeit wiederholt werden. Hierbei ließ sich ein signifikanterEffekt bzw. eine Interaktion zwischen den evaluierten phonologischen Varia-blen (des Mexikanischen vs. des Puertorikanischen) und dem Sprecherdialektnachweisen. In einer Lexikonentscheidungsaufgabe ging es um die schnellst-mogliche Bestimmung, ob gehorte Worter tatsachlich Worter des Spanischenoder Nonsenseworter waren. Hierbei wurden signifikante Effekte des nativenSprecher- bzw. Horerdialekts deutlich. In einer Dialektidentifikationsaufgabesollte schnellstmoglich bestimmt werden, ob ein gehortes Wort im horereige-nen oder dem anderen Dialekt gesprochen wurde. Uber die Berechnung derAntwortzeiten wurde allgemein die perzeptuelle Ahnlichkeit der zwei Dialekteermessen sowie die Interaktion zwischen Sprecher- und Horerdialekt. Als ei-ne signifikante Erkenntnis ging aus den Perzeptionsexperimenten hervor, daßdie phonologischen Variablen unabhangig von der jeweiligen Aufgabe ahnlicheAntwortmuster hervorriefen und damit als Unterscheidungsmarker der zwei spa-nischen Dialekte gelten konnten.

Abschließend modellierte Boomershine ihre Ergebnisse im Rahmen einesexemplarbasierten Ansatzes. In dessen Sinn bedeuten die Ergebnisse zu denphonologischen Variablen u. a. daß die Exemplare bei einem Horer stereotype(auch dialektspezifsche) Kategorien aktivieren und ebenso einige individuelleSprecher die diesen Stereotypen entsprechen. Bei der exemplarbasierten Model-lierung geht Boomershine davon aus, daß bei Horern linguistische Erfahrungenals Exemplare in einem mentalen Lexikon gespeichert und mit anderen sowieauch außerlinguistischen Informationen verknupft werden. Die Exemplare wer-den mit allen reichen Details festgehalten. Beim Vorkommen ahnlicher Eingabenwerden sie aktiviert bzw. aktivieren selbst andere Kategorien wie Stereotypen

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(z. B. Sprecheralter und -Geschlecht, Dialekt u. v. m.) oder phonologische Ge-neralisierungen (z. B. wortfinale Nasale werden velar).

Boomershine stellt diesem von ihr gewahlten exemplartheoretischen Sprach-verarbeitungsansatz mit seinen detaillierten sprachlichen Reprasentationen dender traditionellen phonologischen Theorien gegenuber, wo die Eingaben einfacheReprasentationen erhielten und in einer Lexikonentscheidungsaufgabe verwen-det wurden. Analog umgekehrt sei zum Ubertragen der komplexen akustischenInformation auf diese einfachen Reprasentationen der Eingabe (meist als Pho-neme) eine komplexere Mappingprozedur notwendig gewesen. Bei der Exem-plarverarbeitung sei es hingegen einfacher gewesen, die Eingaben mit den ge-nauso detailreichen Exemplaren im Lexikon zu vergleichen und zu ubertragen.Die traditionellen abstrahierten Reprasentationen seien allerdings uber einenzumeist angenommenen Normalisierungsprozeß von der vollstandigen phoneti-schen und Sprechervariationsinformation entledigt und enthielten nur noch diekontrastiven Sprachelemente in Form einer Aneinanderreihung von Segmentenoder Phonemen, was ihre Verarbeitung scheinbar vereinfache. Als Argumen-tation fur diese reduktive Verarbeitungsweise wird von den Verfechtern ange-geben, daß Horer extrem variable Eingaben ohne Schwierigkeiten und schnellverarbeiten konnten, was auf eine Ubertragung (Normalisierung) und Verwal-tung einfacherer Einheiten hinweise. Boomershine steht jedoch auf der Seite deranwendungsbasierten Sprachverarbeitungsansatze der Exemplartheorie oder ex-emplarbasierten Modelle.

Boomershine stellt noch einmal als Hauptunterschied zur traditionellen Ver-arbeitungsweise heraus, daß die detaillierte Sprachsignalinformation sehr wohlvom Horer verarbeitet und Teil der gespeicherten Lexikonreprasentation wer-de; d. h., sie werde hier verschlusselt und nicht verworfen. Als Argumentationfur diese Sichtweise verweist Boomershine auf Pisonis Studie [82], wo in einerWortidentifikationsaufgabe der Einfluß der Sprecheridentitat auf die Perzep-tionsperformanz offenbarte, daß die Performanz fur Produktionen mit einemeinzelnen Sprecher besser war und mehr Fehler sowie langsamere Antworten beimultiplen Sprechern auftraten. Diese Ergebnisse seien entsprechend Boomer-shine nicht zu rechtfertigen unter der Sicht von Einheiten ohne Sprecher- undKontextvariabilitat, da die Horer mit Hilfe ihres Normalisierungsprozesses keineSchwierigkeiten haben durften, die Sprache verschiedener Sprecher zu verarbei-ten. Sie findet die exemplartheoretische Ergebniserklarung außerdem einfacher.Diese besagt, daß die sprecherspezifische Speicherung von Information im Lexi-kon zur Aktivierung von Exemplaren einer Sprecherkategorie fuhrt, wenn einespezifische Eingabe als zu einem Sprecher gehorig beim Ahnlichkeitsvergleicherkannt wurde; andernfalls wird eine eigene Exemplarinstanz abgelegt.

Boomershines Studie impliziert fur die Dialektologie und Phonologie, daßPerzeptionsexperimente hilfreich fur die Dialektklassifikation sind, da sie desHorers perzeptuellen Raum und die Salienz bestimmter dialektaler Markiereraufzeigen. Laut Boomershine ließen sich die Experimente besser mit einem ex-emplarbasierten als mit einem traditionellen Ansatz modellieren.

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4.3.8 Jennifer Hay, Aaron Nolan und Katie Drager: From Fush toFeesh: Exemplar Priming in Speech Perception

Hay, Nolan und Drager verwendeten in ihrem Artikel [34] die Exemplartheo-rie zur Erklarung dialektaler perzeptueller Effekte zwischen Australischem undNeuseeland-Englisch. Es ging dabei um die Erkenntnis, daß Neuseelander eng-lische Vokale verschieden wahrnehmen und zwar in Abhangigkeit davon, ob ihrAntwortblatt mit “australischer Sprecher” bzw. “neuseelandischer Sprecher” ge-labelt wurde - selbst, wenn die gehorten Außerungen, die in jedem Fall demNeuseelandischen zugehorten auch als solche erkannt wurden.

Die Autoren nutzen als Erklarungsgrundlage fur dieses perzeptuelle Phano-men die exemplarbasierte Hauptannahme, daß lexikalische Reprasentationen imGehirn Verteilungen erinnerter Exemplare mit den kompletten wahrnehmbarenDetails sind. Ihre Exemplarsicht ist, daß individuelle Sprachaußerungen als sepa-rate Einheiten gespeichert und wahrend der Sprachperzeption und -Produktionaktiviert werden. Sie gehen davon aus, daß die gespeicherten Details eine großeInformationsbandbreite enthalten wie Sprecheridentitat, regionale Hinweise, Ge-schlechtszuordnung, kontextueller Hintergrund und andere potentielle Faktoren.

Hay, Nolan und Drager fokussieren in ihrer Artikelproblematik die sozialenDetailinformationen im Hinblick auf die sprachproduzierende Person. Da ent-sprechend des exemplartheoretischen Perzeptionsverstandnisses bei einer emp-fangenen Außerung alle zu ihr akustisch ahnlichen Exemplare aktiviert werden,gilt das auch fur solche, die mit dem passenden sozialen bzw. dialektalen Kontextindexiert sind: Diese Worter mit relativ hohen Aktivierungslevels in den Kan-didatenverteilungen werden bei der Wortidentifikation schneller und bevorzugtherangezogen. Aus der Speicherung und Verwendung der detailreichen sozialenKontextinformation (diese belegend) ergeben sich bei der Sprachperzeption fol-gende soziale Effekte:(i) Konsonanten- und Vokalgrenzen werden fur mannliche und weibliche Spre-cher unterschiedlich wahrgenommen, sowie fur stereotype und nichtstereotypeSprecher;(ii) Individuen unterscheiden genauer zwischen Phonemen, wenn sie uberzeugtsind, einem alteren Sprecher zuzuhoren ([35]);(iii) Individuen nehmen Vokalgrenzen an verschiedenen Stellen wahr, abhangigvon der wahrgenommenen sozialen Charakteristik des Sprechers ([15]).

