Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine...

123
Familiengeschichte 1 Die Schwarzwälder GERHARD PFREUNDSCHUH REIHE: FAMILIENGESCHICHTE | www.pfreundschuh-heidelberg.de

Transcript of Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine...

Page 1: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

Familiengeschichte

1 Die Schwarzwälder

GERHARD PFREUNDSCHUH

R e i h e : F a m i l i e n g e S c h i c h t e | www.pfreundschuh-heidelberg.de

Page 2: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

Gerhard Pfreundschuh

Unsere Familie

Eine Familien-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

aus dem deutschen Südwesten

Buch I – Die Schwarzwälder

(Auszug – Text zu lebenden Personen gesperrt)

Heidelberg 2010

Page 3: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

2

Die Ahnen im Überblick Oft habe ich meinen Kindern, Enkelkindern oder Verwandten aus unserer Familien-geschichte erzählt. Und öfter hörte ich dann: „Schreib das doch einmal auf!“ Damit will ich heute beginnen. Seit meiner Schulzeit finde ich Geschichte besonders spannend und das gilt auch für unsere Familiengeschichte. Doch ich hätte meine Eltern und Verwandten darüber noch viel mehr ausfragen sollen. Zum Glück haben sie mir einiges erzählt und reichlich schriftliche Unterlagen und Fotos hinterlassen. Das will ich vor dem Vergessen bewahren. Außerdem will ich versuchen, es geordnet und anschaulich zu erzählen, damit meine Kinder, Enkelkinder, Verwandten und Nachfahren es gern lesen. Die Bilder habe ich nicht nach künstlerischem Wert, sondern nach Anschau-lichkeit – gerade auch für Kinder – ausgewählt. Vielleicht hilft mir dabei, dass ich mich ein Leben lang mit Geschichte und unserer Heimat beschäftigt habe. So sah ich unsere Vorfahren vor meinem geistigen Auge immer in ihrer historischen Umgebung und in ihrer Landschaft leben. Daher wollen wir schauen, ob sie reich oder arm waren, wo, wovon und wie sie gelebt haben. Was sie über Gott und die Welt, über das Leben und die Liebe gedacht haben. Es soll nicht nur eine Familienchronik werden, sondern auch eine lebensnahe Darstellung des Alltags unserer Vorfahren, ihrer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Und schließlich haben uns unsere Vorfahren ja einiges mitgegeben, was unsere Person ausmacht. Schon Goethe berichtet uns: „Vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust zu fabulieren.“ Heute weiß die Zwillingsforschung, dass unsere Begabungen und unsere Charakter-züge zur Hälfte durch die Vererbung und zur anderen Hälfte durch die Umwelt bestimmt sind. Doch auch unsere kulturelle Umwelt ist Erbe, historisches Erbe. Ja, liebe Kinder und Kindeskinder in euch stecken die verschiedensten persönlichen Temperamente und landsmannschaftlichen Mentalitäten. So will ich zunächst in einer Übersicht meine und damit auch euere Vorfahren vorstellen. Es sind vier Familienstämme. Sie sind beruflich und landschaftlich klar abgegrenzt.

- Da sind die ehrbaren fränkischen Bauern aus dem badischen Taubergrund.

Sie lassen sich bis 1570 nachweisen und lebten immer dort; bis mein Urgroßvater Georg I. Pfreundschuh (1841 -1914) nach Heidelberg zog.

- Er heiratet Hermine Prinz (1848 – 1914), eine Südbadenerin. Und so ist der

zweite Stamm dazugekommen. Ihre Vorfahren waren ausnahmslos Beamten-bürger aus Südbaden; kein Bauer oder Handwerker ist dabei. Immer lebten sie in kleineren oder größeren badischen Städten (vor allem in Säckingen, aber auch in Freiburg, Ettlingen, Rastatt, Karlsruhe), niemals in einem Dorf.

- Der Sohn von Georg I. und Hermine war Georg II (1874 – 1931), mein

Großvater. Er heiratete mit Emilie Heizmann (1879 – 1947) eine Schwarz-wälderin. Und so kamen als dritter Stamm die Schwarzwälder Hofbauern aus Titisee dazu. Auch ihre Ahnenreihen reichen zurück bis zum Beginn der

Page 4: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

3

Neuzeit (um 1550). Sie lebten fast alle auf stattlichen Höfen in der Gemeinde „Viertäler“, die erst 1929 in Titisee umbenannt wurde.

- Der Sohn von Georg II. und Emilie war Georg III (1902 – 1977), mein Vater. Er

heiratete Franziska Geßner (1910 – 1997), deren Vorfahren waren, soweit wir das feststellen können (sieben Generationen), Lehrer in der Kurpfalz.

Das folgende Foto aus dem Jahr 1955 zeigt die sieben Kinder von Georg II und Emilie (stehend von links: Karl-Heinz, Hans, Georg, Hermann (meine Pate); sitzend von links: Traudel (meine Patin), Maria, Mechthild). Für alle Nachfahren dieser sieben Geschwister sind die drei ersten Stämme Vorfahren in direkter Linie.

In Franken und im Schwarzwald können wir also die Ahnen bis zum Beginn der Neuzeit, die Jahrzehnte nach 1500 n. Chr., zurückverfolgen. Das Spätmittelalter ist gerade zu Ende gegangen. Kaiser Maximilian (1493 – 1519) wird der „letzte Ritter“ und der „erste Humanist“ genannt. Es ist das Zeitalter der Renaissance und der Reformation, des Humanismus und der Entdeckung ferner Erdteile. 1492 wurde Amerika entdeckt und genauso hoch ist auch der Feldberg, der höchste Berg des Schwarzwalds. In diesem Jahrhundert von 1500 bis 1600 herrschte Wohlstand in Deutschland, der Frühkapitalismus der Fugger und Welser blühte. Es war ein Jahrhundert hoher künstlerischer Schaffenskraft. Allein in Franken begegnen uns die Künstlerfamilie Vischer (Hermann d. Ä und d. J., Peter d. Ä. und d. J.), Veit Stoß (1448 – 1533), Tilmann Riemenschneider (1460 - 1531), Albrecht Dürer (1471 – 1528), Lukas Cranach d. Ä. (1472 – 1553) und sein Sohn d. J. (1515 – 1586), um nur

Page 5: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

4

einige zu nennen. In Italien lebten Leonardo da Vinci (1452 – 1519) und Michel-angelo (1475 - 1565). Kopernikus (1473 – 1543), Galilei (1564 – 1642) und Kepler (1571 – 1630) entdeckten, dass sich die Erde um die Sonne dreht. – Auch unsere Vorfahren in Franken waren angesehen und wohlhabend. Wir finden schon einige ihrer Kinder an den Universitäten in Bamberg, Würzburg und Mainz beim Studium. Doch dann kam der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), der Deutschland verwüstete und insbesondere die Bauern und Bürger um gut ein Jahrhundert zurückwarf. Die Nachkommen blieben in ihrem Dorf, waren und blieben Bauern. Allerdings wurden einige ihrer Geschwister Geistliche oder gingen ins Kloster, wo ein Teil des Geburtenüberschusses aufgefangen wurde. So waren Lienhard Pfreundschick (1635 – 1681) und sein Halbbruder Andreas Brandt (1651 – 1725) angesehene Äbte im Kloster Ilbenstadt bei Friedberg (Hessen). Zwischen Magd und Nonne hatten auch viele Mädchen oft nur die Wahl. Denn die Gemarkung war begrenzt, konnte nur eine bestimmte Zahl von Familien ernähren. Der unvermehrbare Boden bestimmte die Grenzen des Wachstums. Erst ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts, mit dem ersten Industrialisierungsschub änderte sich das. Mein Urgroßvater Georg Pfreundschuh (1841 – 1914) aus Uissig-heim sollte in ganz katholischer Tradition als gescheiter Bub Pfarrer werden. Er kam auf das katholische Konvikt (Gymnasium) in Tauberbischofsheim. Dort lernte er Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch, nicht Englisch und Hochdeutsch nur schreiben. Denn all unsere Vorfahren, egal was sie beruflich waren, redeten wie ich ihren südwestdeutschen Dialekt. Nach der Schulzeit ging Georg I zur Post und heiratete völlig unstandesgemäß Hermine Prinz (1848 -1914) aus Rastatt. Deren Vater Eduard Prinz (1812 - 1880) war erstmals kein Beamter, sondern hatte in Rastatt eine Brauerei. Doch durch eine Bürgschaft hatte er sein ganzes Vermögen verloren. So heiratete ein armes Bürgermädchen einen armen Bauernbub und Postler aus dem badischen Frankenland. Denn obwohl Georg I ein hervorragender Schüler war, konnten oder wollten ihm seine Eltern ein Studium nicht bezahlen. Auch andere Uissigheimer verließen ab Anfang des 19. Jahrhunderts ihr Dorf, um in die aufblühenden Industriestädte am Oberrhein oder Neckar zu ziehen. In dieser Zeit kommt es auch zu einer ersten größeren Auswanderungswelle, die bei unseren Schwarzwäldern noch England zum Ziel hatte. Die Zünfte waren gefallen, Berufs- und Gewerbefreiheit eingeführt worden. Jeder konnte nun ein Handwerk lernen. Das nutzten vor allem auch die Schwarzwälder. Hier war es mein Ururgroßvater, Johann Schwörer (1805 – 1873), der das Uhrmacherhandwerk lernte. Er war Fernpendler. In London war er Uhrmacher und Juwelier, im Schwarzwald Hofbauer auf dem Winterhalderhof. Und fast jedes Jahr, wenn er einige Zeit daheim war, gab es danach wieder ein Kind, 13 insgesamt. Einige seiner Kinder wanderten ganz nach England aus, andere waren zeitweise dort. Mein Großvater mütterlicherseits, Jakob Geßner (1868 – 1937), war zwar noch Lehrer, aber sein Bruder lernte einen ganz neuen Beruf; er wurde Fotograf. Damit ging er in die USA und wurde ein wohl-habender Mann. Seine Frau, die Tante Mary, überraschte uns nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder mit tollen Geschenkpaketen. Aus ihren habe ich meine erste Schokolade gegessen. So lassen sich die Zusammenhänge unserer Familie, die berufliche und die lands-mannschaftliche Herkunft recht gut nachvollziehen. Denn außerhalb des deutschen Südwestens habe ich keine Vorfahren.

Page 6: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

5

Nun wohnten die Franken, die Schwarzwälder und fast alle Pfälzer Lehrer über die Jahrhunderte in Dörfern, die Südbadener (vor 1805 Vorderösterreicher) in Städten. Deshalb wollen wir uns zuerst im „alten Dorf“ und dann in der „alten Stadt“ etwas umsehen.

Das alte Dorf

Das alte Dorf habe ich noch erlebt. Und immer wieder hörte ich meine Eltern sagen: „Wie gut, dass wir auf dem Land aufgewachsen sind.“ Sie waren sich sicher, dass sie dort eine schöne, glückliche Kindheit und Jugend verlebt hatten. Ich selbst bin in Handschuhsheim, einem damals noch ganz überwiegend klein-bäuerlich geprägten Vorort von Heidelberg groß geworden. In unserer Mundart heißt er „Hendesse“ und in der Volksschule sprachen wir alle den örtlichen Dialekt. Ich erinnere mich noch gut, als ich 1947 in die erste Klasse gekommen bin. Eine ganze Reihe von Mitschülern redete „komisch“. Denn ein Viertel der Kinder stammte aus Flüchtlingsfamilien. Bei uns in der süddeutschen amerikanischen Besatzungszone kamen diese Heimatvertrieben vor allem aus dem Gebiet der ehemaligen öster-reichischen Donaumonarchie. Es waren Sudetendeutsche, Donauschwaben und Siebenbürger Sachsen. Doch nach einem halben Jahr sprachen wir alle gleich, nämlich den Hensemer Dialekt. – Heute ist das anders. „Ich hab’ eine Oma, die kann noch Hensemerisch“, hörte ich einmal in der Straßenbahn ein Kind zu seinen Mitschülerinnen sagen. Alle redeten ein farbloses Hochdeutsch. Für mich als kleiner Bub war es nun besonders schön, dass ich frei und unbeschwert durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die Mühltalstraße hinauf rannte, dann grüßten sie fast an jeder Ecke einen Onkel oder eine Tante. Darum beneidete ich sie. Sie konnten unangemeldet in viele Häuser und Gehöfte, zu vielen Erwachsenen und Kindern gehen; mit allen waren sie irgendwie verwandt oder gut bekannt. Ich hatte im Stadtteil gar keine Verwandten und in Heidelberg nur den Onkel Karl-Heinz mit seiner Familie. Unsere Verwandtschaft war über ganz Baden verteilt und die jüngste Schwester meines Vaters, meine Patentante Traudel, die in der Familie nur „’s Bobbele“ (Baby, Püppchen) hieß, hatte sogar nach Düsseldorf geheiratet. Allerdings hielten mein Vater und seine sechs Geschwister fest zusammen, feierten viele Familienfeste miteinander und trafen sich oft übers Jahr. Doch es war, so könnte man sagen, eine „bürgerliche Verwandtschaft“ über erheb-liche Entfernungen hinweg. Mein Vater pflegte auch die weitere Verwandtschaft in den Schwarzwald und nach Franken lebenslang und am ausgiebigsten von all seinen Geschwistern. In seine Fußstapfen bin ich getreten. Hendesse, seine Bewohner und seinen dörflichen Charakter lernte ich in meinen vier Jahren Volksschule sehr lieben. Bewusst habe ich nie den damals gelernten Dialekt aufgegeben. Und es war immer ein schönes Erlebnis, wenn ich nach Jahren der Abwesenheit zum Beispiel plötzlich in Hendesse an eine Tankstelle kam und der etwa gleichaltrige Tankwart sprach genauso wie ich. Hendesse war ein Dorf. Und neidvoll sah ich einmal, wie mein rothaariger Klassenkamerad Arnold aus einer Hofeinfahrt ein Pferd mit Wagen herausführte. Er arbeitete nachmittags gegen ein geringes Entgelt bei einem Bauern. Das hätte ich für mein Leben gern gemacht, viel lieber als die langweiligen Schulaufgaben.

Page 7: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

6

Gut erinnere ich mich auch an eine andere Begebenheit. Ein Klassenkamerad hatte mich am Nachmittag oben in der Mühltalstraße zu sich eingeladen. Die schöne Hofreite war ursprünglich eine alte Mühle, seine Bewohner noch Kleinbauern. Bevor wir zu seiner Mutter in die Stube traten, sagte er zu mir: „Gell, awer (aber) ‚Guten Tag’ sage’!“ Das hätte ich sowieso getan; aber mir blieb in Erinnerung, wie wichtig es ihm war. Sein Schulkamerad sollte sich gut benehmen. Alle, und gerade auch die sogenannten „einfachen Leute“ achteten auf Sitte und Anstand. Wie sagte später an der Münchner Universität der beliebte Professor für Bayerische Geschichte Karl Bosl: „Der kleine Mann ist moralisch. Ich war das auch, als ich noch ein kleiner Mann war.“ „Wie bist du jetzt?“, dachte ich damals spontan und kritisch. In Erinnerung ist mir auch, dass die Mutter meines Klassenkameraden ruhig und entspannt mit einer Handarbeit am Tisch saß. Und dann begann die übliche Ausfragerei. Wo ich wohne, was der Vater mache und wie es in der Schule ginge. Dazu passend dichtete mein Großvater: „Wissbegierde ist des Menschen größte Zierde.“ Zum alten Dorf und zur alten Zeit gehörte die menschlich-persönliche Nähe. Anonym und einsam lebte da niemand. Danach durften wir beiden in dem großen und verwinkelten Gehöft spielen.

Euer Opa Gerhard (ich) als Schulbub in Hendesse Das alles gefiel mir so gut, dass ich daheim gleich zu meiner Mutter rannte und sagte: „Mama, ich möchte, dass wir in die Mühltalstraße ziehen.“ Aber meine Mutter schlug nur die Hände über den Kopf zusammen. Sie fand unser Zwei-Familien-Haus (Baujahr 1936) mit Garten in der Beethovenstraße viel schöner als die alten Häuser im Dorfkern. Das konnte ich überhaupt nicht verstehen. Das alte Dorf mit seinem noch offenen Bächle war nicht nur kindgerechter, für mich war es einfach viel schöner, gemütlicher, menschenfreundlicher – genauer kann ich meine starken Gefühle nicht ausdrücken. Und dort war es noch so, wie ich es 1944 bis Mitte 1945, also als 3- und 4-jähriger Bub, in Tauberbischhofsheim erlebt hatte. Mein Vater hatte

Page 8: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

7

meine Mutter, meinen Bruder und mich wegen der vielen Fliegeralarme in Heidelberg dort hingebracht; und ich durfte mit Nachbarsbuben das ganze Städtle durch-stromern, für mich erobern und als großes Spiel- und Entdeckungsland erleben. In Hendesse merkte ich zweierlei. Ich erlebte einmal wie familiär und kindgerecht das alte Dorf war. Wir Kinder sagten in Hendesse zu allen Erwachsenen entweder „Vetter“ (Mann) oder „Besel“ (Frau). Jeder Erwachsene war gleichsam ein Verwandter, ein Cousin oder eine Cousine der Eltern. Aber ich spürte auch, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehörte. Wir waren keine alte, einheimische Familie. Genau das war dann ganz anders, wenn ich zu meinen Verwandten ins fränkische Uissigheim oder auf den Winterhalderhof nach Titisee im Schwarzwald kam. Jetzt gehörte ich zur Verwandtschaft. Hier erlebte ich das, was meine Tante Martha in Uissigheim so beschrieb: „Früher waren wir im Dorf alle gleich, alle per du, eine große Familie. Das änderte sich erst, als die Flüchtlinge kamen.“ Neben dieser familiären Dorfgemeinschaft war es auch die gemeinsame Arbeit, die alle zusammenführte. Jahre später, als es das alte, ursprüngliche Dorf nicht mehr gab, sagte die Tante Martha bei einem Besuch in Uissigheim: „Heute bist du auf dem Feld ganz allein. Früher arbeiteten alle zusammen. Alle hatten im gleichen Gewann die Kartoffeln, die Rüben oder die Frucht (Getreide). Gemeinsam wurde gesät, gehackt und geerntet.“ Bis in die 50ger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die alte „Dreifelderwirtschaft“ fortgeführt. In ihrer klassischen Form hat diese Bewirtschaftungsart von 800 bis 1800, also 1000 Jahre gegolten. Im ersten Jahr wurde auf dem Acker Wintergetreide, im zweiten Sommer-getreide angebaut, im dritten lag das Feld brach, um sich zu erholen. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zur „verbesserten Dreifelderwirtschaft“. Die Brache wurde mit Futterpflanzen und dann mit Hackfrüchten (z.B. Rüben, Kartoffeln) bestellt. Dazu gehörte das, was später „Flurzwang“ genannt wurde. Alle Bauern haben in einem Gewann die gleichen Feldfrüchte angebaut. Das war aber notwendig und wurde nicht als Zwang empfunden. Denn als alle Zwänge der Dorfordnung von Staats wegen aufgehoben waren, haben die Bauern die alte Bewirtschaftung bis zur Anschaffung der Schlepper beibehalten. Die Arbeit erfasste auch alle Generationen, von den Großeltern bis zu den Kindern; jeder schaffte nach seinen Fähigkeiten mit. Besonders schön war dann das gemeinsame Vesper auf dem Feld, wie mein Vater oft erzählte. Er war als Kind über Jahre jede Ferien in Uissigheim gewesen. Ähnliches habe ich vom Winterhalderhof im Schwarzwald in bester Erinnerung. In den 50er Jahren verbrachten wir dort fast immer die großen Sommerferien. Für mich waren es die schönsten Zeiten meiner Kindheit und Jugend. Und jedes Jahr, wenn wir dort waren, wurde das Öhmd, der zweite Grasschnitt, eingebracht. Alle gingen dann in die Matten (Wiesen). Die Tante Lisel (ausgesprochen: „Lissel“) als Hofbäuerin und Hoferbin kam meistens etwas später. Die anderen waren schon fleißig mit dem Rechen beim „Schaffe“. Das waren der Onkel Viktor, Lisels Ehemann, deren Sohn und Jungbauer Siegfried, seine Schwester Traudel, meine Eltern, wir beiden Buben. Dazu kamen dann die fremden Helfer, die sich aber wie Familien-mitglieder verhielten. Wir machten Schöcheli (kleine Heuhaufen) und haben dann das Öhmd verladen. Oft durfte ich oben auf dem Leiterwagen das Heu verteilen und festtrampeln, bis der Wiesbaum alles zusammenhielt und die Ochsen die Fuhre in die Scheuer zogen. Als ich damals einmal dem Hüterbuben Fränzel zeigte, dass

Page 9: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

8

meine Blasen an den Händen aufgesprungen waren und bluteten, da meinte er nur: „Schwiele’ kriege bloß fule Lüt (faule Leute).“ Und so schaute ich zu, dass meine Hornhaut an den Händen dick und widerstandsfähig wurde. Der Winterhalderhof war in der damaligen Zeit ein großer Hof mit 75 Hektar Grund und Boden. Das meiste war Wiese und wurde für die Viehwirtschaft genutzt. Nur zum Eigenbedarf wurden Herdäpfel (Kartoffel) und Frucht angebaut. Ein ansehnlicher Teil war auch Wald. Und der Hof hatte nach dem badischen Recht das Jagdrecht. In den ersten Jahren wurde noch ganz mit den Ochsen gearbeitet. Erst später kam der Schlepper. Und dann durften wir Kinder nicht mehr richtig mitmachen. Doch mit den Ochsen konnte ich gut umgehen. Ich durfte den bravsten Ochsen, den Peter, auch einspannen und mit einem kleinen Wagen die Milchkannen an die Straße fahren. Dort wurden sie dann von der Molkerei abgeholt. An eine Begeben-heit erinnere ich mich gut. Ich saß auf dem Wagen, hatte die Zügel in der Hand und fuhr den leicht abschüssigen Weg zum Altenwegbächle und zur Straße hinunter. Das sah der zweite Ochse, der Bowie, der dort links vom Weg weidete. Er erkannte, dass der eingespannte, ältere Peter nun wehrlos war. Plötzlich fing er an zu rennen und stieß seine Hörner dem Peter in den Ranzen. Ich war im Nu vom Wagen und schlug mit der Geißel (Peitsche) auf den Bowie ein, trieb ihn zurück auf die Weide. Dann führte ich den Peter am Halfter zur Straße. Als ich bei meiner Rückkehr den Vorfall meiner Tante Lisel erzählte, meinte sie nur: „I han’s g’sehe.“ Mehr sagte sie nicht. Ich wusste aber, dass ich es richtig gemacht hatte. Denn auch hier galt wie im ganzen Südwesten: „Nix g’sagt, is’ g’nug g’lobt.“ Wenn heute oft über die „schwere Kinderarbeit“ in der früheren Landwirtschaft geschimpft wird, dann kann ich nur sagen: so kenne ich es nicht. Denn die Kinder wurden kindgerecht beschäftigt; und nach allem, was ich von meinen Eltern, Verwandten, sonstigen Kennern des alten Dorfes und aus eigener Erfahrung weiß, erlebten die Kinder die Arbeit mit den Erwachsenen als spannend, wichtig und erfreulich. Viel unangenehmer war es für mich, nach den großen Ferien wieder ins Gymnasium zu gehen, ruhig zu sitzen, lateinische oder griechische Wörter und Grammatik zu pauken. – Die übervollen Lehrpläne, das ist die Kinderarbeit von heute. Jedes dritte Kind soll Schulstress erleben. Und Stress ist das subjektive Gefühl, den Anforderungen der Umwelt nicht entsprechen zu können. Wie lebten die Kinder im alten Dorf? Das sehen wir im ersten Lesebuch meines Vaters von 1908; er liebte es über alles. Mir hat es auch immer sehr gefallen und ich habe daraus die deutsche Schrift gelernt. Es zeigt schön anschaulich, wie die Welt damals bei uns war: die alte Landwirtschaft mit Sense und Dreschflegel, die bekannte Postkutsche, die erste Eisenbahn und die neuen Telegrafenstangen. – Alle Bilder sind von meinem Vater als Kind bunt angemalt worden.

Page 10: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

9

Page 11: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

10

Page 12: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

11

Page 13: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

12

Zur gemeinsamen Arbeit kam das ganz natürliche und tiefe Gemeinschaftsgefühl. Jeder konnte zum Nachbarn gehen und ihn um Hilfe bitten, wenn im Stall eine schwierige Geburt oder sonst was los war. Auch das Schlachtfest war oft eine Gemeinschaftsveranstaltung. Hier konnte ich allerdings den großen Unterschied zwischen einem fränkischen Haufendorf und der offenen Siedlungsweise in den Einzelhöfen des Schwarzwaldes erleben. Oft hörte ich in Uissigheim, dass einige Bauern im Zuge der Flurbereinigung der 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts in eine „Aussiedlung“ abseits des Dorfs gezogen waren. Meine Verwandte Margita meinte, dass sie dort nie und nimmer wohnen wollte. „Da draußen ist man allein, vom Dorfgeschehen abgeschnitten; da kann man nur trübsinnig werden. Außerdem erfährt man nicht, was los ist im Ort.“ So erlebte ich die fröhlichen und geselligen Franken. Meine Tante Mechthild, die Schwester meines Vaters, ging daher auch viel lieber zu den lustigen Franken als zu den stillen, eher verschlossenen Schwarz-wäldern. Trotzdem hatte sie einen Schwarzwälder aus St. Märgen geheiratet, der bald nach der Hochzeit in Russland vermisst und nach dem Krieg für tot erklärt wurde. Bei meinem Vater war das nicht so. Er fühlte sich lebenslang als „Oberländer“ (Alemanne, Südbadener) und liebte den Schwarzwald über alles. Wenn es im Odenwald schön war, sagte er: „Fast wie im Schwarzwald!“ Meine Tante Lisel auf dem Winterhalderhof war sehr zufrieden mit dem deutlichen Abstand zu den Nachbarn; sie fühlte sich wie eine Königin in ihrem Reich. Und in ihrer Jugend hatte sie auch wegen ihrer ausgesprochenen Schönheit den Übernamen „Seekönigin“. Franken und Alemannen sind in ihrer Mentalität sehr verschieden. In München hörte ich später als Student ein Semester lang eine kunst-historische Vorlesung von einem Professor Lieb. Er zeigte an Portraits der frühen Neuzeit (ab 1500), wie sich darin die unterschiedlichen Charakterzüge und Stammeseigenschaften von Altbayern, Franken und schwäbisch-alemannischen Persönlichkeiten ausdrückten. Für mich war die Vorlesung deshalb so reizvoll und überzeugend, weil ich alle drei Stämme in meiner Jugend eindrucksvoll erlebt und lieben gelernt hatte. In Oberbayern war ich ein Jahr in Ettal im Internat. Außerdem war ich schon in meiner Schulzeit immer wieder nach Südtirol gekommen und hatte dort die Einheimischen als äußerst liebenswert kennen gelernt. Doch am vertrautesten wurden mir Land und Leute immer bei meinen Verwandten. Und so erinnere ich mich gut an eine Fasnacht, die ich als Jugendlicher in der Gastwirtschaft zum Adler in Uissigheim feierte. Es war einfach schön, lustig und unvergesslich. Ich fühlte mich daheim und dazugehörig. Doch plötzlich fiel mir etwas auf. Ich sagte zu meinem Verwandten: „Hans, hier sind alle Generationen, aber kaum welche, die jünger sind als wir.“ Ich war damals wohl schon über 20. Hans antwortete: „Ja, das fällt mir jetzt auch auf, wo du’s sagst. Die ganz Jungen kommen jetzt nimmer so. Das kommt von den Mopeds, den Motorrädern und den Autos. Die fahren lieber nach Werdde (Wertheim) oder Bischi (Tauberbischhofsheim).“ Außerdem, so denke ich heute, sind sie nicht mehr von Kindesbeinen als mithelfende Familienangehörige ins bäuerliche Leben und damit in die Dorfgemeinschaft hinein-gewachsen; wie das noch bei der unmittelbaren Nachkriegsgeneration der Fall war. Diese traf sich noch lang jeden Abend beim Milchhäusle, wo die Milch abgeliefert wurde. Anfang der 60iger Jahre wurde auch dieses Sammelsystem aufgegeben. Das Milchhäusle stand an der Rückseite des Gehöfts von Hans, aus dem mein Urgroß-vater stammte.

Page 14: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

13

Die Motorisierung der Gesellschaft und die Technisierung von Haus und Hof konnte ich miterleben. Beides hat (neben anderem) die Menschen verändert. Ich erinnere mich noch genau daran, wann wir uns für ein Auto mit Schiebedach entschieden haben. Meine Patentante, die Traudel, ihr Mann Fritz und meine Cousine Mechthild hatten uns auf dem Hof in Titisee besucht. Sie hatten als Fabrikanten schon vor uns ein Auto, einen kleineren viereckigen Opel mit Schiebedach. Er war schwarz, denn etwas Vornehmes musste er ja aufweisen bei den Conzens aus Düsseldorf. Und als sie davon fuhren, stellte sich meine nette und hübsche Cousine Mechthild auf den Rücksitz, schaute aus dem Schiebedach und hat uns „zugewunken“. Da sagten meine Eltern zueinander: „Wenn wir uns jetzt bald ein Auto kaufen, dann muss es so ein Schiebedach haben. Das ist eine gute Zwischenlösung zwischen Limousine und Cabrio.“ Im Laufe des Jahres 1953 war es dann soweit. Und weil das so bedeutend war, hat mein Vater die entsprechenden Unterlagen in seinen Akten hinterlassen. Dort ist auch die Anschaffung des ersten Fernsehgeräts festgehalten. Die „Geneh-migung, eine Fernseh- und Rundfunkempfangsanlage in seinen Räumen zu errichten und zu betreiben“ mit 13 Auflagen hat er abgeheftet. Mit Poststempel vom 07.7.56 ist sie vom zuständigen Postamt Heidelberg gültig gestempelt. Der Kauf von einem Auto oder „Wagen“, wie die Vornehmen und die Norddeutschen dazu sagten, war damals ein Ereignis. Der neue, grüne VW-Käfer wurde bei uns in Handschuhsheim von einem Prokuristen des Autohauses Bernhard vorgefahren. Der freundliche Herr wurde im Wohnzimmer empfangen und zu einem Likör oder Schnäpsle eingeladen. Danach gingen wir alle auf die Straße, wurden eingewiesen und zur Probefahrt eingeladen. Wir waren nach dem selbständigen Handelsvertreter Dolland von gegenüber die Zweiten in unserer Straße, die ein Auto hatten. Es wurde jeden Samstag mit viel Schaum auf der Straße gewaschen. Außerdem hatte es am Armaturenbrett ein Blumenväsle mit echten Blumen. An der Tankstelle hat dann jeder Tankwart nicht nur dem Auto Benzin, sondern auch den Blumen frisches Wasser gegeben. Die Scheiben wurden sowieso jedes Mal geputzt. Und wenn irgendwo noch ein Muckenschiss war, dann hat mein Vater von innen mit seinem spitzen Finger dem Tankwart genau gezeigt, wo er noch wischen musste. Das hat keiner übel genommen und jeder sein angemessenes kleines Trinkgeld bekommen. Ich schätze es war ein Fünferle; denn dem Friseur, das weiß ich noch genau, wurde nach dem Haarschneiden ein Zehnerle in die Kitteltasche fallen gelassen. Auch für denn Klingelbeutel in der Kirche hat es sonntags ein Zehnerle gegeben. Heute wäre das ein Euro. Der Gang zum Friseur war auch so ein Gemeinschaftserlebnis. In Hendesse war im Atzelhof (Atzel = Elster), einem großen, unschönen und vielstöckigen Mietkomplex aus der Weimarer Zeit, der Salon vom Friseurmeister Nehrer. Dort war es immer voll. Die ganze Wand entlang standen Stühle. Es war wie heute im Wartezimmer beim Arzt; wer einen Sitzplatz hatte, war froh. Doch die Stimmung war besser. Die ganze Herrenabteilung mit den zwei, natürlich männlichen Haarschneidern, unterhielt sich ohne Pause; so wie wir Schulbuben es auch taten. Kriegserlebnisse waren dabei, Politik, Berichte aus Nachbarschaft und alles, was den Menschen für den Menschen so interessant macht. Jeder war mit jedem bekannt. Und wenn ein Unbekannter gekommen ist, wurde er von allen Seiten solange freundlich befragt, bis er auch bekannt war. Das war nicht unhöflich. Im Gegenteil, ihn nicht zu beachten, ihn „links liegen zu lassen“, wie es hieß, das wäre bösartig gewesen. Es ist auch nie vorgekommen, dass ein Neuling nicht bereitwillig ins allgemeine Gespräch einge-stiegen wäre. Das wäre auch „muffig“ gewesen. Schließlich hieß es damals: „Wenn

Page 15: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

14

die Leut’ iwwer (über) dich schwätze’: Des is net schlimm. Wenn se nimmer iwwer dich schwätze: Des is schlimm.“ Dass irgendjemand zu einer „Lektüre“ gegriffen hätte, das war so abwegig, wie wenn einer am Stammtisch anfangen würde Zeitung zu lesen. So etwas wäre absonderlich, ja eine Absonderung gewesen. „Warum schwätzt der net mit uns? Was fehlt dem?“ (‚etwas fehlen’ heißt hier ‚krank sein’) Doch gehen wir wieder ins ‚richtige’ Dorf. Es war während meiner Studentenzeit. Meine Verwandten Hans und Margita nahmen mich mit zum Tanz nach Stooboch (Steinbach), einem Nachbardorf von Uissigheim. Das Fest ist mir bis heute gut in Erinnerung. Es war noch eines so ganz nach der alten fröhlichen, fränkischen Art. Der Tanzboden bestand aus einem erhöhten Bretterboden. Der war mit „Gleitkügele“ bestreut, damit es beim Tanzen besser flutschte. Er war rundum mit frischen, grünen Birken geschmückt. Die Kapelle aus dem Ort spielte das, was man echte Volksmusik nannte, und darauf wurde auch getanzt. Sogar ein Grußwort im Namen des Landrats wurde gesprochen. Ein junger Assessor nahm das Mikrofon und überbrachte die Grüße. Und da meinte der Hans zu mir: „Des, was der mächt, is aa net schlecht.“ Darüber dachte ich nach, habe es nicht vergessen und wurde später auch Regierungsassessor. Das alte Dorf war sehr musikalisch. Die Musikkapelle war neben der Feuerwehr sicher der wichtigste Verein. Und wie so üblich, gab es natürlich da auch Konflikte. Die Älteren wie unser Hans spielten auswendig und nach dem Gehör. Das taten sie mit Freude und Leidenschaft, ausdauernd und in engem Kontakt mit dem Publikum. Das hat dann immer wieder mitgesungen. (Wer kann heute noch Lieder auswendig?) Nun gab es in der Schlossergasse von Uissigheim den Paul Pfreundschuh. Er war auch mit uns verwandt und hatte zwei sehr musikalische Söhne. Der eine ist heute Musiker am Stadttheater in Osnabrück. Sie wurden von außerhalb durch die Kreis-musikschule weitergebildet und gefördert. Und ihnen gefiel die alte Art Musik zu machen überhaupt nicht. Sie wollten es anspruchsvoll, nach Noten und konzertant. Unser Hans sagte dazu nichts, er und seine Altersgenossen haben den Konflikt einfach ausgesessen. Ganz anders die Jungen und ihre Eltern. Einige Male musste ich mir im Hause von Paul, insbesondere von seiner sprachgewandten und leidenschaftlichen Ehefrau Elfriede anhören, was in der Musikkapelle und vor allem vom Hans alles falsch gemacht wird. Zum Glück gibt es die Musikkapelle heute noch. Erst im letzten Jahr (2009) hat sie wieder beim Hans seinem 70. Geburtstag gespielt; und sie können nun sowohl auswendig als auch nach Noten spielen. In den Dörfern und in ganz Deutschland wurde früher viel gesungen. Mein Großvater mütterlicherseits leitet in Fußgönnheim bei Ludwigshafen a. Rh. einen der beiden Gesangvereine. Im Volksmund unterschied man dabei die „Nassen“ und die „Trockenen“. Wahrscheinlich haben die einen mehr Wein getrunken als die anderen. Die weinseligen Pfälzer Dörfer waren noch eine Steigerung an Geselligkeit und Festesfreude gegenüber den fränkischen. Meine Mutter erzählte, dass ihr Vater einmal dazu gedrängt worden war, für den Gemeinderat zu kandidieren. Doch er ist durchgefallen. Hinterher wurde ihm gesagt, dass er sich das hätte denken können. Denn er war der Vorstand und Chorleiter „der Trockenen“, aber „die Nassen“ waren mehr im Ort. Er war tief gekränkt. Aus den Erzählungen meines Vaters und seiner Geschwister, die alle über Jahr-zehnte während der Ferien in Uissigheim waren, kenne ich noch eine besondere dörfliche Gemeinschaftsveranstaltung. Es war die „Spinnstube“. Mein Vater und auch

