Familienstrukturen

44
Schweizerisch? Urs Jaeggis familiensoziologischer Essay.

description

Seminararbeit im Fach Sozilogie. Diskutiert Schweizer Familienstrukturen auf Basis eines Textes des Schrifstellers Urs Jäggis.

Transcript of Familienstrukturen

Page 1: Familienstrukturen

Schweizerisch?

Urs Jaeggis familiensoziologischer

Essay.

Benedikt VogelRosenheimstrasse 5

9008 St. GallenTel.: 079'743’27’79

[email protected]: 05602537

Page 2: Familienstrukturen

SeminararbeitUniversität St. Gallen

Soziologisches SeminarProf. Dr. Walter E. Busch

2. Februar 2006

Page 3: Familienstrukturen

INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG..........................................................................................................................................1

2. EINORDNUNG DER FAMILIE JÄGGI IN DIE FAMILIENSOZIOLOGIE.................................1

2.1. DIE FAMILIE JÄGGI..........................................................................................................................1

2.2. FAMILIENBILDER WÄHREND JÄGGIS KINDHEIT.............................................................................2

2.2.1. Die offizielle Schweizer Familie.................................................................................................2

2.2.2. Die sowjet-kommunistische Familie..........................................................................................2

2.2.3. Die nationalsozialistische Familie.............................................................................................3

2.3. FOLGERUNGEN..................................................................................................................................3

3. BETRACHTUNG VON EINZELASPEKTEN IN JÄGGIS KINDHEIT..........................................3

3.1. VORGEHEN UND GRENZEN...............................................................................................................3

3.2. SOZIOLOGISCHER HINTERGRUND DER QUELLPERSONEN..............................................................3

3.3. SCHULE..............................................................................................................................................4

3.4. ANPASSUNG.......................................................................................................................................5

3.4. SEXUALITÄT......................................................................................................................................6

3.5. GEHORSAM........................................................................................................................................6

3.5. GEFÜHLE...........................................................................................................................................7

3.6. FOLGERUNGEN..................................................................................................................................7

4. LITERARISCHE BETRACHTUNG....................................................................................................8

4.1. KRITIK AN DER FORM......................................................................................................................8

4.2. KRITIK AM INHALT...........................................................................................................................8

5. SCHLUSS.................................................................................................................................................9

BIBLIOGRAPHIE....................................................................................................................................10

ANHANG 1: JOSEF MARTI...................................................................................................................12

ANHANG 2: MARIE VOGEL-FELDER...............................................................................................15

anhang 3: herr und frau schwab..............................................................................................................19

Anmerkung:

Frauen sind bei maskulinen Formulierungen mitgemeint.

Page 4: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

1. EINLEITUNG

Kann es die Schweiz geben? Die Differenzen zwischen Romandie und

Deutschschweiz, zwischen Stadt und Land sind gross. Trotzdem

verbindet zumindest die Deutschschweizer mehr als ein gemeinsamer

Staat und Küchenschränke voller Migros- und Coopprodukte. Bei der

Lektüre von Max Frischs „Dienstbüchlein“, Adolf Muschgs „Besuch in der

Schweiz“ und Peter Bichsels „Des Schweizers Schweiz“ (Alle drei Autoren

sind Deutschschweizer) dachte ich immer wieder: „Stimmt, genau so

erlebe ich dieses Land“.

Auch bei der Lektüre von Urs Jäggis „Schweigen ist Gold oder einige

Notizen eines in der Schweiz Aufgewachsenen zur Schweizerfamilie“

dachte ich mir: „stimmt!“ Dies ist jedoch noch kein Beweis der

Allgemeingültigkeit von Jäggis Text. Deshalb wird in dieser Arbeit Jäggis

Familienleben auf seine Beispielhaftigkeit für Deutschweizer seiner

Generation überprüft. Im 2. Kapitel wird Jäggis Familie in die

Familientheorie eingeordnet und gegenüber anderen Familienformen

abgegrenzt. Das 3. Kapitel beleuchtet verschiedene Teilaspekte von

Jäggis Kindheit und vergleicht diese mit den Erlebnissen von vier

Interviewten Personen und den biographischen Texten von Fritz Zorn und

Peter Meier. Im 4. Kapitel wird Jäggis Text formal und inhaltlich

analysiert.

2. EINORDNUNG DER FAMILIE JÄGGI IN DIE

FAMILIENSOZIOLOGIE

2.1. Die Familie Jäggi

Die bürgerliche Familie ist nach Gukenbiel (2001, S. 80) eine

Kernfamilie1. Im Gedankengut des 19. Jahrhunderts galt die Kernfamilie –

nicht das Individuum - als kleinste Einheit des Staates (Rindlisbacher,

1987, S. 69). In ihr herrschte eine Rollenverteilung nach Geschlecht, die

Heinrich Rhiel (1862, zit. in Rindlisbacher, S. 70) wie folgt definierte:

„Der Mann gibt dem Hause und der Familie Namen und äussere

Gestaltung; er vertritt das Haus nach aussen. Durch die Frau aber

1 Kernfamilie: Lebensgemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern ohne andere

Personen im gleichen Haushalt. (Rosenbaum, 1982, S. 27).