Die Autoren fassen zusammen, daß diese Ergebnisse (die automatische Ak-tivierung sozial passender Exemplare) durch die Exemplartheorie erklart wer-den konnen — ohne die notwendige Annahme von Stereotypen, Benutzungs-filtern oder der Behauptung, daß Horer bei Produktion und Perzeption offeneWahlen des Sprachmaterials treffen mussen. Phonetisch reiche Exemplare sowiedie Verbindung zwischen sozialen Labels und Individuen liefern eine naturlicheErklarung solcher Effekte – so Hay, Nolan und Drager. Die akustische Akti-vierung von Exemplaren wird automatisch die mit ihnen assoziierten sozialenKategorien aktivieren. Das ermoglicht es zu bestimmen, welches Geschlecht,welche Landessprache, Dialekt oder Bekanntheitsgrad einer Stimme zugeordnetwird. Die angehobene Aktivierung einer Kategorie verhalt sich wie eine Neigung

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bei der Perzeption oder Produktion (Effekte der Sprachakkomodation), die esermoglicht, Worter zu identifizieren (auf der Basis von Exemplaren, die zumKontext passen) und verschiedene akustische Signale als Beispiele des gleichenWortes trotz verschiedener Sprecher zu erkennen.

Diese effektive Aktivierung von (sozialen) Konzepten mit phonetischen Erin-nerungen, die mit ihnen assoziiert sind, nennen die Autoren exemplar priming.Das verbleibende Aktivierungslevel eines Exemplars ist abhangig vom sozialenGewicht, das ihm zugemessen wurde und seiner Aktualitat. Exemplarerinne-rungen verfallen uber die Zeit hinweg. Die Verbindungen zwischen den sozialenLabels und den Exemplaren konnen verschiedene Starken haben in Abhangig-keit von deren Wichtigkeit. Sie konnen ebenfalls verfallen, besonders, wenn dieInformativheit der Kategorie als nicht relevant angesehen wird (wie beispiels-weise eine Kategorie, daß der Sprecher einen grunen Pullover anhatte).

Zu welchem Grad solche Variablen wie soziale Assoziationen uber oder un-terhalb der Bewußtseinsebene verarbeitet werden (bewußte Distinktion bei derSprachperzeption) und wie die perzeptuelle Salienz zu bewerten sei - das sindnoch nicht geklarte Aspekte, so die Autoren. Die Ergebnisse mit einem bestimm-ten dialekttypischen Vokal in der Studie ließen die Autoren aber vermuten, daßsich die Probanden dieses spezifischen Vokalunterschieds bei Australiern undNeuseelandern nicht bewußt waren. Außerdem zeigte das Experiment als Er-gebnis Unterschiede zwischen mannlichen und weiblichen Teilnehmern bei derVerarbeitung und Speicherung sozialer Informationen.

Hay, Nolan und Drager argumentieren fur den Exemplaransatz in ihrerStudie, indem sie behaupten, daß auch die Forschung anderer Autoren unterVerwendung der Exemplartheorie einen einheitlichen Zugang zu einer Mengeahnlicher linguistischer Phanome liefere, die andernfalls unzusammenhangenderscheinen wurden. So wurden Themen erklarbar sein wie: die Rolle der Vor-kommenshaufigkeit bei Produktion, Perzeption und Lautwechsel; Effekte derSprachakkommodation und Stilverschiebungen; die Entstehung phonologischerPhanomene; Sprachakquisitionsprozesse; die Gradienz von Wohlgeformtheits-einschatzungen; die Horersensitivitat gegenuber individuellen Stimmen; sowieAnderungen in der Phonologie eines Individuums wahrend des Erwachsenenal-ters.

Abschließend benennen Hay et al. als kunftige (auch psychologische) Heraus-forderung die Frage, ob vergleichbare Effekte uber das Aussetzen von Teilneh-mern auch gegenuber beliebigen Objekten oder Ideen erreicht werden, die mitbestimmten (sozialen) Gruppen oder Kategorien assoziiert sind. Auch werfen siedie Frage auf, ob die Aktivierung ein ausreichendes Konzept fur die genanntenEffekte darstelle oder ob die Manipulation eng mit der Perzeptionsaufgabe oderdem selbst Sprecher verbunden sein musse.

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4.3.9 Brynmor Thomas: In Support of an Exemplar-Based Ap-proach to Speech Perception and Production: A Case Studyon the Merging of Pre-Lateral DRESS and TRAP in New Zea-land English

Thomas liefert in seinem Artikel [99] einen weiteren Fall, wie Studienergebnissemit einem Exemplarmodell beschreibbar sind. Es ging bei ihm um die unter-schiedliche Sprachverarbeitung bekannten vs. unbekannten Wortmaterials, ins-besondere, was deren Distinktionsgenauigkeit betrifft.

Thomas ging davon aus, daß unbekannte Worter in ahnlicher Weise wiebekannte Worter verarbeitet werden. Weil es fur unbekannte Worter — im Ex-periment Nonsense-Worter — vermutlich keine vorexistierenden lexikalischenKategorien fur die Aktivierung bei Produktion oder Perzeption gibt, erfolgt derZugriff bei ihnen uber deren Einzelteile. So aktivieren z. B. enthaltene Vokaleeine Vokalkategorie.

Thomas bezeichnet die Exemplarmenge einer Kategorie als Exemplarwol-ke. Die Exemplarwolken der Vokalkategorien seien bemerkenswerterweise großerund allgemeiner als die der lexikalischen Kategorien der realen Worter. Das seider Fall da erstere haufigere und kontextuell vielfaltigere Zugriffe erhalten.

Entsprechend Thomas’ Exemplaransatzes aktivieren die auditiven Eigen-schaften bekannter Worter bei der Wahrnehmung die lexikalischen Kategori-en, die ubereinstimmende auditive Eigenschaften enthalten. Bei den Nonsense-Wortern hingegen findet die Identifikation in den allgemeineren Kategorien z. B.der Vokale statt, die ja laut Brynmor, einen breiteren Bereich horbarer Eigen-schaften aufweisen sollen als die lexikalischen Kategorien. Daß die Wahrneh-mung unbekannter Worter von einem hoheren Grad an Ungenauigkeit gepragtist, belegen vorausgegangene Studienergebnisse von Thomas [98].

5 Diskussion

5.1 Kategorialitat und Modularisierung

Das allgemeine Ziel der von mir zuvor erorterten Literatur zur exemplarbasier-ten Forschung und zu vergleichbaren Forschungsrichtungen war es, einen Zugangbzw. bereichsspezifischen Beitrag zur Sprachwahrnehmung und -Produktion desMenschen zu liefern. Dabei schien mir bei allen Artikeln das Problem der Ab-straktheit der mentalen sprachlichen Verarbeitungsentitaten mehr oder wenigervordergrundig aufzutauchen, das ich somit als ein gemeinsames Grundthemasehe, wenn es darum geht, geeignete Ansatze und Modelle zu entwickeln, die diemenschliche Sprachverarbeitung adaquat aufzeigen sollen. Wie bei vielen wis-senschaftlichen Themen und so auch bei den linguistischen kommt man nichtumhin, eine passende Verarbeitungsgenauigkeit bzw. einen bestimmten Grad anUngenauigkeit, Verallgemeinerung und damit Abstraktion zu bestimmen, derfur die Beschreibung bzw. das Verstandnis der wissenschaftlichen Daten aussa-gekraftig ist. Welchen Grad an Abstraktheit verwendet das menschliche Gehirntatsachlich, was z. B. zur Wiedererkennung sprachlicher Bausteine fuhrt? Gibt

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es Uberfuhrungsmechanismen der konkreten kontinuierlichen (Sprach-) Datenzu abstrakteren Entitaten oder Kategorien?

Die Abstraktion fuhrt direkt zum Bilden von Kategorien und Modularisieren:Eine Kategorie ist eine abstraktes Konstrukt bzw. ein Referenzrahmen mit eineroder mehreren charakterisierenden Eigenschaften, unter der eine Sammlung vonEntitaten zusammengefaßt werden konnen; d. h., es wird bei dieser Einordnungvon den mannigfaltigen Entitatendetails abstrahiert und damit fur die Klas-sifikation zunachst nur auf eine bestimmte zweckdienliche kategorie-essentielleMerkmalsmenge fokussiert. Die meisten exemplarbasierten Ansatze gehen voneiner kategorialen Gliederung des sprachlichen Wissens aus; diese Struktur bil-det gewissermaßen die Voraussetzung fur eine exemplarbasierte Sprachverarbei-tungsarchitektur. Exemplare werden also haufig im kategorialen Referenzrah-men betrachtet.