Page 16: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

15

die Uissigheimer haben immer wieder erzählt, wie schön das war, wenn sich abends, vor allem im Winter, die ganze Jugend zur „Spinnstube“ traf. Sie wurde reihum in den Häusern abgehalten. Es wurde gesungen, gelacht und viel erzählt. Einige Gespenstergeschichten, die dort auch kursierten, habe ich noch erzählt bekommen. Dabei war mir nie klar, ob die Erzähler die Geschichten selbst glaubten oder nur als „wahr“ verkauften. Allerdings arbeitete bei uns in Heidelberg über Jahre ein Mädel aus dem hinteren Odenwald, die Erika; und sie glaubte fest und unumstößlich an Hexen. Sie behauptete sogar, dass es im hinteren Odenwald eine Hexe gebe, die nicht sterben könne, weil sie ein Hexenbuch besaß. Sie müsse erst jemand finden, der dieses Buch übernimmt, dann könne sie sterben. Mein Vater glaubte nicht an Hexen und sagte spontan: „Des Buch nehm’ ich!“. Da schlug unsere Erika entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Um Himmels willen, bloß net!“. Auch im Schwarzwald hatte ich oft den Eindruck, dass man dort nicht nur an die guten, sondern auch an die bösen Geister glaubte. „Tischrückerles“ haben meine Eltern auf dem Winterhalderhof noch vor meiner Zeit mitgemacht. Dabei wurde mit den Ahnen gesprochen. Besonders wenn der kräftig gebaute Onkel Viktor dabei war, soll das Gespräch mit der Ketter (Tante Katharina) schnell und aussagekräftig in Gang gekommen sein. Alle verbanden am Tischrand die gespreizten Finger miteinander. Dann wurden die Antworten festgelegt. Einmaliges Rücken des Tisches heißt „ja“, zweimaliges „nein“. Nun wurde gefragt: „Katharina bist Du da?“ Der Tisch rückte einmal. Dann hat das Gespräch begonnen, bei dem alle Antworten nur „ja“ oder „nein“ sein durften. Bei Kerzenlicht und gespenstischer Stimmung auf dem eingeschneiten Hof soll das unheimlich und von unserer katholischen Kirche (eigentlich) verboten gewesen sein. Doch vor allem habe ich die Menschen im fränkischen Uissigheim und auf den Schwarzwälder Höfen als tief religiös erlebt. Neben der Stubentür hing auf dem Hof in Titisee ein Weihwassergefäß. Gut erinnere ich mich auch an die Mahnung von Tante Lisel: „Nehmet Wiehwasser (Weihwasser)!“ Und das Weihwasser war etwas Gutes und Wichtiges. Damit konnte man nicht nur die bösen Geister, sondern auch die bösen Gedanken vertreiben, wenn man sich damit bekreuzigte. Vor allem aber beschützte es vor Unheil. In der Ferienzeit, während wir auf dem Hof waren, gab es auch einen Tag, an dem jeder in der Kirche von Titisee (und natürlich auch anderwärts) einen vollkommenen Ablass gewinnen konnte. Still und ohne etwas zu sagen, machte sich vom Hof einer nach dem andern auf den Weg zur Kirche. Meine Mutter beobachtete das genau, lobte die Frömmigkeit derer vom Hof und machte dann selbst einen solchen Kirchgang. Mein Vater war dagegen für so etwas nicht zu gewinnen; warum, sagte er nicht. In der Nachkriegszeit waren alle Kirchen voll. Wer überlebt hatte, dankte Gott. Samstags gab es vor den Beichtstühlen längere Warteschlangen. Sonntags wurden in St. Vitus (Handschuhsheim) um 7, 8, ½ 10 (Hochamt von 1 ½ Stunden) und um 11 Uhr Messen gefeiert. Und je später es wurde, umso voller war die Kirche. Um 11 Uhr musste man rechtzeitig dort sein, wenn man noch einen Platz ergattern wollte. Auch Pfarrer gab es damals noch genug. Die Kirchengemeinde St. Vitus hatte neben dem Stadtpfarrer oft noch zwei Kapläne. Die Ordensschwestern belegten auf der Frauenseite (Bänke links vom Mittelgang in der Kirche) mindestens eine ganze Bankreihe. Sie waren von ihrem Mutterhaus in die Gemeinde geschickt, um Armen- und Krankenpflege zu betreiben. Ich erinnere mich, dass ich als Bub an der linken Wade einen großen Furunkel hatte. Da ist mein Vater mit mir nicht zum Arzt, sondern

Page 17: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

16

zur Krankenschwester gegangen. Danach hat man eine kleine Spende „im Sinne der ehrwürdigen Schwestern“ gegeben und sich bedankt. Auch den Kindergarten führten die Ordensschwestern. Und unsere vier Kinder sind zwischen 1969 und 1975 in der Frauenklinik St. Elisabeth in der Heidelberger Altstadt am „Kurzen Buckel“ auf die Welt gekommen. Dort waren alle wichtigen Personen, von der Hebamme über die Stationsschwester bis zur Leiterin, und das meiste übrige Personal Ordens-schwestern. Mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit hat sich das alles dann gründlich geändert. Auch Uissigheim und Titisee hatten ihre eigenen Pfarrer. Alle Leute gingen aus-nahmslos sonntags in die Kirche, ältere Frauen in Titisee sogar noch in Tracht. In Uissigheim erinnere ich mich gut, dass an einem heißen Sonntag im Sommer unser Hans ganz eifrig war. Er meinte: „Heut’ fehlt keiner in de’ Kärsch (Kirche). Denn am End’, nach dem Segen sagt der Pfarrer, ob wir heut’ wegen dem schönen Wetter zur Ernte aufs Feld dürfen.“ Und da erlebte ich dann, wie kurz nach dem Segen und den erlösenden Worten des Pfarrers alles fast im Laufschritt aus der Kirche eilte, um möglichst schnell aufs Feld zu kommen. Das fand ich recht lustig und anschaulich. Vom Schwarzwald her kannte ich es nämlich, dass sich auch im Sommer alles nach der Kirche auf dem Kirchplatz zum ausgedehnten Gespräch traf – egal wie das Wetter war. Für die Viehbauern aus den weit verstreuten Höfen war das ein wichtiges Ereignis. Nachrichten wurden ausgetauscht und das Zusammengehörig-keitsgefühl gefestigt. Die Kirche, der Pfarrer, der Bürgermeister und der Lehrer gehörten zum Dorf und gaben ihm ein festes Gerüst mit Werten und Wissen. Und vielerorts schlug dabei der Lehrer – wie auch mein Großvater mütterlicherseits – an den Sonn- und Feiertagen die Orgel. Eine Sache, mit der sich die Kirche und die Pfarrer ebenfalls nachhaltig beschäftigten, war die Liebe der jungen Leute. Verschmitzt hörte ich noch in Uissig-heim, dass man nach der „Spinnstube“ auf dem Heimweg „Sternkunde“ betrieben habe. Die Sternkunde hätte ‚als’ (= öfters) etwas länger gedauert. Wahrscheinlich waren da die Franken etwas großzügiger als die Schwarzwälder. Jedenfalls hörte ich von unserer Erika, dass in ihrer Gegend die jungen Leute eben heiraten, wenn sie heiraten „müssen“. Insofern hatten die jungen Frauen ein natürliches, ein entschei-dendes Mitspracherecht, wer und wann geheiratet wurde. In Bayern soll das über-wiegend auch so gewesen sein; denn die zwei jungen Leute wollten und sollten auch sicher sein, dass sich Nachwuchs einstellte. Im Schwarzwald war das etwas anders; jedenfalls habe ich das so erlebt. Wer geheiratet wurde und damit auf den Hof kommen sollte, das war eine Angelegenheit der ganzen Familie. Und keine, die der Siegfried heimführen wollte, war meiner Tante Lisel recht. Und so hat er erst geheiratet, als er 55 und seine Mutter 92 Jahre alt war. Wenn ich heute gefragt würde, ob das alte Dorf moralisch war, dann würde ich sagen, es war „vernünftig“. Es gab keine Antibaby-Pille und keine Verhütungsmittel. Allem Tun und Treiben war eine natürliche Grenze gesetzt. Außerdem konnte nur heiraten, wer auch Frau und Kinder ernähren konnte. In Bayern verweigerte noch das „Gesetz zur Ansässigmachung und Verehelichung“ von 1837 Vermögenslosen die Eheschließung. Davor waren fast überall für solche Leute Heiratsverbote üblich. Auf Auswanderungsschiffen nach Übersee waren daher oft Pfarrer, um nach dem Ablegen der Schiffe die jungen Leute gleich zu trauen. Noch 1840 wurde in Schönau bei Heidelberg der Heiratsantrag eines Kaspar Baumeister vom dortigen Bürgeraus-

Page 18: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

17

schuss einstimmig abgelehnt: „Das Gesuch des Kaspar Baumeister um Heirats-erlaubnis mit Catharina Dewerth von Heiligkreuzsteinach nach Schönau kann desfalls nicht berücksichtigt werden, weil die Bevölkerung und Seelenzahl in hiesiger Gemeinde ohnehin schon übersetzt ist.“1 Historische Quellen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts berichten mit Entsetzen, dass es nun sogar verheiratete Hand-werksgesellen gäbe. Wenn wir von Taglöhnerhochzeiten lesen, dann müssen wir wissen, dass auch Ärzte, Hebammen usw. als Taglöhner bezeichnet wurden. Die Zünfte, die Kirche und die staatliche Obrigkeit achteten neben der eigenen Familie darauf, dass nur heiratete, wer dafür eine auskömmliche Lebensgrundlage besaß. Wenn ich unseren ganzen Stammbaum durchgehe, so waren über all die Jahr-hunderte die Eltern verheiratet, bevor die Kinder kamen. Es gibt erst Anfang des 19. Jahrhunderts zwei Ausnahmen. Mein Urgroßvater Vinzenz Heizmann wurde am 30. März 1839 in Löffingen geboren und sein Vater Johann Heizmann heiratet erst am 6. April 1843 die Katharina Benz. Aber vom Vinzenz sagten sie auch auf dem Winter-halderhof, dass er ein armer Pferdeknecht gewesen sei. Und sie waren erstaunt, dass er es zusammen mit seiner Marie zum reichen Fuhrunternehmer und Eigen-tümer des stattlichen Gasthauses zum Bären in Neustadt gebracht hatte. Doch sie hätten nicht so selbstgerecht sein sollen. Der Johann Schwörer (1805 - 1873), Ehemann der Apollonia, wurde 15 Jahre vor der Hochzeit seiner Eltern geboren. Sein Vater, der Taglöhner Anton Schwörer (1780 – 1847), hatte es sicher schwer, bis er 1820 die Hebamme Zäzilia heiraten und noch später (1826) von seinem Schwager das kleine Birrehäusle (Bierhäusle) kaufen konnte. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts löste sich mit dem Geist der Aufklärung und der Säkularisation, mit den neuen Freiheiten und der Französischen Revolution, mit dem Ende der Zünfte und dem ersten Industrialisierungsschub die alte Ordnung bereits ein Stück weit auf; zumindest wurde sie erschüttert. Später werden wir uns die Folgen für unsere Familiengeschichte genauer anschauen. Wie war es nun mit dem Geburtenüberschuss im alten Dorf? Denn fünf Kinder war die untere und 15 die obere Grenzen bei unseren Schwarzwäldern, wie wir in der Höfechronik genau nachrechnen können. In Wertheim am Main konnte ich als junger Baubürgermeister die Entwicklung gut nachvollziehen. Das Dorf Dertingen, ein Ortsteil von Wertheim, war ein Pilotprojekt der Dorfentwicklung. Es war besonders gut untersucht worden. Dabei zeigte sich, dass die großen Menschenverluste des Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648) erst langsam wieder aufgefüllt wurden. Diese Entwicklung war um 1700 abgeschlossen. Denn die Hälfte, mancherorts Zweidrittel der Bevölkerung soll der Große Krieg in Franken ausgerottet haben. Erst danach kam es zu einer gewissen Übervölkerung. Das zeigte sich vor allem daran, dass in die alten fränkischen Hofreiten immer mehr Gebäude eingefügt wurden. In einem Gehöft wohnten nun mehr als nur eine Familie. Denn in Dertingen herrschte Realteilung; alle Kinder, die im Dorf blieben, erbten hier Grundstücke. Im nahen Ochsenfurter Gäu war das anders. Dort herrschte wie im Schwarzwald Anerbenrecht. Nur einer, meist der Älteste, erhielt den ganzen Hof. Im Gäu saßen die reichen Bauern mit 30 oder 40 Hektar fruchtbarem Ackerland. Erst in den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts war das dann zu wenig. Das begriffen die Ochsenfurter Gäubauern aber nicht. Wie die Inhaber von kleinen Familienunternehmen blieben sie

1 Rhein-Neckar-Zeitung 11./12.08.1973

Page 19: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

18

ihrem Betrieb treu bis zum bitteren Ende. Auch viele Schwarzwaldhöfe erleben das seit längerem und versuchen es durch Zuerwerb und Feriengäste auszugleichen. Im fränkischen Dertingen galt zwar die Realteilung, aber es konnte als Weindorf die langsame Bevölkerungszunahme länger verkraften. Nur waren die Gehöfte in den 70ger Jahren des 20. Jahrhunderts dann so ver- und zugebaut, dass niemand mehr dort wohnen wollte. Ein erster Schritt der Dorfsanierung war deswegen die Entker-nung der Hofreiten. Da die Bausubstanz der Wohn- und Fachwerkgebäude gut und auch historisch wertvoll war, glückte die Wiederbelebung. Sogar Städter wie ein Frankfurter Flugkapitän kauften sich ein Gehöft. Und wieder entbrannte die Diskussion darüber, was schöner sei: ein Häusle im Neubaugebiet oder ein sanierter Hof im alten Dorfkern. Meine Meinung hatte ich mir schon als kleiner Bub gebildet. Heute denken viele, in den alten Bauernhäusern seien die Wohnverhältnisse, vor allem die sanitären Einrichtungen sehr schlecht gewesen. Zunächst muss ich sagen, dass ich den Hof in Titisee als Kind und auch später wunderschön gefunden habe. Dazu werde ich gleich noch kommen. Auch in Uissigheim habe ich mich in den dortigen kleineren Bauernhäusern immer wohl gefühlt. Mein Vater hat sich sogar daheim gefühlt, obwohl es in seiner Kindheit in Uissigheim noch nicht einmal elektri-sches Licht gab. Es wurde dort erst in den 20er Jahren eingeführt.2 Natürlich war da überall in den 50ger Jahren der „Abort“ ein hölzernes Plumpsklo, also ein Brett mit kreisrundem Ausschnitt, auf dem ein hölzerner Deckel lag. Für den „Stuhlgang“ musste der Deckel weggenommen werden und dann hat man in die Mistbrühe gesehen und sie auch gerochen. „Sach’ zu Sach“, sagte mein Vater. Denn da hin-unter direkt zum Pfuhl plumpste das Geschäft. Mit einem Fasswagen ist dann alles später auf den Acker gekommen und hat die Pflanzen genährt. In Franken war das „Scheißhäusle“ mit Guckloch (oft in Herzform) meist über dem Hof neben dem Mist-haufen und der Pfuhlpumpe. Auf dem Hof in Titisee war es im Haus, ganz hinten am Ende des langen Hausgangs. In unserer Wochenendwohnung in Eiersheim (Ort neben Uissigheim) hatten wir (Birgit und ich mit unseren damals zwei Kindern) An-fang der 70ger Jahre so ein außerhäusiges Häusle. Wir sind gut zu recht gekommen. Die tägliche Dusche vermisst nur, wer das Duschen kennt. Meine Cousine Verena weiß noch aus ihrer Kindheit in Ottenheim bei Lahr, dass das Haus vom Onkel Jus und der Tante Marax das einzige im Dorf mit einer Badewanne war. Ansonsten wurde samstags in einer großen Zinkwanne gebadet. In Tauberbischofsheim war das bei uns auch noch so. In Titisee sind wir meistens einmal in der Woche nach Neustadt ins Kneippbad gegangen. Dort gab es stundenweise Wannenbäder zu mieten. In Eiersheim ging es in das kleine, recht warme öffentliche Hallenbad im nahen Külsheim. Sonst haben sich viele Leute und auch alle Ferienreisenden damals morgens und abends mit mehreren Waschlappen für die verschiedenen Körperteile frisch gehalten. Ja, sogar bei unseren ersten österlichen Italienreisen (1953/54) waren „Zimmer mit fließend Wasser“ schon etwas teuerer und für gehobene Ansprüche. Oft hatten wir dort nur ein Waschlavoir (Waschschüssel). Die Tante Lisel auf dem Hof hatte aber in allen Gästezimmern fließend Wasser. Das Wasser war in Uissigheim bis in die 50ger Jahre an öffentlichen Brunnen zu holen. Unser Stammhaus hatte aber schon immer einen eigenen Brunnen im Hof

2 Einen guten Einblick gibt: „Historischer Atlas von Baden-Württemberg“, Karte und Beiwort (XI, 9)

„Elektrizitätsversorgung von Baden, Württemberg und Hohenzollern 1913/14“ – Bei seinen Großeltern in der Heidelberger Weststadt hat mein Vater noch die Wohnbeleuchtung mit Gaslampen erlebt.

Page 20: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

19

neben der Staffel. Nach dem Zweiten Weltkrieg legte dann bei der Tante Martha und ihrem Sohn Hans der Schmied je ein Wasserrohr vom Pump-Brunnen in die Küche und in den Stall. Dort war dann jeweils eine weitere Pumpe. Und so konnte bis in Küche und Stall das Wasser aus dem Hausbrunnen gepumpt werden. Das „vornehme“ und schöne Gehöft der Bischoff in Uissigheim hatte sogar seit der Errichtung 1780 (nach dem Schlussstein über der Toreinfahrt) im Keller einen tiefen Hausbrunnen. Den habe ich bei einer Besichtigung noch 2009 bewundert. Aus diesem Hof stammte der Pater Lukas, von dem wir immer wieder hören werden. Die Wasserleitungen wurden dann 1952 von den Uissigheimern selbst verlegt. Jeder erwachsene Mann musste einen Graben von 20 Meter Länge und 2 Meter tiefe ausheben. Da hinein kamen die Rohre fürs Wasser. Den Leuten waren die alten Hand- und Spanndienste lieber als Erschließungsbeiträge. Schaufel und Pickel hatte jeder, Geld weniger. Die Abwasserkanäle wurden erst 1966 und nicht mehr in Handarbeit verlegt. Davor ging das Küchenabwasser durch ein Röhrle in den Rinnstein oder Kandel der Gasse. Die Güllegrube sollte ja nicht überlaufen, und Seife sowie Waschmittel sollten auch nicht auf die Felder. Die Dorfstraßen wurden allerdings jeden Samstag geputzt und geschuppt. Lebhaft erinnere ich mich daran. Überall in Nordbaden war das ganze Dorf auf den Beinen und auf den Straßen. Alle arbeiten mit Eimer und Wasser, mit Schaufel und Besen. Es wurde kräftig ausgeholt, mit Schwung gekehrt und der Kehricht ins Wägele geschippt. Sauber und nass war danach die Gass’! Mein Vater achtete lebenslang die körperliche Arbeit, die er aus seiner Kindheit gut kannte. Diesen großen Kehrtag haben wir jeden Samstag gesehen und bewundert. Denn samstags oder sonntags gingen, seit ich denken kann, unsere Eltern mit uns einige Stunden wandern. Die Anfahrten erfolgten zuerst mit dem Zug und später mit dem Auto. Oft waren Freunde meines Vaters wie sein Bundesbruder „Baschdel“ (Sebastian) dabei. Wichtig im alten Dorf war noch der Misthaufen; je größer, umso reicher der Bauer. Ich erinnere mich noch gut, dass in den nordbadischen Dörfern der Mist oft vor dem Haus, direkt an der Straße aufgeschichtet wurde. Da hat man ihn auch gut abfahren können. Darüber machten sich einige uns bekannte Flüchtlinge lustig. Das fand ich frech. Im gerade erwähnten Bischoffgehöft in Uissigheim war der Misthaufen mitten im Hof, nah der Staffel zum Wohnhaus. Mit den Viechern und ihrem Mist hat man eben gelebt. Mist war wertvoller als der im späten 19. Jahrhundert aufkommende Kunstdünger aus der BASF (Badische Annelin- und Sodafabrik, gegr. 1865). Durch die Verbesserung der Bewirtschaftungsmethoden und den Anbau neuer Kulturpflanzen (z.B. Mais, auch Welschkorn genannt, Kartoffeln, auch Grumbire (Grundbirnen) genannt, und Tabak) konnten dann auf der gleichen Fläche nun zwei, manchmal drei Familien leben. In Uissigheim wurde beispielsweise eine Generation nach meinem Urgroßvater der schöne Hof (von etwa 17 Hektar) geteilt, was der Hans mir mit Bedauern erzählte. Denn in Uissigheim gab es, wie dem Historischen Atlas von Baden-Württemberg zu entnehmen ist, „Realteilung und Anerbenrecht im selben Ort“. Irgendwann waren dann auch hier „die Grenzen des Wachstums“ erreicht. Etwa zwei bis zweieinhalb Hektar guter Ackerboden waren für eine arme Bauernfamilie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Untergrenze zum Leben. Und Adam Smith geht in seinem „Wohlstand der Nationen“ (1776) ganz klar davon aus, dass der Ertrag des Bodens das Bevölkerungswachstum bestimmt und begrenzt. Wer nicht einen Hof oder eine Meisterstelle erbte oder erheiratete, musste ledig bleiben. „Wer nix erheiert, nix ererbt, bleibt arm, bis dass er sterbt.“ – Das

Page 21: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

20

Gegenteil ist der amerikanische Traum „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Allerdings ist für Vermögenslose die Aussicht auf einen Millionengewinn im Lotto größer. Viele suchten bei der Kirche Unterschlupf. Das folgende Bild zeigt drei nahe Verwandte von Vinzenz Heizmann aus Löffingen (Schwarzwald) in katholischer Ordenstracht. Es sind von links: Hildegard, Maria und Adolfine. Gar so glückselig schauen sie nicht drein.

Auch viele Uissigheimer sind ins Kloster gegangen. Besonders lebhaft erinnere ich mich an Pater Lukas und Schwester Hildegard, die allerdings keine Nonne, sondern Rote-Kreuz-Schwester war. Ich kenne sie aber nur in Schwesterntracht. Der Pater Lukas war Prior in Stift Neuburg nahe bei Heidelberg. Er war, so lange er lebte, immer auch der geistliche Beistand unserer Familie. Und die Schwester Hildegard besuchte uns öfters in Heidelberg; ich traf sie auch immer wieder in Uissigheim. Sie war sehr lebenslustig, freundlich und nett.

Page 22: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

21

Die folgenden Bilder von 1941 stammen aus dem blauen Fotoalbum von Onkel Hans (Bruder meines Vaters). Sie zeigen lauter lustige Pfreundschuh(-innen) aus Uissig-heim. Bild links zeigt die Schwestern Hildegard und Klara; Bild rechts Klara und Lenchen.

Und der Hans war zu allen nett (das folgende Bild zeigt von links: Hildegard, Hans, Klara – Lenchen hat wohl das Foto geschossen).

Page 23: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

22

Oft bekamen unverheiratete Töchter ein Wohnrecht auf dem Hof. So war es auch auf dem Winterhaltehof. Für die Alten gab es das Leibgeding oder Altenteil mit klaren Vorschriften, wie die Versorgung (Lebensmittel, Holz usw.) auszusehen hatte. Eine Familie und ein Hof waren vor allem auch soziale Einrichtungen. Die Zeit des „alten Dorfes“ ist erst Ausgang der 50iger Jahre im 20. Jahrhundert zu Ende gegangen. – Und damit verschwanden die alte Gemeinschaft, die alten Werte und die alte Landwirtschaft. Als die Bauern die Ochsen ausspannten und auf die Schlepper aufstiegen, begann auf den Dörfern die neue Zeit, das industrielle Zeitalter. Die Bauern wurden Jahr für Jahr weniger – im Dorf, in ganz Deutschland und in Europa. Zuerst gab es noch viele Nebenerwerbslandwirte, oft „Mondschein-bäuerle“ genannt. Auch sie sind heute fast ausgestorben. Während in der Nach-kriegszeit noch fast alle Dorfbewohner in der Landwirtschaft arbeiteten, sind es heute nur noch einzelne. Oft heißt es, das Dorf ist zur Arbeiterwohnsiedlung geworden. Die arbeitende Bevölkerung pendelt fast vollständig aus. Wenn keine Dorferneuerung kommt und die alten Häuser wieder bewohnbar macht, stehen sie leer und verfallen allmählich. Noch halten die Vereine das Gemeinschaftsleben etwas zusammen. Aber die ganz Jungen sind vereinsmüde und internetsüchtig. Verlassenheit und Anonymität sind nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern und bei den „grünen Witwen“ in den Neubausiedlungen zu einer Lebens-erfahrung geworden. Und das unpersönliche, kalte Gesellschaftsklima schafft eine neue Unmenschlichkeit. Zehn Jahre lang habe ich mich in meinem Steinbeis-Institut fast nur mit sozialen Fragen beschäftigt. Erschreckend war dabei, mit welcher Geschwindigkeit die sozialen Probleme überall, auch auf dem Land zunehmen. Die Jugendhilfe bleibt oft hilflos. Immer mehr geraten in die Dauerarbeitslosigkeit. Die psychischen Krankheiten breiten sich beängstigend aus. – Und der Politik fällt dazu nichts ein. Wir werden uns später, an passender Stelle darüber einige Gedanken machen.

Die alte Stadt

Für unseren badischen Familienstamm, der mit meiner Urgroßmutter Hermine Prinz, verh. Pfreundschuh beginnt, war nicht das Dorf, sondern die alte Stadt die Heimat. Hermine lebte zusammen mit ihrem Georg I aus Uissigheim zuerst in Rastatt, wo drei der vier Kinder geboren wurden, und dann die längste Zeit in Heidelberg. Dort ist auch mein Großvater aufgewachsen. – Bis zur Urgroßmutter ist es nach meiner heutigen Meinung nicht weit. Das ist ein sehr naher Verwandtschaftsgrad. Meine Enkeltochter Katharina hat noch zwei Urgroßmütter erlebt, eine lebt noch. Dabei ist Katharina jetzt schon sieben Jahre. Meine Urgroßeltern sind alle rund 100 Jahre vor mir geboren. Daher habe ich sie nicht mehr erlebt und als „weit entfernt“ empfunden, was nicht richtig ist. Der badische, vor 1805 vorderösterreichische Stamm ist ganz überwiegend in Säckingen am Hochrhein beheimatet. Dort fand auch die älteste bekannte Eheschließung zwischen einem Johann Berger und einer Magdalena Schöllin am 04.11.1607 statt. Mit diesen Ahnen reicht auch die vorderösterreichische Linie bis in die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg zurück. Offensichtlich hat der Onkel Hans in Säckingen geforscht und ist dort auch fündig geworden. Von dort aus gibt es auch

Page 24: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

23

immer wieder Verbindungen nach Freiburg im Breisgau. Hier wird als 82. Vorfahr der Franz Xaver Einhorn, ein Hofrat, genannt. Sein Vater Franz Josef Michael Einhorn (164. Vorfahr) war in Freiburg von 1715 – 1721 Professor der Rechte. In unserer Familienbibliothek ist auch eine zweibändige Beschreibung über „Das Großherzogthum Baden mit malerischen Original-Ansichten seiner interessantesten Gegenden“ von 1842. Der folgende Stich stammt also genau aus der Zeit, zu der unsere Ahnen in Säckingen lebten. Darunter ist dann die Brosche von Nannett Wohnlich mit einer Ansicht von Säckingen, die sie auch auf unserem Ahnenbild trägt. Dann kommt ein Foto, das der Onkel Hans 1933 machte.

Säckingen war im Alten Reich, also bis zur napoleonischen Zeit, ein beschauliches vorderösterreichisches Städtchen. Es lag in den alten Stammlanden der Habsburger, nahe der Burg Habsburg (heute im schweizerischen Aargau). Anna Maria (genannt ‚Nannett’) Prinz geb. Wohnlich trägt auf unserem Ahnenbild eine schöne Brosche mit der Ansicht von Säckingen. Dieses Schmuckstück hat meine Tante Mechthild unserer Tochter Christina geschenkt. Nun wollte ich unbedingt, dass Ahnenbild und Brosche zusammen bleiben. Aus dem Familienbesitz – wohl auch von den Prinz – hatte ich eine schöne barocke Brosche mit zwei dazugehörigen Ohrgehängen. Diese bekam nun Christina und gab mir dafür die Brosche mit der Ansicht vom alten Säckingen.

Page 25: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

24

Auch in der alten Stadt haben sich die Menschen gut gekannt und pflegten einen familiären Umgang miteinander. Dies gilt vor allem, wenn die Orte so klein waren wie Säckingen, Sinnsheim oder Neustadt im Schwarzwald. Von meinem Vater Georg III habe ich noch ein altes Adressbuch von Sinsheim aus der Zeit vor dem Zweiten

Page 26: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

25

Weltkrieg. Die meiste Zeit seiner Jugend hat Georg III in Sinsheim verbracht. Und nun hat er in diesem Adressbuch alle Personen angestrichen, die er kannte; und das waren die allermeisten. Ein Kreisrat namens Köpfle erzählte mir in den 1980iger Jahren aus dem Städtchen Osterburken im badischen Bauland eine nette Geschichte. Er war dort Bankdirektor und wohnte nun im „schönen“ Neubaugebiet. Doch seine Mutter, so sagte er, fühle sich bei ihm gar nicht wohl. Und sie hatte dafür einen Grund. So meinte sie: „Wolfgang, wenn ich bei dir im Neubaugebiet bin, fühl’ ich mich gar ni’t wohl. Wenn ich aus dem Haus geh’, dann hab’ ich den Eindruck, dass alle Leut’ ihre Vorhäng’ zuziehen, dahinter verschwinden und mich trotzdem beobachten. Unten im Ortskern von Osterburken ist das anders. Wenn ich dort aus dem Haus oder durch die Gassen geh’, dann machen die Leut’ die Fenster auf. Sie grüßen und fragen mich, wie’s mir geht. Man hat mit allen und jedem etwas zu plaudern.“ Selbst in größeren Städten wie Heidelberg war das früher noch so. Mit der Familie meines Urgroßvaters Georg I und den nachfolgenden Georg II und III war die Familie Mayer aus dem Hause Hauptstraße 102 eng befreundet. Heute sind wir Eigentümer dieses nun zweihundertjährigen Gebäudes. Von dem alten Drogeriebesitzer Richard Mayer wurde hin und wieder erzählt. Und vor allem hieß es, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts jeden Morgen, wenn er seine Drogerie aufgemacht hatte, auf die Hauptstraße trat und dort einige Zeit verbrachte. Er begrüßte alle vorbeikommenden Heidelberger und redete eine Weile mit ihnen. Das war besser und genauer als die Morgenzeitung. In Südtirol erlebe ich es noch heute in jeden Ferien. Vormittags nach dem ersten Arbeitsgang treffen sich fast alle Bauern in einem Gasthaus. Dort wird bei etwas Wein oder Kaffee unglaublich viel erzählt. Sie setzen sich nicht, sie stehen dicht gedrängt beieinander, der ganze Raum ist voll vom Geschwirr ihrer Stimmen. Bei den süddeutschen, schweizerischen und österreichischen Städten wurde noch bis in meine Generation der Zusammenhalt durch die gemeinsame Sprache, die örtliche Mundart verstärkt. Sie hat verbunden, die Gegensätze von Ständen und Berufsgruppen entschärft. Es kam sofort eine persönliche, familiäre Stimmung auf. Und zu Recht gab es den Spruch: „Mit dem hab’ ich gestern hochdeutsch gered’t.“ Das bedeutete, dass man einen tüchtigen Streit ausgefochten hatte. Denn Hoch-deutsch, das war amtlich, unfreundlich und unpersönlich, wurde auch als arrogant, besserwisserisch empfunden. Beim Militär habe ich als Vorgesetzter mit den Mann-schaften grundsätzlich Dialekt gesprochen. Das hat bestens funktioniert, geradezu eine Kameradschaft zwischen den Soldaten und mir als Vorgesetztem hergestellt. Zwischen der alten Stadt und dem alten Dorf gab es einen entscheidenden Unter-schied. Die Leute gingen nicht alle dem gleichen Beruf nach. Das merkten auch die Kinder. Sie waren weithin nicht in das Arbeitsleben einbezogen, sondern spielten miteinander. So habe ich es auch in Tauberbischhofsheim erlebt, wo ich schon als Drei- und Vierjähriger durch das ganze Städtchen gelaufen bin und mit allen Kindern spielte, denen ich begegnete. Das folgende Bild stammt aus dem beliebten Liederbuch „Sang und Klang fürs Kinderherz“ von Engelbert Humperdinck und dem Maler Paul Hey von 1909. Es war das Lieblingsbuch meiner Mutter. Es wurde bis in die jüngste Zeit viele tausend Mal aufgelegt. Es hat mich durch meine ganze Kindheit begleitet. Mein Vater hat die Lieder auf dem Klavier gespielt und mit uns gesungen. Das Bild könnte Tauberbischofsheim zeigen, wie ich es erlebt und empfunden habe. Und Krieg war damals auch, was mich als kleines Kind aber nicht belastete.