.:1:.

Page 5: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

werden die Sitten des Hauses erst lebendig; haucht sie in der That dem

Hause den Odem des Lebens ein“. Nach Otto-Walter (1994, S. 197) erhält

der Vater in der bürgerlichen Familie durch seine „unternehmerische

Leistung“ eine Vormachtsstellung. Laut Rosenbaum (1982, S. 267) erhob

die bürgerliche Gesellschaft die Erziehung der Kinder durch die Eltern

zum Ideal. Die bürgerliche Gesellschaft verpönte Gewalt als

Erziehungsmassnahme ebenso wie das übermässige Verwöhnen der

Kinder. Es bürgerte sich eine Rollenteilung ein: der Vater strafte, die

Mutter verwöhnte (Rosenbaum, S. 267 – 268).

Familie Jäggi war eine Kernfamilie. Der Vater vertrat Jäggis nach

aussen: „Unsere Eltern, typischerweise über den Vater vermittelt …“ (S.

183). Die Mutter, von der Jäggi keine Erwerbstätigkeit erwähnt, war der

emotionale Kern: „Ich hatte meine Mutter lieb, wir lachten und sangen

viel zusammen, balgten uns“ (S. 189). Der Vater ernährte als Jurist die

Familie (S. 183). Erzogen wurde Jäggi von seinen Eltern, geschlagen

haben sie ihn nie (S. 183). In anbetracht dieser Punkte waren Jäggis eine

bürgerliche Familie.

2.2. Familienbilder während Jäggis Kindheit

2.2.1. Die offizielle Schweizer Familie

Im 20. Jahrhundert definierten Juristen das Familienbild (Gugerli,

1991, S. 69). Deshalb wird im folgend Abschnitt das Schweizer

Familienbild während Jäggis Kindheit anhand der damaligen Politik

erörtert.

Nach Gugerli (S. 70) zementierte die Bundesversammlung 1912 mit

dem Zivilgesetzbuches (ZGB), ein nicht mehr dem Zeitgeist

entsprechendes von Geschlechterrollen geprägtes Familienbild als

Bastion gegen den Individualismus. Das bürgerliche Familienbild

dominierte die Schweizer Politik laut Huber (1991, S. 160) bis in die

60er-Jahre. Eine Definition von Familie nahmen die Politiker bis zu

diesem Zeitpunkt in ihren Diskussionen nicht vor, „weil grundsätzlich

klar war, was darunter zu verstehen war“ (Huber S. 160). Wie die

bürgerliche Familie war auch Kinderreichtum ein Ideal der Politik

.:2:.

Page 6: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

(Huber, S. 151), was den in den frühen 1930er-Jahren ein Rekordtief

erreichenden Geburtenzahlen widersprach (Gilland, 1991, S. 11).

2.2.2. Die sowjet-kommunistische Familie

Nach Wolffson (1936, p. 281), der in sowjetischen Parteiorgan

publizierte (Schlesinger, 1949, S. 281), waren in der Sowjetunion die

Geschlechter gleichberechtigt. Die sowjetische Frau war berufstätig und

nahm am Gemeinschaftsleben teil. Um diese Aktivitäten mit ihrer Familie

zu vereinen unterstützte sie der Staat mit Kinderkrippen und –gärten.

Zusätzlich zu Betreungs-einrichtungen sollten Gemeinschaftsküchen die

Frauen von der Hausarbeit entlasten und Mutterschaftsurlaub das

vereinen von Berufs- und Mutterpflichten erleichtern (Wolffson, pp. 281-

283). Die geförderte Berufstätigkeit und die zahlreichen

Betreuungsplätze führten zwangsläufig zu einer Erziehung durch den

Staat.

Wolffson (p. 287) betont die Gleichberechtigung von Männern und

Frauen in allen Berufen. Zum Beispiel in typischen Männerdomänen, wie

der Minenindustrie (Wolffson, p. 287) oder in qualifizierten Berufen,

durch „Bildung sowohl für Jungen als auch für Mädchen“ (Wolffson, p.

285, eigene Übersetzung). Ebenso lobt er (p. 295) das Politikengagement

der Frauen.