Intuitiv unterstutze ich die Sicht eines zugrundeliegenden kategorialen Re-ferenzrahmens uberhaupt innerhalb der Kognition und mochte diese Sichtweiseim Folgenden noch weiter motivieren: Daß die Welt (und damit ist auch diekognitive Welt des Menschen gemeint) nicht nur aus kontinuierlichen oder ana-logen Daten besteht, indiziert die Fahigkeit und Neigung des Menschen, dieseeinzuordnen, zu strukturieren, zu kategorisieren und Hierarchien zu bilden. Vondiesem Vorgehen wird seit der Antike (via Memorisierungsmethoden) und auchin der modernen Psychologie und Padagogik angenommen, daß es verstandnis-steigernd fur den Erwerb beliebiger Zusammenhange wirkt und die Gedacht-nisleistung des Menschen erhoht.

Die Kategorialitat erschien als eine notwendige Vereinfachung, die es demMenschen uberhaupt ermoglichte, die kontinuierliche, d. h., fließende Mannig-faltigkeit der Welt, die sich in jeglichen sensorisch erfahrbaren Reizen mani-festiert (mit den Dimensionen, die dem Menschen aufgrund seiner physischenAusstattung zu Verfugung stehen), zu erfassen, bewerten und damit umzuge-hen. Das bedeutet, es kommen zunachst konkrete, analoge bzw. kontinuierlicheDaten in den Sinnesorganen des Menschen als Eingabe an, werden vom mensch-lichen Gehirn verarbeitet (in welcher Weise, gilt zu ermitteln) und stehen zurVerfugung, um interpretiert bzw. wieder ausgegeben zu werden. Das geschiehtanscheinend in diskreter bzw. abstrakt beschreibender Weise z. B. wenn emp-fundene Temperaturreize klar als kalt oder warm gewertet werden, Farbreize(kategoriale) Farbnamenszuordnungen erhalten oder gehorte akustische Sprach-signale als Worter schriftlich wiedergegeben werden konnen. Eine typische Kate-gorisierung stellt das schriftsprachliche Alphabet dar, das die Sprachlaute trotzihrer nachweislichen akustischen detailreichen Variabilitat verallgemeinert unddamit abstrahiert.

Es ist fraglich, was ausschließlich kontinuierliche Daten fur einen Menschenbedeuten konnen, wenn es fur ihn keine Einordnungsmoglichkeit, kein Ermes-sen an Kategorien fur sie gibt. Diese Situation wurde ich als “Nichtverstehen”bezeichnen. Das ist z. B. der Fall beim Horen einer unbekannten Fremdspra-che, wo die entsprechenden sprachlichen Kategorien nicht bekannt sind undsomit keine Untergliederung der ankommenden lautlichen Signale sowie derenZuordnung zu semantischen Kategorien erfolgen kann. Mehr noch: Bei Babys

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scheinen offensichtlich nicht nur die lautlichen sprachenspezifischen Kategori-en zu fehlen, sondern auch noch samtliche andere Kategorien fur Weltwissen(semantische, pragmatische usw.). Somit erscheint es auch naturlich, daß derMensch sprachliches Wissen kategorial und damit abstrahierend gliedert und ineiner entsprechenden angemessenen Form mental speichert.

Die Schwierigkeit fur die Forscher ist es, festzustellen, welche Kategorien sichin welcher Form tatsachlich im menschlichen Gehirn reprasentieren und wie ge-nau die Untergliederung ist, d. h., wie groß ein wahrnehmbarer Unterschiedzwischen den Gliederungseinheiten sein muß, damit sich eine distinktive Kon-trastivitat der Kategorien ergibt. Auch stellt sich die Frage ob und in welcherStarke vorhandene Kategorien individuell variieren. Manche Modellorganisatio-nen mogen zwar bestimmte in der Realitat auftretende Effekte gut beschrei-ben und zweckdienliche Resultate hervorbringen, da sie aber keine naturgetreue(z. B. kategoriale) Organisation sondern kunstliche kategoriale Konstrukte ver-wenden, dienen sie aber nicht ausreichend einem der hochsten wissenschaftli-chen Ziele: die Natur zu erklaren und genauestmoglich abzubilden. Indes ist derAnspruch und die Behauptung letzteres tatsachlich zu tun vielleicht ohnehinunmaßig hoch.

Bisher mochte die Kategorialitat den Forschern der Phonologie und Phone-tik als so dominant und eingangig erschienen sein, daß sie ersuchten, Spracheals aus lautlichen Kategorien bestehend zu beschreiben, die Regeln zu derenVerknupfung bedurften. So nimmt die generative Linguistik zugrundeliegen-de besonders allgemeine sprachliche Reprasentationen und konkretere sprach-liche Oberflachenreprasentationen an sowie eine Grammatik, deren phonologi-sche Regeln Mechanismen zur Uberfuhrung der Daten zwischen diesen beidenGenauigkeitsgraden darstellen. Man teilte also die menschliche Sprachverarbei-tung in zwei Verarbeitungslevels ein und damit schließlich auch die linguisti-sche Metabeschreibung in zwei Module: Phonologie und Phonetik — mit einementsprechenden Mapping, einer Ubertragungsmoglichkeit dazu. Das findet sichz. B auch beim MESM-Ansatz [81] wieder, den Pierrehumbert wie oben in Ka-pitel 4.2.1 beschreibt. Eine Alternative zu dieser Wissenmodularisierung waredie Vorstellung einer untrennbaren Verflechtung von konkreten Daten und derenallgemeineren Reprasentationen oder kategorialen Zuordnungen, so daß nur dieGesamtsicht darauf gultig interpretierbar ware. Diesen alternativen Weg bindetdie Exemplartheorie ein.

Probleme mit dem modularisierten Phonetik-Phonologie-Ansatz birgt zumeinen die Ungleichheit der zwei verschiedenen Reprasentationstypen fur Phone-tik und Phonologie und zum anderen, daß einige zentrale theoretische Problemedurch die Modularisierung nicht behandelt werden. So z. B. die traditionelle Po-sition Fant und Halle’s (z. b. in Jacobson, Fant, Halle [38]), daß phonologischeKategorien auf phonetischer Grundlage stehen. Dabei tritt aber das Paradoxonder Naturlichkeit und Sprecherspezifizitat der phonologischen Kategorien auf.Das Prinzip der Naturlichkeit besagt, daß die phonetische Denotation die Struk-tur und den phonetischen Charakter einer Kategorie im Lautsystem reflektiertund die Quasikategorialitat der Phonetik durch artikulatorische und akustischeNichtlinearitaten belegt. Die Sprachspezifizitat zeigt sich in der Verschieden-

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heit sprachenspezifischer Phoneminventare trotz uberregional gleicher artiku-latorischer Voraussetzungen und die Moglichkeit des beliebigen Spracherwerbsfur einen menschlichen Sprecher. Sie zeigt sich auch dadurch, daß (i) Sprachenungewohnliche Phoneme ausnutzen, hingegen typologisch typischere Phonemeauslassen; (ii) bei analogen Phonemen verschiedene phonologische Charakteri-sierungen zwischen Sprachen moglich sind; und (iii) keine zwei Sprachen eineexakt gleiche Implementierung analoger Phoneme haben. Somit ist das Gleich-setzen phonologischer Inventare verschiedener Sprachen nicht moglich und essind linguistisch nur grobe Analogien aber keine vergleichbaren Reprasentatio-nen von Lautstrukturen zu verwenden. Uber die verschiedenen Sprachen hinwegvergleichbare theoretische Entitaten sind nur die kontinuierlichen Dimensionender Artikulationskontrolle und des perzeptuellen Kontrastes. Daher wird dieIPA als gultiges Reprasentationslevel eines wissenschaftlichen Modells vielfachkritisiert. Desweiteren sprechen viele experimentelle Beweise gegen die traditio-nelle Oberflachenreprasentation, die Chomsky und Halle [13] als symbolische,universelle und uniforme Schnittstelle des sensorisch-motorischen Systems pro-pagierten.