Page 27: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

26

Page 28: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

27

Als ich dann im Sommer 1945 mit meiner Mutter und meinem Bruder nach Heidelberg zurückkehrte, war ich unglücklich. Denn ich erlebte die moderne Stadt. Unser Haus hatte einen Garten mit Zaun und ich konnte einfach nicht verstehen, warum ich nicht durchs Gartentürle auf die Straße durfte und dann durch den Ort streifen konnte. Und so überredete ich den Manfred aus dem Nachbarhaus mit mir auf Entdeckungsreise zu gehen. Am Neckar hat uns dann die Polizei aufgegriffen und heim gebracht. Ein anderes Mal wollte ich an der Straßenbahnhaltestelle in die „Bembel“ steigen, um meinen Vater im Büro zu besuchen. Doch die Leute ließen mich nicht einsteigen, sondern schickten mich zurück zu meiner Mutter. An eine zweite Begebenheit erinnere ich mich gut. Mit meinen Eltern bin ich hinter einigen Schulbuben hergelaufen. Sie waren nicht viel älter als ich. Doch ich staunte nur so, wie sie so ohne Unterlass miteinander babbelten. Ich dachte: „Die haben sich viel zu erzählen. Das muss toll sein. Hoffentlich fällt mir später auch soviel ein; und ich kann soviel erzählen, wenn ich einmal in der Schule bin.“ Mit dem Eintritt in die erste Klasse änderte sich dann auch für mich wieder alles. Ich durfte den ganzen Stadtteil und die angrenzenden Felder, ja sogar den Wald durchstreifen. Wir waren auch immer in Gruppen und hatten uns ständig viel zu erzählen. Es war eine eigene „Kindergemeinschaft“ mit eigenen Regeln, Werten und Gesetzen. Diese Welt unterschied sich deutlich von den Vorstellungen und Einstellungen der Erwach-senenwelt. Und wie selbstverständlich galt hier auch in gewissem Maß das Faust-recht. Aber es war trotzdem sehr schön, erlebnisreich und nie brutal. Auch in der kleinsten „alten Stadt“ hat es verschiedene Stände gegeben. Meist lebten dort noch einige Bauern. Sie wurden Ackerbürger genannt. Der zweite Stand waren die Handwerker. In unserem Stammbaum gibt es kaum einen davon. Möglicherweise stammte Vinzenz Heizmann aus diesem Stand. Sein Vater war Schuster und der Vater seiner Mutter war Wagner. Doch damit endet deren Ahnenreihe schon. Mehr hat mein Onkel Hans nicht herausgefunden. Die Kaufleute und Händler waren wieder eine Gruppe für sich. Mein Urgroßvater Vinzenz Heizmann gehörte als Fuhrunternehmer und Gastwirt dazu – als sie kein Stand mehr waren. Außerdem soll er ein Salzmonopol besessen haben (Auskunft meiner Cousinen Verena und Brigitte nach Aussagen ihrer Mutter Traudel). Damit ist eine wichtige Frage angeschnitten: Von was hat die alte Stadt gelebt? Welche Aufgaben haben ihr eine Daseinsberechtigung gegeben? Denn zu 80 % waren die alten Bauernhöfe Selbstversorger. Sie erzeugten all ihre Nahrung und einiges für die Kleidung (z. B. Wolle oder in Franken auch Flachs für’s Leinenzeug). Der erste Gang aus dem Dorf führte oft zum Markt. Das Marktrecht war für einen „Marktflecken“ der erste Schritt zum Erwerb des Stadtrechts. Beides, Markt- und Stadtrecht, wurde von der adligen Herrschaft verliehen. In Bayern gibt es noch heute in der Gemeindeverfassung zwischen dem Dorf und der Stadt den „Markt“. Doch eine Stadt hatte mehr als nur das Marktrecht. Sie hatte vor allem eine Stadtmauer. Sie war ein Verteidigungswerk, eine Burg; und ihre Einwohner hießen daher „Bürger“. Weltliche und geistliche Fürsten gründeten Städte, um ihre Herrschaft zu sichern, aber auch um die Wirtschaft und den Wohlstand zu heben. Denn die Handwerker durften – mit wenigen Ausnahmen – bis zum Ende der Zünfte (z. T. erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts) nur in Städten ihr Gewerbe ausüben. Und fast alles, was es an Gütern und Waren in der vorindustriellen Welt gegeben hat, wurde von Handwerkern angefertigt. (Ungesetzliche „Pfuscher“ hat es natürlich

Page 29: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

28

auch auf dem Land, „auf der Stör“ als Störenfriede gegeben; aber das war kein „ehrbares Leben“.) Das alte Handwerk und sein Recht sind heute für viele, auch für Geschichts-wissenschaftler schwer zu verstehen. Denn dazu müssen wir die alte Ökonomie (das Wort bedeutet ursprünglich „Hauswirtschaft“) kennen. Diese Wirtschaft arbeitete „an den Grenzen des Wachstums“. Und wie beim Bauernhof lag das Hauptaugenmerk darauf, dass das „ganze Haus“, also der Handwerksbetrieb mit Meister und Meisterin, mit Gesellen, Gesinde und Kindern genug, d.h. die standesgemäße Nahrung hatte. Ein „auskömmliches Leben“ und ein „justum pretium“ (gerechter Preis) standen im Mittelpunkt des Denkens. Und um der „Ehrbarkeit“ und der „Gerechtigkeit“ willen wachte die Zunft auch darüber, dass die Qualität, die Güte der Erzeugnisse gewährleistet war. Wir bewundern noch heute die solide Ausführung alter Möbel und Gebäude. Jahrhunderte haben sie oft auf dem Buckel und tun noch immer ihre guten Dienste. Betonbauten sollen 30 bis 40 Jahre halten, Ikea-Möbel nicht so lang. Die Heidelberger Justizgebäude waren gerade fertig, als ich meine Zeit als Gerichtsreferendar begann; heute sind oder werden sie schon wieder abgerissen. Wer etwas mehr über das alte Handwerk, seine Ehre und sein Denken wissen möchte, der sollte das Buch lesen „Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800“ von den beiden Historikern Rudolf Stadelmann und Wolfram Fischer. Daraus seien kurz drei Beispiele zur Veranschaulichung vorgestellt. Die Zunftgesetze hatten den Schreinern verboten, Eisennägel zu verwenden. Als sie weggefallen waren, eröffnete in Clausthal ein Möbelmagazin, das mit zusammengenagelter Fabrikware die Kundschaft anzog. So sah sich der Tischlermeister Paul Ernst in der dortigen Gegend gezwungen, auch eine Ladung Fabrikmöbel zu kaufen. „Aber er brachte sie heimlich des Nachts auf sein Lager, denn er schämte sich, und einige Zeit danach fand man ihn erhängt.“3 Ein Spenglermeister sagte noch in den letzten Tagen der Zunft zu seinen Gesellen: „Kinder, in der Arbeit muss Musik liegen, jeder Hammerschlag muss berechnet sein, man muss mit der Arbeit sprechen können, der gefällige Geschmack muss sie repräsentieren.“4 Werfen wir noch einen kurzen Blick in das Haus eines ehrbaren Handwerksmeisters. Von Georg Christof Keferstein und seiner Papiermühle wird aus der Zeit um 1790 berichtet: „Jedermann war in diesem Hause willkommen, nur musste er sich in die Hausordnung fügen, und ‚alle bildeten eine wohlgegliederte Familie, in welcher die Religiosität den Grundton angab’. In diesem Hause regierte der Hausherr nach seinen eigenen Worten wie der Präsident einer Republik. Er ist nicht König, der absolut herrscht, denn die Gesellen können ihn vor der Zunft verklagen, und er muss sich unparteiischen Richtern fügen; doch er ist mehr als Familienoberhaupt. Er ist ‚Hauswirt’, der die Papiermühle und alles, was damit zusammenhängt, wie eine kleine Republik ‚dirigieren’ muss.“5 – „Mit Gott“ wurden die Geschäftsbücher eröffnet. Das Alles unterscheidet sich vollkommen von der liberalen Wirtschaftstheorie, die Adam Smith (1723 – 1790) mit seinem Welterfolg „Der Wohlstand der Nationen“

3 Stadelmann, Rudolf und Fischer Wolfram, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800 –

Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin 1955, S. 91 4 ebenda, S. 90

5 ebenda, S. 117 f.

Page 30: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

29

begründete. Hier stehen nicht der Erzeuger und seine Arbeitsplätze in Mittelpunkt des Denkens, sondern der Markt. Er richtet alles: den Preis, die Qualität, die Löhne und – völlig unrealistisch – die Vollbeschäftigung. Jahre nach meinem Volkswirt-schaftsstudium habe ich den „Wohlstand“ von Adam Smith sorgfältig durchge-arbeitet. Dabei bemerkte ich unter anderem, dass die meisten bekannten Zitate, insbesondere die zum „Eigennutz“, sich auf den Anfangsseiten des dicken Buches befinden. Seine vielen kritischen Äußerungen zu den Reichen und Spekulanten, zu unfairen Kaufleuten und unseriösen Banken werden nie zitiert. Richtig ist, dass Adam Smith am meisten auf den Markt vertraute, aber auch Gesetze und Ethik forderte er. Smith hatte den vollkommenen Markt mit echtem Wettbewerb im Kopf. Die modernen Großkonzerne, die zu Oligopol-Märkten (Marktbeherrschung durch die Mächtigen) führen, kennt er nicht. Wenn er heute zu uns käme, würde er sicher sagen: „So habe ich das nicht gedacht und gewollt.“ Denn wir haben „vermachtete Märkte“. Neben dem heutigen Grundübel der „Marktmacht“ kennt Smith zeitbedingt zwei weitere Probleme nicht. Das Geld ist für ihn nur ein „Schleier über der Warenwirtschaft“. Tatsächlich hat sich das Geld verselbständigt, wie die Finanzkrisen zeigen. Das Geld wächst schon seit längerem schneller, meist doppelt so schnell wie die Realwirtschaft. Das führt u.a. zu den Spekulationsblasen. Außerdem sind unserem Adam Smith der technische Fortschritt, die Freisetzung von Arbeit durch technische Rationalisierung und die Notwendigkeit von Technologie-schüben als Ausgleich, also zur Schaffung neuer Arbeit, unbekannt. Das ist verständlich. Denn während er seinen „Wohlstand“ schrieb, wurde in England gerade die Dampfmaschine von James Watt (1736 – 1819) erfunden. Smith kennt noch allein die Handarbeit in den damals neuen Manufakturen. Vor allem in der Arbeits-teilung sieht er den Fortschritt, noch nicht in der motorbetriebenen Maschine. Das neue Denken mit Markt- und Gewerbefreiheit, Wettbewerb und persönlichem Eigennutz setzte sich Schritt für Schritt im Laufe des 19. Jahrhunderts durch. Diese Wirtschaftstheorie und der gleichzeitige Siegeszug der Technik veränderten Zug um Zug das Leben und die Umwelt unserer Vorfahren. In London verfassten 1848 Marx und Engels das Kommunistische Manifest. Unser Vorfahr Johann Schwörer war zu dieser Zeit meistens in London (vgl. dazu später „Die Englandgänger“). Die Marxisten sehen die Gefahren des hemmungslosen Eigennutzes, der immer größeren Zusammenballung von Macht und Geld (Monopolisierung), der Verselb-ständigung des Kapitals und einer drohenden Massenarbeitslosigkeit. Doch wirk-same, erfolgreiche Lösungen fallen ihnen dazu nicht ein. In vielem baut das marxis-tische Denken auf Smith und seinen Ideen auf. Beide, Kapitalismus und Marxismus, träumen von einer paradiesischen Überflussgesellschaft. Manche ihrer Vorstellungen sind säkularisierte Religion. Beide gehen von einem ewigen, ungebremsten Wachs-tum aus. Grenzen des Wachstums durch die Endlichkeit der Umwelt kennen beide Ideologien nicht. Das waren aber Grunderfahrungen der alten Wirtschaft. Die alte Stadt war also der Sitz der handwerklichen Güterherstellung. Doch die Waren mussten zu den Abnehmern kommen. Das besorgten die Händler und die Fuhrleute. Einer der größten Wirtschaftsstandorte im Alten Reich (vor 1806) war Nürnberg. „Nürnberger Tand wandert durch Stadt und Land“, war ein geflügeltes Wort. Die Kaufleute waren reicher als die Handwerker. Sie schlossen sich ebenfalls nach dem Grundsatz der Genossenschaftlichkeit zu Gilden oder Hansen zusammen (z.B. Regensburger Hanse, „Hanse“ heißt „Schar, Gemeinschaft“). Das war ihre Geschäftsidee, um weiträumig auf gefährlichen Wegen und bewaffnet Handel zu

Page 31: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

30

treiben. Über die Donau sind die Regensburger schon im Mittelalter bis Kiew gekom-men. – Zwischen dem Stand der Kaufleute und der Handwerker hat es öfters Streit gegeben. Das war auch in Freiburg im Breisgau so, wo die Handwerker meist die Oberhand behielten. Neben den Handwerkern und Händlern finden wir in der alten Stadt als zunächst kleinsten Stand, die Beamten- und Bildungsbürger. Zu ihnen gehörten unsere vorderösterreichischen Vorfahren. Und es ist ganz bezeichnend, dass auch sie ausschließlich innerhalb ihres Standes heirateten. All diese Ahnen in Säckingen und anderwärts waren Amtrevisor, Großrevisor, Stadt- und Amtschreiber oder ähnliches. Es gibt keine Ehe mit einem Handwerker, Händler oder Bauern. Erst mein Urur-großvater Eduard Prinz (1812 – 1880) trat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus seinem Stand heraus und wurde Brauereibesitzer. Sein Vater Friedrich Prinz (1785 - 1872) war noch Regierungsrevisor. Und er schaut kritisch, korrekt und amtlich drein – wie ein Bilderbuch-Beamter. Das folgende Bild zeigt ihn mit seiner Frau Franziska geb. Engelberger (1789 - 1869).

Page 32: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

31

Aber auch hier galt, dass ans Heiraten erst zu denken war, wenn die Lebens-grundlage gesichert war: Erst die beamtete oder gesicherte Lebensstellung und dann die Heirat. Das galt noch für Georg I bis Georg III. Heute kommen so wenig Kinder auf die Welt, dass wir froh wären, wenn die Studenten heirateten und Kinder bekämen. So ändern sich die Zeiten! Das Ende der alten Stadt wird eingeläutet mit dem Verlust des Zusammenhalts. Der Individualismus triumphiert, ihm folgen Anonymität und Vereinsamung. Der Verlust der Gemeinschaft und der gemeinsamen Verantwortung für das Wohl Aller wurde in den Großstädten wie Hamburg schon im Laufe des 19. Jahrhunderts festgestellt. Beim großen Brand von Hamburg im Jahr 1842 waren Gemeinschaft und gegen-seitige Hilfe noch vorhanden und selbstverständlich. Erst mit der Industrialisierung kam es dann zur „sozialen Frage“ und zum Verlust des gegenseitigen, persönlichen Beistands in der Not. Wenn im Schwarzwald ein Hof abbrannte, dann gingen der Hofbauer und die Hofbäuerin zu den umliegenden Höfen und baten ums „Brandstämmli“. Diese „Versicherung gegen Feuersbrunst“ war älter als die staatliche Brandversicherung. Meine Tante Lisel meinte einmal: „Wenn de Winterhalderhof amol vom Blitz troffe würd’, dann müsst i’ gehe Brandstämmli bitte. Die Junge täte’s nit.“ Sie hatte erst neulich einen schönen Stamm einem Brandopfer von weiter weg gegeben. Einige hätten auch gemault, weil er zu weit herumgegangen sei. Hinzu kam die Nachbarschaftshilfe beim Wiederaufbau des Hofes. Sie wurde „Frondienst“ genannt, weil sie unentgeltlich geleistet wurde. – Noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und vielleicht auch heute noch ist das Geben von Brandstämmli bei den Schwarzwälder Hofbauern üblich. Ein Überbleibsel aus vergangenen Tagen! Die Industrialisierung, die Mobilität und der Individualismus lassen die örtliche Gesellschaft nicht mehr zur Gemeinschaft zusammenwachsen. Die „Einheimischen“ als tragende und verantwortliche Schicht sind weggefallen. Der Weg führte vom Bürger zum Einwohner. Immer wieder habe ich in meinem Berufsleben erfahren, wie auch in den Dörfern und Städtchen unseres ländlich strukturierten Landkreises (Neckar-Odenwald-Kreis) die Bürgermeister über die Neubürger klagten. Sie stellen nur Ansprüche und wenn es gilt, dann sind sie gegen alles. Sie kennen nur die eigenen Interessen, höchstens noch die ihrer Berufsgruppe. Das „gemeine Beste der Stadt“ hat sich in Interessengegensätze aufgelöst. Das gilt gerade auch für die Führungsschichten, die sogenannten Eliten. Es ist festzustellen, dass in einer Universitätsstadt auch die Professoren sich nicht mehr dieser Stadt, sondern ihrer internationalen „wissenschaftlichen Gemeinde“ (scientific community) verbunden und verpflichtet fühlen. Das Gleiche gilt für die Wirtschaftsbosse. Die Stadt, in der unsere Vorfahren lebten, gibt es nicht mehr. Unsere Familiengeschichte möchte ich nun etwas anders als üblich erzählen. Nicht der Zeitablauf, die Chronologie, sondern meine persönlichen Erlebnisse seit meiner frühen Kindheit sollen uns zu den Verwandten und dann zu den Vorfahren führen. Vor allem mein Vater pflegte ein Leben lang die Verwandtschaft. So wuchs auch bei mir eine enge Verbindung zu den Verwandten. Dadurch wurden wie von selbst meine Gedanken und meine Liebe zu den Vorfahren, zu den Ahnen gelenkt. Das war allerdings in unterschiedlichem Maße der Fall. Am tiefsten und eindrucks-vollsten erlebte ich die Schwarzwälder. Ebenfalls sehr stark war die Familienbindung zu den Franken, nach Uissigheim, ins Heimatdorf der Pfreundschuh. Den vorderösterreichischen Stamm unserer Vorfahren erlebte ich vor allem durch

Page 33: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

32

Erzählungen und durch die drei Ahnenbilder, die immer in unserer Wohnung hingen. Täglich schaute ich dem Eduard Prinz, seiner Frau Anna-Maria, der Nannett’, und meiner Urgroßmutter Hermine in die Augen. Den Pfälzer Familiezweig der Geßner kenne ich nur aus Erzählungen. Denn der Familienzusammenhalt zwischen meiner Mutter und ihren vier Brüdern war recht lose. Gemeinsame Familienfeste gab es hier überhaupt keine; und auch die Besuche waren sehr selten. Nur einmal besuchten wir das Weindorf Göcklingen bei Landau, aus dem meine Großmutter mütterlicherseits stammte. Dort lebte eine Cousine meiner Mutter, die ihr sehr ähnlich sah. Die Leute hießen Grünwald und waren sehr freundlich zu uns. Sie besuchten uns dann auch einmal in Heidelberg, aber irgendwie waren die Bindungen gelockert und verfestigten sich auch nie mehr. Allerdings erzählt mir meine Mutter viel von ihrem Elternhaus und ihrer Kindheit, vor allem von ihrem Vater. Über die Geßner werde ich also zum Schluss berichten.

Die Schwarzwälder

Meine Großmutter Emilie und ihre Vorfahren stammen aus dem Schwarzwald. Mein Vater wurde 1902 in Neustadt im Schwarzwald geboren und fühlte sich lebenslang als „Oberländer“. Er sprach zwar unseren nordbadischen Dialekt, aber ich erinnere mich, wie er mir einmal aus Johann Peter Hebels (1760 – 1826) alemannischen Gedichten vorgelesen hat. Ich war sehr erstaunt, wie gut und echt sein Alemannisch klang. Verstanden haben wir diese Sprache der Südbadener, Elsässer, Schweizer und Vorarlberger aber alle. Und unser Onkel Jus, der Ehemann von Marax (Maria), der ältesten Schwester meines Vaters, pflegte ein reines, unverfälschtes Nieder-alemannisch, wie es in Ottenheim bei Lahr gesprochen wurde. Da musste meine Pfälzer Mutter ab und zu sogar die Ohren spitzen. Außerdem war der Schwarzwald und hier vor allem der Winterhalderhof seit Ende der 40er Jahre und fast während der ganzen 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in den großen Sommerferien unsere Heimat. Auf dem Hof verlebte ich wie gesagt die schönste Zeit meiner Kindheit. Erst Ende der 50er Jahre machten wir dann auch in Oberbayern Ferien. Und „Ferien“ das bedeutete, dass in Heidelberg richtig die Zelte abgeschlagen wurden und die Familie für sechs Wochen nach Titisee verzog. In den ersten Nachkriegsjahren fuhren wir noch mit dem Zügle. Die vielen Koffer, die meine Mutter gepackt hatte, wurden als Passagiergut aufgegeben und am kleinen Bahnhof Titisee mit dem Handwägele abgeholt. Einmal sind wir auch mit dem „Touring“-Bus angereist. Mit „Touring“ wollte meine Mutter dann aber nicht mehr fahren. Das war ihr zu eng. Außerdem durften damals, noch vor der Währungsreform, nur Ausländer Plätze reservieren. Die Deutschen waren noch unterprivilegiert, sozusagen „Besatzungsuntertanen“. Im Zug war das alles besser, obwohl wir „natürlich“ in der Dritten Klasse, der Holzklasse, reisten. Die Fahrt durchs Höllental war eindrucksvoll. Ich erinnere mich, wie einmal der Zug vor der Brücke über die Ravennaschlucht halten musste. Als er anfuhr, drehte die Lokomotive durch und rutschte. Erst im zweiten Versuch packte sie dann den Anlauf. Für meinen Bruder und mich war das ein Erlebnis. Meist hatte der Zug zwei, manchmal sogar drei Loks, eine oder zwei vorne, eine hinten.

Page 34: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

33

Unser Vater ist in der Zeit vor 1953, als wir noch nicht unseren grünen VW-Käfer hatten, stets mit seinem Vorkriegsmotorrad angereist. Einige Male durfte ich auf dem Soziussitz mitfahren. Von Heidelberg bis Ettlingen rollten wir noch über die ehemalige Reichsautobahn, danach hoppelten wir den langen Weg durch ganz Südbaden über – wie mein Vater sagte – „lumpische Landsträßle“ und durch enge Ortschaften. Doch diese Fahrten waren nicht nur luftig, sondern auch lustig, nah bei den Leuten, ihren Dörfern und der Natur. Als wir einmal bei Einbruch der Dämmerung durch ein einsames Schwarzwaldtal zuckelten, beeindruckten mich die bedrohliche Enge der dunklen Wälder, die fremden, misstrauischen Augen der Leute und ein altertümliches Sägewerk. Ich dachte: „Es ist hier noch wie früher.“ Oben in Titisee, auf den Höhen des Hochschwarzwaldes, dem schönsten und wirklichen Schwarzwald, war dann alles hell, heiter und freundlich. Einmal besuchte mein Vater mit mir in Löffingen die Marie Heizmann. Sie war, wie er mir erklärte, eine Cousine und über seinen Großvater, den Vinzenz Heizmann, mit uns verwandt. Die Gegend um Löffingen gefiel mir nicht. Alles war flach und ohne Abwechslung. „Das ist die Baar, die Hochebene zwischen dem Schwarzwald und der Schwäbischen Alb“, erklärte mir mein Vater. „Bei Donaueschingen wird’s wieder schöner.“ Die Marie war freundlich, freute sich, redete aber von sich aus nicht viel. In den Familienalben gibt es noch Fotos von ihr. Sie war vor dem Krieg auch einige Male in Heidelberg zu Besuch. Wir besuchten sie aber nur dies eine Mal. Die Heizmann-Verwandtschaft haben wir dann wie die Geßner irgendwie aus den Augen, aus dem Sinn verloren. Die Fahrten mit meinem Vater auf dem Motorrad waren immer erlebnisreich. Da gab es zunächst nur drei Sitzplätze. Einer, und zwar der Jüngste, saß mit einer Decke abgepolstert vorn auf dem Tank des Motorrads. Heute wäre das „natürlich“ verboten. Doch so kurz nach dem Krieg war den Leuten und auch der Polizei jedes Fortbewegungsmittel recht. Mein Vater lenkte das Krad und den Soziussitz bekam dann der Dritte, der mitfahren durfte. Das war oft ich, aber hin und wieder wollte auch meine Mutter die Umgebung erkunden. Dann blieb einer von uns Buben auf dem Hof, wo es uns aber auch immer gut gefiel. Meine Mutter war ihr Leben lang ohnehin nicht so reiselustig. Die meisten Ferien machten wir dann mit unserem grünen VW.

Page 35: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

34

Im Schwarzwald trafen sich übrigens öfters die Geschwister meines Vaters und ihre Familien. Schließlich hatten die älteste Schwester Maria und ihr Mann Jus (Julius) in Heiligenbrunnen kurz nach dem Krieg ein außerordentlich hübsches, heimeliges Ferienhäusle im Schwarzwälder Stil erbaut. Heiligenbrunnen gehört noch zur Gemarkung Titisee und liegt rund 1000 m über dem Meer bei der Weißtannenhöhe. Marax (Maria) und Jus fuhren jedes Wochenende von ihrem Wohnort Ottenheim bei Lahr nach Heiligenbrunnen. Drunten in der Rheinebene war es im Sommer sehr heiß, außerdem gab es dort dann viele Schnacken. Oben auf den Höhen des Hochschwarzwalds fühlten sich die zwei dann sauwohl und bekamen auch viel Verwandtschaftsbesuch. Ich erinnere mich noch gut, wie wir dort einmal zu lang geblieben waren, und dann zu Fuß und in der Nacht durch die dunklen Tannen-wälder zurück zum Winterhalderhof marschierten. Mein Vater, der alte Wanders-mann, hatte sich in der Wegstrecke verschätzt. So kamen wir erst bei stockfinsterer Nacht bei der Tante Lisel an, die uns schon viel früher erwartet hatte. Die Marax schätzte die Lisel übrigens nicht so hoch wie wir, was sie auch sagte. Von der Tante Lisel hörte ich dagegen nie ein negatives Wort über Verwandte. Ich wüsste auch nicht, wie sie zur Marax stand. Ich hätte danach auch nie gefragt. Schwarzwälder sind eben verschwiegen, und im Schwarzwald verhielt ich mich wie ein Schwarz-wälder: keine dummen Fragen. Wie gut mir der Schwarzwald immer gefallen hat, wie tief beruhigend und angenehm er auf mein Gemüt wirkte, das habe ich später noch einmal Anfang der 70er Jahre als junger Baden-Württembergischer Landesbeamter erlebt. Unser Einstellungsjahr-gang hatte in Titisee im Feuerwehrheim eine Fortbildungsveranstaltung. Natürlich besuchte ich am ersten Abend den Hof. Doch am zweiten Tag hatten wir nachmittags frei und ich fuhr nach Neustadt. Einige Jahre war ich nicht mehr im Schwarzwald gewesen. Ich durchstreifte Neustadt, beschaute mit Wohlbehagen all die Orte der Erinnerung: Das Kneippbad, in dem unsere Familie in den 50er Jahren immer „das Wannenbad am Samstag“ genommen hatte, den Gasthof „Zum Bären“, aus dem meine Großmutter stammte, das Notariat gegenüber, in dem mein Großvater seine erste Notarstelle hatte, die Cafés und Gasthäuser, in denen wir so oft waren. Und als ob die Zeit nicht vergangen wäre, habe ich mich in ein Café gesetzt, mein Kännle mit Kaffee und ein Stück Kuchen genossen. Es war, wie wenn ich gestern erst hier gewesen wäre. Als ich ins Feuerwehrheim in Titisee zu meinen Kollegen zurückkehrte, fragten mich einige, ob ich geschlafen hätte; ich würde so erholt und entspannt aussehen. „Nein, ich hab’ nur eine Zeitreise zurück in meine Kindheit gemacht“, gab ich zur Antwort.

Die Tante Lisel Den Schwarzwald, dieses Stück Heimat und den dortigen Menschenschlag verkörperte für mich vor allem meine geliebte Tante Lisel. Die Verwandtschaft ist leicht erklärt. Die Mutter von Tante Lisel, die Friederike Schwörer, war die Schwester meiner Urgroßmutter Marie Heizmann geborene Schwörer. Die Marie war die Älteste (geb. 1845), Friederike (geb. 1860) eine der jüngeren von den 13 Kindern der Apollonia geb. Kistler und des Johann Schwörer, Bauer auf dem Winterhalderhof sowie Schmuck- und Uhrenhändler in London. Von ihm und Apollonia werden wir noch viel hören. Leider gibt es kein Bild von den beiden. Die folgende Übersicht zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse.

Page 36: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

35

Johann und Apollonia mit ihren Kindern auf dem Winterhalderhof 6

Die Franziska Schwörer war mit Stefan Ketterer, Landwirt in Neustadt, verheiratet. Ihr Sohn Emil Ketterer war Arzt. Er hatte drei Kinder: Eberhard, Helga und Waltrud (gen. Trutsch) ∞ Hanns Martin Schleyer (1915 – 1977, ermordet von RAF). Die Verwandtschaft zu uns zeigt das folgende Bild.

Johann

Schwörer * 31.05.1811 + 12.11.1873

∞ 28.11.1844 Neustadt /

Schw.

Apollonia

Kistler * 20.01.1823 + 09.08.1906

Marie I

„die Ald“

1845-1923

Vinzenz

Heizmann

(To.Emilie ∞

Pfreund-

schuh in HD)

Sofie

„die Rot’

in Friburg“

1847-

1. Müller

2. Wehrle

in

Freiburg

Franziska

„die

Schwarz’

am Bach“

(=Gutach) 1848-

Ketterer

Neustadt

(Enkelin ∞

Schleyer)

Karl /

Charlie

(„de

schwarz’

Bub in England“)

1865-1954

To. Elsa

ledig † 1977

Adelheid

(„de

Schwob“)

1862 -

Unselt in

Stuttgart

So. Gustl

To. Toni

Johann /

John

( „de

schwarz’

Bub“)

zeitweise

England?

ledig

1861-

Friede-

ricke

(s’ rot’

Maidle“)

ledig

1860-1927

To

Elisabeth /

Lisel ∞

Hilpert

Katharina

(„der

Ketter“)

(war zeit-

weise in England,

rauchte

Pfeife

usw)

ledig

1856-1936

Amalie

(s’

schwarz

Maidle“)

(war zeit-weise in

England)

ledig

1855-1939

Apollonia

(„s’

Drinschel“

(war zeit-

weise in England)

ledig

1854-1928

Cäcilie

(„die

Schilli“,

schielte

etwas, war zeitweise

in

England)

ledig

1852-

Josef / Joe

(„de

Salzsack“)

Uhrmacher

in London (besaß ca.

12 Häuser)

1851-

(To ∞

Williams)

Theresia

„die Rot’

in

England“

1849- ∞

Spiegel-

halder

(To. ∞

Backes)

Page 37: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

36

Johann Schwörer

(1811 – 1873) ∞

Apollonia Kistler

(1823 – 1906)

Maria I. Schwörer

(1845 –1923) ∞

Vinzenz Heizmann

(1839 – 1894)

Emilie Heizmann

(1879 – 1947) ∞

Dr. Georg II. Pfreundschuh

(1874 – 1931)

Georg III.

1902 – 1977 ∞

Franziska

Geßner

Maria III.

1905 – ∞

Julius Seiler

Hans

1907 – 1974 ∞

Lucie Durm

Karl-Heinz

1908 – 1987 ∞

Marga Hahn

Mechthild

1915 – 1994 ∞

August Faller

Hermann

1916 – 1969 ∞

Lucie Meier

Edeltraud

1919 – 2004 ∞

Fritz Conzen

Maria II.

1874 - 1902

Karl

1880 - 1904

Anna

1888 - 1911

Page 38: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

37

Meine erste Begegnung mit der Tante Lisel habe ich noch so vor Augen, als sei sie gestern gewesen. Das war im Jahr 1947. Ich war damals in der ersten Klasse der Volksschule in Handschuhsheim; und ich war ein besonders dünnes Büble im Nachkriegsdeutschland. Der Arzt sagte daher, ich müsse unbedingt während der großen Ferien in ein Erholungsheim. Schließlich zeige meine Lunge beim Röntgen einen leichten Schatten. Unter den Kinderheimen, die zur Auswahl standen, wählten dann meine Eltern Friedenweiler bei Neustadt im Schwarzwald. So bin ich das erste Mal in den Schwarzwald gekommen. Ich erinnere mich auch noch, dass meine Eltern mich morgens in aller Frühe, es war noch dunkel, zu Fuß an den alten Hauptbahnhof in Heidelberg gebracht haben. Ich pfiff, als wir unser Haus in der Beethovenstraße verließen und schaute in den Himmel zu den Sternen. Ich machte mir Mut und ich hatte ihn. Am Hauptbahnhof startete ein Sammeltransport, wie sie ja aus der Kriegs-zeit noch bekannt waren. Jedes Kind hatte ein Namensschild um den Hals. An die Zugfahrt erinnere ich mich nicht mehr, doch daran, dass ich bei meiner Ankunft im Kinderheim nicht geweint habe. Da war ich eine große Ausnahme. Denn immer, wenn bei unserer Rückkehr in die Aufenthaltsräume des Kinderheims dort weinend und schluchzend ein Bub saß, dann wussten wir: das war ein Neuer. Die Mädchen waren getrennt in einem ganz anderen Gebäudeteil, wir konnten sie immer nur von weiter Ferne sehen. Ich habe es zunächst nicht so schlimm gefunden, einmal einige Wochen im Kinder-heim zu sein. Allerdings hat es mir nach kurzer Zeit dort überhaupt nicht gefallen. Und weil ich vor jeder Bus-Heimreise nach Heidelberg vor Aufregung Fieber und Erbrechen bekommen habe, musste ich statt sechs Wochen ein halbes Jahr dort bleiben. Erst zu Weihnachten sind meine Eltern mit dem Zug gekommen und haben mich abgeholt. Das Heim nannte sich „Schloss Friedenweiler“, war aber in Wirklichkeit ein säkularisiertes Kloster. Es hatte für mich riesengroße, wenig einladende Gebäude. Nun weiß ich noch, wie es plötzlich und überraschend hieß, ich hätte Besuch. Eine Tante von mir sei im Besuchszimmer. Ich war völlig überrascht und sehr erfreut. Das Besuchszimmer war vorne am Eingang bei der Pforte des ehemaligen Klosters neben der Kirche. Dorthin wurde ich geführt. Und so saß ich plötzlich an einem Tisch gegenüber einer mir völlig unbekannten Frau. Es war die Tante Lisel. Ich hatte sie noch nie gesehen und auch noch nichts von ihr gehört. Sie erzählte mir dann, dass sie eine Tante von mir sei und mit mir verwandt. Eigentlich erinnere ich mich nur daran, dass wir nichts miteinander sprachen. Deutlich vor Augen ist mir aber ihr freundliches und lächelndes Gesicht. Im Kinderheim hatte ich nur „doofe Tanten“. Die mochten nur die ganz Kleinen, zu denen gehörte ich aber nicht. Es hat mir sehr gut getan, dass mich diese unbekannte Frau so freundlich anstrahlte und es so gut mit mir meinte. Jedenfalls habe ich von diesem Zeitpunkt an die Tante Lisel gekannt. Die Tante Lisel ist 94 Jahre alt geworden; am 29.04.1896 ist sie auf die Welt gekommen und am 25.05.1990 gestorben. Und im Laufe der vielen Jahre habe ich diese beeindruckende Persönlichkeit immer besser kennen und immer mehr lieben gelernt. Sie ruhte in sich, hatte ein gesundes Selbstbewusstsein, eine natürliche Autorität und benahm sich einfach und zwanglos immer richtig. Sie wäre sicher 100 Jahre geworden. Doch mit 90 ist sie noch in den Stall gegangen und hat geholfen. Die kleinen Kälble waren ihre Lieblinge; so ein Kälble hat die Lisel aus lauter Lust angestoßen. Sie ist umgefallen und hat ihren Oberschenkelhalsknochen gebrochen.

Page 39: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

38

Sie musste ins Krankenhaus und hat alles gut überstanden. – So war sie, die Tante Lisel, sie hat ein Leben lang gearbeitet. Doch dabei ist sie immer mit Maß und Ziel vorgegangen. Ich habe sie nie in Hetze gesehen, sie hat nie Hektik verbreitet. Sie war, wie die Schwaben sagen: „E’ ruhig’s Schaffe g’wöhnt.“ – Dazu fällt mir ein Vergleich ein. Was ist der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Staatsmann? Der Politiker hetzt, der Staatsmann schreitet. Der Staatsmann beherrscht sein Amt. Der Politiker bangt um sein Amt. Zum zweiten Mal hat sich die Tante Lisel den Oberschenkelknochen bei einem Besuch in Rastatt bei ihrer Tochter Traudel gebrochen. Das Wohnzimmer hat eine Treppe zum Garten hin. Sie wollte in den Garten, wurde von der Sonne geblendet und stürzte. Ihr Sohn Siegfried hat sie nach Neustadt ins Krankenhaus gefahren. Denn in Rastatt wollte nicht ins Krankenhaus. Es ist schlechter geheilt; sie war viele Wochen in der Klinik und sie musste fortan mit einem Stock gehen. Tante Lisel mit Stock, das war wie ein Soldat mit Regenschirm. Meine Tante Lisel war eine schöne Frau. Das sahen alle so. Trotzdem war sie nie eingebildet. Sie hatte das längliche, fein geschnittene, das rassige Gesicht der Schwörer, das sich über Generationen immer wieder durchsetzte. Gerade gewachsen war sie, von Größe und Gestalt genau richtig für eine wirkungsvolle Frau. Sie war nicht dick und nicht dürr; sie war so, wie man sich wünscht, dass der liebe Gott die Menschen macht. Die folgenden Bilder zeigen sie im Alter von 46 Jahren mit (weiterer Text gesperrt, da beteiligte Personen noch leben und dies wünschen.) In der bäuerlichen Bevölkerung habe ich immer wieder ältere Menschen getroffen, die ähnlich der Tante Lisel in Heimat, Religion und Bauerstand fest verwurzelt waren. (Und das waren Werte, die auch von meinen Eltern hochgehalten wurden.) Doch in einem Punkt unterscheid sich die Lisel von den oft armen Nordbadenern. Sie hat sich nie dargestellt als „Wir, die kleinen Leute“. Nein, zu den „kleinen Leuten“ hat sich die Lisel nicht gezählt. Wenn sie sich schon in die moderne, berufsständische und lobbyistische Gesellschaftsordnung hätte einordnen müssen, dann hätte sie gesagt: „Wir gehören zum Mittelstand.“ Und da, wo sie stand, war auch immer die Mitte. Übersehen könnte sie niemand. Sie wollte dabei bewusst nicht altmodisch sein, sondern auf der Höhe der Zeit stehen.

