Fähigkeits- und Teilhabestörungen nach Mini-ICF-APP bei ... · Arbeitsplatzphobie 29 9,45% 0 0% ....

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Fähigkeits- und Teilhabestörungen nach Mini-ICF-APP bei Hausarzt-Patienten mit chronischen psychischen Leiden Beate Muschalla, Ulrich Keßler, Michael Linden Abt. Verhaltenstherapie und Psychosomatik am Reha-Zentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow/Berlin und Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin

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Fähigkeits- und Teilhabestörungen nach

Mini-ICF-APP bei Hausarzt-Patienten

mit chronischen psychischen Leiden

Beate Muschalla, Ulrich Keßler, Michael Linden

Abt. Verhaltenstherapie und Psychosomatik am

Reha-Zentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung Bund, Teltow/Berlin

und Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation

an der Charité Universitätsmedizin Berlin

Funktion – Aktivität und Partizipation

ICF

Kontextfaktoren

Aktivitäten und Partizipation (d, 28 Seiten)

Funktionsfähigkeit und Behinderung

Umwelt-faktoren

(e, 20 Seiten)

Persönliche Faktoren

Körperfunktionen (b, 31 Seiten)

Körperstrukturen (s, 10 Seiten)

4 K

om

pon

enten

s1 – s8 d1 – d9 e1 – e5b1 – b8

2 Teile

34 Kapitel

Abbildung 1: Struktur der ICF mit Hervorhebung der Komponente Aktivitäten und Partizipation

Symptom – Fähigkeit - Teilhabe

Psychische Erkrankung und Fähigkeiten

Bei Patienten mit psychischen Erkrankungen bestehen regelhaft

bedeutsame Beeinträchtigungen in verschiedenen Fähigkeitsbereichen (Linden et al., 2009).

In Hausarztpraxen leiden ca. 30% der Patienten unter chronischen

persistierenden oder wiederkehrenden psychischen Beschwerden (Muschalla et

al., 2011) mit einer hohen Rate an arbeitsbezogenen Beeinträchtigungen:

– 42,7% berichten über mittelgradige bis sehr schwere Probleme bei der Arbeit

und Berufsausübung,

– 14,4% schätzen sich krankheitsbedingt generell vollständig arbeitsunfähig ein,

– weitere 5,2% können ihre Tätigkeiten nur mit Unterstützung Anderer ausüben

Fähigkeitsstörungen

Es stellt sich die Frage,

in welchen Fähigkeitsbereichen und in welchem Ausmaß sich

Beeinträchtigungen manifestieren,

ob die von den Hausärzten ausgestellten

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit entsprechenden

Fähigkeitsbeeinträchtigungen einhergehen

ob Patienten mit spezifischen arbeitsbezogenen Ängsten in bestimmten

Fähigkeitsbereichen besonders beeinträchtig sind.

Fähigkeits- und Partizipationsstörungen

in der Hausarztpraxis

307 Patienten (Altersdurchschnitt=43,24 Jahre, SD=10,7; 70,4% Frauen)

aus 40 Berliner Hausarztpraxen die länger als sechs Monate lang unter

psychischen Beschwerden litten wurden in einer konsiliarärztlichen

Untersuchung von einem Rehamediziner bezüglich krankheitsbedingter

Fähigkeitsstörungen auf den Dimensionen des Mini-ICF-APP

(Linden et al., 2009) beurteilt.

Außerdem wurde der Arbeitsfähigkeitsstatus erfasst.

– Bei Vorliegen einer Beeinträchtigung, deren Schwere zu einer

Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führt oder sogar das Eingreifen Dritter

erforderlich macht, ist von einer Arbeitsunfähigkeit auszugehen.