2.2.3. Die nationalsozialistische Familie

Im Bezug auf die Geschlechterrollen entsprach das

nationalsozialistische Familienbild dem bürgerlichen, wie Rindlisbacher

(1987, S. 77) schreibt: „Wie anderswo auch, wurde im Dritten Reich die

Mutterschaft als der natürliche Beruf der Frau propagiert […]“.

Ausgeprägt war der Einfluss des nationalsozialistischen Staates auf das

Familienleben. Frauen, deren Herkunft nicht zur herrschenden

Rassenideologie passte, verunmöglichte er Kinder zu gebären. Im

Gegensatz dazu ehrten die Nationalsozialisten gebärfreudige zur

Rassenideologie passende Frauen mit dem Mutterkreuz (Rindlisbacher,

S. 77).

.:3:.

Page 7: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

2.3. Folgerungen

Zwar kann aus der Politik nicht direkt auf die Realität geschlossen

werden, da aber aus der Politik und Staatsideologie Gesetze entstehen,

die bis zu einem gewissen Grad die Realität beeinflussen, sind sie für das

Nachvollziehen eines allgemeinen Familienbildes trotzdem nützlich.

Als bürgerliche Familie mit geschlechtspezifischer Rollenteilung

entsprachen Jäggis dem schweizerischen und deutschen Familienbild in

den 30er- und 40er-Jahren. Als Zwei-Kind-Familie entsprachen sie jedoch

nicht der kinderreichen Idealfamilie. Die geschlechterspezifische

Rollenverteilung und die Erziehung der Kinder durch die Eltern

unterschieden sich Jäggis von der sowjet-kommunistischen Familie.

3. BETRACHTUNG VON EINZELASPEKTEN IN JÄGGIS KINDHEIT

3.1. Vorgehen und Grenzen

Die Erziehung im Hause Jäggis wird anhand von fünf zentralen

Aspekten seiner Erziehung mit der Kindheit von Personen ähnlichen

Alters verglichen. Dazu dienen die mittels Interview vom Autor dieser

Arbeit aufgezeichneten Erinnerungen von vier Personen und die zwei in

Buchform erschienenen Biographien „Mars“ von Fritz Zorn (1977) und

„Stationen“ von Peter Meier (1977). Da einige Themen starkes

moralisches Gewicht haben, was nach Noelle-Neumann & Petersen

(2000, S. 89), die Befragten dazu verleitet auf „öffentlich erwünschte

Weise“ zu antworten, wird zusätzlich zu den direkten Aussagen auch das

Handeln der Befragten berücksichtigt.

3.2. Soziologischer Hintergrund der Quellpersonen

Marie Vogel-Felder ist 1927 in Schüpfheim LU geboren. Schüpfheim

ist Hauptort des Amtes Entlebuch, laut Unternährer (1995, S. 161) „noch

immer ein vorwiegend durch die Landwirtschaft geprägtes Gebiet“. M.

Vogel-Felder wuchs als ältestes von sieben Kindern auf dem Hof

Aemenegg in einer katholischen Bauernfamilie auf (Interview, 30.

Dezember 2005).

Josef Marti ist 1935 in Menzberg LU geboren. Aufgewachsen ist er

als ältester von sieben Geschwistern auf dem Hof Töifhübel in Hergiswil

.:4:.

Page 8: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

LU auf. Hergiswil und Menzberg liegen im Luzerner Teil des

Napfgebietes, über das Rosenkranz (1996, S. 16) schreibt: „Diese

bewaldete, kleinräumige, von tiefen Gräben durchfurchte Landschaft

weist wenige Dörfer, aber viele Einzelhöfe aus. Es ist schwer zugänglich

und hat keine Eisenbahnverbindung“. Der Töifhübel ist einer dieser

abgelegenen Höfe. Als Primarschüler wurde J. Marti zu verschiedenen

Bauern in Hergiswil verdingt. Er ist katholisch (Interview, 21. Januar

2006).

Anna Schwab ist 1925 in Escholzmatt LU geboren und im

Nachbardorf Schüpfheim LU aufgewachsen. Sie hat einen älteren Bruder

und eine jüngere Schwester. Ihr Vater war Schreiner- und

Zimmermeister mit eigenem Geschäft. Ihre Mutter arbeitete

aushilfsweise als Serviceangestellte. A. Schwab ist katholisch. (Interview

21. Januar 2006).

Johann Schwab ist 1923 in Reiden LU geboren und aufgewachsen.

Rosenkranz (S. 17) bezeichnet Reiden, das an der Eisenbahnlinie Luzern

– Olten liegt, als „stattliches Industriedorf“. J. Schwabs Vater verdiente

vor dem Zweiten Weltkrieg sein Geld als Coiffeur mit eigenem Geschäft,

seine Mutter betrieb eine Mercerie. Nach dem Krieg arbeitete er bei der

Siegfried AG in Zofingen als Produktionsmitarbeiter. Schwab, dessen

Vater reformierter Konfession war, wurde nach der Religion der Mutter

katholisch erzogen (Interview 21. Januar 2006).