(weiterer Text gesperrt, da die Personen noch leben)

Der Winterhalderhof

Der Winterhalderhof liegt auf der Gemarkung Titisee, die bis 1929 Viertäler hieß. Diese Vogtei, später Gemeinde, bestand aus den Tälern Altenweg, Spriegelsbach, Schildwende und Jostal. Der Hof liegt am Altenweg, der uralten Poststraße vom Elsass und dem Breisgau nach Innsbruck. Viertäler gehörte zum Amt Neustadt und damit wie Löffingen, Lenzkirch und Donaueschingen bis zur napoleonischen Zeit (1806) zum reichsunmittelbaren Fürstentum Fürstenberg. Die meisten umliegenden

Page 40: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

39

Orte wie St. Blasien, Hinterzarten und Breitnau mit dem Höllental waren damals wie der größte Teil vom späteren Südbaden vorderösterreichisch und damit Gebiete der Habsburger Monarchie. Heute ist Titisee ein Ortteil der Stadt Neustadt, die sich Titisee-Neustadt nennt. Der Winterhalderhof zählt zu den großen Höfen der vier Täler. Im Jahr 1888 und die Jahrhunderte davor hatte er 72 Hektar und damit auch das Recht zur Eigenjagd. Als die Untergrenze für das Jagdrecht auf 75 Hektar erhöht wurde, ist es Lisel mit Hilfe von Viktor gelungen, vom Fürst zu Fürstenberg die nötigen drei Hektar Wald zu erwerben. Viktor stammte aus dem Bläsihof in Altglashütten, der damals schon das Café „Schwarzwaldhaus“ war. Mit dem Fürsten wurde im Gegenzug ein langjähriger Bierlieferungsvertrag abgeschlossen. Viktor war ein leidenschaftlicher Jäger. Stets hingen in der Wohnstube, etwas versteckt hinter dem Kachelofen zwei, drei Jagdge-wehre, eines davon mit Zielfernrohr. Sie haben mich als Bub immer beeindruckt. Ich weiß auch noch als der Siegfried den Jagdschein gemacht hatte und das erste Mal allein auf die Jagd ging. Er kehrte ganz geknickt zurück und erzählte, dass ein Rehbock wunderschön vor ihm gestanden habe; doch er habe mit dem Schuss kurz gezögert. Und der Bock war weg, fort zwischen den Tännle. Die ganze Familie tröste ihn. Und Viktor sagte: „Beim ersten Jagdgang gibt’s nie Waidmanns Heil.“ Der Hof liegt mitten in seinen Fluren und Wäldern. Das Gelände ist außerordentlich abwechslungsreich. Die Hälfte vom Hirschbühl gehört dazu. Dieser ellipsenförmige, bewaldete Berg mit 974 m Höhe liegt zwischen dem Titisee und dem Tal des Altenwegbächle. Über den Bergrücken verläuft die Südgrenze vom Winterhalderhof. Mitten in dem Tal, das „Altenweg“ heißt, liegt etwas erhöht (858 m ü. d. M.) der Winterhalderhof. So lange wir auf dem Hof in Ferien waren, führte die Bundesstraße noch über Titisee, an der anderen Seite des Hirschbühls vorbei. So war es, anders als heute, angenehm ruhig im Altenweg, durch den nur ein besserer Feldweg führte. Die Flurkarte (übernächste Abbildung) zeigt die Höfe des östlichen Altenwegs mit ihrer Lage und den Grenzen ihrer Wald- und Feldflur (N = der Winterhalderhof). Das Altenwegbächle, das sich etwas südlich am Winterhalderhof vorbeischlängelt, ist gut auszumachen. Damals, also 1790, lief über den Altenweg noch die alte Porststraße, die spätere Bundesstraße führte lange durch die ab 1900 entstehende Ortmitte am See. Am Titisee standen 1790 noch keine Häuser. Dort gab es nur den großen Bärenhof (S) und den Hermeshof (T), auf dem auch Vorfahren von uns lebten. Das übrige Seeufer gehört zu den Gemarkungen von Saig und Hinterzarten. Die Karte ist eingenordet. – Der Stich vom Titisee aus der Beschreibung des „Großherzogthums Baden“ von 1842 (siehe oben) vermittelt einen Eindruck vom einsamen und urtümlichen See, bevor dort 1867 eine Blockhütte als erste Einkehr für Reisende errichtet wurde. 1905 standen am See dann 23 Häuser.

Page 41: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

40

TITI-SEE AM FELDBERG

Stahlstich vor 1842

Page 42: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

41

Page 43: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

42

Am Altenwegbächle mit seinen vielen Ufergehölzen haben meine Bruder und ich oft gespielt. Dort gab es viele Libellen und auch viele Forellen. Mein Bruder war da etwas ruhiger und geschickter als ich. Er hat einmal so ein halbes Dutzend dieser Fische mit der Hand gefangen und in einem Eimer auf den Hof gebracht. Wir wollten sie im langen Brunnentrog vor den Ställen „aufheben“. Doch die munteren Fischlein sprangen in hohen Sätzen aus den Wasser und rollten sich auf dem Hofpflaster. So mussten wir einige bald essen, die anderen wurden zurück zum Bach gebracht. Früher hat es im Altenwegbächle auch Muscheln gegeben. Und der Onkel Hans hat dort einmal solch ein Tier mit einer schönen Perle gefunden. Diese hat er aber, wie erzählt wurde, leider nicht der Lisel, sondern seiner ersten Frau Ellen geschenkt. So war eben der Hans, der liebevolle und ausgeglichene Bruder meines Vaters. „Ein bissel verrückt, was die Frauen betrifft“, meinte meine Mutter. Ich fand es auch richtig ungerecht, dass er diese Perle, die sehr schön gewesen sein soll, nicht der Tante Lisel geschenkt hat. Das Bächle war noch aus einem anderen Grund oft im Gespräch. Ein Herr Klingele hatte dort nämlich Begradigungen durchgeführt. Es gab einige Sumpfwiesen im Tal, die aus heutiger Sicht ökologisch besonders wertvoll wären. Doch die Bauern wollten trainierte Wiesen, um Heu zu machen. Der Klingele hatte dabei was falsch gemacht. Im Frühjahr kam es wegen der Begradigungen zu Überschwemmungen auf den Matten des Winterhalderhofs und der Nachbarhöfe. Und so führte mein Vater als Rechtsanwalt für die Tante Lisel einen jahrelangen Prozess, der schließlich gewonnen wurde. Im Tal sind die Matten nach Osten zum Nachbarn, dem Bürklehof, schön eben und ertragreich. Dort haben wir auch oft das Öhmd gemacht. Das ursprüngliche Hofgebäude vom Bürklehof stammt von 1614, erst 1986 wurde daneben ein neuer Hof mit vielen Fenstern gebaut. Denn das alte, ganz urige Gebäude hat zum Tal nur schmale Balkonschlitze. Es hat immer ausgesehen wie ein schlafendes Gehöft. Ich war auch einige Male als Kind dort. Der Wohnteil war an der Seite nach Osten (im Bild rechts). Ich fand, der Bürklehof sieht richtig mittelalterlich aus. Zum Glück durfte der alte Hof nicht abgerissen werden. Hinter dem Winterhalderhof nach Norden steigt dann das Gelände zunächst steil an, um danach in eine größere Hochfläche überzugehen. Dort oben sind die Weidekoppeln. Jeden Tag wurde und wird im Sommer morgens mit dem Vieh „usg’fahre“ (ausgefahren) und abends „ig’fahre“ (eingefahren). Diese höher gelegenen Viehweiden sind eine Welt für sich. Kein Haus sieht man von dort aus. Nach Westen und Norden wird das einige Hektar große Gelände vom Wald umsäumt. Nach Osten setzen sich die Wiesen fort, fallen langsam ab und gehen in die vom Bürklebauer über. Die Grenze zum Bürkle ist im Gelände gut zu erkennen. Steinhaufen und Gebüsch markieren sie.

Page 44: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

43

links der neue (1986), rechts der alte (1614) Bürklehof

Am Ende dieses Weidegebiets fließt ein kleines, manchmal trockenes Wasserrinnsal aus einem sumpfigen Gebiet mit einigen Tannen am Rand Richtung Bürklehof. Das war, wie der ganze anschließende Sommerberg, auch ein Lieblingsgebiet von uns Kindern. Einmal mussten der Hüterbub Fränzel, der sehr nett war, und ich in diesem etwas sumpfigen Gelände das Stiervieh hüten. Stiervieh, das waren die Ochsen und die Rinder, die schlechteres Weideland bekamen, weil sie ja keine Milch gaben. An diesem Tag, an den ich mich samt einigen Gesprächen gut erinnere, regnete es stark. Der Fränzel und ich setzten uns unter eine größere Tanne und kamen ins Plaudern. Ich weiß noch, wir unterhielten uns über die Mädchen. Irgendwann sagte der Fränzel: „Jez red i nimmer üwer’t Wiwer.“ Allerdings hatten wir zu lange geredet, denn als wir abends eingefahren waren, wurde gleich festgestellt, dass zwei Rinder fehlten. Das war eine äußert üble Sache. Denn der Fränzel und ich mussten wieder zurück in die Sümpfe. Es dauerte seine Zeit, bis wir im Dunkeln und begleitet vom gelegentlichen lauten Schimpfen der xxx die beiden Rindviecher gefunden hatten und heim treiben konnten. Lang hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen. An das eben genannte Rinnsal schließt nach Süden der steil ansteigende Sommerberg an. Er heißt eigentlich Spriegelsbacher Höhe. Denn sein Kamm ist die Grenze zum Tal Spriegelsbach. Und zum Winterhalderhof gehört das Gelände bis zum Bergkamm, der immerhin auf 1.100 m Meereshöhe ansteigt. Am Sommerberg waren viel Wald, dazwischen aber auch malerische Lichtungen mit dürrem Gras.

Page 45: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

44

Vieles am Sommerberg war irgendwie Natur belassen und dadurch wie ein natür-liches Spielparadies. Eine große Fläche davon war eingezäunt als Dauerweide für das Stiervieh. Auch von dort holte ich oft das Vieh, das sich kleine, feste Pfädle getrampelt hatte. Diese wurden wie Wildwechsel von den Tieren dauerhaft benutzt. Ich fand es sehr erstaunlich, dass auch die Rindviecher ihre festen Wege hatten. Überhaupt war es am Sommerberg schön und abwechslungsreich. Es gab auch einige junge Fichtenschonungen. In ihnen haben wir, mein Bruder, meine Mutter und ich, einmal einen ganzen Korb Pfifferlinge gefunden. Doch plötzlich merkte ich, dass von oben runter ein Mann kam. Ich sagte es meiner Mutter und wir schauten, dass wir uns in eine andere Richtung entfernten. Doch ich blieeb aufmerksam und merkte plötzlich, dass er sich nur etwa 20 m oberhalb von uns wieder herumtrieb. Darauf packte meine Mutter uns Buben und wir liefen im Schweinsgalopp ins Tal auf die offene Fläche. Von dort gingen wir zum Hof. Es war ja noch Nachkriegszeit und die Frauen hatten immer noch Angst.

… Die Matten und der Wald sind die Lebensgrundlage eines Schwarzwaldhofs. Doch besonders gut gefallen mir bis heute die großen, behäbigen Hofgebäude. Unter dem großen Walmdach ist alles wettergeschützt und wohl geborgen beieinander. Das Schwarzwaldhaus ist eine Sonderform des alpenländischen bäuerlichen Einheits-hauses. Und vom nahen Feldberg kann man bei Föhn zum Greifen nah die Schweizer Alpen sehen. Als Bub erlebte ich so einen Anblick – nicht oft, aber doch einige Male. Ich war jedes Mal wie überwältigt von diesem gewaltigen Bild. Die folgende Ansicht zeigt den Blick vom Feldberg bei Föhn auf die Berner Alpen. Wir sehen die Bergkette vom Finsteraarhorn bis zur Jungfrau.

Page 46: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

45

Für mich war und ist der Winterhalderhof einer der schönsten Schwarzwaldhöfe. Als ich im ersten und zweiten Semester in Innsbruck studierte, bin ich einmal in meinem kleinen VW-Käfer mit einem Kommilitonen und zwei Kommilitoninnen über den Schwarzwald nach Heidelberg gefahren. Als wir den Winterhalderhof vom Altenweg her anfuhren und etwas erhöht vor uns liegen sahen, da waren wir uns alle einig: das ist ein besonders schöner Hof. Das sagte ich dann auch der Tante Lisel; sie nahm es still und zufrieden zur Kenntnis und sagte nur „Meinsch?“ (Meinst du?). Dabei ist der Winterhalderhof gar nicht so alt. 1889 ist der alte Hof abgebrannt. Darüber wurde immer wieder einmal gesprochen. Und vielleicht ist er deshalb so komfortabel, weil er damals nach modernen Wohn- und Wirtschaftsbedürfnissen auf den alten Grundmauern wieder aufgebaut wurde. Meine Altmutter, die Apollonia hat den Brand noch erlebt, denn sie ist erst 1906 gestorben.7 Die Tante Lisel ist erst 1896 geboren und hat den Brand nicht erlebt. Allerdings hat sie ab und zu darüber gesprochen, wie schlimm ein Hofbrand ist, und dass man dann „Brandstämmle bettle gehe muss.“ Der Winterhalderhof ist ein stattliches, großes Schwarzwaldhaus mit einem alles überspannenden und schützenden Walmdach. Mensch und Vieh, Heu und Feld-früchte, Wägen und Gerätschaften sind unter dem großen Dach vereint. Zur West- und Wetterseite ist (wie auf dem Bild zu sehen) diese schützende Haut fast bis zum Boden heruntergezogen. Dort sind auch die Ställe für die Schweine und Kalble; und nur für sie sind hier schmale Fenster und Ausgänge. Als Kind dachte ich mir oft, wie angenehm und praktisch das in den kalten Wintern sein muss. Man braucht nur beim 7 Nach dem Stammbaum von Hans starb Apollonia 1906, nach der Höfechronik 1904.

Page 47: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

46

Ausmisten und zum Milchabliefern, aber natürlich auch sonntags zum Kirchgang das Haus verlassen. So dachte ich mir, so ist es natürlich nicht.

Winterhalderhof von Süden – vorn das Ufer des Altenwegbächle

Wir betrachten jetzt dem Hof von außen und von allen Seiten. Dabei werfen wir gleich einen kurzen Blick in die Ställe und die Scheuer. Danach gehen wir in den Wohnteil. – Ich werde jetzt manches in der Vergangenheit, anderes in der Gegenwart erzählen. Vergangen ist das, was es heute nicht mehr auf dem Hof gibt. Die Gegenwart benutze ich, wenn die Dinge noch heute (2010) so wie damals sind. Zum Süden, also abwärts zum Altenwegbächle hin, ist die behäbige Giebelseite. Wir schauen sie auf dem Bild an. Dort sind auch die vielen Fenster des Wohnteils, der knapp ein Viertel des Gebäudes einnimmt. Im Erdgeschoss kommen von Ost nach West (auf dem Bild von rechts nach links) mit je zwei Fenstern zuerst die ganz holzgetäfelte Stube, dann die meist rauchgeschwärzte Küche, danach das Stüble und dann noch eine Vorratskammer mit nur einem Fenster. Nach badischem Sprachgebrauch ist das Erdgeschoss der 1. Stock und das erste Obergeschoss heißt 2. Stock. Meine Eltern und auch alle, die ich in meiner Jugend hörte, haben so die Geschosse eines Hauses benannt. Wir wollen das jetzt auch so machen. Wer den Hof also von Süden betrachtete, der sieht, dass nur im ersten Stock das Mauerwerk geweißelt ist; oberhalb ist das Gebäude dann ganz mit Holz verschalt.

Page 48: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

47

(Darstellung des Inneren des Hofes gesperrt.) Die gute Stube hat nun ein Prachtstück von einem großen, dunkelgrünen Kachel-ofen. Er wird von der Küche aus beheizt. Der Kachelofen war für mich als kleiner Bub riesig; er nimmt fast die ganze Westseite der Stube ein.

… Kachelöfen gibt es ab dem 14. Jahrhundert, also der Mitte des Spätmittelalters8, im Schwarzwald und der angrenzenden Deutschschweiz. Hier soll diese Ofenform erfunden worden sein und sich dann langsam über die ganzen Alpenraum, die Karpaten bis nach Russland ausgebreitet haben. Ein uriges Beispiel (nicht vom Winterhalderhof) zeigt das folgende Bild.

8 Die Einteilung des Mittelalters (MA) ist etwas umstritten. Wir wählen die häufigste: Früh-MA (500 –

900), Hoch-MA (900 – 1250), Spät-MA (1250 – 1500). Dabei gibt es Überschneidungen, je nach Betrachtungsweise und örtlichen Verhältnissen. Strittig ist es auch bei der Neuzeit (NZ): „frühe NZ“ (1450 – 1650), „jüngere NZ“ (1650 – 1798), „jüngste NZ“ (ab der Französischen Revolution, 1789)

Page 49: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

48

Der Kachelofen auf dem Hof hat – wie oft im Schwarzwald – noch etwas Besonderes; es ist die „Kunschd“ (Kunst). Auf dem nächsten Bild sitzt die Katze auf der Kunschd. Dieses alemannische Wort kommt wahrscheinlich aus dem Lateinischen, von „Hypocaustum“ (Feuerungskammer) und bezeichnet eine „gewärmte Sitzgelegenheit“. Auf der Kunschd saß meine Mutter am liebsten. Denn die Kunschd auf dem Hof ist etwas erhöht und wie ein Teil des Kachelofens. Sie ist eine große Sitzbank mit einer Platte aus Granit. Sie wird vom Kohlenherd von der Küche aus beheizt. Der Rauch kann über die Kunschd in den Kamin abziehen. Das kann durch einen Riegel am Herdabzug geregelt werden. Auf der Kunschd haben drei bis vier Personen Platz. Und nicht nur von unten, auch im Rücken wärmt der urgemütliche Kachelofen. Ich bedauerte es öfters, dass wir nur in den Sommerferien und nie im Winter, etwa zum Skifahren, auf dem Hof waren. …

Page 50: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

49

Auf dem Foto sehen wir das Pflichtjahrmädel, Fräulein Rosa vom Reichsarbeitsdienst (1. von links, mit freundlichem Blick auf Hans), dann kommen Cousine Berta, Traudel, Lisel, Cousine Elise und Onkel Hans. Berta und Elise sind ledige Töchter von Sofie Müller geb. Schwörer, diese ist eine Tochter von Johann und Apollonia (siehe oben S. 36 die Übersicht „Johann und Apollonia mit ihren Kindern auf

dem Winterhalderhof“).

(weiterer Text gesperrt, da die Personen noch leben)

Page 51: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

50

Der „ganze Hof“ und seine „Hauswirtschaft“ Der „alte Hof“, wie ich ihn noch erlebte, war historisch betrachtet noch eine Institution der Ständeordnung. Er war weithin Selbstversorger (autark), er war langfristig und nachhaltig aus sich heraus lebensfähig. Das hat der Winterhalderhof noch in den beiden Weltkriegen bewiesen. Einige von den Freiburger Verwandten haben damals auf den Hof Unterschlupf gefunden. Wir begegnen ihnen auf den Familienfotos. Die Grundbedürfnisse Wohnung und Nahrung hat der Hof umfassend befriedigen können. Heute ist die Landwirtschaft so spezialisiert und auf so viele technische Dienstleistungen bis hin zur Versorgung mit Dieselkraftstoff angewiesen, dass dies nicht mehr möglich wäre. Die alteuropäische Wirtschaftordnung hatte sich in der Landwirtschaft am längsten, bis in meine Jugend, in allen wesentlichen Bestandteilen erhalten. Der Ausdruck „Ökonomie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet wie gesagt „Hauswirtschaft“. Von unten nach oben hat sich das Denken über die Zusammenhänge des menschlichen Wirtschaftens entwickelt. Die „alte Ökonomie“ ist von der Geschichtswissenschaft heute gut erforscht, wenn auch nicht immer und von allen verstanden. Das „Haus“ und nicht die „Familie“ war der Grundbaustein dieser Ordnung. Der Ausdruck Familie ist erst viel später aufgekommen. Er wurde dann vor allem von den Bürgerlichen aufgegriffen.9 Bis heute spricht man daher noch immer vom „Haus Habsburg“ oder „Haus Wittelsbach“. „Familie Habsburg“ oder „Familie Wittelsbach“ würde sonderbar, ja unangemessen klingen. Schön dargestellt hat diese Zusammen-hänge für das ständische Bürgertum der Historiker Otto Brunner in einem bekannten Aufsatz von 1956: „Das ‚ganze Haus’ und die alteuropäische ‚Ökonomik’.“10 In allen Ständen waren das eigenständig und eigenverantwortlich wirtschaftende „Haus“ oder der „Hof“ die gesicherte und standesgemäße Lebensgrundlage. Das hat für die Bauern, die Handwerker, den niederen und den hohen Adel gegolten. Und die soziale und wirtschaftliche Sicherheit erzeugte jene Ruhe und Gelassenheit, die ich noch bei meiner Tante Lisel erlebt habe. Für alle Stände waren der „Grund und Boden“ das Fundament. Daher können wir die Ständeordnung auch als eine „bodenständische Gesellschaft“ bezeichnen. Das hat in angepasster Form auch für die Handwerker gegolten. Denn das Recht, ein Handwerk auszuüben, gewährte nicht schon die Meisterprüfung, die persönliche Befähigung. Dieses und viele andere Rechte waren viel mehr radiziert (radix = Wurzel), sie hatten Wurzeln geschlagen. Es waren keine Personal-, sondern Realrechte und gehörten zu einem „Haus“, auf dem die Meistergerechtigkeit „ruhte“. Das konnte eine Mühle, eine Schmiede, ein Wirtshaus oder sonst ein Grundstück mit Gebäuden, Werkstatt und vor allem mit dem Recht oder – zeitgemäß ausgedrückt – mit der „Gerechtigkeit“ zur jeweiligen Berufsausübung sein.11 Das geht soweit, dass auf den „alten Landtagen“ nicht Personen (Bürger), sondern Gebietskörperschaften (Städte, Hofmarken usw.) vertreten wurden; so wie dies heute

9 Wir unterscheiden zwischen dem Bürgertum der Ständeordnung und den „Bürgerlichen“ im moder-

nen, schließlich liberalen Staat. Die alten „Bürger“ sind ein Stand, die „Bürgerlichen“ eine Klasse. 10 In: Brunner, Otto, Neue Wege zur Sozialgeschichte, Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956. 11

Eine Ausnahme bildeten die wenigen „freien Künste“ wie Malerei.

Page 52: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

51

etwa beim Deutschen Bundesrat als Vertretung der Bundesländer der Fall ist. Die württembergischen Städte und Ämter schickten beispielsweise ihre Repräsentanten nach Stuttgart zum Landtag. Das kritisierten nach der Französischen Revolution (1799) dann überall in Deutschland die Bürgerlichen: „Ihr Rat haftet nicht an dem intellektuellen und moralischen Boden der Weisheit, Erfahrung, des Patriotismus, sondern an dem physischen Boden der Prälaturen, Rittergüter und Städte. Dieser physische Boden kann allerdings auch weise Männer tragen: allein nicht ihre Weisheit, sondern immer nur die Erdscholle gibt ihnen das Recht zu reden und eben diese erhält es ihnen auch, wenn sie noch so unweise sprächen.“12 Das Beispiel zeigt gut den Unterschied zwischen der ständischen und der modernen Repräsen-tationsidee bzw. Volksvertretung. Ob es mit der Weisheit besser geworden ist? Oft wird in alten Quellen ein Handwerksbetrieb auch als „Amt“ bezeichnet. Nicht so sehr die Obrigkeit, der Landesherr, wachte darüber, dass es davon nicht zu viele gab, sondern die Zünfte. So waren die Bäcker erbittert darüber, dass die Herrschaft immer wieder „Pfisterer“13 zuließ, das waren unzünftige Einzelbäcker ohne Gesellen und ohne Berufsausbildungsrecht. Die alteuropäische, ständische Wirtschaft war wie gesagt eine Wirtschaft an den Grenzen des Wachstums. Nicht nur die Herrschaft, auch die genossenschaftlich organisierten Zünfte und die im „ganzen Haus“ wohnenden Eheleute (ein sehr alter Ausdruck) wachten über die Nachhaltigkeit. Selbst ein Kloster, eine Universität oder ein soziale Einrichtung (z.B. ein Spital) konnten erst gegründet werden, wenn ihnen so viel Grund und Boden gestiftet worden war, dass sie eigenständig und auskömmlich wirtschaften konnten. Der Unterschied der beiden Verfassungs- und Wirtschaftordnungen lässt sich gut an einem Beispiel aus den Jahren 1801 und 1803 darstellen. Das ist die Zeit als die Eltern von Johann Schwörer und Apollonia geb. Kistler lebten. Gar so lang ist es also noch nicht her. Damals wurden in Süddeutschland zwei Universitäten neu gegründet. Die bayerische Universität Ingolstadt siedelt nach Landshut über (1801) und die Heidelberger Universität wurde von Markgraf Friedrich von Baden 1803 reformiert und auf eine neue wirtschaftliche Grundlage gestellt. Die Bayern wählten noch einmal das ständische Modell. In Landshut wurden so viele Klöster säkularisiert und deren Grundbesitz samt dazu gehörigen Rechten der neuen Hochschule übereignet, wie sie für ihren Wirtschafts- und Lehrbetrieb benötigte. Die „Hohe Schule“ behielt auch ihre eigene Jurisdiktion (Gerichtsbarkeit). Das alles gehörte zur ständischen Selbstordnung. Der badische Markgraf ging in Heidelberg anders vor. Die Hochschule hatte durch die Abtretung der linksrheinischen Pfalz an Frankreich im Rahmen der napoleon-ischen Kriege ihre dortigen Güter verloren und war wirtschaftlich zusammen-gebrochen. Doch das fortschrittliche „Haus Baden“ verfolgte in Heidelberg eine ganz andere Hochschulpolitik als die Wittelsbacher in Bayern. Die Universität bekam keine neuen Güter, Besitzungen und Rechte übereignet, sondern ihre Finanzgrundlage bestand von nun an in einer jährlichen staatlichen Dotation (finanzielle Zuwendung). Auch sonst wurde aus der mittelalterlich privilegierten Hohen Schule eine staatliche Polizeianstalt („Polizei“ bedeutet damals „Verwaltung“). In der Kurfürstlichen

12

Schultze, Johanna, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773 – 1806), in: Historische Studien, hg. v. E. Ebering, Berlin 1925, Heft 163, S. 53 13

aus dem Lateinischen „pistor“ = „Bäcker“

Page 53: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

52

Badischen Landes-Organisation vom 13.05.1803, mit der Karl Friedrich die Neu-ordnung seiner durch Napoleon großzügig vermehrten Lande abschloss, wurde unter III. bestimmt: „Rektor der Universität, die Wir auf diese Art von neuem begründen, wollen Wir selbst seyn und Unseren Nachfolgern in der Kur diese Würde hinter-lassen; mithin ist der erste ausführende Vorsteher des General-Studu ein Prorektor, der an Unserer Statt die Direktion der ganzen Anstalt nach den von Uns ergehenden Verordnungen zu leisten und zu beleben habe.“14 Die wirtschaftliche und rechtliche Abhängigkeit vom Staat, ist nicht nur ein Wesenszug des monarchischen, absolu-tistischen Polizeistaats, sondern auch des modernen, demokratischen Sozialstaats. Dabei war die alte Ordnung mit ihrem „ganzen Haus“ oder „ganzen Hof“ in jedem Fall persönlicher, vielleicht sogar in vieler Hinsicht menschlicher als der bürokratische Polizei-, Rechts- oder Sozialstaat. Denn innerhalb des Standes galt der Grundsatz der Brüderlichkeit. Dieses Ideal wurde nicht nur aus der ständischen Genossen-schaftlichkeit, sondern auch aus der christlichen Nächstenliebe gespeist. Die Ge-sellen, die im Haus eines Handwerksmeisters wohnten, waren die jüngeren Standes-genossen und saßen mit Meister und Meisterin zusammen am Tisch. So war es noch auf dem Winterhalderhof. Vom Frühstück über das Mittagessen bis zum Vesper und Nachtessen aßen alle, die mitgeschafft hatten, gemeinsam am großen Küchentisch. Das folgende Bild zeigt, dass 1942 auch das Pflichtjahrmädel Lore vom Reichs-arbeitsdienst ganz in die Familie aufgenommen war. Bei der Feier der Erst-kommunion

(weiterer Text gesperrt, da die Personen noch leben)

14

E. Winkelmann (Hg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, Heideberg 1886, Band I, S.440 ff. Das „Rektorat“ des Markgrafen (Großherzog ab 1806) war erfolgreich. Aus der abgeschlafften, land-ständischen Hohen Schule wurde in kurzer Zeit eine der führenden deutschsprachigen Universitäten.

Page 54: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

53

Das Bild zeigt von links Lisel, Traudel, Lore (Pflichtjahrmädel), Hans, Siegfried (Kommunionkind), Berta und Elise Müller (ledige Töchter der Sofie geb. Schwörer aus Freiburg, somit Enkelkinder von Johann und Apollonia). – Lisel und Hans sehen sich sehr ähnlich, besonders wenn wir das Bild auf

dem Bildschirm vergrößern (zoomen).

Auch s’ Bobbele, meine Patentante Traudel, musste zum Reichsarbeitsdienst. Sie wurde auf einem westfälischen Bauernhof eingesetzt. Dort hat es ihr gut gefallen und sie wurde so in die Familie aufgenommen, dass sie den Hof immer wieder einmal und noch zu meiner Zeit besuchte. Sie hat mir einige Male davon erzählt. Ein deutliches Signal an die Öffentlichkeit, dass die Zukunft nicht mehr dem Hof, sondern dem landwirtschaftlichen Betrieb und damit der Agrarfabrik gehört, war die Verkündung des Mannshold-Plans durch die Europäische Kommission im Jahr 1968. Er hat die Entwicklung nicht eingeleitet, sondern eigentlich nur aufgegriffen. Auch in der Landwirtschaft sollte künftig der Grundsatz „immer mehr und immer größer“ gelten. Rund 100 Hektar fruchtbares Ackerland war zunächst die Richtgröße. Damit hatte der Winterhalderhof mit seinen 75 Hektar Wald und Wiesen keine Zukunft.

Page 55: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

54

Vom Hof zum Betrieb – das Ende der alten Landwirtschaft In den Jahrzehnten, in denen ich den Winterhalderhof erlebte, also von 1947 bis heute, hat sich die alte Landwirtschaft Stück für Stück verändert. Mit der Umge-staltung des alten Hofes zum modernen Betrieb ist sie schließlich untergegangen. Das gilt nicht nur für den Wandel von einem mit Händen und Ochsen arbeitenden Hof zu einem motorisierten und technisierten Unternehmen. Die wesentlichen wirtschaftlichen, sozialen und auch kulturellen Grundlagen wurden den bäuerlichen Familien entzogen. Diesen tiefgreifenden geschichtlichen Vorgang wollen wir uns nun beim Winterhalderhof genauer anschauen. Es muss auf der Rückreise von meinem Aufenthalt im Kinderheim Friedenweiler gewesen sein, als ich zum ersten Mal im Jahr 1947 mit meinen Eltern auf dem Hof war. Oben habe ich erzählt, dass mich die Tante Lisel in Friedenweiler besucht hat. Damals war ich sechs Jahre alt. Und ich weiß noch, dass es draußen kalt war. Trotzdem bin ich mit meiner Mutter hinter dem Hof den Berg hinauf gegangen zu den Koppeln. Meine Eltern sind mit uns zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter spazieren gegangen. Auf der Weide sehe ich noch heute die Stacheldrahtzäune, an denen Schafwolle hing. Diese Wolle, schwarze und weiße, habe ich abgezupft und bestaunt. Meine Mutter hat mir dann erklärt, dass und wie daraus unsere Pullover gemacht werden. Damals und in den darauf folgenden Ferien habe ich mich immer wieder darüber gefreut, dass der Hof so viele Tiere hatte. Neben Hund und Katze waren es vor allem die Nutztiere. Die Kühe, das Stiervieh, die Schweine und die Hühner. Die Hühner hatten im Kuhstall fast unter der Decke eine lange Stange. Über eine Hühnerleiter sind sie dort hinauf geklettert. Dass die Tante Lisel das Brot gebacken hat, habe ich nicht erlebt. Aber ich weiß noch, wie sie mir ein Säckle voll Korn gegeben und mich damit zum Bäcker geschickt hat. „Drei Leib Brot krigsch defür“, hat sie, wenn ich mich recht erinnere, gesagt. Solche Aufträge haben mir besonders gut gefallen. Mit dem Velo (Fahrrad) bin ich dann nach Titisee ins Ort gefahren, hab den Bäcker gesucht und gefunden und dort meinen wichtigen Auftrag erledigt. Richtig groß bin ich mir vorgekommen. – Vor meiner Zeit hatte der Hof sogar eine kleine eigene Mühle. Den Mühlgraben und die Mauerreste habe ich öfter wehmütig betrachtet. Eine Mühle wäre zu schön gewesen. Der Winterhalderhof hatte noch bis in die 70ger Jahre eine „gesunde Wirtschaft“ mit drei Standbeinen. Betrachten wir sie nacheinander, zuerst den Wald. Der Hof war in der Nachkriegszeit auch deshalb wirtschaftlich so gesund, weil die Tante Lisel Glück gehabt hatte. Ich erinnere mich noch gut, dass im Schwarzwald riesige Waldflächen von den Franzosen abgeholzt waren. Alle Bäume, die irgendwie verwendet werden konnten, hatte die französische Besatzungsmacht „geerntet“. Doch die Tännle von der Tante Lisel waren gerade noch zu jung. Und so sind sie genau richtig in die Wirtschaftswunderjahre hinein gewachsen. Bauholz war damals begehrt und hatte einen guten Preis. Von Skandinavien oder sonst woher wurde in jenen Jahren noch kein Holz eingeführt. Und oft ist dann in den ersten Jahren der Siegfried mit einem Ochsen, meist war es der Bowie, in den Wald gegangen und hat Stämmle „gerückt“. So nannte er das, wenn die gefällten und entasteten Fichtenstämme an den Weg zum Verladen gezogen wurden. In Hölzlebruck war dann das große Sägewerk der Firma „Himmelsbach“, wo die Weiterverarbeitung statt gefunden hat. Mit dem Stämmlerücken haben sich die Ochsen dann überflüssig

Page 56: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

55

gemacht. Denn der Erlös aus dem Wald hat wesentlich zum Kauf des ersten Bulldogs (Traktors), aber auch der Melkmaschine beigetragen; und schließlich wurden damit zum Teil auch die Gästezimmer hergerichtet. Eigentlich ist der Wald die „Sparkasse des Bauern“. Das normale Leben sollte mit der Viehwirtschaft bestritten werden. Die Milch war damals, besonders im Vergleich zu heute, auch noch ihr Geld wert. Ganz zufrieden war die Tante Lisel damit aber nicht. Später wurde es Treppchen für Treppchen schlechter. Ich weiß noch, dass sie einmal sagte: „An de’ Milch mit derre viele Arbeit verdiene’ mir nlt mehr wie an de’ Gäscht. Des is’ eigentlich e Schand’.“ Noch viel später, nämlich im Jahr 2008, hörte ich im Rundfunk einmal einen oberbayerischen Bauern klagen: „Leben kann ich scho’, denn ich hab’ mir eine Biogasanlage zugelegt. So verdien’ ich jetzt an der Mistbrüh’ mehr als an der Milch. So verrückt ist heut’ die Welt.“ Biogas wird eben immer mehr, die Milch immer weniger subventioniert oder „gefördert“. In der damaligen Zeit waren die vom Hof ein erfolgreiche Viehzüchter. Die Rinder ge-hörten zur Rasse der Schwarzwälder „Vorderwälder“. Nicht nur die gute Milchleistung seiner Kühe, auch das beeindruckende und rassetypische Aussehen der Bullen hat damals viele Preise und gutes Geld eingebracht. Ich meine mich zu erinnern, dass er für einen guten Zuchtbullen so 4.000 DM bekommen hat. Im Rückblick war es für mich besonders anschaulich und lehrreich den Wandel der Landwirtschaft von der vorindustriellen Handarbeit zum motorisierten Wirtschaften mitzuerleben. Aus der Erzählung kenne ich es noch, dass nur mit der Sense gemäht wurde. Gesehen habe ich das nicht mehr. Aber fast gleichaltrige Bauern haben mir im kleinen Odenwald erzählt, wie das vor sich ging. Morgens, wenn um 4 Uhr die Sonne aufging, trafen sich drei bis fünf Mäher mit ihren Sensen im Wiesengrund, der gemäht werden musste. Jeder hatte am Gürtel einen wassergefüllten Köcher für den Wetzstein, den Kumpf; mit dem wurde von Zeit zu Zeit die Sense geschärft. „Schlotterfass“ sagten die Franken zu diesem Wetzsteinbehälter. Die Männer stellten sich nun in einer Reihe auf; und dann wurde im Gleichschritt und mit gleichem Sensenschwung gemäht. Den Umgang mit der Sense habe ich in meiner Kindheit oft gesehen und immer wieder vergeblich ausprobiert. Ich habe einfach den Bogen nicht heraus bekommen. Mein Vater konnte allerdings noch mähen ohne zu stupfeln (hängen zu bleiben). Auf dem Hof habe ich dann unter den ausgemusterten Maschinen noch einen Balkenmäher gesehen und genau betrachtet. Ein Ochsen- oder Pferdegespann musste ihn ziehen. Sogar einen Sitz hatte dieses landwirt-schaftliche Gerät. Den nächsten Entwicklungsschritt habe ich nun gut und aus eigener Anschauung in Erinnerung. Es war der Balkenmäher ohne Sitz, aber mit Motor. Man musste hinter ihm hergehen. Und so sehe ich den Siegfried in den schönen Matten zum Bürkle-bauer in aller Herrgottsfrühe mit dem Motormäher Reihe um Reihe auf und ab gehen. Langsam, aber stetig hat der kleine stinkende und rauchende Zweitakt-Motor den Mähbalken mit zwei Rädern über die Wiese geschoben. Ebenso genau weiß ich noch, wie es war, als wir wieder auf den Winterhalderhof gekommen sind und der Jungbauer stolz auf seinen ersten roten Schlepper gesessen ist. Dazu sagten wir Nordbadener Bulldog. Denn die Firma Lanz in Mannheim hatte ihre Traktoren schon vor dem Krieg und bis 1960 „Bulldog“ genannt.