Akut

N

% N Lifetime N % N

Major Depression 143 46,58% 202 66%

Dysthymie 78 25,41% 37 12%

Hypomanische Phase 0 0,00% 13 4%

Manische Phase 2 0,65% 10 3%

Panikerkrankung 51 18,89% 37 12%

Agoraphobie 78 25,41% 23 7%

Soziale Phobie 30 9,77% 15 5%

Zwangsstörung 15 4,89% 2 1%

Generalisierte Angststörung 28 9,12% 8 3%

Alkoholabhängigkeit/ -missbrauch 25 8,14% 35 11%

Drogenabhängigkeit/ -missbrauch 27 8,79% 26 8%

Psychose 4 1,30% 12 4%

Affektive Störung mit psychot. Merkmalen 0 0,00% 5 2%

Essstörung 3 0,98% 17 6%

Suizidrisiko 74 24,10% 101 33%

PTSD 8 2,61% 20 7%

Somatisierung, chronisch und akut 5 4,89% 0 0%

Anpassungsstörung 98 31,92% 0 0%

Persönlichkeitsstörung 20 6,51% 0 0%

Angst und Depression gemischt 1 0,33% 0 0%

Hypochondrie 8 2,61% 2 1%

Arbeitsplatzphobie 29 9,45% 0 0%

Fähigkeits-Dimensionen nach

Mini-ICF-APP

1. Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen

2. Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben

3. Flexibilität und Umstellungsfähigkeit

4. Fähigkeit zur Anwendung fachlicher Kompetenzen

5. Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit

6. Durchhaltefähigkeit

7. Selbstbehauptungsfähigkeit

8. Kontaktfähigkeit zu Dritten

9. Gruppenfähigkeit

10. Fähigkeit zu familiären / intimen Beziehungen

11. Fähigkeit zu Spontan-Aktivitäten

12. Fähigkeit zur Selbstpflege

13. Verkehrsfähigkeit Was kann jemand (Leistungsfähigkeit / capacity)

Mini-ICF-APP-Ratingbogen

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%

Anpassung an Regeln und Routinen

Planung und Strukturierung von Aufgaben

Flexibilität und Umstellungsfähigkeit

Anwendung fachlicher Kompetenzen

Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit

Durchhaltefähigkeit

Selbstbehauptungsfähigkeit

Kontaktfähigkeit mit Dritten

Gruppenfähigkeit

familiäre und intime Beziehungen

Spontanaktivitäten

Selbstpflege

Verkehrsfähigkeit

keine Beeinträchtigung leichte Beeinträchtigung

mäßige Beeinträchtigung erhebliche Beeinträchtigung

voll ausgeprägte Beeinträchtigung

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen (N=307 Hausarztpatienten mit chronischen psychischen Erkrankungen)

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen (N=307 Hausarztpatienten mit chronischen psychischen Erkrankungen)

Die stärksten Fähigkeits-Beeinträchtigungen waren zu finden in Spontanaktivitäten (M=1,19; SD=0.9),

– Flexibilität (M=0,98; SD=0,9),

– Durchhaltefähigkeit (M=0,99; SD=1,0),

– Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit (M=0,93; SD=0,9)

Am häufigsten „erheblich“ beeinträchtigt waren

– Durchhaltefähigkeit (7,8%),

– Flexibilität (5,2%)

– Verkehrsfähigkeit (5,5%)

d.h. dass zur Ausübung derartiger Aktivitäten Unterstützung von Dritten notwendig

wird.

Weniger stark beeinträchtigt

– Selbstpflegefähigkeit (M=0,06; SD=0,3)

– Fähigkeit zur Anwendung fachlicher Kompetenzen (M=0,25; SD=0,6)

eingeschätzt.

Arbeits-un-fähigkeit

AU liegt vor, wenn ...

jemand seine ausgeübte Tätigkeit krankheitsbedingt nicht mehr ausführen

kann

die weitere Ausübung der Tätigkeit trotz Krankheitszustand zur AU

führen würde

ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Krankheit und der dadurch

bedingten Unfähigkeit zur Funktionsausübung besteht

Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen

die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben.

(AU-Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen

nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V, Bundesanzeiger Nr. 61 vom 27.3.2004)

Arbeitsunfähigkeit (N=307 Hausarztpatienten mit chronischen psychischen Erkrankungen)

Zum Untersuchungszeitpunkt AU: 38,3%

Zum Untersuchungszeitpunkt länger als 6 Wochen AU: 15,8%

Mini-ICF-APP % der Pat. mit mäßigen bis erheblichen Fähigkeitsstörungen

(AU N=116 versus AF N=191)

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

AU AF

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen

AU (N=116) versus AF (N=191)

Patienten die aktuell arbeitsunfähig waren, hatten in der

– Flexibilität und Umstellungsfähigkeit (M=1,10 (SD=1,0) vs. M=0,88

(SD=0,9), p=.061*),

– Fähigkeit zur Anwendung fachlicher Kompetenzen (M=0,36 (SD=0,8) vs.