Der modularisierte Ansatz ist weiterhin kritisch unter dem Aspekt des “im-pliziten” linguistischen Wissens eines Sprechers zu betrachten, d. h., im Zu-sammenhang mit seinem phonetischen versus seinem phonologischen Wissen.Hierbei stellt sich die Frage, ob die bereits umrissene theoretische Modula-risierung dafur tauglich ist, tatsachliche linguistische Wissensstrukturen desmenschlichen Gedachtnisses zu modellieren. Das sog. implizite Wissen eines in-dividuellen Sprechers erklart seinen produktiven Sprachgebrauch: Sprache mußerlernt werden und dabei entsteht implizites Wissen, das intrinsisch quantita-tiv ist, weil sich Sprache in zufalligen feinen Details unterscheidet. Die daraushervorgehenden — d. h. erlernten — analogen sprachlichen Reprasentationenmanifestieren sich im Bereich der motorischen Kontrolle des Gehirns. Die An-nahme eines modularen quantitativen und qualitativen Wissens ist kritisch, danicht klar ist, wo zwischen diesen beiden Wissens-“Arten” korrekterweise dieTrennlinie gezogen werden muß: Einerseits liegen zunehmend Beweise vor, daßsich redundante phonetische Details in den lexikalischen Reprasentationen vonWortern und Morphemen darstellen — das bedeute eine “Phonetisierung” deseigentlich phonologischen Wissens, andererseits sei das detaillierte phonetischeWissen eine Reprasentation des Lernergebnisses — das Wissen bekommt damiteher einen phonologischen Geschmack. Der Disput, ob das implizite Wissen alsoeher phonetisch oder phonologisch zu bewerten sei, kann also auch wieder alsProblem des Abstraktionsgrades der zwei Module gesehen werden entsprechendihrer vorausgehend geschilderten Charakterisierung: kontinuierliches versus dis-kretes Wissen.

In der Realitat scheint sich eine gewisse Vermischung beider Argumenta-tionen aufzudrangen: Nichtlinearitaten bei Artikulation, Akustik und Arody-namik zeigen eine bestimmte Kategorialitat des physikalischen Sprachsignals.Mit anderen Worten gesagt, erstreckt sich Wissen uber die Lautstruktur ent-lang eines Kontinuums zwischen feinstrukturiertem phonetischen Wissen bzgl.ihrer kontinuierlichen Variation und lexikalisch grobkornigem bzw. kategorialem

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phonologischen Wissen uber Kontraste und Alternationen. Ist bei einer solchenVermischung eine Modularisierung uberhaupt praktikabel, wenn die Aspekte derModule (ihre Ausgabe-Reprasentationen: kontinuierliches und diskretes Wissen)eigentlich nicht trennbar sind? Bestehen die Korrelate der Module tatsachlichnebeneinander mit gegenseitigem Zugriff oder sind sie so eng verflochten, daßeine Aufgliederung nicht moglich oder lohnenswert ist?

Kategorialitat kann vermutlich ebenfalls nicht zufriedenstellend verstandenwerden, wenn diese phonetischen versus phonologischen Tendenzen des sprach-lichen Wissens lediglich als axiomatisch in Definitionen abgekapselter Modellewie MESM [81] aufgestellt werden. Viel pragmatischer ware Kategorialitat alsThema in Studienobjekten uber deren individuelle Faktoren zu zeigen — mitdem Hintergrundwissen, daß lexikalische Kontraste bzw. morphologische Alter-nationen granularer sind als es die phonetische Sicht verlangt. Hierbei konntendie diskreten Aspekte der Phonologie aufgezeigt werden, die in eine aus kogni-tiven Prozessen hervorgehende kontinuierliche Beschreibung eingebettet waren,welche mit der Aktivierung bestimmter unterscheidbarer Regionen im kontinu-ierlichen Raum korrelieren. Der Ubergriff der Gradienzthematik auf die traditio-nelle Phonologiedomane schließlich stellt eine reine Kategorialitat in Frage oderlaßt zumindest eine Semikategorialitat in Betracht ziehen. In diesem Zusam-menhang wurden in der Forschung zunehmend folgende Themen aufgegriffen:die Reprasentation gradueller Prozesse im Gehirn, deren Beziehung zu weni-ger graduellen Prozessen, die Existenz echter kategorialer Prozesse sowie dieEntstehung von Kategorialitat. Im Zuge dieser Forschung erscheint schließlichdie Abdeckung der reinen Phonologie bei der menschlichen Sprachverarbeitungkleiner und die der sog. phonetischen Implementation großer als traditionellangenommen.

Da die tatsachliche Art der (linguistischen) Wissensorganisation beim Men-schen so schwer nachzuweisen ist und daher adaquate linguistische Modellierun-gen immer kritisch zu betrachten sind, wird immer wieder versucht, Hinweisedaruber uber die Erforschung der Sprachakquisition zu erhalten.

Das traditionelle linguistische Konzept hierfur ist Chomskys Vorstellung ei-ner sprachenunabhangigen Kompetenz ([12]), was die zugrundeliegende “univer-selle Grammatik” einschließt. Dieses Konzept geht unter anderem zuruck auf R.Bacons Beobachtung (aus dem dreizehnten Jahrhundert), da alle Sprachen auseiner gemeinsamen Grammatik gebildet zu sein scheinen und setzte sich unterGrammatikern uber Projekte fur philosophische Sprachen aus dem siebzehntenJahrhundert fort bis hin zu spateren Linguisten wie Chomsky [12] und Montague(z. B. in Thomason [100]). Die universelle Grammatik beschreibt den initialenZustand eines Kindes beim Spracherwerb und das, was allen Sprachen gemein-sam ist. Es wird dabei gefolgert, daß beim Spracherwerb Variablen instantiiertwerden etwa wie beim Erhalt einer speziellen Sprachgrammatik. Die universelleGrammatik liefere also die logischen Schemata als allgemeine universelle (d. h.,nicht sprachenspezifische) Sprachbeschreibung.

Da das reine traditionelle Verstandnis zum Phonologie-Erwerb auf der Basisder universellen Grammatik in der Vergangenheit jedoch zunehmend als nichtausreichend erschien, modifizierte man den Ansatz um folgende Annahmen: Das

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Sprachmodell wird mit den Ressourcen, die die Logik bietet, formalisiert. DiePhonetik erhalt ihre Formalisierung im Modell via kontinuierliche Mathematik.Das phonologische Wissen steht in Abhangigkeit zum phonetischen Wissen, wo-bei die raumliche und zeitliche Auflosung und Koordination der sprachlichenKompetenz graduell erworben wird. Das bedeutet, daß beim Einubungsprozeßeiner sprachlichen Kategorie bei Kindern die Varianz der Kategorieproduktionengraduell reduziert wird.

Es zeigte sich, daß es einem kleinen Kind trotz der Aufnahme eines phono-logischen Kontrastes oft noch nicht moglich ist, eine erwachsenengleiche phone-tische Reproduktion zu realisieren. Scobbie et al. [90] zufolge sei die Trajektorievon unzulanglichen zu robusten phonetischen Kontrasten aufgrund ihrer gradu-ellen Natur nur mittels Statistiken uber einen kontinuierlichen Raum modellier-bar und nicht als logischer Instantiierungsprozeß. So entstehe Diskretheit nichtdurch die logische Instantiierung der diskreten Elemente einer Meta-Grammatik,sondern aus der diskreten Begrenzung eines kontinuierlichen Prozesses entspre-chend des phonologischen Erwerbs.

Es wurden zahlreiche Studien zum Spracherwerb mit einer statistischen Be-handlung vorgenommen, die die Kontinuitat des Erwerbsprozesses belegten undzur zunehmenden Abkehr von einem reinen Instantiierungsmodell fuhrten. Manuntersuchte hierfur die Brabbelphase sowie fruhe Wortproduktionen (mit undohne phonologische Storungen). Ergebnisse daraus sind z. B. daß in den fruhenBrabbelstadien der Kinder die Vokalqualitaten schon von den Vokalfrequen-zen der Elternsprache beeinflußt sind; bereits ab einem Alter von 30 Monatenließ sich eine sprachenspezifische Differenzierungsfahigkeit feinakustischer De-tails bei den Kindern feststellen.

Entsprechend Chomskys Kompetenzkonzept [12] wird von einer idealisiertenuniformen Sprecher-/ Horergemeinschaft ausgegangen, von der vermutet wur-de, daß sie zu einem besseren Spracherwerb fuhre als eine abwechslungsreiche.Experimente hierzu zeigten jedoch das Gegenteil: Das Erlernen einer phonemi-schen Kategorie erfolgte mit Hilfe variabler Beispiele besser als bei gleichformi-gen. Bradlow et al. [4] fand, daß dies auf die menschliche Fahigkeit des Ge-neralisierens hindeute, wodurch perzeptuelles Lernen ein Transferieren auf dieSprachproduktion erst moglich mache. So kann man desweiteren schlußfolgern,daß die Variabilitat einen Abstraktionsbedarf schafft. Abstraktion reprasentiertdie gleiche Sache uber Unterschiede hinweg. Im sprachlichen Kontext sind dasnaturliche Variabilitaten der Larynxgroße, Vokaltraktlange, Sprechstil, segmen-taler und prosodischer Kontext etc. oder andere systematische entitatenspezi-fische Differenzierungen. Ohne eine solche Variabilitat waren lexikalische En-titaten direkt als invariante phonemische Schablonen verschlusselbar. Somit istAbstraktion zwar eine kognitiv teure Leistung, scheint aber von der Variationgefordert zu werden.