Page 57: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

56

(weiterer Text gesperrt, da die Personen noch leben)

Mit dem Schlepper ist dann alles viel schneller gegangen, das Mähen, das Wenden und das Anhäufen des Öhmds in langen Reihen. Nur das Schöchli-Machen sowie das Auf- und Abladen waren noch Handarbeit. Heute geschieht auch das alles motorisiert und ohne jede Heugabel. Doch damals war die Welt der Bauern im Großen und Ganzen noch in Ordnung. Die Motorisierung, die das Ende des alten Hofes, aber hoffentlich nicht des bäuerlichen Familienbetriebs einläutete, war zunächst ein Segen. Kehren wir aber noch einmal in die Nachkriegs- oder Wirtschaftswunderzeit zurück, die ich als eine gute Zeit in Erinnerung habe. Auf dem Hof herrschte ein Wohlstand, der maßvoll genossen und nicht zur Schau getragen wurde. Neben den – aus meiner Sicht – angenehmen und großzügigen Wohnverhältnissen auf dem Hof sind mir noch zwei andere Dinge aufgefallen. Mir hat das Essen dort so gut geschmeckt. In der Regel versorgte sich unsere Familie selbst; doch konnte meine Mutter ohne die geringsten Umstände den großen Herd in der Küche mitbenutzen. Der Kakao zum Frühstück und zum Nachtessen wurde dort warm gemacht. Die Tante Lisel saß dann oft bei uns in der Stube. Und sie lachte und fragte vorsichtig, warum wir denn zu allem, auch zu Fleisch und Wurst, süßen Kakao trinken würden. Aber das war damals so bei uns. Milch war das Hauptgetränk der Deutschen zu dieser Zeit. Milch, das wusste jeder noch vom Krieg, war wertvoll, gesund und wohlschmeckend. Und meine Mutter, vor allem aber auch mein Vater besserten dieses Getränk dann mit Kakao, einer „wertvollen Kolonialware“, auf. Abends hat es allerdings oft auch Pfefferminztee gegeben. Auch in der Schule wurde viel Schulmilch getrunken, die in Flaschen und Kästen täglich angeliefert wurde. Und bei uns in Handschuhsheim war in der Parallelstraße, der Rottmannstraße, an jedem Eck ein Milchgeschäft. Es waren zwei Brüder, von denen jeder eines führte. Sie hießen Holzhüter. Später ist der eine Holzhüter in die Fahrtgasse umgezogen, direkt neben meiner Schule, dem Kurfürst Friedrich Gymnasium. Und die Schüler, die nicht an der regelmäßigen Schulmilchspeisung teilnahmen, haben dann beim Holzhüter ihre Milchgetränke gekauft; die waren mit Frucht- oder Schokoladengeschmack aufgebessert. Noch etwas später, als es bereits das Fernsehen gegeben hat, wurden darin einmal Bauarbeiter gezeigt. Sie waren in einen Milchstreik getreten. Denn die Preise für die Milch waren etwas erhöht worden, und deshalb tranken sie jetzt vor den laufenden Fernsehkameras Bier statt Milch. Darüber hat sich der Fellmann, auch ein guter Schulfreund meines Vaters, furchtbar aufgeregt. Er war in Lobenfeld bei Heidelberg Pächter eines großen kirchlichen Gutes. Bier sei immer noch das teuerste Getränk; und wegen ein paar Pfennigen nun Bier statt Milch zu trinken, das sei Volksverdummung. Der Milchmarkt war damals staatlich geregelt. Jede Milchzentrale hatte ein so großes Einzugsgebiet, dass die dazugehörige Bevölkerung versorgt werden konnte. Bei uns

Page 58: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

57

war es ganz Nordbaden. Milch durfte nicht durch ganz Deutschland oder gar wie heute durch Europa gekarrt werden. Die staatlichen Milchzentralen erledigten alle Molkereiaufgaben. Später wurden daraus Milchgenossenschaften. Sie gehörten sozusagen den Milchbauern. Noch später sollte alles „unternehmerisch“ geführt werden. So wurde daraus die „Südmilch AG“ mit einem windigen „Manager“. Er führte das Unternehmen fast in den Konkurs. Die Südmilch wurde niederländisch, der Manager setzte sich nach Südamerika ab. – In Südtirol, wo die viele Molkereien noch bäuerliche Genossenschaften sind, lag im Jahr 2009 der Milchpreis, den die Bauern bekamen, bei etwas über 48 Cent. In Deutschland erhielten die Bauern zu dieser Zeit weniger als 25 Cent.15 Mehrere Größen beeinflussen den Preis. Nicht nur die frische Milch, auch die eigene Butter, die eigenen Eier, der eigene Speck und das eigene Fleisch schmeckten auf dem Hof einfach besonders gut. Einmal während der Ferien hat die Tante Lisel dann auch ein Sonntagsessen für alle gemacht. Da gab es dann Schwarzwälder Schupfnudeln. Das waren keine Schupf-nudeln wie im Unterland aus Kartoffelteig, die dort auch Buwespitzle genannt werden. Es waren vielmehr selbst gemachte Nudeln, die wie Spagetti aussahen, nur dünner, feiner und wohlschmeckender. Sie wurden irgendwie noch in heißem Fett gedünstet. Bessere Nudeln habe ich meinem Leben davor und danach nicht mehr gegessen. Dazu gab es dann oft einen guten Wildbraten aus der eigenen Jagd mit Preiselbeeren und feiner Soße „aus dem eigenen Saft“. Das Rezept von den Schupfnudeln hat die Tante Lisel meiner Mutter gegeben. Auch die handbetriebene Nudelmaschine zum Plätten und Schneiden des Teigs haben wir uns gekauft. Die Schwarzwälder Schupfnudeln wurden dann auch in Heidelberg ab und zu gemacht. Doch meiner Mutter war es irgendwann zu anstrengend. Denn das heiße Fett hat, wie sie sagte, ihre ganze Küche wie mit einem Film überzogen. Ein Tag Schupf-nudeln bedeutete zwei Tage Küche putzen. In der großen Küche auf dem Hof waren dagegen die Verhältnisse besser; die Raumgröße und die etwas rauchgeschwärzten Wände sorgten dafür, dass die Schupfnudeln keine zu großen Umstände machten. Alles war eben uriger und strapazierfähiger. Zu all dem ist dann noch etwas ganz besonderes gekommen. Solange die Tante Lisel Schweine hatte, ist bei uns in Heidelberg immer kurz vor Weihnachten ein schönes, großes Packet angekommen. Darin war vor allem ein Schwarzwälder Schäufele. Das ist das geräucherte Schulterblatt eines Schweins. Das war über Jahre unser Festessen am Heiligen Abend. Es wurde warm gegessen und war für uns alle das beste Fleisch, das es im ganzen Jahr gab. Dabei waren oft auch noch einige geräucherte Bauernbratwürste. Und seit dieser Zeit suche ich solche Würste in ganz Deutschland vergebens. Später wurde mir gesagt, in Neustadt im Schwarzwald gäbe es eine Metzgerei, die sie nach altem Rezept noch herstelle. Ich habe sie gekauft und war enttäuscht. Sie waren versalzen, nicht lang genug geräuchert und zu fett. Insgesamt bin ich der Auffassung, dass die Alten, wenn sie nicht gerade arm waren, besser gegessen haben als wir heutzutage. Allerdings war das Essen auch sehr nahrhaft. Dafür haben sie auch körperlich tüchtig gearbeitet. Außerdem wurde zwischen Werktags- und Festtagsessen unterschieden. Als die Tante Lisel keine Schweine mehr hatte und daher kein Schäufele mehr gekommen ist, gab es bei uns am Heiligen Abend stets eine geräucherte Rinderzunge.

15

Dolomiten, Tagblatt der Südtiroler, vom 30.04. – 03.05.2009

Page 59: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

58

(weiterer Text gesperrt, da die Personen noch leben) Wenn wir so noch einmal entspannt und friedvoll auf den Hof zu Tante Lisels Zeiten blicken, dann war er wirtschaftlich und sozial gesund. Doch die neuen schwierigen Zeiten zeichneten sich am Horizont bereits ab – wie ein fernes Wetterleuchten. Denn einige wirtschaftliche Grunderfahrungen wurden ab 1950 auch für die Bauern auf den Kopf gestellt. Jahrhunderte hatte gegolten, dass verbesserte Anbau- oder Zuchtergebnisse dazu führen, dass in der Landwirtschaft mehr Menschen mit weniger Ackerland leben können. Noch in der Volksschule hörte ich, dass in unse-rem Heidelberger Ortsteil Handschuhsheim so viele Kleinbauern mit so wenig Hektar Feld deshalb auskommen, weil hier drei und mehr Ernten möglich sind. Gemüse-anbau, Kunstdünger und der Übergang zum Gartenbau seien die Gründe dafür. Auch geschichtswissenschaftliche Betrachtungen bestätigen dies. In Südchina wurden im 11. Jahrhundert aus Vietnam Reissorten eingeführt, die in nur 100 Tagen reiften. Damit waren nun in einem Jahr zwei Ernten möglich. Hundert Jahre später war durch Züchtung die Reifezeit von Reis sogar auf 60 Tage verkürzt worden; und es gab drei Ernten. Die Zahl der Reisbauern konnte sich in dieser Zeit verdreifachen. Denn das Aufziehen der Reispflanzen im Reisbeet, das Einsetzen in die Nassfelder, die Feldarbeit mit Düngen und Ernten, die Pflege der Bewässerungsanlagen und der Terrassenfelder beanspruchte auch dreimal so viel Zeit und arbeitende Hände im Vergleich zu nur einer Ernte. Im Jangtse-Delta kamen daher um 1620 auf 100 Hektar Nassfeld 689 Personen.16 Das gab es sonst nirgends auf der Welt. In Viertäler lebten 1825 nur 745 Personen auf einer Gemarkung von etwas über 3.000 Hektar. Die Möglichkeit, dass bei arbeitsintensiverer Landwirtschaft auf gleicher Fläche mehr Bauernfamilien leben können, hängt aber davon ab, dass die Lebensmittelpreise nicht fallen. Dafür gab es zwei volkswirtschaftliche Begründungen, die auch bei Adam Smith zu finden sind. 1. Die Menschen vermehren sich genau so stark, wie es die landwirtschaftlichen Bodenerträge zulassen. Es herrscht tendenziell ein natür-liches Gleichgewicht zwischen Bevölkerungswachstum und landwirtschaftlicher Erzeugung. Diese Theorie gilt heute nicht mehr. Denn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sie weltweit ausgehebelt. 2. Eine Ware kostet so viel, wie die Arbeit wert ist, die in ihr steckt. Diese Arbeitswerttheorie wurde auch von Marx, den Marxisten und den Sozialisten übernommen. Wörtlich heißt es bei dem großen volkswirtschaftlichen Klassiker Adam Smith: „Arbeit ist demnach ganz offensichtlich das einzige allgemein gültige und auch das einzige exakte Wertmaß oder das alleinige Maß, nachdem man die Werte der verschiedenen Waren immer und überall miteinander vergleichen kann.“17 Warum bekommen nun heute die Bauern z.B. für ihre Milch nicht mehr den Arbeits-wert? Und warum führen die höheren Erträge je Hektar oder je Kuh nicht dazu, dass

16

Demel, Walter, WBG Weltgeschichte, Band IV, Entdeckungen und neue Ordnungen 1200 – 1800, Darmstadt 2010, S. 24 17

Smith, Adam, Der Wohlstand der Nationen, Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, London 1789, aus dem Englischen und mit einer Würdigung von Horst Claus Recktenwald, München 1974, S. 33

Page 60: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

59

nicht mehr Bauern davon leben können, sondern immer weniger? Wer oder was ist daran schuld? Die Arbeitswerttheorie, die die Gewerkschaft teilweise bis heute wollen und für einzig gerecht halten, ist falsch. Die Volkswirte haben dafür inzwischen einleuchtende Beispiele. Die besten Kühlschränke lassen sich an Eskimos schlecht verkaufen. Die aufwendigsten Pelzmäntel sind in Afrika wertlos. Der Arbeitswert allein kann den Preis nicht erklären. Denn der Arbeitswert berücksichtigt nur die Sicht des Erzeugers. Dazu muss noch der Nutzen für den Abnehmer oder Verbraucher kommen. Das bedeutet, dass weit mehr Interessen und Gleichgewichte den Preis bestimmen als nur der Arbeitswert. Im Ansatz hat das auch Adam Smith erahnt: „Es ist indes nicht leicht, irgendein geeignetes Maß für die Schwere18 oder die geistige Anstrengung zu finden. Tatsächlich werden beide in gewisser Weise berücksichtigt, wenn man verschiedene Produkte verschiedenartiger Arbeit gegeneinander tauscht. Das geschieht aber nicht nach einem exakten Maß, sondern in einem Aushandeln und Feilschen auf dem Markt, ein zwar grober Interessenausgleich, aber, obwohl nicht exakt, immerhin ausreichend, um die Geschäfte im täglichen Leben abwickeln zu können.“19 Der Preis auf dem freien Markt gleicht auch nach heutiger ökonomischer Theorie die Bedürfnisse oder den Nutzen zwischen Erzeuger, Händler und Verbraucher aus. Es kommt theoretisch zu einem Gleichgewicht zwischen sinnvollem Arbeitseinsatz und nützlichem Bedarf. Der Preis sorgt dafür, dass die Arbeit in die richtige Verwendung fließt, dass Warenüberschüsse und unnötige Dienstleistungen vom Markt verschwin-den. Zu viel Milch führt danach zu sinkenden Milchpreisen, zu weniger Milcher-zeugung und damit letztlich zu weniger Milchbauern. (Verhaltensänderungen der Verbraucher und manch anderes wirken außerdem auf die Preisbildung. Viele trinken heute lieber Bier als Milch. Bei meinem Vater war das noch umgekehrt.) Hinzu kommt ein weiteres. Die Ablösung der Hand- und Tierarbeit durch die Technik führte dazu, dass tatsächlich weniger Arbeit für die Bewirtschaftung gleicher Flächen nötig ist. Wer mit den Ochsen pflügt, schuftet härter und länger als der Bauer auf dem Schlepper. Auch der Vergleich des Melkens mit der Hand und mit der Melk-maschine zeigt das. Das Maschinenmelken ist weit weniger arbeitsaufwendig als das Handmelken. Das habe ich noch miterlebt. Das gilt auch, wenn wir den Arbeitswert hinzurechnen, der in der Herstellung der Melkmaschine steckt. Selbst nach der Arbeitswerttheorie muss der Milchpreis deswegen sinken. Nun hat die Agrarpolitik der EU nur Teile einer wirklichkeitsnahen Theorie im Kopf, wenn sie allein auf Mengenreduzierung setzt, wenn sie Milch oder Tomaten ins Meer schüttet, um für die Bauern Preisstabilität zu schaffen. Denn weithin bestimmen weder der Arbeitswert noch die Nachfrage den Preis, sondern die Marktmacht. Starke Handelketten nehmen sich vom Endpreis der Milch mehr, als sie auf einem vollkommenen Markt nach aller Theorie bekommen würden und ihnen nach der „reinen Lehre“ zusteht. Die volkswirtschaftliche Wirklichkeit zeigt nämlich, dass in einer Wertschöpfungskette, die großen und starken Glieder (z.B. Aldi, Rewe, Großmolkereien usw.) ganz leicht die kleinen und schwachen Glieder (Bauern, mittelständische Firmen der Nahrungsmittelveredlung) auspressen und sich auf deren Kosten bereichern können.

18

Smith meint hier die für die Arbeit erforderliche Qualifikation, die Schwierigkeit der Arbeit. 19

Smith, Adam, a.a.O., S. 29

Page 61: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

60

Auf diese Erscheinung treffen wir in allen Wirtschaftsbreichen (z.B. mittelständische Autozulieferfirmen usw.). Der von der Preistheorie erwatete „natürliche und gewaltfreie“ Interessenausgleich findet nicht statt. Es gilt das kapitalistische Faust-recht, das vor Zeiten auch zur Gründung der Gewerkschaften geführt hat. Ein ähnlich unmittelbar wirksames Instrument wie die Gewerkschaften gibt es für den Mittelstand in unserem Wirtschaftssystem nicht. Und die Politik bietet nur leere Versprechen. Als zukunftsfähig eingeschätzt werden nach all dem nicht mehr die alten, familien-geführten Höfe, sondern große Agrarfabriken nach holländischem oder ostdeut-schem Vorbild. Dass sie und andere Großunternehmen die meisten Agrarsub-ventionen einstreichen, ist ein weiteres Lehrstück für Politikversagen. Später wollen wir noch einen gewagten Blick in die Zukunft werfen und etwas über mögliche Überlebensstrategien für Schwarzwaldhöfe nachdenken. Doch zuvor will ich die Zeit vor der Tante Lisel mit euch Kindern, Enkeln und Verwandten betrachten. Der Hof ist nicht plötzlich aus der Erde entsprungen. Er hat eine Geschichte mit vielen „besonderen“ Vorfahren von uns. Dem Johann und der Apollonia sind wir ja immer wieder begegnet. Der Hans hat noch in Neustadt ihre Grabsteine fotografiert. Besser wäre es gewesen, irgendjemand hätte diese beiden Schwarzwälder Alteltern abgelichtet oder malen lassen.

Page 62: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

61

Gute Zeiten – schlechte Zeiten auf dem Hof

Die Zeit von Johann und Apollonia Bei einem meiner letzten Besuche auf dem Hof, als die Lisel schon über 90 Jahre alt war, habe ich mit ihr auch über unsere Vorfahren gesprochen. Heute ärgere ich mich, dass ich es so selten getan habe. Da sagte sie so schön: „Min Großvadder kummt us emme kline Hüsli, ’em Bierhüsli.“20 Der Großvater von Tante Lisel ist mein Ururgroßvater, der Johann Schwörer (1805 – 1873). (Zu den Ururgroßeltern sagt man auch Altelter.) Mein Altvater Johann war mit der Apollonia Kistler (1823 – 1906) verheiratet. Die Apollonia hat noch meinen Vater gekannt. Er ist 1902 geboren und sie 1906 gestorben. Er lebte damals mit seinen Eltern in Neustadt, sie in Titisee; nur einen Katzensprung von Neustadt weg. Und die Apollonia war wie alle Schwörer bis zum Tod klar in Kopf. Also den Schorschel, ihren Urenkel hat die Apollonia noch gekannt. Und ich hab den Schorschel, meinen Vater gekannt, zum Glück ist er nicht im Krieg umgekommen. Der Schorschel hat also in seinem Leben der Apollonia und mir die Hand gedrückt. Das umschließt eine schöne Zeitspanne. Die Tante Lisel hat mir dann auch noch die Neck- oder Uznamen aller Kinder von Johann und Apollonia genannt. Auf einem Fetzen Papier habe ich sie mir aufgeschrieben und danach in meinen Computer eingespeist. Oben S. 36 auf der Übersicht über die Kinder von Johann und Apollonia sind sie eingefügt. Meine Urgroßmutter nannten sie „die Ald’“. Der Johann war der Sohn des Taglöhners Anton Schwörer (1780 – 1847) und dessen Ehefrau Zäzilie21 geb. Schwörer (1787 – 1857). Sie war Hebamme. Beide konnten sich wohl mehr schlecht als recht durchschlagen. Doch Anton konnte vom Bruder seiner Frau, dem Bauern vom Feuerberghof, am 26.07.1826 das „eigentühmliche Nebenhäusle“ kaufen.22 Geheiratet haben Anton und Zäzilie am 20.11.1820 in Neustadt, als ihr Sohn Johann bereits 15 Jahre alt war. So etwas lässt zur damaligen Zeit immer auf ärmliche Familienverhältnisse schließen. Das Geld hat noch nicht gereicht, um einen eigenen Hausstand zu gründen. (Sich wie heute einfach eine Wohnung zu mieten und für alles das Sozialamt zahlen zu lassen, das war damals noch nicht möglich.) In der Höfechronik wird das „kline Hüsle“ das „Birrehäusle“ genannt. Das heutige Birrehäusle ist so um- und ausgebaut, dass wir uns von dem ursprünglichen Zustand kein Bild mehr machen können. Die Apollonia ist auf dem Hänslehof (31 ha) im Spriegelsbach aufgewachsen. Ihr Vater Johann Kistler (1787 – 1826) ist gestorben, als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter Barbara Imberi (1789 – 1869) heirate 23 Monate später den Gregor Pfaff. Apollonia hatte sechs Vollgeschwister, von denen drei Brüder nach England aus-wanderten. Sie bekam danach noch drei Halbgeschwister; davon wanderten eine Schwester nach Amerika und ein Bruder nach Australien aus. Wir werden allen später wieder begegnen.

20

Die inneralemannische Sprach- und Lautverschiebungsgrenze vom „k“ zum „ch“, von „klin“ zu „chlin“ (klein) verläuft wenige Kilometer südlich zwischen dem Titisee und dem Schluchsee. (vgl. auch: Karte XII, 7 „Raumgliederung der Mundarten um 1950“ in „Historischer Atlas von Baden-Württemberg“ 21

Den Namen finden wir in den unterschiedlichsten Schreibweisen (Cäcilia, Cecilie usw.). 22

Heitzmann, Helmut, Höfechronik Titisee – Viertäler, S.148.

Page 63: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

62

Der Johann war tüchtig, er lernte das Uhrmacherhandwerk. Wie viele Schwarzwälder ist er mit diesen Kenntnissen nach England, nach London gegangen. Die Traudel vom Hof erzählte mir, dass er dort zunächst den reichen Leuten die Uhren aufgezogen hat. Technisch waren diese adligen Gentlemen wohl nicht so begabt. Außerdem hat er ihre Uhren gewartet und repariert. Und schließlich hat er wie viele andere Englandgänger aus dem Schwarzwald ihnen noch Schmuck und Juwelen verkauft. Max Weber schreibt dazu in der Chronik von Lenzkirch: „Viele dieser Uhrmacher blieben auch in der Fremde … Viele kehrten am Ende ihres Lebens, oft wohlhabend geworden, wieder in den Schwarzwald zurück. Diese Gruppe war in England am zahlreichsten, wo meist zum Uhrenhandel bzw. Uhrenwerkstatt ein Juweliergeschäft kam. In Whitechapel (= Ortsteil von London nahe dem Tower) gab es eine ganze Gruppe Schwarzwälder. Die Rückkehrer (noch im 20. Jahrh.) sind bekannt als ‚Schwarzwälder-Engländer’.“23 Auch unser Johann muss in London schnell zu Wohlstand gekommen sein. Denn er konnte am 28.11.1844 seine Frau Apollonia geb. Kistler heiraten und ab dem 28.01.1845 war er dann Bauer auf dem Winterhalderhof.24 Meine Urgroßmuter Maria ist dann knapp neun Monate später am 04.09.1845 auf dem Winterhalderhof geboren. Diesen hat er nachweislich für 20.000 Gulden ersteigern können. In der Höfechronik ist noch ein 1841 vorehelicher Konrad aufgeführt. Von diesem hatte ich noch nie etwas gehört. Ich bin immer davon ausgegangen und habe nie etwas anders erfahren, als dass meine Urgroßmutter Marie die Älteste von 13 Kindern war. Die Traudel vom Hof meinte dann: „Ja, ja, vom Konrad habe ich gehört, ich weiß aber nicht, was aus ihm geworden ist. Wahrscheinlich hat der Johann ihn mit nach England genommen.“ Ob er ein Kind der Apollonia gewesen ist, ergibt sich aus der Höfechronik nicht sicher. Wie dem auch sei, der Winterhalterhof gehörte ab 1845 dem Johann und seiner Apollonia. Der Johann blieb ein Englandgänger. Sein Leben lang war er Fernpendler. Doch jedes Jahr ist er auch auf dem Hof zurückgekehrt Und so hat es insgesamt 13 oder 14 Kinder gegeben, je nachdem, ob man den Konrad mitzählt oder nicht. Meine Urgroßmutter Marie Heizmann geb. Schwörer war also das älteste eheliche Kind von Johann und Apollonia. Für mich ist wie gesagt der Weg zur Urgroßmutter nicht sehr weit. Wenn ich mich nämlich umschaue, dann sehe ich heute viele Kinder, die einen Urgroßelternteil noch kennen, ihn oft über viele Jahre erleben. Das gilt nicht nur für unsere zwei Enkelkinder die noch eine „Uroma“ haben. In unserem Wohnort Schönbrunn im kleinen Odenwald, wo auch unsere vier Kinder aufgewachsen sind, lebt als Nachbarin schräg gegenüber die Erika Rudolf. Sie ist Mitte 80 und hat sieben Urenkel. Diese sind zum Teil schon älter und erleben ihre Urgroßmutter als liebe und ganz nah verwandte, greifbare Ahnfrau. Auch meine Tante Martha in Uissigheim, die über 90 Jahre alt geworden ist, hat noch sieben Urenkel erlebt. Mir war es leider nicht vergönnt einen Urgroßelternteil zu erleben. Denn sie sind alle so rund 100 Jahre vor mir auf die Welt gekommen zwischen 1839 (Vinzenz Heizmann) und 1848 (Hermine Pfreundschuh geb. Prinz). Doch durch die Erzählungen und die Ahnenforschung stehen sie auch mir nahe.

23

Weber, Max, Bevölkerungsgeschichte im Hochschwarzwald, Quellen und Forschungen aus dem Raum Lenzkirch, Freiburg 1953, S.14; Sättele, Karl, in „Mein Heimatland“ 1930, Jahrgang 17, S.98. 24

Heitzmann, Helmut, Höfechronik Titisee Viertäler, a.a.O., S. 148

Page 64: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

63

Wir können davon ausgehen, dass in der Zeit von Apollonia und Johann auf dem Hof ein solider Wohlstand herrschte. Die Einkünfte aus dem Uhren- und Juwelenhandel sowie die Bauernwirtschaft auf dem Hof dürften auch die 14 Kinder auskömmlich ernährt haben. Allerdings erzählte mir meine Mutter, dass die Buben schon mit 16 Jahren nach England mussten. Bemerkenswert ist, dass die Familienberichte oft über meine Mutter zu mir gelangt sind. Mein Vater hatte sie ihr erzählt und sie fand, dass ich sie auch wissen sollte. Von einem Schwörer Bub erzählte sie eine spannende Geschichte. Ohne Begleitung musste der junge Bursch den Weg nach London antreten. Als er dort im Hafen angekommen war, hatte er nur einen Zettel mit der Anschrift, wohin er musste. Er hat dann zwei junge Männer gefragt. Diese sagten, sie wüssten Bescheid und wollten ihm den Weg zeigen. Er ist mit ihnen gegangen. Doch es wurde dunkel und die Gegend immer unheimlicher. Als die Drei an einem Friedhof vorbeigekommen sind, ist der Schwörer Bub, es muss der Karl gewesen sein, über die Mauer gesprungen und hat sich hinter einem Grabstein versteckt. Die zwei seien nachgekommen und hätten alles abgesucht, aber den Karl entdeckten sie nicht. Er hat dann dort übernachtet und erst am nächsten Tag nach langem Suchen und Durchfragen das Haus seines Bruders gefunden. Denn wenn es der Karl war, dann war sein Vater schon tot. Der ist nämlich gestorben, als der Karl acht Jahre alt war. Karl war der Jüngste und der Vater von Elsa. Sie alle werden wir noch etwas kennen lernen. Von den Söhnen sind dann der Josef und der Karl endgültig in England geblieben. Der Johann (geb. 1861) soll zeitweise dort gewesen sein. Denn sie nannten ihn auch John. Er muss später zurückgekehrt sein, da er in einem Urteil vom 02.12.1909, auf das wir noch zu sprechen kommen, als „Landwirt in Viertäler“ aufgeführt ist. Und die Traudel hat mir erzählt, dass der Johann bei einem Unfall auf der Straße nach Hinterzarten beim Grofewäldele (Grafenwäldle) umgekommen ist Von den Töchtern ist die Theresia, genannt „die Rot’ in England“, mit ihrem Ehemann Spiegelhalder ebenfalls in London geblieben. Die Töchter Zäzilie, Apollonia und Amalia waren zeitweise in England. Sie sollen dort in vornehmen Häusern Erzieherinnen (Gouvernanten) oder Kammerdienerinnen (Zofen) gewesen sein. Die Katharina, genannt „der Ketter“, soll nach Aussagen von Traudel, die ihre Tante noch erlebt hat, sogar in den USA gewesen sein. Von den Engländern hatte die Tante Lisel noch schönen Schmuck, den wir bewunderten, wenn sie ihn an Festtagen getragen hat. Einiges davon, so erzählte sie, haben aber beim Einmarsch 1945 Marokkaner von der französischen Armee geraubt. Auffällig ist, dass von den zehn Töchtern, fünf ledig geblieben sind. Ich habe das immer mit ihrem Englandaufenthalt in Zusammenhang gebracht. Nach ihrer Rückkehr war ihnen wohl kaum einer noch gut genug. So versammelten sie sich in etwas fortgeschrittenem Alter wieder auf dem Hof und errichteten dort ein „Wiwer-Regiment“. Möglich ist auch, dass sie sich einfach mit keinem Mannsbild darüber rumzanken wollten, wer es zu bestimmen hat. Der Pfälzer Mundartdichter Gottfried Nadler hat dazu, genau in dieser Biedermeierzeit ein schönes Gedicht verfasst. Es heißt „Pandoffel odder Korb“. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten konnten wohl schon damals heiratslustige junge Männer bei besonders schönen und stolzen Jungfrauen wählen. Die folgenden Bilder zeigen einige dieser attraktiven Schwörer-innen. Sie konnten sich schon gut vor dem Fotografen in Pose bringen

Page 65: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

64

Friederike (s’ rot Maidle) – Mutter von Lisel Zäzilie (d’ Schili)

Katharina (der Ketter) war zeitweise in England und USA

Page 66: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

65

Die Englandgänger Der Erste unserer Schwarzwälder Vorfahren, der den Schritt in die Ferne wagte, war wie gesagt mein Altvater Johann Schwörer (1805 – 1873). Die Vorrausetzungen dafür waren, dass es schon „Schwarzwälder Uhren“ gab und dass Johann das Uhrmacherhandwerk gelernt hatte. Die Nachbargemeinde nördlich von Viertäler ist Waldau. Dort wurde nach der Ortsgeschichte im Jahre 1664 auf dem Glashof in Waldau–Glashöfen von den Gebrüdern Kreutz die erste Schwarzwälder Uhr zusammengebaut. Langsam, aber stetig hat sich das Uhrmacherhandwerk im Südschwarzwald entwickelt und ausge-breitet. Doch die Schwarzwälder brauchten nicht so viele Uhren, wie sie herstellen konnten. Und so wurden alsbald die Uhren von Uhrenträger auf Krätzen (Rücken-körben) an den Rhein, nach Schwaben und in die Schweiz getragen. Die Träger schlossen sich zusammen und bildeten Handelsgesellschaften. Nachgeborene Bauernsöhne gingen dieses Wagnis ein. Sie konnten sich dabei an eine andere, schon in der frühen Neuzeit entwickelte Gewerbetätigkeit anschließen. Es waren die Glashütten und die Glasträger. Die älteste Erwähnung einer Glashütte bei Lenzkirch stammt aus dem Jahr 1316. Lenzkirch ist südlich von Neustadt und Titisee der nächste größere Ort. Er war wie Viertäler, Neustadt und Löffingen fürstenbergisches Gebiet. Die Fürstenberger Regierung hatte auch 1634 in „Rotwasserdörfle“ eine Glashütte errichtet und dieser Ort nahm später dann den Namen „Altglashütten“ an, aus dem Lisels Mann der Onkel Viktor stammte. Nach einer Chronik von Lenzkirch haben die Glasträger die ersten Uhren als Beipackung mitgenommen. Bald verselbstständigten sich die Uhrenträger und gründeten eigene Handelsgesellschaften.25 Johann Schwörer hat sich, nach allem was wir wissen, nicht mehr einer solchen genossenschaftlichen, ständischen Handelsorganisation angeschlossen. Er ist auf eigene Faust nach London gegangen. Dabei hat er sicherlich die bestehenden persönlichen und geschäftlichen Beziehungen seiner Schwarzwälder Landsleute genutzt. Wer sich in die Höfechronik von Viertäler oder Breitnau vertieft, der staunt, wie viele nachgeborene Bauernsöhne Uhrmacher wurden und vor allem nach England gingen. London war zu dieser Zeit die größte Stadt der Erde (1851 2,7 Mio. Einwohner), der Mittelpunkt des Welthandels; England war der Ursprung und das Treibhaus von Technik und Industrie. Hier waren einige Jahrzehnte zuvor die Dampfmaschine (1769) und die Dampflokomotive (1804) erfunden worden. Von meinem Großvater mütterlicherseits, dem Jakob Geßner, einem armen, aber sehr belesen und wissensdurstigen Dorfschullehrer, habe ich ein wertvolles, dickes Buch aus dieser Zeit geerbt. Es nennt sich „Meyer’s Universum“ und enthält viele Stahlstiche von Sydney, Lima, Kanton bis Bombay mit den dazugehörigen Beschreibungen. Auch deutsche und europäische Städte und Merkwürdigkeiten sind dabei, aus London wird mehrmals berichtet.