M=0,18 (SD=0,2), p=.019**),

– Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit (M=1,17 (SD=0,9) vs. M=0,77 (SD=0,8),

p=.000**),

– Durchhaltefähigkeit (M=1,12 (SD=1,1) vs. M=0,89 (SD=1,0), p=.074*),

– Kontaktfähigkeit mit Dritten (M=0,86 (SD=0,9) vs. M=0,68 (SD=0,8),

p=.088*)

stärkere Beeinträchtigungen als arbeitsfähige Patienten.

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen

Beeinträchtigungsgrad (N=116 AU Patienten)

Von 116 arbeitsunfähig geschriebenen Patienten wurde bei 77,6% im

Mini-ICF-Rating in mindestens einem Fähigkeitsbereich aktuell eine

mäßige Beeinträchtigung festgestellt, d.h. dass krankheitsbedingt

relevante auffällige Leistungsminderungen bestehen

Bei 26,7% gab es mindestens in einem Bereich eine „erhebliche

Beeinträchtigung“, die das Eingreifen Dritter erforderlich machen würde.

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen bei Pat.

mit Arbeitsplatzphobie (N=29) versus ohne (N=259)

Mini-ICF-APP Fähigkeitsstörungen

Arbeitsplatzphobie (N=29)

Patienten mit einer Arbeitsplatzphobie (N=29) hatten signifikant stärkere

Beeinträchtigungen als Patienten ohne Arbeitsplatzphobie in den

Fähigkeitsdimensionen

– Planung und Strukturierung von Aufgaben,

– Flexibilität und Umstellungsfähigkeit,

– Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit,

– Kontaktfähigkeit mit Dritten, sowie in der

– Verkehrsfähigkeit.

Fähigkeitsstörungen –Arbeitsunfähigkeit

- Arbeitsplatzphobie

Patienten mit chronischen psychischen Erkrankungen in der Hausarztpraxis

haben relevante Fähigkeitsstörungen in verschiedenen Bereichen.

Patienten, bei denen die Ärzte aktuell eine Arbeitsunfähigkeit attestiert

hatten, zeigten signifikant mehr Fähigkeitsbeeinträchtigungen als die

arbeitsfähigen Patienten.

Bei der Interpretation der Daten zu psychisch bedingten

Leistungsminderungen ist zu berücksichtigen, dass zusätzlich somatische

Krankheiten zu Arbeitsunfähigkeitsattesten führen können.

Im Fall einer Arbeitsplatzphobie macht sich die lebensbereichsspezifische

Psychopathologie direkt in ihren Auswirkungen auf die

lebensbereichsspezifische Teilhabe bemerkbar, weswegen

Arbeitsplatzängste als Sonderphänomen auch in der sozialmedizinischen

Begutachtung ernst genommen werden müssen.

Literatur

Linden M, Baron S, Muschalla B (2009). Mini-ICF-Rating für psychische

Störungen (Mini-ICF-APP). Ein Kurzinstrument zur Beurteilung von

Fähigkeits- bzw. Kapazitätsstörungen bei psychischen Störungen.

Göttingen: Hans Huber.

Linden M, Baron S, Muschalla B (2010). Capacity according to ICF in

relation to work related attitudes and performance in psychosomatic

patients. Psychopathology, 43, 262-267.

Muschalla B, Vilain M, Lawall C, Lewerenz M, Linden M (2012).

Participation restrictions at work indicate participation restrictions in other

domains of live. Psychology, Health & Medicine,17, 95-104.

Kontakt

Dr. Beate Muschalla

Forschungsgruppe Psychosomatische

Rehabilitation FPR

Rehazentrum Seehof und Charité Berlin

Lichterfelder Allee 55

14513 Teltow

Tel 03328-345679

[email protected]