5.2 Von der Abstraktion zum Detailreichtum

Die Phonologie als großer Teilbereich der Linguistik wurde in der Vergangen-heit scheinbar direkt mit der Bestimmung von Regeln assoziiert, die den Aufbau,

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sowie das Erkennen und Produzieren von Wortmaterial bzw. Sprache erklarensollten, was eine Abstraktion des Sprachmaterials bedeutete. Daß das mensch-liche Gehirn (Sprach-) Informationen uber Generalisierungen und Abstrakti-onsvermogen verarbeitet und aufbewahrt, erschien in der Vergangenheit einzigdenkbar, da sich das enorme Fassungsvermogen des Gehirns erst nach und nachoffenbarte. Parallel dazu war dies auch praktikabel, da die Linguisten anfangsebenfalls nicht uber so große maschinelle Speichermoglichkeiten verfugten. Daßdas menschliche Gedachtnis ebenfalls auf Mechanismen fur eine okonomischeSprachverwaltung angewiesen sein sollte, wurde ebenfalls angenommen.

Mit dem Wiederaufkommen der Exemplartheorie scheint die Phonologie ansich in eine Krise geraten zu sein: Ihr grundlegender Arbeitsansatz, namlichdaß Sprache aus festen Lauteinheiten zusammengesetzt ist und ein universalesmentales Regelwerk deren Zusammenspiel definiert, wird von den nun popularwerdenden und beweistrachtigen exemplarbasierten Ansatzen in Frage gestellt,die den Fokus auf individuelle sprachliche Details legen. Das bedeutet, daß sichdie linguistische Forschung (in bedeutenden Teilen) gewissermaßen von regelba-sierten Sprachverarbeitungsmechanismen und abstrakten fixen Einheiten wegund hin zur umfassenden Speicherung von konkretem Sprachmaterial in Formvon Exemplaren orientiert. Sind die langjarigen Forschungsergebnisse der tra-ditionellen Phonologie also geringzuschatzen und durch die der episodischenAnsatze zu ersetzen?

Meiner Meinung nach sollte die traditionelle Abstraktion und deren entspre-chende Beschreibungsversuche von Sprache nicht vor jedwedem gedanklichenHintergrund negiert werden. Sicherlich basiert die phonologische Sprachenbe-schreibung auf idealisierten alphabetahnlichen Einheiten, die vermutlich demDenktraining mit der alphabetischen Schreibweise entspringen und bei denenfraglich ist, wie “naturnah” sie sind. Es ist jedoch bei verschiedenen Anwen-dungen nutzlich und vereinfachend, Sprache als symbolisches System zu sehen;z. B. ist die IPA eine kompakte Sprachbeschreibungsmoglichkeit, die eine grobeschriftliche Lautbeschreibung aufzeigt.

Der Mensch erscheint mir gerade uber seine Fahigkeit zum Abstrahieren,die sich im Laufe seiner Jugend mehr und mehr ausbildet, in der Lage zu sein,(komplexere) Sachverhalte in der Welt erst richtig zu begreifen. (Das Abstra-hieren wird in jeder Schule als Lernmethode verwendet — kann also nicht sounnaturlich sein). Eine bloße Ansammlung von Beispielen (Exemplaren) zu be-stimmten Sachverhalten hingegen wurde dieses Begreifen kaum bewirken. Ohnedie Beispiele jedoch wirkt jede (abstrakte) Theorie blutleer und nicht richtiggreifbar. So erscheint es mir naturlich, daß die Exemplare eine Abstraktion unddamit ein objektiveres Verstandnis eines (unter Umstanden sprachlichen) The-mas ermoglicht. Umgekehrt wird entsprechend meiner Vorstellung jedes weitereempfangenge Exemplar an einer bereits etablierten Abstraktion oder Kategori-sierung gemessen, wobei es durch die Starke (Aktivierungslevel) oder Haufigkeitentsprechender Exemplare auch zur Modifikation derselbigen kommen kann. DieVerarbeitungsrichtung zwischen dem konkreten Exemplarlevel und dem Levelder abstrakten Strukturen ist also meiner Intuition nach beidseitig gerichtet (topdown und bottom up).

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Ich denke, der Losungsweg aus der phonologischen Krise, in der sich tradi-tionelle und neue Sichtweisen in einer Art Konkurrenzkampf festfahren, fuhrtuber eine Arbeitsweise, in der phonologische Beschreibungen als Annaherungenan die naturliche Sprachverarbeitung gelten und im Abstraktionsgrad angepaßteinem linguistischen Vorhaben dienen. Sie sollen aber nicht durch alphabetischesDenken oder formalistische Begrundungen Forschungshypothesen und Beobach-tungen beschranken. Man sollte sich meiner Meinung nach von dem Gedankentrennen, daß es die eine korrekte phonologische Beschreibung fur eine Spracheoder einen linguistischen Dialekt gibt. Jede Beschreibung nahert sich auf ihreWeise der Realitat an, ist aber unvollstandig, da die hohe Dimensionalitat undGranularitat von Sprache bisher kaum genau genug gemessen werden konntenoch mit unseren Mitteln beschreibbar gewesen ware. Auch ist es nicht zwin-gend notwendig, daß sich (linguistische) Hypothesen oder Ansatze gegenseitigausschließen; besonders dann nicht, wenn es fur jede Sichtweise gewisse Belegegibt. So halte ich es fur sehr wahrscheinlich, daß der Mensch in der Lage ist,in seinem Gedachtnis sowohl abstrakte Strukturen zu speichern, die er durchseine laufenden Erfahrungen stetig anpaßt und neue Regeln hierzu erlernt, alsauch konkrete sprachliche Exemplareinheiten multipler Große und hochdimen-sional bzw. feinstdetailliert in ihren Merkmalen — eine Interaktion zwischen denExemplaren und Regularien eingeschlossen. Kritisch muß ich allerdings anmer-ken, daß die integrativen Ansatze, die abstrakte Speicherstrukturen und Regula-ritaten mit Exemplaren verbinden, keine Modellierung liefern oder Mechanismenbeschreiben, die konkret aufzeigen wie deren Interaktion funktioniert.

Die Forschungsergebnisse verschiedener Disziplinen belegen die Leistungs-fahigkeit des Gehirns, zahllose sprachliche, visuelle, sensorische, olfaktorischeu. a. Erfahrungen dauerhaft zu speichern und mannigfaltig miteinander zu as-soziieren. Die Verwaltung der umfassenden sprachlichen Ressourcen erscheintebenfalls enorm raumeinnehmend und komplex. Die Klarung der Frage, wie dasmenschliche Gehirn das okonomisch leisten kann, wird wohl noch einiger For-schung bedurfen. Es drangt sich auch die Frage auf, ob und wie wir uberhauptin der Lage sein konnen eine solche scheinbar gegen unendlich konvergieren-de Dimensionalitat bzw. Komplexitat mit unseren Modellen nachzuahmen. Be-kanntermaßen muß man sich angesichts von Unendlichkeitsverhalten bei einer zusimulierenden Aufgabe auf eine anwendungsadaquate Granularitat bzw. Genau-igkeit der Modelle einstellen. Unter einer zweckorientierten Perspektive mag esin manchen Fallen auch sinnvoll sein, das Modell nicht zu nahe am naturlichenSachverhalt zu orientieren, sofern es gleiche oder sehr ahnliche Zielergebnissewie das ursprungliche naturliche System erzeugt. Mit der Pramisse, naturlichesSystemverhalten nachzustellen, kommt der Ansatz, daß verschiedene Wege zugleichen Ziel fuhren naturlich nicht in Frage. Hilfreich ist es in jedem Fall furein Modell klar den Definitionsbereich anzugeben bzw. zu klaren, was es leistensoll und kann und was nicht.

Ich mochte mit meinen Ausfuhrungen dazu anregen, die Belege der verschie-den orientierten Forschungsrichtungen zu verbinden, anstatt davon auszugehen,daß sie sich gegenseitig ausschließen. Von einem solchen zukunftsweisenden Ar-beitsverhalten, das sich gegenseitig erganzende Ergebnisse unterschiedlicher For-

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schungsrichtungen in ein gemeinsames Modell integriert, konnte die Phonologieprofitieren, anstelle aufgrund ihrer bisherigen vordergrundig lautbasierten Ori-entierung (wie ihr Name einschrankend suggerieren mag) in Frage zu geraten.Weiter oben genannte Forscher wie Nielsen, Pallier etc. zeigten bereits solche in-tegrativen Arbeitsweisen innerhalb der Phonologie. Welche Aspekte abstrakterTheorien oder der einzelnen episodischen (teils auch widerstreitenden) Rich-tungen sinnvoll vereinbar sind, bleibt zu erortern und ist wiederum vom Ver-wendungsziel der Modelle abhangig. Das große Fernziel, menschliches Sprach-verhalten in naturgetreuer Qualitat zu simulieren, wird noch langer eine offeneAufgabe bleiben.