25

Weber, Max, Bevölkerungsgeschichte im Hochschwarzwald, a.a.O., S.12 ff. .

Page 67: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

66

Blättern wir in diesem Zeitdokument. Johann war damals in London und kannte auch die neue „Londonbrücke“, über die man zu Josef (Joe, Salzsack) gelangte, der in 17 Patriot Square, Bethnalgreen wohnte. Der Reporter ist wie trunken von dem, was er auf der Londonbrücke sieht: „Völlig betäubt wird das Ohr durch das Getöse, Gerassel, Getobe der unzähligen Fuhrwerke, die in zwei gedoppelten Reihen in der Mitte der Brücke mit Sturmeseile hin und her fahren, … Links ragen Tower, Bank, Börse, Mansionhouse, St. Paul … hervor; rechts die rauchenden Thürme der Fabriken, jene Gruppen von gewaltigen Schlöten, unter denen die Dampfmaschinen, gleich dienenden Cyclopen, ihre Arbeit verrichten; … abwärts aber erscheint London in seiner ganzen Majestät: - 12.000 Schiffe drängen sich an seine Hüften, ein drei Stunden langer Mastenwald, belebt von 150.000 Menschen, redend in allen Zungen des Erdenrunds, breitet sich aus, - man sieht den H a f e n der W e l t s t a d t.“26 Friedrich Schiller (1759 - 1805) sagt es trefflich in seinem zweiten Gedicht „An die Freude“ (Dritte Schaffensperiode):

Wohl von größerm Leben mag es rauschen, Wo vier Welten ihre Schätze tauschen,

An der Themse, auf dem Markt der Welt. Tausend Schiffe landen an und gehen,

Da ist jedes Köstliche zu sehen, Und es herrscht der Erde Gott, das Geld.

26

(1839, S. 29).

Page 68: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

67

Im Bericht über „London und seine Eisenbahnen“ heißt es in Meyer’s Universum: „Die Industrie hat den Weltthron bestiegen. … Wer wäre so blind, dass er in den E i s e n b a h n e n und in der D a m p f s c h i f f f a h r t nicht ausgestreckt sähe den gewaltigen Arm, welcher auf ein unerhörtes, organisches Zusammenwachsen der ganzen Menschheit hinweist. … Wer wäre so kurzsichtig, dass er nicht in der immer wachsenden Vervollkommnung, Vermehrung und Verwohlfeilerung der Bequemlichkeiten und Genüsse eine V e r h e i ß u n g sähe von einer nicht fernen Zeit, wo auch der großen M a s s e der Menschheit, jener, welche man bisher mit der Hoffnung auf eine ü b e r i r d i s c h e Seligkeit abgefunden hat, ihr gebührendes Theil werden wird an den Genüssen, welche die Vergangenheit einer unendlichen M i n o r i t ä t gleichsam als Privilegium spendete?“ Auch die Unmöglichkeit von Kriegen wird für die nahe Zukunft prophezeit. (1841, S. 12) – Wir spüren den Zeitgeist der frühen Kapitalisten und Marxisten, die beide in jenen Tagen das Paradies auf Erden mit einer Überflussgesellschaft, mit nie versiegenden Genüssen und Wohltaten erwarteten und verhießen. – „Wohlstand für alle“, das versprachen und versprechen sie alle. Vielleicht gehört doch etwas mehr dazu als nur ein „offener Markt“ und eine „offene Gesellschaft“, so bequem das ja wäre.

Page 69: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

68

Wir würden heute vermuten, dass es ein Kulturschock für unsere Schwarzwälder gewesen sein muss, statt auf den einsamen, stillen Titisee auf die überbrodelnde Themse zu blicken. Allerdings wurde in dieser Welt ohne Radio, ohne Film und Fernsehen und meist ohne Tageszeitung noch plastisch und drastisch erzählt. Weil so viele Schwarzwälder zwischen Themse und Titisee hin und her pendelten, wurden sicher auf den Schwarzwaldhöfen abends spannende Geschichten verbreitet. Ein dazu passendes Bild hat Franz Defregger gemalt. Ein Urlauber erzählt in der Bauernküche von „draußen“ – packend für Alt und Jung. Außerdem waren unsere Ahnen aus hartem Holz geschnitzt. Nicht nur der Josef wird das gleich beweisen.

Page 70: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

69

In London sind damals Reichtum und Armut hart aufeinander gestoßen. Wie ist es dort nun unseren Vorfahren ergangen? – Sie waren geschickt und hatten Glück, die einen wohl mehr als die anderen. Öfter haben mir meine Eltern von Josef oder Joe, dem „Salzsack“ erzählt. Er ist sehr reich geworden und soll 12 Häuser in London gehabt haben. Er hatte Geld wie arme Leute Salz. Vielleicht meinten seine Geschwister damit auch, dass es mit ihm kein „Zuckerschlecken“ war. Denn er wird als herrisch und wild geschildert. Seine Auffälligkeiten müssen seine Nichte Elsa schon erschreckt haben. Denn sie, die in England als Kind zweier Schwarzwälder aufgewachsen ist, wusste es noch genau und hat es erzählt: „Das Schwörerblut ist im ganzen Schwarzwald bekannt. Da sind immer wieder herrische und jähzornige Menschen dabei.“ Die folgenden drei Bilder sprechen für sich. Sie zeigen den Josef. Er soll „heftiges Schwörerblut“ gehabt haben. Seine Frau Florence war Engländerin. Aber wir wollen nicht ungerecht oder missgünstig sein. Der Mann war Energie geladen, voll Schaffenskraft und erfolgreich. Für seine Erben war er ein Segen. Wir werden es gleich sehen. Und nebenbei bemerkt: Grundstücksgeschäfte dürften in diesem aufblühenden, schnell wachsenden London eine gute Idee gewesen sein, vielleicht noch besser als Uhren- und Juwelenhandel.

Page 71: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

70

Josef oder Joe oder de’ Salzsack vor einem seiner vielen Häuser

Page 72: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

71

Page 73: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

72

Josef , Joe, de’ Salzsack mit seiner Frau Florence, und seine Kindern von links: Fredy, Josef, und Flory

Das Gegenteil von Joe war sein jüngerer Bruder Karl, der für seine Tochter Elsa ein guter und friedfertiger Vater war. Die folgenden Bilder zeigen Karl oder Charlie oder „de’ schwarz’ Bub in England“. Er war mit einer Schwarzwälderin verheiratet. Die Familie hat daheim immer Schwarz-wälderisch gesprochen. Die Tante Elsa hat uns und den Hof einige Male besucht. Ich war auch bei ihr, als ich im Sommer 1965 vier Wochen zum Englischlernen in

Page 74: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

73

Canterbury war. Ich habe sie in London besucht. Sie war inzwischen in ein Haus neben dem ihres Cousins und seiner Frau gezogen. So hat die Schwarzwälder Verwandtschaft doch noch der ledigen Elsa im Alter eine Heimat gegeben. Ich erinnere mich gut an den Abend, den ich damals mit den Drei verbracht habe. Nur Elsa konnte noch deutsch. Wir mussten uns in Englisch unterhalten. – Das nächste Bild ist das Hochzeitsfoto von Elsas Eltern (Karl und seine Frau Emma geb. Birkle). Emma stammte aus der Gegend von Furtwangen; es waren schöne Leut’. Die folgenden Bilder zeigen Karl als jungen Mann, dann bei einem Schwarzwälder Fest und danach in späteren Jahren. Karl war wohl ärmer und ehrbarer als Joe. Eines hat der Karl aber nicht zugelassen. Als die Elsa, sein einziges Kind, einen Italiener heiraten wollte, da hat er „nein“ gesagt. „Italiener?“ Wir können nur rätseln, war Karl über diesen Volksstamm gedacht hat.

Page 75: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

74

1884, ganz links stehend Marie II Heizmann (Schwester von Emilie), Mitte Karl, sitzend in Tracht: links

Cecilie, rechts Amalie Schwörer, Schwestern von Karl, kleines Mädchen rechts ist Emilie

Page 76: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

75

Wilhelm Spiegelhalder ∞ Therese Schwörer Joe Spiegelhalder, deren Sohn

Page 77: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

76

Die Kinder von Wilhelm und Theresia Spiegelhalder geb. Schwörer von links Joe, Freddy, Daisy, Berty

Text auf Rückseite des Bildes: „This was taken at our open-air swimming baths – Fred – his sister Rose & brother Bert, also myself left-hand side of Rielure (?)“ 1933 – Das bedeutet: links ist Daisy

Page 78: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

77

Williams, Tochter von Flory geb. Schwörer, Enkelin von Josef (Salzsack), ihre Vettern Fred und Bert sind Enkel von den Spiegelhalder (vgl. Bilder zuvor), ebenso ist Rose verh. Bakes Enkelin der

Spiegelhalter. Lisel hat mir noch gesagt, dass die Bakes zu den Spiegelhaltern gehören.

In den Akten meines Vaters habe ich noch einen Brief von Elsa aus dem Jahre 1949 gefunden. Erstaunlich dabei ist, dass die Adresse fast die gleiche ist, wie sie für ihren Vater Karl in einer Urkunde aus dem Jahre 1909 angegeben ist. Bei Karl lautet die Anschrift „London, 50 High Street Harlesdon“, Elsa schreibt am 15.05.49 aus „4.Harlesden Garden“ den folgenden Brief.

Lieber Georg, Endlich schreibe ich einige Zeilen dass es soweit bei uns gut geht, und hoffe dass du mich entschuldigst für unser langes Schweigen. Vielleicht wunderst du auch, weil ich schreibe, aber Vater schreibt nicht mehr viel und er gab mir den Auftrag an seiner statt zu schreiben. Beide meine Eltern gehen täglich ins Geschäft. Sie sind noch ganz rüstig, wenn auch ein bisschen mehr langsamer. Vater hat seinen 84. Geburtstag am 28. Januar gefeiert. Aber die Verhältnisse sind jetzt noch mehr schwieriger als wie früher. Es gibt so viel zu tun, und ich komme nicht dazu an allen unser Verwandten regelmäßig zu schreiben. Wir sind seit langem nicht in Verbindung mit Daisy Williams, sodass wir ihre Adresse nicht mehr wissen. Der Krieg hat die Verhältnisse geändert. Wir danken Dir für deine herzliche Einladung, aber leider werde es uns nicht möglich sein unsere Verwandten in Deutschland dieses Jahr zu besuchen. Vielleicht gelingt es nächstes Jahr. Ich selbst habe die Hoffnung, weil ich seit 1921 nicht mehr die Gelegenheit hatte nach Deutschland zu kommen. Sollte jemand von euch der Wunsch oder die Gelegenheit haben nach England zu kommen, wärt ihr als unser Gast recht herzlich willkommen sein. Nun werde ich mein Brief für heute schließen in der Hoffnung auf ein baldiges Wiederhören Mit herzlichen Grüße von uns allen an Dich und deine Geschwistern Verbleibe ich Deine Elsa

Mein Vater hat nur wenige Briefe aufgehoben, wohl nur die, die ihm wichtig erschienen. So hat er am 02.06.1954 an Elsa folgendes geschrieben:

Fräulein Elsa Schwoerer London 4 Harlesden Gdns. Harlensden W 10 Meine liebe gute Elsa! Dein Brief hat mir die Nachricht gebracht, daß nun auch der letzte Ahne 3. Grades, Dein lieber Vater Karl und der Bruder meiner Großmutter Marie, von uns gegangen ist. Wir nehmen an Eurer Trauer teil und gedenken seiner im Gebet. Er war für mich immer das Sinnbild der guten Kraft in unserer Familie. Er hat durch seine stets gleich bleibende Treue gegenüber seiner Heimat und seiner weiteren und engeren Familie bewiesen, daß er vom alten guten Schlag stammt und sich selbst treu geblieben ist. Ich denke hierbei an einen schönen Spruch des großen englischen Dichters Shakespeare in seinem Hamlet: „Dies über alles: Bleibe dir selber treu und du kannst niemals falsch sein gegen andere.“

Page 79: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

78

Wenn ich mich auch noch gut an ihn erinnern kann, auch anhand seiner Bilder in unserem Album, so bedauere ich doch, daß wir ihn infolge der unseligen beiden Kriege hier nicht mehr wieder gesehen haben. Wir haben oft bei Liesel auf dem Winterhalderhof über ihn gesprochen, dort wo ich auch Dich als junges Mädchen mit deinen dunklen Haaren einmal kurz getroffen habe. Noch gut kann ich mich daran erinnern. Deshalb meine ich, Du solltest doch einmal zu uns kommen. Wir können Dir ein schönes Zimmer zur Verfügung stellen, wo Du dich wohl fühlen würdest und auch einmal das Land Deiner Väter im Norden sehen könntest. Du hast also nur die Fahrtauslagen, für alles andere sorgen wir. Es hat mich daher trotz der Trauer um Karl gefreut, wenn Du schreibst, daß wir weiter verbunden bleiben wollen und da Du auch noch ganz gut deutsch schreibst, wird es dir nicht schwer fallen, sich zu verständigen. Nun liebe Elsa, überlege Dir dies und fahre diesen Sommer einmal zu uns herüber. Grüße alle die Deinen und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinem Georg

Die Elsa ist dann auch einige Male gekommen und ich erinnere mich gut an sie und an die langen Gespräche an unserem Tisch in unserer Wohnung in Handschuhsheim zusammen mit meinen Eltern und meinem Bruder. Einmal hat sie auch ihre Cousine Rose Bakes mitgebracht. Diese konnte kein Wort deutsch, aber sie hat am Tisch gesessen freundlich gelacht und das gleiche Gesicht gehabt, wie damals die Tante Lisel in Friedenweiler. Ich sagte die „ausg’schlupft Lisel“. Nur viel kleiner und rundlicher war Rose. Die beiden sind anschließend auf den Hof gefahren. Mein Vater und seine Geschwister hatten, wie sie erzählten, vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Verwandten in London recht guten Kontakt. Das zeigen die Fotos in den alten Alben. Mich hat in der Nachkriegszeit oft gewundert, dass mein Vater mit den Amerikanern so gut englisch sprechen konnte. Es war deutlich mehr als Schul-englisch. Wir haben darüber nie geredet. Aber heute weiß ich, dass er viel von seinen Cousinen gelernt haben muss, die wohl einige Male in Heidelberg waren. Die folgenden flotten Bilder aus den 20er und 30er Jahren hat Daisy Williams aus England geschickt. Elsa hat sie oben in ihrem Brief erwähnt. Daisys Briefe sind leider nicht erhalten. Daisy war eine „Schwörer-Schönheit“! – Mit „Schwörer-Blut“? Wir wissen es nicht! Die meisten Bilder zeigen sie im Badeanzug, für die 30er Jahre nicht alltäglich. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder hat die Daisy vor allem solche „sommerlichen“ Bilder geschickt oder mein Vater hat vor allem solche aufgehoben. Wie dem auch sei, Daisy verdient Beachtung. Lassen wir die Bilder sprechen.

Page 80: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

79

Text der Foto-Rückseite: „One of my dogs with your cousin Daisy“ (= Daisy Williams)

Text Rückseite: „Chiswick open-air swimming bath. Taken several years ago. Dy.“

Page 81: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

80

Text zum Foto rechts: „Bert, Fred and myself Rustington, august 1933“ Bei den Williams bin ich fast sicher, dass sie von Josef, also dem reichen Salzsack, abstammen. Die Williams waren wohl, wie die Fotos zeigen, recht begütert: Große Hüte und Hunde, dicke Autos, Ferien am Strand und schon damals Kreuzfahrten bis nach Spanien usw. Die Frau mit Pelz in der schwarzen Limousine ist wieder Daisy.

Page 82: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

81

Text Rückseite: „Rose, Daisy, Bob, Mother, Rustington, 1933“ – Bei Rose (links) muss es sich um Rose Bakes handeln, die wie erwähnt uns mit Elsa besuchte. Von der Figur und Größe, die ja auf dem Bild gut zu erkennen sind, dürfte das zutreffen,

aber auch vom Gesicht.

Page 83: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

82

Text Rückseite: „by the swimming pool on S.S. Lappland. The boat on wich we went to spain etc.“

Page 84: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

83

Die Verbindungen zu den Schwarzwald-Engländern sind durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden. Sie konnten danach nur mit Elsa wieder hergestellt werden. Mein Vater hat es auch mit den anderen, insbesondere den Williams, versucht; aber er hat keine Antwort bekommen. Es hieß auch, dass die anderen Schwörer ihren Namen in „Sworer“ geändert hätten und nichts mehr von ihrer deutschen Herkunft und den Deutschen wissen wollten.

Die Vorfahren am Titisee

Die Vogtei Viertäler

Lebenserwartung – Heiratsalter – Kinderzahl Wir haben jetzt schon einiges über unseren Schwarzwälder Stamm erfahren. Wir kennen die Tante Lisel und den Winterhalterhof, den Johann und die Apollonia samt Nachkommen, zu denen auch wir gehören. All das ist noch erlebte Geschichte. Er-lebt von den Verwandten auf dem Hof, meinem Vater, seinen Geschwistern und mir. Jetzt beginnt die eigentliche Geschichte, die nur aus Quellen erschließbare Familien-geschichte. Grundlagen sind das Studium von historischen Unterlagen, Berichten und Büchern sowie unsere allgemeinen historischen Kenntnisse. Wir wollen dadurch erfahren, woher wir kommen, wer unsere weiter zurückliegenden Ahnen waren, wovon und wie sie lebten. Heute heißt es oft, wir wollen die Wurzeln unserer Herkunft ergründen. Johann und Apollonia, die Eltern meiner Urgroßmutter Marie Heizmann geb. Schwörer, sind der Ausgangspunkt für die Zeitreise zurück bis um 1550. Es sind also fast fünf Jahrhunderte, in denen nachweislich unsere Vorfahren auf 17 von 61 Schwarzwaldhöfen in der Vogtei Viertäler lebten. Die wichtigste Quelle, um diesen Stammbaum darzustellen, ist die „Höfechronik Titisee – Viertäler“ von Helmut Heitzmann. Über drei Jahre hat Heitzmann geforscht und gearbeitet, um rund 2.500 Hof- und Hausbesitzer, Frauen und Kinder mit Lebens- und Heiratsdaten aufzulisten. Danach hat er eine weitere Höfechronik für die Nachbargemeinde Breitnau mit dem etwa gleichen Arbeits- und Zeitaufwand erstellt. Aus diesen Werken ergibt sich für uns ein Stammbaum mit 105 direkten Vorfahren, wobei nur 10 aus Breitnau kommen. Die übrigen lebten auf Höfen in Viertäler; doch manche Äste gehen auch nach Langenordnach und Neustadt, ins nahe Bärental und nach Waldau, nach Löffingen und Eisenbach. Wer es genau wissen will, kann sich also die Höfechroniken vornehmen und wie ich einen Stammbaum bis in die letzten Verästelungen nachzeichnen. Im Folgenden wird eine Übersicht der Ahnenreihen nach Höfen vorgestellt. Die Zusammenhänge, nicht die letzten Einzelheiten ermöglichen uns den Überblick und das Verständnis. Schauen wir zuerst, wie lang unsere Vorfahren lebten.

Page 85: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

84

Heute wird oft die Lebenserwartung der Menschen als ein Maßstab für den Wohlstand genommen. Bekannt ist, dass die Lebenserwartung beispielsweise in der alten DDR deutlich geringer war als in der Bundesrepublik Deutschland. Manche Politiker haben dies kurz nach der Wende häufig herausgestellt. Auch gegenwärtig zeigt die Statistik, dass in den reicheren süddeutschen Bundesländern die Lebenser-wartung der Menschen etwas höher ist als im Norden und im Osten Deutschlands. Aus unserer Höfechronik können wir nun ganz genau entnehmen, wie alt unsere direkten Vorfahren geworden sind. Denn bei den Hofbauern und ihren Ehefrauen werden soweit feststellbar nicht nur die Geburts-, sondern auch die Todestage genannt. Die Kindersterblichkeit kann allerdings nicht errechnet werden. Bei den nachgeborenen Kindern sind in der Regel nur die Geburtsdaten angegeben. Heute wird oft behauptet, dass die durchschnittliche Lebenserwartung früher bei 30 Jahren gelegen habe. Diese Rechnung ist aber irreführend. Denn alle, die der Säuglings-sterblichkeit oder den Kinderkrankheiten nicht zum Opfer gefallen sind, wurden erheblich älter. Und für unsere Vorfahren zeigt sich nun etwas sehr Erstaunliches. Im 16. Jahrhundert (1501 – 1600) weist die Höfechronik vier direkte Vorfahren von uns mit annähernden Lebensdaten aus. Davon, man staune, sind zwei Männer etwa 90 und einer 95 Jahre, eine Frau ist 70 Jahre alt geworden. Bei den anderen fehlen Geburts- oder Todesjahr. Allerdings lässt sich damit noch keine durchschnittliche Lebenserwartung ermitteln. Anders sieht es schon im 17. Jahrhundert aus, also für die Vorfahren, die zwischen 1601 und 1700 geboren wurden. Hier haben wir die genauen Lebensdaten von 19 männlichen und 11 weiblichen Ahnen. Als erstes fällt nun auf, dass sechs Männer 80 Jahre und älter geworden sind. Bei den Frauen wurden zwei 80 bzw. 82 und eine 96 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Männer liegt bei 69 Jahren, das der Frauen bei 67 Jahren. Und hier wird eine zweite Legende der Historiker widerlegt. Die Frauen starben nicht reihenweise im Kindbett. Bei uns ist keine einzige Ahnfrau im Kindbett gestorben. Und es zeigt sich, dass es bei den Frauen genauso viele Wiederver-heiratungen nach dem Tod des Ehegatten gegeben hat wie bei den Männern. Schauen wir nun aufs 18. Jahrhundert (1701 -1800). Hier haben wir die Daten von 12 männlichen und 12 weiblichen Vorfahren. Drei Männer und zwei Frauen wurden 80 Jahre und älter. Das Durchschnittsalter der Männer beträgt hier 67 Jahre, das der Frauen 66 Jahre. Die Lebenserwartung hat sich im Vergleich zum Jahrhundert davor kaum geändert. Im 19. und 20. Jahrhundert haben wir so wenig Schwarzwälder Vorfahren, dass eine durchschnittliche Lebenserwartung nicht zu errechnen ist. Wir wissen aber, dass unser Johann Schwörer, der Englandgänger, 68 Jahre und seine Frau Apollonia Kistler mit ihren 13 Kindern 83 Jahre alt geworden sind. Im Schnitt brachten unsere Ahnfrauen im Laufe ihres Lebens neun Kinder zur Welt. Dabei hatten zwei Frauen „bloß“ fünf Kinder, eine hatte 15 und vier hatten 14 Kinder. Dies betrifft wohlgemerkt nur unsere Vorfahren in gerader Linie. Wer die Höfechroniken im Ganzen überblickt, der kann erkennen, dass es natürlich auch hin und wieder eine kinderlose Ehe und im Schnitt etwas weniger Kinder gegeben hat. Unsere Vorfahren hatten wohl einen leicht überdurchschnittlichen Kindersegen. Nach der letzten Geburt lebten die Frauen im Durchschnitt noch 23,6 Jahre. Davon haben den geburtenfreien Lebensabschnitt 13 Frauen noch 30 und mehr Jahre genossen; bei vier Frauen waren es nur bis zu drei Jahre.

Page 86: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

85

Geburt und Tod, Kinder und Geschwister, das alles ist auf Dauer nur möglich, wenn es überhaupt zur Heirat und zu tragfähigen Ehen kommt. Heute ist das bei vielen Menschen nicht mehr selbstverständlich. Bei unseren Ahnen war das anders. Heiraten zu dürfen war ein großes Glück, wirkliche Liebe eine göttliche Zugabe. Sie bemühten sich wohl auch mehr darum als heute. Sie hatten keine andere Wahl. Nach dem Tod eines Ehegatten mit Hof dauerte es in der Regel nur wenige, manch-mal nur zwei Monate bis zur nächsten Eheschließung. Ein Hof ohne Bauer oder Bäuerin war eben nur eine halbe Sache. Wie viel Liebe, wie viel Vernunft dahinter steckte? Wir können sie nicht mehr fragen. – Dabei ist es eine erstaunliche Leistung, dass unsere Altmutter Apollonia (1823 – 1906) die meiste Zeit den Winterhalderhof allein geschmissen hat. Der Johann verkaufte in London Uhren und Schmuck. Das Bild auf der folgenden Seite stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es zeigt eine Dorfszene im Schwarzwald mit dem offensichtlichen Annäherungsversuch eines Jungbauern an „e suwers Maidle“ (anmutiges Mädchen). Von allen Seiten wird er beäugt. Der Ätti (Vater, auch Großvater) auf dem Balkon schaut scheinbar gar nicht hin. Doch der Schein trügt. Dazu fällt mir ein typisches und lustiges Erlebnis aus meiner Kindheit ein. Oft ist unsere Familie an sonnigen Sommertagen durch die Täler rund um den Titisee gewandert. Wenn wir dann an einer Gruppe von Bauersleuten vorbeigekommen sind, die alle eifrig mit ihrem Rechen und dem Heu beschäftigt waren, dann wurden wir keines Blickes gewürdigt. Sie haben weitergewerkelt, als ob sie vor lauter Arbeit gar nicht merkten, dass an ihnen fremde Leute vorbeiwanderten. Doch mein Vater kannte ja seine Schwarzwälder. Wenn wir so 10 Schritte vorbei waren, sagte er: „Jetzt bleiben wir stehen und drehten uns um.“ Und was erblickten wir? Jedes Mal hatte die ganze Schwarzwälder Bauernfamilie die Arbeit eingestellt. Auf ihre Rechen oder Heugabeln gestützt betrachteten sie uns von hinten in aller Ausführlichkeit. Manchmal lachten wir und sogar die Schwarzwälder mussten lachen. Wenn wir aber kurz „gewunken“27 haben, dann war das schon wieder zu viel. Das war für sie die Aufforderung, sofort die Arbeit fortzusetzen. – Das stand im krassen Gegensatz zu den Franken oder gar Kurpfälzern. In der Pfalz, so erinnere ich mich gut, haben die Leute gern und dauerhaft nach getaner Arbeit aus dem offenen Fenster auf die Gass’ geschaut. Sie guckten jeden beim Vorbeigehen so genau und eindringlich an, dass der Gruß, oft ein kurzer Wortwechsel nicht zu vermeiden war. In der Pfalz sind die Erdgeschossfenster oft sehr niedrig, fast auf Kopfhöhe mit den Fußgängern auf dem Trottoir (Gehweg). Besonders lustig habe ich es gefunden, dass manche auf der Fensterbank sogar ein dickes Kissen hatten, damit beim langen Hinausschauen die Unterarme nicht weh taten. Im Schwarzwald ist das alles etwas anders. Das gilt schon für die überlegte Annähe-rung am Dorfbrunnen.

27

Hochdeutsch heißt es „gewinkt“, doch das klingt für süddeutsche Ohren einfach fad.

Page 87: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

86

aus: Karl Stieler, Hans Wachenhusen, J. W. Hackländer, Rheinfahrt – Von den Quellen bis zum Meere, Stuttgart 1875

Page 88: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

87

„Hirate is e schweri Sach“. Doch wenn beide Höfe, heute würden wir sagen beide Familien, zugestimmt hatten, dann konnte die Braut geschmückt werden. An dem folgenden Bild gefällt mir auch so gut, dass die Stube genau die gleiche Wand- und Deckenvertäfelung hat, wie ich sie vom Winterhalderhof her kenne.

Wilhelm Hasemann, Brautschmückung, 1896, Privatbesitz aus: Hofstätter, Hans H., Kunst und Künstler in Baden, Stuttgart 1995

Page 89: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

88

Die Hochzeiten wurden wie überall groß gefeiert. Das nächste Bild gibt gut die Stimmung wieder. Die abgebildeten Bollenhüte wurden im Gutachtal getragen. Gut gezeigt ist auch, wie sich die beiden Alten im Vordergrund rechts unterhalten. Wer in der Höfechronik die oft späten Heiraten der Witwen und Witwer verfolgt, der versteht das Bild. Etliche haben noch auf dem Altenteil gehochzeitet, wie wir gleich sehen werden. Hochzeiten waren immer Gelegenheiten für weitere Eheanbahnungen.

aus: Wilhelm Jensen, Der Schwarzwald, Berlin 1892, S.80

Page 90: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

89

Das folgende Bild zeigt ein weit verbreitetes Vorurteil. Ein ganz junger Bursch muss eine richtig alte Hofwitwe freien. Doch das genauere Studium der Höfechronik zeigt, dass solche „verdrehten“ Altersunterschiede völlig unüblich sind. Es gibt nur zwei Fälle bei unseren Vorfahren, bei denen eine solche Vermutung aufkommen könnte. Die Barbara Imberi, deren abwechslungsreiches Leben wir gleich kennen lernen, heiratete in zweiter Ehe, den zwölf Jahre jüngeren Gregor Pfaff. Ihm gehörte der Winterhalderhof, sie war Hoferbin auf dem nicht einmal halb so großen Hänslehof. Der zweite Fall ereignete sich auf dem Unterhöfenhof, wo die Braut acht Jahre älter war, aber auch keine Hoferbin (Georg Schwörer, Hofbauer * 29.03.1686 ∞ Magda-lena Willmann von Breitnau * ~ 1678). Im Durchschnitt heiraten bei unseren direkten Vorfahren die Männer zum ersten Mal mit 29 Jahren, die Frauen mit 25. Lassen wir bei den Männern den einzigen Spätberufenen weg (Johann Winterhalder vom Winterhalderhof * 1631 / ∞ 1688 Verena Schwörer, also mit 57 Jahren), dann liegt der Durchschnitt bei 28 Jahren. Dies ergibt sich bei den Männern aus 27, bei den Frauen aus 17 Eheschließungen. Bei den Frauen fehlt häufiger das Geburtsdatum als bei den Männern. Das folgende Bild zeigt also ein typisch „bürgerliches Schauermärchen“ zu den Heiratssitten bei der bäuerlichen Bevölkerung.

Fritz Reiss, Vernunftehe im Schwarzwald, um 1895, Augustinermuseum Freiburg aus: Hofstätter, Hans H., Kunst und Künstler in Baden, Stuttgart 1995

Page 91: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

90

Fassen wir die statistischen Erkenntnisse aus den Höfechroniken zusammen. Mit 29 Jahren heirateten im Durchschnitt die Männer, mit 25 die Frauen. Mit 69 bzw. 67 Jahren starben im Durchschnitt Männer und mit 67 bzw. 66 Frauen. Sie hatten im Schnitt 9 Kinder. Nach der letzten Geburt lebten die Frauen meist noch 24 Jahre. Sie waren also gesund unsere Schwarzwälder Ahnen. Und das, obwohl sie ganz überwiegend untereinander, sozusagen immer wieder von Hof zu Hof geheiratet haben. Menschen des 20. Jahrhunderts befürchteten in solchen Fällen das Auftreten von „Inzucht“. Das bedeutet, dass es zu geistigen oder körperlichen Mängeln kommt, wenn innerhalb der Verwandtschaft geheiratet wird. In meiner Jugend haben wir gut eine Frau mit einem gehörlosen Sohn gekannt. Die Ursache für diese Behinderung war für meine Mutter eindeutig und klar: Hier hatten Cousin und Cousine geheiratet. Doch weder bei unseren Schwarzwälder noch bei unseren fränkischen Verwandten und Vorfahren können wir solche erblichen Belastungen feststellen. Für die Viertäler gilt dabei zweierlei. Zunächst einmal führen viele Linien auch aus der Vogtei Viertäler hinaus in die umliegenden Gemarkungen bis nach Löffingen. Und schließlich liegt es nicht allzu viele Generationen zurück, dass diese Täler des Hochschwarzwaldes aus ganz unterschiedlichen Gegenden besiedelt wurden, nämlich von Osten aus der Baar und vom Bodensee sowie vom Westen aus dem Breisgau und dem Rheintal. Stammeszugehörigkeit – Landnahme – Rodungsausbau

Die Grenze zwischen Breitnau und Viertäler war auch die Grenze zwischen Vorder-österreich und der Herrschaft Fürstenberg. Und schon eine Großmutter unserer Apollonia Kistler (1823 – 1906) stammt vom Lippenhof in Breitnau. Hinzu kommt ein Weiteres. Das Jostal hat erst seit dem 16. Jahrhundert seinen heutigen Namen nach dem Heiligen Jodocus, auch „Jos“ genannt. Ursprünglich und in alten Urkunden heißt es „Welschordnach“; das nächste Tal nach Osten ist dann Langenordnach. Einige vermuten daher, dass sich in dieser abgelegenen Gegend Reste keltischer und romanischer Bevölkerung nach der alemannischen Landnahme (um 600 n. Chr.) gehalten haben. Ähnliches ist ja in Südtirol festzustellen, wo es heute noch die Dolomitenladiner als romanische Urbevölkerung gibt. Auch in der Schweiz haben die Rätoromanen im entlegenen Graubünden als sprachliche und kulturelle Volksgruppe bis heute überlebt. Andere meinen aber, die Altvorderen hätten sich verhört. Mit „Welschen“ seien nicht Romanen oder Kelten, sondern der „Westen“, also das „westliche Ordnach“ gemeint. Das wäre allerdings ein erheblicher und sehr unüblicher Hörfehler. Denn die Ausdrücke „welsch“ und „die Welschen“ für alle „Nichtdeutschen“ haben sich im allgemeinen Sprachgebrauch bis in unsere Tage erhalten. Dies gilt vor allem für Süddeutschland und den Alpenraum. Heute wird noch von „Welschtirol“ gesprochen; und damit ist das Trentino gemeint. Auch die „Welschschweiz“ kennt hier jeder und weiß, dass es eben die „nicht-deutschsprachige“ Schweiz ist. Sogenannte „Volks-etymologien“ oder sprachliche Umdeutungen entstehen in der Regel nur dann, wenn die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes verloren gegangen ist.