5.3 Diskussion der Exemplarspeicherung

Rein intuitiv scheint mir die Exemplarspeicherung von bestimmten Kriterienabzuhangen — ein Beispiel: Ich vermute, mir nicht jedes bereits tausendfach inrelativ konstanter Weise artikulierte Vokalexemplar meines Ehemanns zu mer-ken. Stattdessen kann ich mir vorstellen, eben jene aktuellen Exemplare miteiner gewissen Exemplarmenge meiner “Ehemannkategorie” zu vergleichen undnur bei einer bestimmten Abweichung von der Tendenz des bisherigen Spei-chermaterials zu behalten. Vielleicht werden auch nur bestimmte abweichendeExemplarmerkmale zum bestehenden Exemplarfundus als Alternativen hinzu-gefugt, ohne ein neues Exemplar wiederum vollstandig mit allen bereits vielfachabgelegten Informationen aufzunehmen. Das heißt, es gibt vermutlich bestimm-te Aufmerksamkeitsfoki — wie schon bei Johnson [43] angesprochen — die eineExemplarspeicherung begrunden. Das konnte, wie gesagt, eine bestimmte Ab-weichung sein oder etwas, das einem Menschen bewußt oder unbewußt als etwasBesonderes erscheint aufgrund seiner Neuheit oder aber wegen bestimmter As-soziationen mit bereits gemachten Erfahrungen. Die Speicherung von Exempla-ren hangt also meiner Meinung nach davon ab, ob ein Exemplar eine bestimmteAufmerksamkeit erregt, was relativ sachliche Grunde haben kann (entsprechendwahrgenommener Abweichungen von der Standardtendenz einer Exemplarkate-gorie), aber auch emotionale Ursachen oder aufgrund unbewußter, zufallig er-scheinender Aspekte. Man kann nicht immer mit Sicherheit angeben, warumman bestimmte Eindrucke auffallig findet oder sich besonders gut daran erin-nern kann. Das Spektrum des Unbewußten ist ja bekanntlich ein weites nochvielfaltig offenes Forschungsfeld. Es erscheint mir auf jeden Fall als sinnvoll, dieErgebnisse zur Gedachtnisspeicherung von Reizen aus anderen wissenschaftli-chen Forschungsbereichen mit zur linguistischen Betrachtung sprachlicher Spei-cherungen hinzuzuziehen.

So nehme ich an, daß die Speicherung sprachlicher Exemplare wie die Spei-cherung anderer Reize oder Erfahrungen beim Menschen zu bewerten sei —womit sich der Kreis zum psychologischen Ursprung der Exemplartheorie wie-der schließt. Um sich ein Weltbild zu machen, gilt es fur den Menschen ankom-mende Reize, Erfahrungen (die Kombination zusammenhangender Exemplare)bzw. Einzelexemplare mit seinem Speicherfundus zu vergleichen und dadurchzu interpretieren. Das ist nur moglich, wenn gespeicherte Erfahrungen in ir-

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gendeiner Weise organisiert und — wie auch ich annehme — kategorisiert sind.(Das mag begrunden, weshalb eine Erfahrung, die nicht “eingeordnet” werdenkann, beim Menschen Verwirrung auslost: gerade bei erwachsenen oder alterenMenschen, die im Laufe ihres Lebens ihre Weltkategorien relativ fest etablierthaben und sicherlich weniger flexibel sind als Kinder, die es gewohnt sind, nochhaufig Unbekanntes zu erfahren und hierfur neue Kategorien zu gewinnen.) DieHaufigkeit gleicher oder ahnlicher Exemplare scheint mir bei dem Bewertungs-vergleich eine Schlusselrolle zu spielen: Ist eine Erfahrung ahnlich zu bereitshaufig perzipierten Erfahrungen, wird sie landlaufig als “nichts Besonderes” be-wertet; in dem Fall ist es fraglich, ob sich eine Neuaufnahme einer weiterensolchen Erfahrung lohnt oder ob es nicht ausreichend ist, den Erfahrungszahlerder assoziierten bestehenden Erfahrung(en) — bei Exemplartheorien auch alsAktivierungslevel bezeichnet — hochzuzahlen. (Zur Erinnerung: Dieser wichtigeHaufigkeitsbezug fehlt bei der traditionellen linguistischen Verarbeitung sprach-licher Erfahrungen.) Ist eine Erfahrung relativ unahnlich zu einer assoziiertenErfahrungskategorie, erscheint es sinnvoll, die Erfahrungsvariation aufzunehmen(Exemplare oder auch nur Exemplarmerkmale zur Kategorie zu erganzen) undanschließend deren Auftretenshaufigkeit zu vermerken.

Die Einschatzung der Ahnlichkeitsmaße bzw. -Genaugkeit beim Erfahrungs-vergleich bleibt ein Forschungsproblem. Auch ihre Granularitat ist dem Erfah-rungsschatz eines Individuums unterworfen und wird ebenso wie die Erfahrungs-organisation im Zeitverlauf anpassend variiert oder umstrukturiert. Auch scheintes bei der Sensibilitat der Maße Zufalligkeitsaspekte zu geben — was man als“Tagesformabhangigkeit” bezeichnen konnte — die solche Bewertungsmaße re-geln bzw. verschieben und wieder oft im Bereich des Unbewußten liegen.

Aus Erkenntnissen der Hirnforschung und dem medizinischen Bereich ginghervor, daß bei einigen (z. B. autistischen) Geisteserkrankungen beim Menschendie Betroffenen sich uberdurchschnittlich viele Erfahrungsdetails merken konn-ten. Man nahm an, daß diesen Menschen durch die vorliegende Erkrankung ge-wisse Filter- oder Bewertungsmechanismen des Gedachtnisses fehlen bzw. nichtfunktionieren, so daß die Erfahrungseinordnung bzw. -bewertung anders alsbeim gesunden Menschen verlauft. Auf diese Weise erscheinen im pathologischenFall alle perzipierten Erfahrungen im Gedachtnis als gleichwertig und gleichsamwichtig. Sie werden daher mit gleicher Priorisierung (exemplartheoretisch mitdem gleichen Aktivierungsgrad) gespeichert. Das Bewußtwerden einer solchenVielzahl normalerweise redundanter Informationen scheint in gewisser Weise be-lastend zu sein oder einen Leidensdruck zu verursachen. Ich vermute, daß dieSpeicherkapazitat des menschlichen Gedachtnisses sehr groß ist, wie Forschun-gen bei o. g. Erkrankungen oder Hypnoseerfahrungen indizieren. Fraglich ist, obder gesunde Mensch vor dem gewissen Druck einer ubermaßigen Informations-speicherung nur dadurch geschutzt ist, daß die Informationen großen Teils in denunbewußten Teil des Gedachtnisses treten, wo sie nicht direkt zuganglich sindoder ob er ebenfalls zu der Fahigkeit immer neue mannigfache Informationen zuspeichern auch die Moglichkeit hat, diese ganzlich aus dem (auch unbewußten)Gedachtnis zu loschen. Warum sollte der Mensch nicht die Fahigkeit haben,Erfahrungen auszuloschen? Das ist jedenfalls bis dato nicht wirklich klarbar.

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Wenn aber eine Datenloschung nicht moglich sein sollte, kommt mir jedoch dieMoglichkeit wahrscheinlich vor, daß das menschliche Gehirn okonomisch arbei-tet und, wie oben angesprochen, Informationen bzw. Exemplare zusammenfaßt.Das ist zwar aufgrund der gefundenen großen Gedachtnisspeicherkapazitat nichtzwingend notwendig, aber ich denke dies ist dennoch fur das Nervensystem ent-lastend und fur die Zugriffsverarbeitung vereinfachend. (Vielleicht besitzt derMensch auch Fahigkeiten, die sich nicht als notwendig offenbahren, sondern al-lenfalls als nutzlich erscheinen . . . ) Zusammenfassend pladiere ich fur die Sicht,daß das menschliche Gehirn die Fahigkeit hat, extrem viel und komplex zu spei-chern, und zudem bzw. dennoch die Speicherung zu vereinfachen und eventuellSpeicherungen zu loschen.

Die Exemplartheoretiker sprechen nicht vom “Loschen” von Exemplaren(vielleicht, da dies nach endgultigem und vollstandigem Informationsverlustklingt), sondern von deren “Verfall”. Das meint scheinbar das Gleiche erscheintmir aber eine unscharfere Bezeichnung dafur zu sein. Es suggeriert ein allmahli-ches, zeitlich nicht genau definiertes Zurucktreten von Exemplaren lediglich ausdem sprachlichen Verarbeitungsraum anstelle einer abrupten ganzlichen Entfer-nung aus den Speicherressourcen. Diese vorsichtigere Ausdrucksweise ist insoferngerechtfertigt, da wie schon oben angesprochen keine endgultigen Erkenntnisseuber den Verbleib von scheinbar “verlorenen” oder nicht mehr verwendeten Reiz-informationen im Gehirn bekannt ist; zudem ist immer noch die Assoziation desmenschlichen Erfahrungsschatzes mit einem “Kerbholz” prasent: Demnach ver-ursachen Erfahrungen Kerben im Holz, das als Vergleichsobjekt fur den ganzenMenschen oder seines Gedachtnisses steht, deren essentielle Eigenschaft es ist,unausloschlich zu sein. Der allmahliche Verfall von Exemplaren mag fragwurdiganmuten, wenn man der absoluten Ansicht ist, daß eine sprachliche Informati-on (ein Exemplar) entweder seine Merkmalsmenge zur Verarbeitung beisteuertoder eben gar nicht; daß die Merkmale eines Exemplars hingegen nur selektivoder “ein bißchen” fur die sprachliche Evaluation von Bedeutung sein sollen,klingt so unmoglich wie die Phrase “ein bißchen nicht existent” oder zumin-dest unsachlich. Da der Verfall bzw. Einflußverlust von Exemplaren auf diesprachliche Verarbeitung (z. b. fur die Exemplarklassifikation) aber uber dasKonzept der Aktivierungsstarke erklart wird, ist fur mich nachvollziehbar, wieder starkere oder weniger starke Beitrag von Exemplaren zur Exemplarverar-beitung zu verstehen ist. Dennoch gibt auch die Exemplartheorie keine Hinweisedarauf, welchen niedrigen Schwellwert das Aktivierungslevel eines Exemplareseinnehmen muß, damit jenes als “verfallen” gilt und ob dieser Status bedeutet:vollstandig geloscht oder nur aus dem Arbeitsraum in einen Hintergrundraumgedrangt und moglicherweise durch erneute Aktivierung “wiederbelebbar”.

Bei der Menge der gespeicherten Exemplare im menschlichen Gedachtnishandelt es sich wie bei allen Erfahrungen naturlich um sehr individuelle Samm-lungen, da jeder Mensch unterschiedlichen Reizen im Laufe seiner Lebenszeitausgesetzt ist. Offensichtlich ist es moglich daß sich die Menschen trotz ihresdifferierenden Inventars an Weltwissen, sprachlichen und sonstigen Kategorienund Maßen, die sich bei ihnen durch die gesammelten Erfahrungen etablierthaben, verstandigen und verstehen konnen. Anscheinend reicht die Teilmenge

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ahnlicher oder “uberlappender” Erfahrungen fur ein weitgehendes, wenn auchnicht immer vollstandiges gegenseitiges Verstandnis aus, das, wie bereits an-gedeutet charakterisiert werden konnte mit “was ich denke, was du meintest”.So erscheint es mir eingangig, daß auch das sprachliche Inventar bzw. mentaleLexikon eine ahnliche sehr individuelle Charakteristik aufweist, deren ahnlicheExemplare zwischen den Lexika der Individuen einer Sprachgruppe das Ver-stehen gewahrleistet. Demnach sind keine absolut identischen mentalen Lexikamit identischen Regeln entsprechend einer traditionelleren Sichtweise notwen-dig und eine exemplare Speicherung ermoglicht das nicht perfekte menschlicheVerstandnis. Es ist zu vermuten, daß Farbreize unter Menschen ebenfalls nichtabsolut identisch wahrgenommen werden — dennoch konnen sich die meistenMenschen auf grobere einheitliche Farbkategorien einigen.

5.4 Diskussion des Prototypenansatzes

Die Frage, ob unter den gespeicherten Exemplaren einer Kategorie ein proto-typisches Exemplar angenommen werden muß, wurde ich intuitiv verneinen.Zwar gehe ich auch davon aus, daß es aufgrund von Kuhls ([53], Kapitel 3.5)perzeptuellem Magnet-Effekt anscheinend typischere Kategorieexemplare gebenmusse, ich sehe aber keinen Grund, diese besondere Typikalitat auf ein einzigesbestimmtes Exemplar pro Kategorie zu beschranken. Naturlich ware es verarbei-tungstechnisch praktikabel, ankommende neue Exemplare nur mit einem Pro-totypenexemplar pro Kategorie vergleichen zu mussen. Vielleicht kommt dieseszweckdienliche Vorgehen fur bestimmte exemplarbasierte kunstliche Modellie-rungen auch in Frage. Unter einer reinen Exemplartheorie und fur die Realitatwurde ich aber folgende Sichtweise als meine Meinung beanspruchen: Exemplarewerden mit mehreren anderen Exemplaren verglichen, und das bevorzugt mitsolchen aus der Region des nachweislichen perzeptuellen Magnet-Effekts, da die-se wie beschrieben einen Hingezogenheitseffekt bzw. eine Erwartung bzgl. desKlangs von Stimuli ausuben. Sollte dieser Vergleich unahnlich ausfallen, werdenzunehmend Exemplare aus den Randbereichen der Kategorieextension in denVergleichsprozeß einbezogen.

Ich nehme nicht an, daß sich ein Mensch (wenn auch unbewußt) an ein be-stimmtes “allerbestes” Kategorieexemplar erinnert. Allenfalls unterstutze ichdie Sicht, daß aus den perzeptuellen Eigenschaften der Exemplare, die in dembesonderen “Magnet-Bereich” liegen, ein abstraktes prototypisches Exemplargebildet wird, das in dieser “perfekten Weise” nie gehort wurde, dessen Re-prasentation aber als Vergleichsreferenz dient. Dieses muß naturlich in einerbestimmten Form gespeichert, verwaltet und v. a. in seinen Eigenschaften reor-ganisiert werden, da der “Magnet-Bereich” aufgrund des standigen Zustromesaktuellerer Exemplare veranderlich ist. Der unkompliziertere Vergleich ankom-mender Exemplare mit nur einem (kunstlichen) Referenzobjekt involvierte imAustausch dazu eine standige (evtl. wiederum aufwendige) Berechnung einesabstrakten Referenzprototypen. So bevorzuge ich nicht die Annahme eines ab-strakten Prototypen und noch weniger die eines reellen Prototypen, sondernpladieren fur einen umfassenden Ahnlichkeitsvergleich von den typischeren zu

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den weniger typischen Kategorieexemplaren.Wegen des prototypischen Verhaltens in Exemplarkategorien ist vermutlich

auszuschließen, daß Exemplare mit jedem einzelnen Exemplar einer jeden (ent-fernten) Kategorie verglichen werden mussen: Durch den Hingezogenheitseffektergeben sich wahrscheinlich nur Vergleiche mit den typischsten Exemplaren undbei volliger Ungleichheit lohnt es sich, zu den prototypischen Exemplaren ande-rer Kategorien vergleichend uberzugehen, ohne weitere Exemplare der aktuellenKategorie heranzuziehen. Denn: Trauen wir den sprachlichen Mechanismen desGehirns nicht zu, daß z. B. nach dem Vergleich eines /u/-Exemplars mit denprototypischen Vertretern einer /a/-Kategorie sofort mit anderen Kategorienverglichen wird, anstelle noch alle weiteren untypischeren /a/-Exemplare mitdem /u/-Stimulus durchzugehen? (Eventuell gibt es einen Rucklaufmechnis-mus, der auf die untypischeren Exemplare einer /a/-Kategorie zuruckkommt,falls es keine ahnlichen Exemplare unter den “magnetischen” Bereichen aller inFrage kommenden Kategorien gab.) Ich finde solche “intelligenten” sprachlichenMechanismen als Fahigkeit des Gehirns recht wahrscheinlich.