Page 92: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

91

Wie dem auch sei, wer die Gesichter unserer Schwarzwälder Vorfahren und Verwandten oder sich selbst im Spiegel anschaut, den blicken keineswegs nur germanische Alemannen an. Immerhin war Südwestdeutschland fast 200 Jahre römische Provinz und dazu noch Grenzland. Truppen aus dem ganzen Römischen Reich wurden hier zusammengezogen, um die Germanen abzuwehren. Und nicht alle sind bei der Völkerwanderung erschlagen worden oder geflohen. Einige sind hier geblieben und wurden unsere Vorfahren. Meine Mutter meinte sogar manchmal: „Schwörerblut“ ist „welsches Blut“. Meinen Vater, den überzeugten „Oberländer“, störte das überhaupt nicht. Nun sind wir aber weit zurückgegangen. Bis in die Zeit der Völkerwanderung. Doch liegt das alles wirklich in so ferner, früher Vorzeit? Mein Vater hat in mir das Interesse für die Geschichte geweckt. Er konnte Geschichte anschaulich erzählen. Für die zurückliegenden Jahrhunderte hatte er eine einprägsame Messlatte. Er meinte dazu: „Stell dir ein Jahrhundert vor wie einen hundertjährigen Mann. Und wenn dann ein hundertjähriger Mann dem anderen die Hand reicht, dann kannst du dir vorstellen, wie viel Menschenleben ein geschichtliches Ereignis zurückliegt.“ Nach dieser Vorstellung müssen sich nur 14 hundertjährige Menschen die Hand geben und schon sind wir im Zeitalter des untergehenden Römischen Reiches, des „Barbarensturms“, wie die Franzosen die Völkerwanderung nennen. Es ist das Jahrhundert der alemannischen und fränkischen Landnahme in Süddeutschland. Diese Zeit hat die Geschichtsforschung gut erschlossen, und viele damals geschaf-fene Tatsachen wirken bis heute. Schauen wir dazu in den „Historischen Atlas von Baden-Württemberg“, ein umfangreiches und wertvolles Kartenwerk mit ausführ-lichen Erläuterungen. Es wurde in einer jahrelangen Arbeit von 1972 bis 1988 von der Kommission für Landesgesichte in Baden-Württemberg und dem Landesvermes-sungsamt Baden-Württemberg erstellt. Als erstes sehen wir uns die letzte Karte dieses Historischen Atlasses an. Sie zeigt die „Raumgliederung der Mundarten um 1950“ im deutschen Südwesten. Dabei greift sie auch auf die Nachbargebiete im Elsass, in der Schweiz und in Bayern über. Die darauf gezeigten Grenzen zwischen Alemannisch, Fränkisch und Schwäbisch sind in der Zeit der Völkerwanderung entstanden. Der Landrat des Kreises Calw hat uns Landratskollegen mit wiederkehrender Regelmäßigkeit darauf hingewiesen, dass durch seinen Landkreis die alte Grenze zwischen Franken und Schwaben verläuft. Und er hat dann stets mit Eifer, ja mit Leidenschaftlichkeit sein Wissen mit Zitaten aus Quellen des frühen Mittelalters untermauert. Darin hat der schwäbische und fränkische Hochadel genau die Grenzziehung festgelegt. Und diese Grenzen gelten im Wesentlichen auch noch für die räumliche Gliederung der Mundarten um 1950. In Baden verläuft die Grenze zwischen Alemannen und Franken von Nordwesten nach Südosten zwischen dem fränkischen Ettlingen und dem alemannischen Rastatt. Unsere Vorfahren in Viertäler sind Alemannen. Nur wenige Kilometer südlich von ihnen, in Höhe des Schluchsees verläuft die Grenze zwischen Oberrhein-Alemannisch (oft auch Niederalemannisch genannt) und Südalemannisch. Zum Südalemannischen gehören auch die meisten Gebiete der Schweiz. Nur ein kleiner Teil wird dort dann noch als „Hochalemannisch“ eingestuft. Der Unterschied zwischen Oberrhein-Alemannisch und Südalemannisch besteht vor allem darin, dass aus dem „k“ ein „ch“ wird (z.B. „Kuchi“ [Küche] „Chuchi“).

Page 93: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

92

Die Sprache unser Uissigheimer Vorfahren gehört dagegen zum Ostfränkischen, das dann weit nach Bayern hineinreicht. Das Pfälzische oder Kurpfälzische ist Teil des Rheinfränkischen, das auch das Südhessische umfasst. Im Westen grenzt es an das Moselfränkische, das heute noch sehr ursprünglich in Luxemburg gesprochen wird. Im Ursprung gehen also die heutigen Mundarten noch zurück auf die Landnahme durch die Franken und Alemannen zwischen 500 – 600 n. Chr. Dabei waren das Taubertal und weite Teile des Nordens von Baden-Württemberg zunächst von den Alemannen in Besitz genommen worden. Diese wurden dann so um 600 n. Chr. von den Franken nach Süden gedrängt, und zwar bis zur heutigen Grenze zwischen dem fränkischen und dem schwäbisch-alemannischen Raum. Ob nun die Schwaben eine Sonder- und Untergruppe der Alemannen sind oder umgekehrt, ist zwischen den beiden Teilstämmen heftig umstritten. Fasnacht feiern sie als schwäbisch-aleman-nisches Fest gemeinsam. Die zweite Karte, die wir betrachten wollen, ist die „Gemeindegrenzenkarte von Baden-Württemberg, Stand 1890/1957“. Jede, auch die kleinste damals selbständige Gemeinde ist darin abgebildet und mit einem Zahlenschlüssel versehen. Und was können wir feststellen? Die Gemarkungsgrenzen sowohl von Viertäler (Titisee) als auch von Uissigheim sind weithin noch so, wie sie sich durch all die Jahrhunderte bis ins Mittelalter, ja bis zu den ersten urkundlichen Erwähnungen zurückverfolgen lassen. Für Viertäler gilt sogar auf Grund der Ortsgeschichte, dass die Grenzziehung mit der Urbarmachung und dem Rodungsausbau durch das Kloster Friedenweiler festgelegt wurde. Das bedeutet, die Grenze spiegelt noch die Besiedlung des ursprünglich kaum bewohnten Schwarzwaldes vom Osten her wider. Jedenfalls sind seit dem Spätmittelalter nur kleine Änderungen (z.B. Eckbach-Siedelbach) feststellbar. Auch die Größe der 60 alten, in der Höfechronik bis um 1500 nachgewiesenen Schwarzwaldhöfe wurde mit großer Wahrscheinlichkeit schon bei der Urbarmachung festgelegt. Wenn wir dann im Historischen Atlas die Karte „Vererbungsformen und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft um 1955“ betrachten, dann können wir daraus zwei weitere wichtige Tatsachen ablesen. Fast im ganzen Schwarzwald herrschte wie in Oberschwaben und Teilen von Ostwürttemberg die geschlossene Vererbung. Der ganze Hof wurde einem Sohn übergeben. Im übrigen Baden-Württemberg war aber die Realteilung als Vererbungsform vorherrschend. Das Erbe wurde mehr oder weniger gleichmäßig unter den Kindern aufgeteilt. Die Untergrenze waren im 20. Jahrhundert zwei bis drei Hektar Ackerland; sie reichten gerade noch aus, um eine Familie mehr schlecht als recht zu ernähren. Die großen Höfe und die reichen Bauern gab es in den Gebieten mit geschlossener Vererbung. Ursprünglich herrschte auch in den Adelshäusern Realteilung. Ludwig der Fromme (814 - 840), der Sohn Karls des Großen (768 – 814), teilte sein Reich unter seinen Söhnen. Das war die Geburtsstunde von Deutschland und Frankreich. Die „Straßburger Eide“ (842) bekräftigten ein Vertrag zwischen diesen Söhnen, nämlich Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen. Sie sind zugleich frühe Sprachdenk-mäler von Althochdeutsch und Altfranzösisch. So hängt alles zusammen. Und die Zusammenhänge zu erkennen, das ist Bildung. Denn „Bildung“ heißt, den Kindern helfen, die Welt zu verstehen; damit sie sich orientieren können.

Page 94: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

93

Das Erstgeburtsrecht (Primogenitur) bei der Vererbung hat sich langsam und in den einzelnen Fürstenhäusern zu unterschiedlichen Zeiten durchgesetzt. Die Wittels-bacher Lande in Bayern und am Rhein (Kurpfalz) waren lang auf Haupt- und Nebenlinien verteilt. Erst Karl Theodor (1733 – 1799) hat als unbedeutender Pfalzgraf von Sulzbach zunächst die ganze Kurpfalz und dann noch Bayern durch Erbfall erworben. Er musste öfter seinen Hof verlegen. Der Alte Fritz, den die Preußen den „Großen“ nennen, sprach nur vom „Glücksschwein“, wenn er Karl Theodor meinte: „Ohne einen einzigen Schwertstreich zu tun, hat der faule Kerl mehr Land erobert, als mir dies in drei Kriegen gelungen ist, von denen der eine sieben Jahre gedauert hat.“ Doch dann hat Napoleon die süddeutsche Landkarte ganz neu gezeichnet. Und die neuen Mittelstaaten Baden, Bayern und Württemberg haben sogar den Wiener Kongress (1814 /1815) nach Napoleons Sturz überstanden. Die zweite Erkenntnis aus der Karte „Vererbungsformen und Betriebsgrößen in der Landwirtschaft um 1955“ des Historischen Atlasses zeigt, wie Anerbenrecht und Hofgröße zusammengehören. Bei den Gemeinden Viertäler, Breitnau und Langen-ordnach ist zur Darstellung der Betriebsgröße die Farbe Lila eingetragen. Sie kennzeichnet Gemarkungen mit Höfen von der größten dargestellten Betriebsgröße (20 Hektar und mehr landwirtschaftliche Nutzfläche). In Baden-Württemberg gibt es um 1955 nur noch ganz wenige Gemeinden mit so großen Höfen. Auch im Schwarz-wald finden wir nur noch vier Gemarkungen mit solchen Gütern. Die überwiegende Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Baden-Württemberg hatte damals eine Nutzfläche zwischen zwei und unter fünf Hektar. Daher war der Zuerwerbsbetrieb für den Südwesten ganz typisch. Die Leute gingen in der Fabrik oder sonst wo „schaffen“. Daneben bewirtschafteten sie ihre kleinen, oft steinigen Äcker. Und ich erinnere mich gut daran, wie ein von mir geschätzter Geschichtslehrer öfter darauf hinwies, dass dies besonders zur sozialen Stabilität im Südwesten beigetragen habe. Denn auch in Kriegs- und Notzeiten oder bei Arbeitslosigkeit konnten die Menschen aus eigener Kraft zumindest überleben. Meine Mutter hat mir oft erzählt, dass ihr Vater als Lehrer in ihrem Heimatdorf Fußgönnheim eine alte, sagen wir „ständische“ Zusatzversorgung hatte. Es waren die „Lehreräcker“ der Gemeinde. Diese seien im Ersten Weltkrieg für die Familie ganz wichtig gewesen. Ich habe sogar noch ein Heft, indem mein Großvater die Bewirtschaftungskosten aufgezeichnet hat. Diese zahlte er an Bauern fürs Pflügen, Düngen, Säen usw. Für Uissigheim zeigt diese Karte übrigens eine interessante Besonderheit. Dort herrschte „geschlossene Vererbung und Realteilung innerhalb derselben Gemeinde“. Darüber werden wir später noch sprechen. Kirche – Klöster – Herrschaft

Werfen wir nun einen Blick auf die Religion. Dazu gibt es die Karte „Reformation und Gegenreformation“ im Gebiet des heutigen Landes Baden-Württemberg (VIII, 7). Dabei zeigt sich für unsere Schwarzwälder, dass es in ihrem Bereich keine Reformation gab und damit auch keine Gegenreformation nötig wurde. Sowohl das Haus Fürstenberg als auch das Haus Habsburg blieben zusammen mit ihren Untertanen der alten Lehre treu. Im heutigen Südbaden haben lediglich die Markgrafen von Baden in ihren Gebieten, also im Wesentlichen im Markgräflerland und um Emmendingen die Reformation zwischen 1547 und 1580 eingeführt. Und ich weiß noch, wie ich sehr erstaunt war, dass um Badenweiler Konfirmation gefeiert

Page 95: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

94

wurde. Dann fiel mir plötzlich wieder ein, dass ich mich ja in altem markgräflich-badischem Gebiet befand, das sogar von den Markgrafen seinen Namen hat. Die Karten des Historischen Atlasses zeigen uns dann die Kirchengeschichte von ihren Anfängen an. Hier ist für uns und unserer Vorfahren vor allem die Geschichte der Klöster wichtig. Sie haben sich seit der Christianisierung am Bodensee und am Oberrhein (Lorsch) entwickelt und vielerorts die noch wilden und unwirtlichen Gegenden wie den Schwarzwald erschlossen. Die Benediktinerinnen von Frieden-weiler waren diejenigen, die Teile im Hochschwarzwald von Osten her urbar machten. Dabei war Viertäler ihre letzte Vogtei. Das anschließende Breitnau ist wie gesagt vom Westen, vom Freiburger Raum besiedelt worden. Für Friedenweiler weist die Karte „Besitz karolingischer Reichsabteien um 900“ (VIII, 2) bereits Besitzrechte für die Reichsabtei Reichenau im Bodensee auf. In Löffingen hatte neben dem Kloster Reichenau auch das Reichskloster St. Gallen damals schon Besitz. Die Klöster und ihre Rechte im Hochmittelalter zeigt dann die Karte „Klöster bis zum Ende des Investiturstreits 1122“ (VIII, 3). Hier hatte am Titisee das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen Besitzrechte. Die Karte „Spätmittelalterliche Klöster (1300 – 1500)“ weist erstmals in Friedenweiler das Benediktinerinnenkloster aus. Auf die klösterliche Siedlungstätigkeit ist auch zurück zu führen, dass erst 1832 die alte Vogtei in Gemeinde und der Vogt in Bürgermeister umbenannt wurden. Das Großherzogtum Baden hatte noch gut drei Jahrzehnte die alten Bezeichnungen weiterverwendet. Damit stoßen wir auf eine bemerkenswerte historische Tatsache. Für die Klöster galt der Grundsatz „ecclesia non sitit sanguinem“, „die Kirche dürstet nicht nach Blut“. Nun bedeutete „Herrschaft“ in der Ständeordnung vor allem „Schutzgewährung“. „Wir sollen den Herren dienen, dass sie uns beschirmen und beschirmen sie uns nicht, so sind wir ihnen keinen Dienst schuldig nach dem Recht“, heißt es schon im Schwabenspiegel, dem uralten Rechtsbuch von 1274/75. Wie lang die Verhältnisse unverändert blieben, zeigt uns der bayerische Staatsjurist und Staat-kanzler Kreittmayr. Er stellt noch 1759 in den „Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem“ in § 308 fest: „Kan der Regent den Unterthan nicht mehr schützen, so cessirt die Subjektion wenigstens so lang, bis die Sach wiederum in anderen Stand kommt.“ Diese Schutzrechte hatte nun die Herrschaft nach innen mit dem Richterschwert und nach außen mit dem Kriegsschwert durchzusetzen. Da das Führen des Schwerts immer mit Blut verbunden ist, brauchten die Klöster zur Wahrnehmung dieser Aufgaben einen weltlichen Vogt. Einen solchen Vogt hat es nun auf allen Herr-schaftsebenen gegeben. Der bäuerliche Vogt hat dem örtlichen Schöffengericht vorgestanden. Er hatte die Verhandlung zu leiten und dann die Vollstreckungs-maßnahmen durchzuführen. Das Recht selbst wurde von den Schöffen, den bäuerlichen Standesgenossen, nach altem Herkommen „geschöpft“ (gefunden) oder „gewiesen“. Daher auch der Name „Weistümer“ für alte Rechtsbücher. Die Vollstreckung der höheren oder Hochgerichtsbarkeit, insbesondere der Blutgerichtsbarkeit, musste dann ein adliger Gerichtsherr übernehmen. Er hatte auch das „Landaufgebot“ oder die „Reisfolge“ im Krieg zu führen. Im Falle von Frieden-weiler war dies seit 1270 das Haus Fürstenberg. (Das beachtliche Schloss in Donaueschingen habe ich mit meinem Vater einige Male, leider nur von außen besichtigt.) Und nun kam es, wie es in der Politik oft kommt. Die Vögte und auch die Fürstenberger dehnten ihre Macht immer mehr aus. Schließlich nahmen sie nicht

Page 96: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

95

mehr für, sondern auch über Friedenweiler die Herrschaftsrechte wahr. Sie stiegen zu reichsunmittelbaren Fürsten auf; und das Kloster war nun „landsässig“, wie es so schön hieß, also dem Hause Fürstenberg untertänig. Doch die alten Ausdrücke wie Vogtei und Vogt erinnerten noch an die Klosterzeit. Und dazu gab es den alten Spruch: „Unterm Krummstab ist gut leben.“ Das bedeutet, Äbte oder Äbtissinnen waren oft angenehmere Herrschaften als Fürsten oder Ritter. Vier unserer Vorfahren auf den Höfen in Viertäler waren solche Vögte:

- Christian Ketterer vom Schlegelhof von 1640 – 1652 - Nikolaus Fürderer vom Josenhof von 1715 – 1728 - Anton Schwörer vom Feuerberghof von 1794 – 1798 - Matthias Kistler vom Balzenhof von 1800 – 1808

Damit sind wir schon recht nah bei den uns bekannten Vorfahren. Denn Matthias Kistler ist der Großvater von unserer Apollonia (1823 – 1906). Genau in der Zeit als Matthias Kistler Vogt war, ist 1806 die Vogtei badisch gewor-den. Die badische Regierung, die anerkannt segensreich wirkte und dem Großher-zogtum die Bezeichnung „Musterländle“ einbrachte, hat 1808 ein für unsere Vorfahren wichtiges Gesetz erlassen. Es ist das „Badische Gütergesetz“. Darin werden die bisherige Unteilbarkeit der Höfe und das Anerbrecht gesetzlich geschützt, das Hofbauerntum konnte fortbestehen. Denn es war für Hofleute besser, mit dieser „ständischen Geburtenregelung“ früher zu beginnen als erst dann, wenn alle arm waren und hungerten. Eine medizinische Geburtenregelung gab es noch nicht. Ein Blick auf die Einwohnerzahl in Viertäler im Jahre 1825 zeigt, dass der Grund und Boden der Vogtei die damaligen 745 Einwohner wohl ernähren konnte. Denn diese Einwohner wohnten in 60 Höfen und 54 abgetrennten Mühlen, Wirtschaften und Häusern. Verteilen wir die 745 Einwohner auf die 60 Höfe, so kommen wir auf rund 12 Personen je Hof. Dann hat es auch noch den einen oder anderen Handwerker und die Gastwirte (z. B. auf der Lafette und dem Ankenhof) gegeben. Und um 1825 können wir auch von Uhrmachern, Englandgängern und Glasträgern ausgehen. Bei dieser Bevölkerungszahl können wir unterstellen, dass niemand hungern musste oder obdachlos war. Im Gegenteil, die Mehrzahl wohnte gesichert einem Hof. Denn zu den Einwohnern zählen auch die vielen Kinder und unverheirateten Hofleute. Fassen wir diese Erkenntnisse zusammen. In den 50 Jahren von 1955 bis 2005 hat sich mehr geändert als in den 450 Jahren zwischen 1500 und 1955. Diese große Beständigkeit der Verhältnisse bis nach dem Zweiten Weltkrieg gilt vor allem für die unmittelbaren Lebensverhältnisse der Menschen in ihrem Dorf und auf ihrem Hof. Auf welchen Höfen in Viertäler haben wir nun direkte Vorfahren? Damit kommen wir zum eigentlichen Stammbaum, den wir den Höfechroniken gut entnehmen können.

Page 97: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

96

Die Höfe unserer Ahnen in Viertäler Auf den folgenden Höfen in Viertäler haben wir Vorfahren in gerader Linie: Ankenhof (7 ha, Wirtsgerechtigkeit) – Balzenhof (71 ha) – Berggrunderhof (75 ha) – Feuerberghof (30 ha) – Ganterhof (45 ha) – Geigerhof (62 ha) – Hänslehof (31 ha; 1899 abgerissen) – Hermeshof (75 ha) – Josefenhof (29 ha) – Josenhof (49 ha; Wirtsgerechtigkeit für den „Josen“) – Kleiserhof (54 ha) – Schlegelhof (21 ha) – Simonshof (63 ha) – Tannackerhof (22 ha) – Unterhöfenhof (122 ha) – Urishof (79 ha) – Winterhalderhof (72 ha) – Alle Hektar Angaben beziehen sich auf das Jahr 1888; sie entsprechen aber grundsätzlich den Hofgrößen von 1791, die noch in „Jauchert“ (0,23 ha) angegeben sind. In der Vogtei Breitnau haben wir Vorfahren auf dem Lippenhof (43 ha) und dem Posthof (294 ha, Posthalterei, Wirtsgerechtigkeit)

Der Winterhalderhof und der Balzenhof Den Winterhalderhof kennen wir ja schon, doch wir kennen nicht all unsere direkten Vorfahren, die dort gewohnt und gewirkt haben. Eigentlich war ich der Meinung, dass erst Johann und Apollonia wie oben dargestellt den Hof von „fremden Leuten“ ersteigert hätten. Doch das genaue Studium der Höfechronik von Helmut Heitzmann hat genau das Gegenteil zum Vorschein gebracht. Über die Apollonia sind alle „WInterhalder“ auf dem Winterhalderhof ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum ältesten Johann Winterhalder (1568 – 1663) geradlinige Vorfahren von uns. Die späteren Winterhalder sind dann auch mit uns verwandt, weil sie mit uns gemein-same Vorfahren haben. Im folgenden Kasten sind unsere Ahnenreihen auf dem Balzenhof und dem Winter-halderhof sowie in der Posthalde und im „Adler“ (Hinterzarten) dargestellt. Diese Übersicht erleichtert die dann folgende Darstellung. Die Verwandtschaft zum Balzenhof kannte die Tante Lisel noch, wie Traudel erzählte.

Page 98: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

97

Balzenhof der Kistler Winterhalderhof Posthalde / „Adler“ Hinterzarten

Jostal – 71 ha Altenweg – 73 / 75 ha Kaiserl.-Thurn-u.-Taxis’sche Poststation

erbaut: 1665 1889 Posthalde: 1802; 294 ha (viel Bergwald),

Wirtsgerechtigkeit: Posthalde + Adler

Valentin Kistler Johann Winterhalder Christian Hensler

~ 1598 ~ 1568 – 1663 Wirtshof „ zum

Balzenhof Winterhalderhof Adler“ Hinterzarten

↓ ↓ ↓

Nikolaus Kistler Mathias Winterhalder Christian Hensler

† 1673 ~ 1609 – 1691 † vor 1682

Balzenhof Ganterhof / Wirt Posthof zur Posthalde ↓ ↓ ↓

Balthasar Kistler Johann Winterhalder Georg Hensler

1651 – 1704 1631 – 1710 † 1735

Balzenhof Winterhalderhof Posthof zur Posthalde

↓ ↓ ↓

Mathias Kistler Josef Winterhalder ∞ Ottilia Hensler

1699 – 1783 1697 – 1763 1696 - 1772

Balzenhof vom Urishof Winterhalderhof

↓ ↓ ↓

Josef Kistler Mathias Ketterer ∞ Elisabeth Winterhalder

1719 – 1805 1730 – 1797 1730 - 1797 Balzenhof 1. Urishof 2.Geigerhof 1. ∞ Johann Heitzmann → Geigerhof-Wwe.

↓ ↓ 2. ∞ Mathias Ketterer

Mathias Kistler ∞ Theresia Ketterer

1760 – 1842 1759 - 1812

Vogt, Balzenhof + Hänslehof

Johann Kistler ∞ Barbara Imberi (1. ∞ Johann Kistler 7 Kinder / 2. ∞ Gregor Pfaff Winterhalderhof, 3 Kinder)

1787 – 1826 1789 - 1869

Hänslehof vom Ankenhof

Apollonia Kistler ∞ Johann Schwörer

1823 – 1906 1805 – 1873

Winterhalderhof verheiratet mit: ∞ .

Der Balzenhof der Kistler in Jostal-Eckbach ist die eigentliche Heimat der Vorfahren von Apollonia. Ihr Vater ist hier aufgewachsen und gut 250 Jahre lassen sich dort ihre Vorfahren bis 1598 (Valentin Kistler) zurückverfolgen. Nachfahren der Kistler, wenn auch über weibliche Linien, leben noch heute auf dem Balzenhof. Und Apollonias Großvater Mathias Kistler war Vogt in Viertäler. Er dürfte reich und angesehen gewesen sein. Er kaufte am 21.07.1807 den Hänslehof und verkaufte ihn am 25.01.1808 weiter an seinen ältesten Sohn Johann, den Vater der Apollonia. Über die Preise sagt die Höfechronik nichts. Zum Hänslehof kommen wir später.

Page 99: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

98

Die Posthalde im Höllental – Der Adler in Hinterzarten Unsere Apollonia Kistler (1823 – 1906) ist ein Dreh- und Angelpunkt in unserer Schwarzwälder Familiengeschichte. Sie hat außer den Kistler und Winterhalder noch mit den Hensler weitere, interessante Ahnen. Wenn wir als Kinder mit unseren Eltern im grünen VW-Käfer durchs Höllental gefahren sind, dann sind wir vor dem letzten steilen Aufstieg nach Hinterzarten, im Höllsteig an dem prächtigen Gebäude der „Posthalde“ vorbeigekommen.

Page 100: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

99

Das Bauwerk erinnerte mich immer an den Gasthof meiner Urgroßeltern Vinzenz und Marie, den „Bären“ zu Neustadt im Schwarzwald. Doch die Posthalde ist noch größer und liegt mächtig und behäbig mitten im engen Höllental. Das ansehnliche Hauptgebäude wurde in den Jahren 1802 – 1804 als „Wirtshof zum Adler – Alte Post“ erbaut. Im Jahr 1939 wurde die Bewirtung eingestellt. Ursprünglich hatte hier ein 1566 errichteter Posthof gestanden. Er ist nach der Höfechronik am 23.02.1910 durch den Funkenflug einer Lokomotive der Höllentalbahn abgebrannt. Die

Page 101: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

100

Posthalde war Poststation der Kaiserlich-Thurn-und-Taxisschen-Reichspost. Die Route führte von dem vorderösterreichischen Verwaltungssitz Ensisheim im Elsass nach Innsbruck. Und wer hätte gedacht, dass auch in diesem stattlichen Anwesen geradlinige Vorfahren von uns wirtschafteten? Wir verdanken es der Apollonia. Denn ihre Altmutter Ottilia Hensler (1696 – 1772) war die Tochter des Bauern, Wirts und Posthalters Georg Hensler und seiner Frau Anna Maria Martin (gestorben 1740). Auch dessen Vater Christian Hensler (1651 – 1682) saß auf dem Anwesen, zu dem neben der Posthalterei und der Wirtsgerechtigkeit noch 294 Hektar Gelände gehörten. Aus der Gemarkungskarte, die der Höfechronik von Breitnau beiliegt, ergibt sich, dass es sich dabei vornehmlich um Wald an steilen Hängen handelte. Der Postillion und die Postkutsche waren für die Dörfer und Höfe die Verbindung zur großen, weiten Welt. Noch meine Eltern haben das aus ihrer Kindheit gekannt. Aus dem Liederbuch „Sang und Klang fürs Kinderherz“ stammt das folgende Bild, das ich als Kind immer wieder angeschaut und richtig bewundert habe.

Page 102: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

101

Page 103: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

102

Doch die Geschichte geht noch weiter. In meiner Kindheit war das Hotel „zum Adler“ in Hinterzarten wohl das schönste, das der Hochschwarzwald zu bieten hatte. Mein reicher Onkel Jus und seine Frau Maria, die Marax, die älteste Schwester meines Vaters, kehrten dort oft ein. Auch ihre Silberne Hochzeit feierten sie dort. Ich erinnere mich noch gut daran. Wir waren wieder einmal auf dem Hof in Ferien. Meine Eltern, die Tante Lisel und der Onkel Viktor durften schon mittags zu dem hohen Fest in den Adler kommen. Meine Cousinen Verena und Ulrike sowie alle Geschwister meines Vaters waren ebenfalls schon mittags dort eingeladen. Mein Bruder und ich durften erst abends nachkommen. Das habe ich damals als eine gewisse Herabsetzung angesehen und nicht vergessen. „Awer bevor ich mich uffreg’, is mer’s egal“, sagen die Pfälzer. Das lustige Fest im schönen „Adler“ habe ich bis heute in Erinnerung. Hinterher wurde auf dem Hof noch darüber gesprochen. Und meine Cousine Verena machte dabei einen Witz über ihren Vater, über den alle schallend lachten. Denn er konnte auch falsch und anzüglich verstanden werden, was aber die Verena so nicht gemeint hatte. Später bin ich dann einmal mit meiner Frau Birgit und meinem Sohn Gero in den Adler gegangen. Vor allem von außen war das Hotel mit seinem Schwarzwälder Stil noch sehr schön. Innen war allerdings die Zeit etwas stehen geblieben. Aber inzwischen soll der „Adler“ sich wieder aufgerappelt haben. Sogar in der Zeitschrift „Der Feinschmecker“ ist darüber berichtet worden. Und wir sollten es kaum glauben: der Vater des Posthalters Christian Hensler, ebenfalls ein Christian, führte zusam-men mit seiner Frau Eva geb. Reitter den Wirtshof „zum Adler“ in Hinterzarten.

Ankenhof – Lafette – „Pfauen“ in Neustadt – Lippenhof

Wir müssen jetzt wieder zum Winterhalderhof zurückkehren. Der Vorbesitzer, von dem unser Johann (1805 - 1873) den Winterhalderhof ersteigert hat, war ein Gregor Pfaff (1801 – 1849). Er, womöglich auch seine Frau Barbara Imberi (1789 – 1669) und vor allem die Kinder waren – vorsichtig ausgedrückt – keine „bodenständige’ Leut’“. Ihre erste Tochter Maria heiratete nach Amerika, das dritte Kind, der jüngste Sohn Josef, ist nach Australien ausgewandert. Doch das mittlere Kind, die Katharina Pfaff (1830 – 1880) hat dem ganzen die Krone aufgesetzt. In der Höfechronik heißt es: „Katharina Pfaff hatte 12 ledige Kinder von 1849 – 1869 und ist in Pforzheim gestorben.“ Nach diesem Kindersegen heiratete sie dann am „25.01.1872 Andreas Feser, seine ledige Mutter Anna kam vom Löffelwieshof/Steig“. – „Bi so Lüt bliebts Sach nit binand.“ (Bei solchen Leuten bleibt „das Sach“ [Vermögen] nicht beieinander).“, sagen nicht nur die Schwaben, sondern auch die Alemannen. Damit hatte unser Altvater Johann die Gelegenheit, den Winterhalderhof zu ersteigern; und ich war froh, mit der „Pfaffin“ und allen drum herum nicht verwandt zu sein. Doch als ich in die Höfechronik immer weiter eingedrungen bin, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass die Katharina Pfaff eine Halbschwester zu unserer Apollonia Kistler und damit recht nah verwandt war. Die besagte Barbara Imberi (1789 – 1863) war nämlich in erster Ehe mit Johann Kistler (1787 – 1826) verheiratet und damit auch die Mutter von Apollonia Kistler. So haben auf dem

Page 104: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

103

Winterhalderhof nie andere Leute gelebt, als solche, die mit uns verwandt oder verschwägert waren.

Die Schwägerschaft zu den Pfaffs auf dem Winterhalderhof Mathias Kistler Johann Nepomuk Imberi Josef Pfaff

1760 – 1842 1739 – 1802 Holzschuhmacher

Vogt, Balzenhof Ankenhof / Waldau bzw.

u. Hänslehof Gerberei zum Pfauen i. Neustadt Hinterstraß/Glashütte28

↓ ↓ ↓

Johann Kistler ∞ Barbara Imberi (1. ∞ Johann Kistler 7 Kinder / 2. ∞ Gregor Pfaff Winterhalderhof, 3 Kinder)

1787 – 1826 1789 – 1869 1801 - 1849

Hänslehof Winterhalderhof

↓ Kinder:

Apollonia Kistler ∞ Johann Schwörer 1. Maria Pfaff nach Amerika

1823 – 1906 1805 – 1873 2. Kathrina Pfaff († Pforzheim)

Winterhalderhof 1849 – 1869 12 ledige Kinder,

1872 ∞ Andreas Feser, Sohn d.

ledigen Anna F. (1795 – 1873) vom Löffelwieshof / Breitnau

3. Josef Pfaff nach Australien

verheiratet mit: ∞ .

Ja, und wenn wir schon bei der Katharina Pfaffin und der Barbara Imberi sind, dann wollen wir uns diese Leute noch ein bisschen genauer anschauen. Dass die Imberi unsere Vorfahren sind, war meinem Vater sehr geläufig. Auch ich habe den Namen noch aus meiner Kindheit gut im Ohr. In den Akten meines Vaters habe ich dann auch einen schönen Artikel über Leopold Imberi (1836 – 1898) gefunden. „Der Kaiserliche Mundkoch – ein Schwarzwälder am Kaiserhof“, ist die kurze Darstellung überschrieben. Er war 30 Jahre bei Kaiserin Augusta (1811 - 1890), der Gemahlin von Wilhelm I. (1797 – 1888), geschätzter Leibkoch. Er musste der Kaiserin auch auf Reisen in die Kurstädte folgen. In Baden-Baden stieg die Kaiserin stets im Hotel Meßmer ab, weil es dort eine Badewanne gab. Im Berliner Schloss hatten sie damals – wie schon unser Geschichtslehrer in der Schule erzählte – keinen solchen Luxus. Wollte eine der beiden kaiserlichen Majestäten baden, dann musste aus dem Hotel von gegenüber die Badewanne ins Schloss geschafft werden. Das Wasser wurde von den Kammerjungfern in Eimern aus der Küche geholt. – Das kennen wir ja schon von oben, vom alten Dorf (S. 19).

28

siehe Heitzmann, Helmut, Höfechronik Titisee – Viertäler, Freiburg 1996, S. 200 und 447 ders. Höfechronik Breitnau, Breitnau 2004, S. 430, 441

Page 105: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

104

Leopold Imberi – kaiserlicher Mundkoch

Leopold Imberi hatte drei Verehrerinnen, die ihm romantische Briefe auf rosa oder blauem Papier schrieben und mit Louise, Nanette oder *** unterzeichneten. Nach der Überlieferung brachte er es nicht übers Herz, eine davon zu heiraten. Denn er hätte die beiden anderen tief gekränkt. „… ich gäbe vieles, könnte ich des Abends als Fliege um das Haupt meines alten Brummbärs herumschwirren … du bist ein Original, wie kein zweites zu finden ist …“, schrieb eine der Verehrerinnen. Im damaligen Berlin war so ein Schwarzwälder vielleicht etwas Spezielles. Doch seinen Lebensabend verbrachte Imberi in Neustadt als reicher Privatier, wie es damals hieß. Und er war dabei ein großer Wohltäter seiner Heimatstadt. Er starb ledig, wenn auch vielleicht nicht ungeküsst. Auf seinem Sarg lag ein Kissen mit fünf Orden vom Kaiserhaus. Sein Testament hat nicht nur seine Verwandten bedacht, sondern auch allen Vereinen, die dem Sarg folgten, außerdem dem Messner und den Ministranten ein großzügiges Mittagessen mit viel Wein vermacht. – Der Leopold vermittelt uns einen guten ersten Einblick in die Familie Imberi.

Page 106: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

105

Die alte Gerberei in der Pfauenstraße in Neustadt im Schwarzwald war das Geburts-haus von Leopold Imberi. Und über unsere Höfechronik lassen sich die Verwandt-schaftsbeziehungen dorthin genau nachvollziehen. Der Vater vom Mundkoch war ein Cousin von unserer Apollonia.

Ankenhof – Lafette – Pfauen – Lippenhof erbaut: 1638 1746 ? 1689

Philipp Kleiser

1671 - 1721

Lippenhof

↓ Andreas Imberi Mathäus Kleiser

~ 1689 – 1766 1708 - 1773

Ankenhof Lippenhof

↓ ↓

Johann Nepomuk Imberi ∞ Maria Kleiser

1739 – 1802 1747 - 1812

Ankenhof / Gerberei am Pfauenstich Neustadt

↓ ↓

Johann Georg Imberi Barbara Imberi

1767 – 1818 1789 - 1869

Ankenhof / Lafette 1. ∞ Johann Kistler Hänslehof 2. ∞ Gregor Pfaff Winterhalderhof

↓ ↓

Andreas Imberi29 Apollonia Kistler ∞ Johann Schwörer

1799 - 1873 1823 – 1906 1805 – 1873

Ankenhof, Lafette, Weißenhof Winterhalderhof

Gasthaus Pfauen in Neustadt Leopold Imberi (1836 – 1898) aus dem „Pfauen“ war 30 Jahre kaiserl. Mundkoch in Berlin

Zu den Imberi gelangen wir über die Mutter von Apollonia. Bei dieser Barbara Imberi (1789 – 1869), also unserer Uraltmutter, fällt zunächst auf, dass sie 80 Jahre alt geworden ist und 10 Kindern das Leben schenkte. Davon hatte sie sieben mit unserem Uraltvater Johann Kistler (1787 – 1826) und die schon erwähnten drei mit dem 12 Jahre jüngeren Gregor Pfaff. Wie sie und der Gregor Pfaff zum Winterhalderhof gekommen sind, lässt sich in der Höfechronik nicht feststellen; ebenso wenig wo und wie die beiden gestorben sind. Barbara stammte vom Anken-hof, der mit nur sieben Hektar Ackerland kein Bauernhof, sondern vor allem ein Gasthaus mit „Wirtsgerechtigkeit“ (obrigkeitliche Erlaubnis [Privileg] zum Betrieb einer Gastwirtschaft) war. Schon der Großvater von Barbara, der Andreas Imberi (1689 – 1766) hat den Ankenhof offensichtlich von einem Michael Drescher gekauft. Nach der Höfechronik konnte das Jahr des Übergangs nicht festgestellt werden.