Letztlich mochte ich zu meiner Reflexion zum Exemplaransatz mit prototypi-schen Exemplaren anmerken, daß es sich um eine rein theoretische Betrachtunghandelt, die sich auf keinerlei experimentelle Beweise meinerseits stutzt. Kritischim Zusammenhang mit der Annahme eines prototypischen bzw. magnetischenExemplarbereichs ist die Thematik der Abgrenzung der typischeren Exemplarevon den weniger typischen. Wie so haufig stellt sich die Schwierigkeit, gultigeperzeptuelle Maße experimentell zu etablieren, die die Zugehorigkeit zu diesembesonderen Bereich definieren. Auch stellt sich die Frage, ob eine scharfe Typi-kalitatsabgrenzung innerhalb der Exemplarextension sinnvoll ist, d. h. wie sichdie Kontinuitat des Ubergangsbereich charakterisieren laßt. Kuhls Experimente[53] indizierten jedenfalls, daß es sich um einen nichtlinearen bzw. gekrumm-ten Raum um einen vermeintlichen Prototypen handelt. Der Ubergangsbereichzwischen besonders typischen Exemplaren mit magnetischer Wirkung zu denweniger typischen sollte sich also durch eine ungleichmaßig stark abnehmen-de Typikalitat zu den Randbereichen der Exemplarextension auszeichen; dieOrbits außerhalb des Ubergangsbereichs hingegen stellen sich durch gleichmaßi-geres und weniger starkes Sinken der Exemplartypikalitat dar. Vermutlich istes fur computationelle Modellierungen notwendig, Grenzwerte im Ubergangs-bereich festzulegen, die in der menschlichen Sprachverarbeitung wahrscheinlichnicht gebraucht werden, da menschliche Systeme mit unscharfen Grenzen besserzurechtkommen — so meine Annahmen.

6 Schluß

6.1 Phonologie bisher und kunftig — exemplarbasiert?

Zur Beschreibung der lautlichen Zusammenhange von Sprachen hat sich diePhonologie berufen. Ihr liegen nunmehr zwei hauptsachliche Vorgehensweisenvor.

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Im gangigen bzw. traditionellen phonologischen Ansatz versuchte manGrammatiken und Worterbucher zu entwickeln, um Generalisierungen uberLaut- oder Außerungsaussprachen treffen zu konnen. Um die Grammatik mitaussprachedefinierenden Regeln auszustatten, wurden bei der Inspektion einerSprecheraussprache phonetische Details genutzt, die die Aussprachegeneralisie-rungen beschreiben sollten.

Der zweite seit einiger Zeit popular werdende Ansatz ist der exemplarbasier-te. Hier wird Sprache im kognitiven Referenzrahmen des menschlichen Gedacht-nisses behandelt mit der Grundannahme, daß Menschen ein exemplarbasiertesGedachtnismodell verwenden, in dem auch die phonetischen Details gespeichertsind. Auch hierin gibt es Generalisierungen (z. B. um mit der Sprechervariabi-litat umzugehen), die aus der Berechnung uber den großen Speicher an phone-tischen Exemplaren hervorgehen.

Die zu untersuchenden Aspekte waren fur die Linguisten im ersten Fall pho-netische Details, die zu immer abstrakteren Reprasentationen formuliert wurden— erfolgte dies zu voreilig, mußte wieder ein Ruckschritt zuruck auf phonetischeEinzeldetails gegangen werden. Im zweiten Ansatz befassen sich die Linguistenmit Exemplaren, die bei der Verarbeitung detailreich in ihren phonetischen Ei-genschaften bleiben.

Die Frage stellt sich, ob Menschen beim phonologischen Lernen tatsachlichabstrakte Reprasentationen formen, die dann reorganisiert werden mussen, fallssich Generalisierungen als falsch herausstellen oder ob sie die sprachlichen Da-ten als detaillierte phonetische Exemplare standig fur eine erneute Analyse zurVerfugung haben.

Phonologische Herausforderungen wie dialektale Variation, sprecherspezifi-sche Aussprache- oder wortspezifische Variationsmuster bilden den Phanomen-typ, den exemplarbasierte Modelle handhaben, indem die Definition von Sprach-lautmustern uber deren Extension bzw. Ansammlung von Daten erfolgt. Um-gekehrt findet auf der traditionellen Seite (bei der Generierung von Daten ubereinen Algorithmus bzw. Regeln) zunachst eine Reduktion von Datendetails furden Abstraktionsprozeß der Regelerstellung statt, die schwierig fur die Deskrip-tion der oben genannten Phanomene ist.

Als Zukunftsausblick fur die phonologische Forschung mochte ich sehr dazuanregen, Ergebnisse aus der Exemplarforschung zu integrieren und im Hinblickauf die mentalen Speicherentitaten detailreicheres Sprachmaterial in die Mo-dellierungen einzubinden, um o. g. linguistische Phanomene besser handhabenzu konnen. Im Gegenzug ist es fraglich, ob die Normalisierung, die immer wie-der als ein zentrales Element traditioneller phonologischer Modelle auftauchtund zum Oppositionspunkt der verschiedenen Ansatze wird, wirklich als eineArt “Feindbild” fur die Exemplarmodellierung gesehen werden muß: Schließlichfuhrt zweifellos die Loslosung von variablen Details zum Finden bestimmterMerkmalsessenzen, mit Hilfe derer sich Regularitaten oder Kategorien definie-ren ließen. Diese Informationen sind mit Sicherheit bedeutend fur grundlegendesprachliche (Ahnlichkeits-) Entscheidungen bzw. fur die Sprachverarbeitungsme-chanismen. Die Einbindung von grammatikalischem Regelwerk in Exemplarmo-dellierungen halte ich fur sinnvoll und als in der naturlichen Sprachverarbeitung

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tatsachlich existent. Fur die Vereinbarung der Ansatze miteinander stellt sichnaturlich die Herausforderung, Mechanismen bzw. Algorithmen zu entwickelndie deren Zusammenspiel (v. a. zwischen detailreicher Speicherung und abstrak-ten Regelwerkreprasentationen) ermoglichen und eindeutige, naturnahe Ergeb-nisse hervorbringen. Ich empfinde den moglichen Kritikpunkt, daß eine Theoriedurch den Einbezug anderer oder gar oppositioneller Prinzipien “schwammig”wird, aufweicht oder unkonkret erscheint nicht als Gefahr sondern lediglich alsKonstrukt themenpolitischer Diskussionen.

Beide linguistischen Ansatze mußten sich meiner Ansicht nach annahernund wurden damit dem geistigen Vorbild aus der Antike folgen, die die Wissen-schaften und damit auch das Wissen selbst als zusammenhangend betrachtete.(Freilich mußte heute viel und mehr geleistet werden, um das sich bis heute der-art vergroßerte mannigfaltige Wissen in Einklang zu bringen oder gar zu uber-blicken, was ein Wissenschaftler allein kaum mehr bewaltigen kann. Dennochfinde ich den wissenschaftlichen Separatismus unserer Tage bedenklich und be-finde, daß konnektionistische Wissenschaften die Pflege von Zusammenhangenunterschiedlicher Themengebiete wieder mehr betreiben sollten.) Die Univer-salwissenschaftler jener Zeit profitierten von ihrem Wissen aus verschiedenenDisziplinen und waren so in der Lage, keine losgelosten Ergebnisse zu erhalten,sondern diese im Zusammenhang und Beleg von verschiedenen Seiten her zusehen. Ein Indiz von diesem Nutzen ist das Bestehen der Exemplartheorie nun-mehr auch innerhalb der Linguistik als praktikablen Ansatz fur deren Belange.

Die Exemplartheorie, die ursprunglich aus der psychologischen Forschunghervorging, laßt sich nicht aus der traditionellen phonologischen Forschung her-auslosen und ist trotz der bestehenden Gegensatze mit ihr verflochten. Sie liefertmit ihrer Klasse an variierenden Gedachtnismodellen ein Verstandnis fur phono-logische Generalisierungen und die Koexistenz von Gradienz und Kategorialitatbeim phonologischen Wissen des Menschen.

7 Danksagungen

Ich danke besonders meinem fachlichen Betreuer PD Dr. phil. Bernd Mobiusvom IMS der Universitat Stuttgart fur die freundliche Unterstutzung und Bera-tung bei der Bearbeitung dieses Themas, die unmittelbar und jederzeit moglichwaren. Desweiteren sei herzlich meinem Mann und meiner Mutter gedankt furdie Liebe und Hilfe bei der Betreuung meines Sohnes Tim wahrend der Zeitdieser Ausarbeitung. Mein lieber Andre half mir auch bei computer-technischenProblemen und gab mir in vielerlei Hinsicht Ruckhalt. Weiterhin mochte ichmich fur die moralische Unterstutzung und anregenden Gesprache mit meinenFreunden Astrid, Angelika, Tobias und Christin, meinen Nachbarn Jessi undMarc sowie meiner Schwester bedanken.

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8 Eidesstattliche Erklarung

Ich erklare an Eides statt, daß ich die vorliegende Arbeit (entsprechend dergenannten Verantwortlichkeit) selbstandig und nur unter Verwendung der an-gegebenen Quellen und Hilfsmittel angefertigt habe. Die Arbeit wurde bisher ingleicher oder ahnlicher Form weder veroffentlicht noch einer anderen Prufungs-behorde vorgelegt.

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