29

Heitzmann, Höfechronik Titisee – Viertäler, Freiburg 1996, S. 45 ders. Höfechronik Breitnau, 2004, S. 143, 421, 601, 626, 142,

Page 107: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

106

Zwei der Söhne von Andreas (~ 1689 – 1766) waren dann Bauer und Gastwirt auf dem Gasthaus „Lafette“ im Oberaltenweg. (Bei der „Lafette“ sind wir immer von der Bundesstraße abgebogen, wenn wir zu Tante Marax und Onkel Jus aufs Häusle in Heiligenbrunnen gefahren sind.) Der Vater von Barbara war Johann Nepomuk Imberi (1739 – 1802); er war auch Eigentümer der Gerberei am Pfauenstich in Neustadt. Und da geht die Verwandtschaft dann zum kaiserlichen Mundkoch. Ein Halbbruder von Barbara, nämlich Johann Georg Imberi (1767 – 1818; ältester Sohn aus erster Ehe des Vaters) war auch Gastwirt und Bauer auf der „Lafette“. Er wurde am 28.09.1818 morgens um 3 Uhr von einem Dieb erschossen. Der jüngere Andreas Imberi (1799 – 1873) muss ein großer Spekulant gewesen sein. Er war Erbe sowohl des Ankenhofes als auch des Gasthauses „Lafette“. Die Höfechronik verzeichnet, dass er 1834 den Weißenhof (39 ha) in Oberaltenweg kaufte, die Hälfte des Ankenhofes 1837 an Josef Kaiser verkaufte. Am 03.07.1839 versteigerte er die ‚Lafette’ und den Weißenhof, um dann 1840 das Gasthaus ‚Pfauen’ in Neustadt zu kaufen. Im Jahre 1853 ersteigerte er dann die 1837 verkaufte Hälfte des Ankenhofs zurück, um 1848 wieder den ganzen Ankenhof an Andreas Dritschler zu verkaufen, der schon seit 1855 auch Bauer und Gastwirt auf dem Gasthof ‚Lafette’ war.30 Ob der Andreas Imberi nach all diesen Geschäften nun arm oder reich gestorben ist, lässt sich aus der Höfechronik nicht ermitteln. Allerdings

30

Heitzmann, Höfechronik Titisee – Viertäler, Freiburg 1996, S. 45, 50, 437

Page 108: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

107

waren die Imberi keine Hofbauern, sondern offensichtlich recht unternehmenslustige und abwechslungsfreudige Wirtsleute. Ja, auch solche Vorfahren haben wir. Über die Barbara Imberi (1789 – 1869), die Mutter von Apollonia (1823 – 1906) führt eine weitere Linie nach Breitnau. Und da der Helmut Heitzmann auch eine Höfechronik über Breitnau geschrieben hat, können wir auch diese Linie bis in 17. Jahrhundert zurück verfolgen. Die Mutter von Barbara Imberi war eine Maria Kleiser (1747 – 1812) und stammte aus dem Lippenhof in Eckbach. Eckbach ist ein Seitental des Jostals und beginnt unterhalb der Weißtannenhöhe. Gleichwohl gehört es zur Gemarkung Breitnau. Der Vater und Großvater von Maria Kleiser (1747 – 1812) waren Bauern auf dem Lippenhof. Der Lippenhof ist übrigens bis heute in direkter und männlicher Linie von einem Kleiser auf den anderen vererbt worden. Und damit sind die heutigen Hofbauern mit uns weitläufig blutsverwandt. Der erste Kleiser auf dem Lippenhof (siehe oben Kasten), Philipp Kleiser (1671 – 1721) muss tüchtig gewesen sein. Denn bevor er den Hof kaufte, war er Taglöhner in Langenordnach. Er war ein nachgeborener Bauernsohn des Jakob Kleiser und der Agatha Kleiser von Schwarzhansenhof in Langenordnach. Von Langenordnach, das immer wieder als Herkunft des einen oder anderen Ahnen in Erscheinung tritt, gibt es leider noch keine Höfechronik. – Die folgende Abbildung zeigt den Lippenhof.

Page 109: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

108

Hänslehof Früher hieß es: „Du heiratest nicht eine Person, du heiratest eine Familie.“ Was war das nun für einer, der in die Familie Imberi eingeheiratet hat? Es war der Johann Kistler (1787 – 1826), der Vater unserer Apollonia (1823 – 1906). Die Vorfahren von Johann Kistler waren ehrbare Leute vom ansehnlichen Balzenhof (71 Hektar), die wir schon aus dem ersten Abschnitt „Winterhalderhof und Balzenhof“ kennen. Der Großvater unserer Apollonia Kistler (1823 – 1906), der Vogt Matthias Kistler (1760 – 1842) hat wie gesagt den Hänslehof gekauft. Die Schwarzwälder vererben gern ihre Höfe an ihren jüngsten Sohn, denn dann können Hofbauer und -bäuerin am längsten darauf das Regiment führen. Ich hörte in meiner Kindheit nur, es sei im Schwarzwald üblich, den Hof dem jüngsten Sohn zu übergeben. Die Höfechronik zeigt allerdings, dass es unterschiedlich war, wem unter den Söhnen der Hof übertragen wurde. Doch meist sind es die jüngeren Söhne. Apollonias Vater Johann Kistler (1787 – 1826) war nun der älteste Sohn des Vogtes Matthias Kistler. Und an ihn „verkaufte“ der Vater am 25.01.1808 den Hänslehof, nachdem Johann am 11.01.1808 die Barbara Imberi vom Ankenhof geheiratet hatte. Den schönen Balzenhof in Jostal-Eckbach vererbte er später seinem jüngsten Sohn Balthasar. Der Vogt hatte den kleinen Hänslehof (31 Hektar) in Spriegelsbach am 21.07.1807 von den Gläubigern (Creditoren) des vormaligen Hänslehofbauern Simon Willmann (1758 – 1830) gekauft. Der Großvater von Simon Willmann hat ebenfalls Simon (1685 - 1716) geheißen und war mit der Maria Margaretha Fürderer (1685 – 1780) verheiratet. Diese Frau verdient unsere Aufmerksamkeit. Sie hat einen Namen, der auch siebenmal unter unseren geradlinigen Ahnen vorkommt. Doch die Höfechronik Titisee – Viertäler lässt unmittelbare verwandtschaftliche Beziehungen nicht erkennen. Denn die Maria Margaretha stammt aus Langenordnach. Möglich ist eine Verwandtschaft schon. Bei dieser Maria Margaretha Fürderer fällt auf:

- sie ist 95 Jahre alt geworden, - hatte 13 Kinder auf die Welt gebracht, das letzte mit 42 Jahren (da hatte sie

dann noch mehr als die Hälfte ihres Lebens vor sich), - sie war viermal verheiratet (stets hat sie spätestens ein Jahr nach dem Tod

des Ehemanns erneut geheiratet) und - in vierter Ehe als Leibgedingerin (also versorgt auf dem Altenteil lebend) hat

sie mit 71 den 12 Jahre jüngeren Witwer, den Ziriak Hofmeier vom Kettererhof in Langenordnach, gefreit.

Süddeutsche sagen da: Das waren noch „gesunde, gestandene Weibsbilder“. Und das alles hat die Maria Margaretha auf dem kleinen Hänslehof geleistet. Auf dem Hänslehof erscheint dann wieder als vorletzter bewirtschaftender Eigentümer der uns vom Winterhalterhof her bekannte Gregor Pfaff (1801 – 1849), Sohn des Holzschuhmachers Josef Pfaff aus Hinterstraß/Glashütte. Und seine Ehefrau ist die bekannte Barbara Imberi (1789 – 1869). Der Gregor und die Barbara haben also nicht nur den Winterhaltehof, sondern auch den Hänslehof besessen.

Page 110: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

109

Beide Höfe konnten sie jedoch nicht halten. Denn am 20.11.1867 kaufte der Bürger-meister Matthäus Lickert (1803 – 1870) vom Feuerberghof im Altenweg den Hänsle-hof. Er war mit Maria Kistler (1815 – 1875), der Schwester unserer Apollonia Kistler (1823 – 1906), verheiratet. Danach haben nur noch kurz ein Graf aus dem Elsass und dann am 31.10.1889 die Gemeinde Viertäler den Hof erworben. Die Gebäude wurden abgerissen, das Gelände größtenteils aufgeforstet. Aus war es mit dem liebeslustigen Leben auf dem kleinen Gehöft. Ein Bild vom Hänslehof gibt es nicht.

Der Urishof im Jostal Wir haben nun die Vorfahren der Apollonia Kistler (1823 – 1906) auf den Winterhalterhof, den Balzenhof, ja sogar bis zur Posthalde und zum Adler in Hinterzarten und schließlich zum Ankenhof und Lippenhof verfolgt. Nun gibt es noch eine schöne Linie zu dem großen Urishof (79 Hektar) im oberen Jostal. Ein Urgroßvater von Apollonia, der Matthias Ketterer (1730 – 1797), Ehemann der Elisabeth Winterhalter (1730 – 1797), stammt vom Urishof (siehe nächsten Kasten). Von 1757 bis 1775 hat er auch den Geigerhof in Altenweg (62 Hektar) besessen. Über vier Generationen bis 1604 lassen sich unsere Vorfahren auf dem Urishof zurückverfolgen. Dabei ist der Ulrich Ketterer (1604 – 1677) zugleich der erste auf dem Urishof nachweisbare Bauer. Bemerkenswert ist auch hier, dass dieser Hof bis zum heutigen Tag in gerader und männlicher Linie von Ketterer zu Ketterer weiter vererbt worden ist. Der Vater des ersten Hofbauern Ulrich Ketterer (1604 – 1677) war Christian Ketterer vom Schlegelhof im Altenweg. Er ist der erste für den Schlegelhof genannte Bauer und war zugleich Vogt in der Vogtei Viertäler. Er ist am 08.11.1656 gestorben. Damit haben wir für unsere Apollonia Kistler die Ahnenreihe mit einem geachteten und ehrbaren Ahnherrn abgeschlossen.

Page 111: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

110

Urishof der Ketterer im Jostal

Der Urishof (erbaut1662) gehört heute Georg Ketterer geb. 1964. Er ist ein direkter Nachfahre von

Christian Ketterer († 1656) Christian Ketterer

∞ 1602 † 1656

Vogt, Schlegelhof

Ulrich Ketterer

~ 1604 – 1677

Urishof ↓

Georg Ketterer (sein Enkel Thaddäus ∞ Katharina Meier Witwe aus dem „Bären“ in Neustadt)

1648 – 1728

Urishof

Josef Ketterer

1694 – 1734

Urishof

Mathias Ketterer ∞ Elisabeth Winterhalder

1730 – 1797

Urishof / Geigerhof Balzenhof

↓ ↓

Theresia Ketterer ∞ Mathias Kistler

1759 – 1812 1760 - 1842

Vogt, Balzenhof, Hänslehof

Johann Kistler ∞ Barbara Imberi

1787 - 1826

Hänslehof

Apollonia Kistler ∞ Johann Schwörer 1823 – 1906 1805 - 1873

Winterhalderhof verheiratet mit: ∞

Page 112: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

111

Unterhöfenhof – Josenhof Nach so viel Apollonia wollen wir uns den Ahnen ihres Ehemannes zuwenden. Der Englandgänger Johann Schwörer (1805 – 1879) mit seinen 13 bzw. 14 Kindern auf dem Winterhalderhof ist uns gut vertraut. Er war der Sohn des Taglöhners Anton Schwörer (1780 – 1847) und seiner Ehefrau, der Hebamme Cäcilie Schwörer (1787 – 1857), die wir auch schon kennen. „Min Großvater kummt us emme kline Hüsli“, sagte meine Tante Lisel und meinte damit unseren Johann Schwörer. Doch er hat eine ahnsehnliche Ahnenreihe wie der große Kasten auf der nächsten Seite zeigt.

Page 113: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

112

Die Ahnen von Johann Schwörer

Unterhöfenhof der Hermeshof der Fürderer Berggrundhof der Schwörer

Schwörer Jostal – 122 ha am Titisee – 55 ha Jostal – 75 ha

erbaut: 1831 1548 1758

Philipp (Lips) Fürderer

gen. 1543, 1558

Hermeshof

↓ ?

Ulrich Fürderer

∞ vor 1602

Hermeshof ↓ ?

Konrad Fürderer

∞ vor 1614

Hermeshof ↓

Martin Schwörer Johann Fürderer („See-Hänsli“) Christian Schwörer

~ 1595 – 1685 nach 1614 – 1694 ~ 1575 – 1665

Unterhöfenhof Bauer u. Wirt auf Josenhof Berggrundhof

↓ ↓ ↓

Mathäus Schwörer Nikolaus Fürderer Mathias Schwörer

1637 – 1722 1656 – 1737 1628 – 1707

Unterhöfenhof Vogt, Josenhof Berggrundhof

↓ ↓ ↓

Georg Schwörer Mathias Fürderer Simon Schwörer

1686 – 1763 1688 – 1729 1667 – 1742

Unterhöfenhof Josenhof Berggrundhof ↓ ↓ ↓

Johann Schwörer ∞ Franziska Fürderer Josef Schwörer

1715 – 1801 1723 – 1794 1709 – 1751

Unterhöfenhof Berggrundhof ↓ ↓

Georg Schwörer Anton Schwörer

1744 – 1821 1749 – 1810

Kleiserhof Vogt, Feuerberghof

↓ ↓

Anton Schwörer (Taglöhner) ∞ Cecilia Schwörer (Hebamme)

1780 – 1847 1787 – 1857 Birrehäusle („e klins Hüsli“ nach Tante Lisel)

Johann Schwörer ∞ Apollonia Kistler

1805 – 1873 1823 - 1906

Englandgänger /Winterhalderhof verheiratet mit: ∞

Page 114: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

113

Dieser Stammbaum führt in männlicher Linie auf den größten Hof in Viertäler, den Unterhöfenhof (122 Hektar) der Schwörer. Der Urgroßvater unseres Johann Schwörer vom Winterhalderhof war ebenfalls ein Johann Schwörer (1715 – 1801). Und er war noch Bauer auf dem Unterhöfenhof. Sein nachgeborener Sohn Georg (1744 – 1821) hat die Hofwitwe Maria Schwörer vom Kleiserhof geheiratet und war dort Bauer. Auf dem Unterhöfenhof ist der erste Vorfahre, der auch als erster Bauer genannt wird, der Martin Schwörer (1595 – 1685). Die heutigen Hofbauern des Unterhöfen-hofs sind über die weibliche Linie ebenfalls mit diesem Ahnherrn in gerader Linie verwandt. Das schöne große Hofgut ist in der Familie geblieben.

Die Mutter des Georg Schwörer (1744 – 1821) war die Franziska Fürderer (1723 – 1794). Sie stammte von dem einladenden Josenhof im Jostal, der mit 49 Hektar die Durchschnittsgröße der Höfe in Viertäler aufweist, dazu aber von alters her eine Wirtsgerechtigkeit besitzt. Im Josenhof hat dann wie oben dargestellt der Siegfried vom Winterhalterhof die Anneliese Öffinger aus Nusplingen bei Tuttlingen geheiratet.

Page 115: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

114

Hermeshof – Berggrundhof Der Großvater von Franziska Fürderer (1723 – 1794) war Nikolaus Fürderer (1656 – 1737); er war von 1715 bis 1728 Vogt in Viertäler. Sein Großvater Konrad Fürderer (gestorben 1694) stammt vom Hermeshof (siehe vorherigen Kasten „Die Ahnen von Johann Schwörer“). Das wiederum ist der südliche Nachbarhof vom Winterhalterhof. Die andere Hälfte des Hirschbühls gehört zum Hermeshof und von dort aus erstrecken sich die Matten (Wiesen) des Hermeshofs bis an den Titisee. Neben dem Bühlhof und dem Seehof, der schon zur Gemeinde Saig gehört, hatte aus heutiger Sicht der Hermeshof die landschaftlich wohl schönste Lage in Viertäler. Durch die letzte Ernte, die ein Bauer einbringen kann, nämlich den Verkauf von Grund und Boden, dürften die Nachfahren des Hermeshofs reich geworden sein. Denn auf dem meisten früheren Gelände des Hofes steht heute die Ortsmitte von Titisee. Das ist gut aus der alten Karte in der Höfechronik zu entnehmen, die die Flurstücke im Altenweg um 1790 ausweist (oben S. 50). Auf dem Hermeshof lassen sich die Fürderer bis 1543 zurückverfolgen.

Page 116: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

115

Die Mutter unseres Altvaters und Englandgängers Johann Schwörer (1805 – 1873), die Cäcilie Schwörer (1787 – 1857) stammte vom Feuerberghof. Ihr Vater Anton Schwörer (1749 – 1810) war dort Hofbauer und zugleich von 1794 bis 1798 Vogt in Viertäler. Der Feuerberghof ist ein kleinerer Hof mit 30 Hektar Nutzfläche. Doch der Vogt Anton Schwörer stammt ursprünglich vom Berggrunderhof. Das ist ein ansehnlicher, im Jostal gelegener Hof (75 Hektar). Allerdings sind die Hänge hier etwas steiler. Die Ahnen des Anton Schwörer (1749 – 1810) lassen sich dort in direkter Linie bis zum ersten genannten Bauern, dem Christian Schwörer (1575 – 1665) zurückverfolgen. Auch der Berggrunderhof wird bis heute über die weibliche Linie von Nachfahren dieses Christian Schwörer bewirtschaftet.

Page 117: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

116

Page 118: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

117

Einige Ahnenreihen unseres Johann Schwörer (1805 – 1873) führen noch zu weiteren Höfen in Viertäler. Das sind der Tannenackerhof (22 Hektar), der Simonshof (63 Hektar), beide im Jostal, sowie der Josefenhof (29 ha) in der Schildwende. Darüber hinaus gehen die Ahnenreihen nach Breitnau, Waldau, Neustadt, Eisenbach und Löffingen. Insgeheim wünsche ich mir, dass einige meiner Kinder und Enkel, meiner Verwandten und Nachkommen dies alles lesen und dann einmal die 17 Höfe in Viertäler, auf denen unsere Vorfahren lebten, mit Interesse und Verbundenheit besichtigen. Vor allem wünsche ich mir, dass der Winterhalterhof eine Zukunft hat.

Die Zukunft der Schwarzwaldhöfe

Die Zukunft der Schwarzwaldhöfe hängt von der künftigen Landwirtschaftspolitik ab. Wie könnte, wie sollte diese sein? Dazu müssen wir einige Begriffe und offene Fragen klären. Warum brauchen wir heute eine Landwirtschaftspolitik, wo doch die Hofbauern Jahrhunderte lang ohne solche Almosen und Vorschriften von außen ausgekommen sind? Was ist überhaupt „Politik“? Warum läuft nicht alles von selbst und dabei richtig? So predigen es doch die Liberalen mit ihrem Laisser-faire – Laisser-aller (Lass es treiben – Lass es laufen). Auch die Marxisten glauben, der Staat könne absterben, wenn alles Eigen-tum abgeschafft und die glückliche Ur-Freiheit in einem paradiesischen End-Kommu-nismus wieder hergestellt sei. – Zu Johanns und Apollonias Lebzeiten wurde das alles schon heiß diskutiert. Diese Vorstellungen sind höchst gefährlich, weil die Technik und die Wissenschaft die Welt atemberaubend schnell verändern und dabei tief in die Natur und die Umwelt eingreifen. Das Naturgesetz des „Wachstums bis zur Katastrophe“31 muss durch Vernunft und zielgerichtetes Handeln außer Kraft gesetzt werden. Dazu müssen wir uns zunächst den Unterschied zwischen der alten vorindustriellen Welt und unserem heutigen Zeitalter klar machen. Der bayerische Volkskomiker Karl Valentin meinte ironisch: „Früher war alles besser. Sogar die Zukunft war besser.“ Besser war sie nicht, aber besser abzuschätzen. Die Verhältnisse änderten sich langsam, unmerklich. Die ständischen Menschen und die Ständeordnung wollten daher nichts ändern. Sie wollten ein Leben, wie es schon immer war oder sein sollte: auskömmlich und herkömmlich. Daher gelobten die Handwerksgesellen bei ihrer Freisprechung: „Nichts Altes abzustiften und nichts Neues aufzubringen.“ Ständisch denkende Menschen wollen höchstens „Reform“ oder „Reformation“; und beides bedeutet „Zurückformung“ in den ursprünglichen, richtigen und gottgewollten Zustand. – Moderne Wertkonservative kommen diesem Denken oft sehr nah. Denn das Leben sollte nach ihren Vorstellungen sicher und nachhaltig sein. Bei vielen kommt eine Technikfeindlichkeit dazu. Die Ständeordnung kennt daher keine Regierung und keine Verwaltung, sondern nur Gerichte und (Schutz-)Herrschaft. Diese haben bei Streit den Rechtfrieden wieder

31

Beispiele sind Heuschrecken oder Kaninchen in Australien, weil natürliche Feinde fehlen.

Page 119: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

118

herzustellen. Bei noch nie da gewesenen Fällen und Aufgaben haben wiederum die Gerichte mit ihren Schöffen und Räten Lösungen im Sinne der „herkömmlichen und gerechten Ordnung“ zu finden. Daher geht auch das ältere Recht dem jüngeren vor. Zu diesem Zweck haben im Mittelalter Klöster viele Urkunden gefälscht, um mit vorgetäuschten „alten Rechten“ neue Machtansprüche durchzusetzen. Der moderne Staat mit einer Regierung bildet sich erst ab dem Beginn der Neuzeit (ab 1500) heraus. Jetzt erst drehen sich die Menschen um; statt in die Vergangenheit blicken sie in die Zukunft. Die Ausdrücke Politik und Polizei (Verwaltung)32 entstehen. Dieser neue Staat will auf die Gesellschaft einwirken, sie gestalten und verändern. Er will den Menschen nicht mehr nur Schutz und Sicherheit nach innen und außen gewähren, sondern mit seiner Politik „Wohlfahrt für alle“ durchsetzen. Dazu schafft er sich als Machtmittel eine Verwaltung, die er zu recht Polizei nennt. Der mit der „allgemeinen Wohlfahrt“ begründete Eingriff in die alten Rechte führt zur neuen Staatsgewalt, die auch die „innere Souveränität“ des Monarchen genannt wird. Nun werden Gesetze gemacht, Mandate, Edikte und Verordnungen erlassen. – Wie tiefgreifend das alles wirkt, haben wir z. B. an den unterschiedlichen Folgen von Anerbenrecht und Realteilung, an der Bedeutung des Badischen Gütergesetzes von 1808 (S. 124) gesehen. Dieser monarchische Staat wird dann im 19. Jahrhundert von seinen liberalen bürgerlichen Gegnern als „absolutistischer Polizei- und Wohlfahrtsstaat“ an den Pranger gestellt und bekämpft. Der große Staatsmann und Bekämpfer der Ständeordnung in Frankreich war Richelieu (1585 – 1642). Er hat es sinngemäß so ausgedrückt: „Politik ist die Durchsetzung der Lebensnotwendigkeiten gegen den Zeitgeist.“ Dazu müssen wir allerdings die „Notwendigkeiten des Lebens“ vom kurzatmigen und unwesentlichen „Zeitgeist“ unterscheiden können. Dann bedeutet Politik den notwendigen Wandel durchzusetzen. „Reform“ heißt nicht mehr „zurück in die Vergangenheit“, sondern Gestaltung einer neuen, noch nie da gewesenen Zukunft. Erstaunlich ist, dass die Bürger genau dies von der Politik fordern. Das zeigt das folgende Schaubild über „Gewünschte Eigenschaften von Politikern“. Vor allem glaubwürdig, und das bedeutet „offen, ehrlich und zuverlässig“, soll ein Staatsmann sein. Er soll nicht lügen und taktieren. – Dann folgt Voraussicht. Das heißt er soll strategisch denken. Er soll in den fetten Jahren für die mageren vorsorgen. Das ist nach Meinung der Bürger die zweitwichtigste Fähigkeit. Und die Bürgerinnen und Bürger sind klug. Denn kreative, strategische Voraussicht ist noch wichtiger als Fach-wissen und Sachverstand. Erstaunlich war immer wieder für viele gewählte politische Mandatsträger, dass auch Durchsetzungsvermögen vor Bürgernähe kommt. Oft habe ich erlebt, wie Abgeordnete und Bürgermeister, Gemeinderäte und Partei-mitglieder ganz selbstverständlich davon ausgingen, „Bürgernähe“ sei das Wichtigste; das wollten die Leute vor allem und danach würden sie ihr Wahlverhalten ausrichten. Aber die Vorstellungswelt der heutigen politischen Klasse unterscheidet sich ganz erheblich von den Ansprüchen und Wertvorstellungen der Bürger und Wähler. Dabei verzerren vor allem die heute so wichtigen Medien einen wirklichkeits-nahen Gedankenaustausch.

32

Bis heute hat sich die alte Bedeutung bei den Begriffen „Gewerbepolizei“ oder „Baupolizei“ erhalten.

Page 120: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

119

Politiker sollten also ihre Überzeugung offen und ehrlich vertreten, dann sind sie glaubwürdig. Denken sie mit Voraussicht und Sachverstand, dann sind sie gute und überzeugende Politiker. Können sie sich durchsetzen, dann können wir sie wählen.

Quelle: Bundesverband der deutschen Banken, Die Welt vom 29.11.00 (in %)

Voraussicht und Sachverstand sagen uns: Unsere wichtigste Lebensgrundlage sind die Lebensmittel. Hunger und Durst sind furchtbar, tödlich. Schon die biblischen Herrscher sollten in den sieben fetten Jahren Getreidespeicher für die sieben mageren Jahre anlegen, damit ihr Volk überleben kann. Damit kommen wir zu einer weiteren ganz wichtigen Anforderung an die „Staatskunst“. Ein Staatsmann denkt langfristig, nachhaltig und das bedeutet „strategisch“. Die heutigen Politiker handeln dagegen kurzatmig, nach Meinungs-umfragen, aufgrund ständig irgendwo anstehender Wahlen. Sie denken nur „taktisch“, nicht „strategisch“. Dabei wird auf allen politischen Ebenen, von den Städten und Gemeinden über die Länder und den Bund bis hin zur Europäischen Union, der Ruf nach „politischer Strategie“ immer lauter. Doch was ist das? Der begabte Erfinder des strategischen Denkens ist Carl von Clausewitz (1780 – 1831), der preußische General und bedeutendste Theoretiker zum Kriegswesen. Sogar Stalin und Mao haben ihn studiert. Nach Clausewitz konzentriert sich Strategie auf das ganz Wesentliche und Wichtige; in letzter Konsequenz auf das „Überleben“. Sie ist ganz einfach und deshalb für viele sehr schwer. Clausewitz sagt: „Das Wissen im Krieg ist sehr einfach, aber nicht zugleich sehr leicht.“ Das strategische Ziel des Krieges ist der Frieden, der Sieg ist dazu „nur“ das militärisch-taktische oder operative Mittel. Seit einiger Zeit wird daher auch in der Betriebwirtschaftslehre zwischen strategischer Führung und taktischem Management unterschieden.

01020304050607080

Glaubw

ü. V

oraussiSachverstD

urchsetzBürg.nah

+ +

+

o

Page 121: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

120

Wenn Landwirtschaftspolitik strategisch und nachhaltig sein will, dann müssen wir mindestens in einem Zeitrahmen von 50 Jahren denken. In dieser Zeit, so haben wir am Wandel von 1950 bis 2000 gesehen, kann und wird sich heute außerordentlich viel ändern. Für die Landwirtschaftspolitik und unsere langfristigen Ernährungsgrundlagen in Deutschland und Europa ist die absehbare Entwicklung der Weltbevölkerung wichtig. Sie wird in den nächsten Jahrzehnten weiter, sogar – vorsichtig ausgedrückt – kräftig steigen. Als kürzlich die Chinesen begonnen haben Milch zu trinken, wurden sogar in Europa Milchprodukte knapper und teurer. Allerdings hat sich dabei herausgestellt, dass Chinesen genetisch bedingt Milch und Milcherzeugnisse schwer verdauen. Die kleine „Milchblase“ ist wieder geplatzt. Bei anderen Rohstoffen zeichnet sich ab, dass die Verknappung kommt. Dies gilt vor allem, weil die Schwellenländer reicher und konsumfreudiger werden. Nun sollte uns eine Entwicklung aufhorchen lassen. Finanzdienstleiter, die das Geld reicher Leute anlegen, beginnen bereits damit, in größerem Umfang landwirtschaft-liche Nutzflächen aufzukaufen. Sie spekulieren auf das Wachstum der Bevölkerung, höhere Ansprüche an die Ernährung und auf die Verknappung von Lebensmitteln. Dem „freien Spiel“ der Güter- und Finanzmärkte, der Spekulation und der Marktmacht sollten wir aber unsere wichtigste Lebensgrundlage nicht überlassen. Das wäre verantwortungslos, schlechte Politik. Ich war daher schon immer der festen Überzeugung, dass zumindest Europa sich langfristig und nachhaltig aus eigener Kraft ernähren können muss. Von der viel geforderten völligen Freiheit der Agrar-märkte halte ich nichts. Nach meiner tiefen Überzeugung ist auch der „Grund und Boden“ ein besonderes, unvermehrbares Gut, das nicht verspekuliert werden darf. Zur knapper werdenden landwirtschaftlichen Nutzfläche kommen die Klimaprobleme. Sie machen Überschwemmungen ganzer Landstriche (Niederlande), Missernten und Hungersnöte möglich. Wir haben dies in den letzten Jahren bereits einmal erlebt; und es führte 2008 in einigen Entwicklungsländern zu wahren Volkserhebungen. Ein Rückblick auf das gesamte 20. Jahrhundert zeigt uns, dass Hungersnöte schnell und überall mit und ohne Kriege auftreten können. Als Ergebnis bleibt: Zumindest die Europäische Union braucht die eigene Nahrungs-sicherheit. Die landwirtschaftliche Nutzfläche wird langfristig und strategisch gesehen knapper und wertvoller. Wenn durch das freie Spiel der Märkte und das kurzfristige Ausschlagen der Preise landwirtschaftliche Nutzflächen „unrentabel und unproduktiv“ werden, so kann sich dies schnell wieder ändern. Allerdings wird die Technisierung der Landwirtschaft bleiben und fortschreiten. Eine Person und eine Familie können daher immer mehr Fläche bewirtschaften. Mehr Bauern wird es nicht mehr geben. Was sollten wir also dem Erben eines Schwarzwaldhofes empfehlen? Er sollte die landwirtschaftliche Nutzfläche behalten und verpachten, nicht verkaufen. Wenn er selbst mit Leib und Seele Bauer ist, dann sollte er ein moderner Landwirt werden und das notwendige Land dazu pachten. In Uissigheim habe ich einen Verwandten, der so weit gegangen ist, dass er zu seinen fränkischen Äckern noch große Flächen im

Page 122: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

121

Osten dazu gepachtet hat. Wie unser Johann Schwörer ist er Fernpendler zwischen seinen beiden Betrieben. Er bewirtschaftet in Franken und in Brandenburg seine landwirtschaftlichen Nutzflächen. Betrachten wir auch die Hofgebäude. Ein Schwarzwaldhaus ist ein außerordentlich wertvolles Kulturgut, ein Kulturdenkmal. Als ich im Landwirtschaftsministerium Baden-Württembergs arbeitete, schimpfte ich immer darüber, dass nun auch im Schwarzwald nicht mehr im Schwarzwaldstil, sondern in der Bauweise von Aussied-lerhöfen die neuen Bauernhäuser errichtet wurden. Dagegen wurden immer nur finanzielle Gesichtspunkte angeführt. Damals (1974) wurde gesagt, ein Schwarz-waldhaus koste zu viel, über eine Million DM. Mir ist klar, dass ein Bauwerk mit Stil und Geschmack teurer ist als ein moderner fabrikartiger Bau nach Art der Kolchosen. Kultur kostet Geld. Das Freiburger Münster ist heute unbezahlbar. Schon die reine Erhaltung kostete manchen zu viel. Wer aber solch ein Bauwerk besitzt, der sollte sich auch über den kulturellen Wert freuen und ihn erhalten. Das ist Lebensqualität. Daraus kann übrigens auch Nutzen gezogen werden. Ein Hof kann wie schon bei der Tante Lisel als Gastbetrieb mit Atmosphäre genutzt werden. Beispiele wie Südtirol oder Österreich zeigen, dass in Fremdenverkehr und Erholung, im Gesundheits- und Kurbetrieb erhebliche wirtschaftliche Möglichkeiten stecken. Viele Schwarzwaldhöfe haben das erkannt. Allerdings wird es künftig auch Höfe geben, die überhaupt keine Landwirtschaft betreiben und dann muss die sinnvolle und stilgerechte Umnutzung des ganzen Gebäudes vollzogen werden. Einem Hoferben, der nicht Bauer werden will, würde ich also empfehlen, über solche Möglichkeiten nachzudenken. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Oft bin ich früher durch die schönen Täler Spriegelsbach oder Schildwende gewandert. Ein Schwarzwaldhof war schöner als der andere. Und dann bin ich ins Träumen gekommen. So einen Hof zu haben, auf ihm schöpferisch zu denken, zu studieren und zu forschen, das müsste ungemein anregend, geradezu paradiesisch sein. Dabei gingen mir die Beispiele von zwei bekannten Professoren durch den Kopf. Der Philosoph Hermann Lübbe hatte in Kärnten ein Gehöft und zog sich mit seiner ganzen Familie in den Sommerferien dort hin zurück, um zu denken, sich zu entspannen und gute Einfälle zu bekommen. Der Rechtswissenschaftler Flume hatte ein schönes Haus auf der Lenzer Heide bei Chur in der Schweiz. Und dabei muss heute keiner auf die Verbindung mit der Außenwelt verzichten, wenn er das Internet nutzt. Das Silicon Valley ist ein etwas größeres Beispiel für eine „Erfinderwerkstatt in einer anmutigen Tallandschaft“. Wie die landwirtschaftliche Nutzfläche, so sollte auch ein Schwarzwaldhof nie verkauft, höchstens vermietet oder verpachtet werden. Wie oft hat sich mein Vater geärgert, dass der „Bären“ in Neustadt nicht in der Familie geblieben ist

Page 123: Familiengeschichte - pfreundschuh-heidelberg.de · durch Alt-Hendesse springen durfte und meine Klassenkameraden treffen konnte. Und wenn ich so mit ihnen durch die Gassen und die

122

Inhalt Die Ahnen im Überblick

Das alte Dorf

Die alte Stadt

Die Schwarzwälder

Die Tante Lisel

Der Winterhalderhof

Der „ganze Hof“ und seine „Hauswirtschaft“

Vom Hof zum Betrieb – das Ende der alten Landwirtschaft

Gute Zeiten – schlechte Zeiten auf dem Hof

Die Zeit von Johann und Apollonia

Die Englandgänger

Die Vorfahren am Titisee

Die Vogtei Viertäler

Die Höfe unserer Ahnen

Winterhalderhof

Ankenhof – Lafette – „Pfauen“ in Neustadt

Balzenhof – Hänslehof

Die Posthalde im Höllental – der Adler in Hinterzarten

Lippenhof in Eckbach – Urishof im Jostal

Unterhöfenhof – Josenhof

Hermeshof – Berggrundhof

Die Zukunft der Schwarzwaldhöfe