Fritz Zorn (Pseudonym) starb im Alter von 32 Jahren. Seine

Autobiographie „Mars“ wurde kurz nach seinem Tod veröffentlicht

(Muschg, 1977, S. 7). Zorns Vater war „ein üblicher Millionär der Zürcher

Goldküste“ (Zorn, 1977, S. 188). In Mars bezichtigt er seine Eltern

schuldig an seiner Depressionen und am Krebs, an dem er vor Erscheinen

des Buches starb, zu sein: „Ich bin jetzt im KZ und werde durch das

‚elterliche’ Erbteil in mir vergast“ (Zorn, S. 179). Seine Eltern erzogen

ihn areligiös (Zorn, S. 69).

Nach dem Tod seines Vaters schrieb Peter Meier das Buch

„Stationen. Erinnerungen an Jakob Meier. Zugführer SBB.“, in dem er

dessen Leben aus seiner persönlichen Sicht erzählt. Meier wuchs in

Zürich auf. Sein Vater, einige Jahre Mitglied der PdA (Meier, 1977, S.

.:5:.

Page 9: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

38), arbeitete sich zum Zugführer hoch (Meier, S. 48). Die Mutter betrieb

ein eigenes Bettwarengeschäft (Meier, S. 62). Meier wurde nicht religiös

erzogen (Meier, S. 101).

3.3. Schule

Jäggi fürchtete sich vor der Schule und den dort ausgeteilten

Schlägen (S. 181). In der Schule etwas gelernt zu haben erwähnt er nie,

obwohl für ihn als Professor Bildung einen hohen Stellenwert haben

muss. Er zeichnet ein Bild der Schweizer Schule als Formungsinstitution:

„Um uns diesen Charakter einzubläuen, bläute er [Lehrer] unsere Finger“

(S. 185).

Von den Interviewten fürchtete sich niemand vor der Schule, obwohl

sie teilweise schaurige Geschichten erzählten: J. Schwabs (Interview)

Lehrer setzte ein Mädchen auf die Wandtafel und band es an ihren

Haaren fest. Er zog die Tafel mit dem Mädchen hoch und beliess diese

eine Zeit lang so. Keine der Interviewten Personen erzählte in der Schule

heftig geschlagen worden zu sein. J. Marti bekam einen Schlag auf den

Kopf, was auch gar nicht geschadet habe (Interview). M. Vogel-Felder

(Interview) musste für einen Wiederholungsfehler die Finger hinhalten.

Den Schlag mit dem Lineal habe sie noch lange gespürt und bis heute

nicht vergessen. Die Schule als Ort des freien Denkens hat niemand

geschildert. „Alles musste genau gemacht werden“, erzählte A. Schwab

(Interview): Die Birne im Zeichnungsunterricht kopierten die Schüler

fotographisch genau aufs Papier und die Schrift musste schön sein (A.

Schwab, Interview). Auch J. Schwab und J. Marti betonten die hohe

Bedeutung genauen Arbeitens während ihrer Schulzeit, insbesondere des

Schönschreibens-

3.4. Anpassung

„Ja nicht aus der Reihe tanzen“, schreibt Jäggi in grossen Lettern (S.

194 – 195). Der Satz „Was sollen bloss die andern von dir denken?“

verfolgt ihn seit seiner Kindheit (S. 193). Die Erziehung bezeichnet er als

Deformation, die dazu diene Kinder zu gesellschaftskonformen Wesen zu

.:6:.

Page 10: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

biegen. Einziges akzeptiertes Ausbrechen aus dem Mittelmass sei

beruflicher Erfolg (S. 194- 195).

Eine extrem angepasste Erziehung erlebte Zorn (S. 214): „Man hat

mich aus dem Zwang des comme il faut so sehr comme il faut erzogen,

dass ich vor lauter comme il faut kaputt gegangen bin“. Auf die Frage

nach Werten, die ihre Eltern vermittelt haben, zitierte A. Schwab ihren

Vater, der ihr sagte: „Wenn du irgendwo bist, dann benimm dich so, dass

du immer, ohne dich zu schämen, dorthin zurück kannst“ (Interview).

Eine Verhaltensmaxime, die sich nach dem Urteil anderer richtet. J.

Martis Eltern vermittelten ähnliche Werte: „Nett zu anderen Leuten sein,

grüssen, nicht auslachen und sich aus Dingen raushalten, die einem

nichts angehen“ (Interview). Zwar brachten Herr Schwabs Eltern ihrem

Sohn bei „korrekt und anständig“ zu sein, sie unterstützten aber auch

unangepasstes Verhalten, zumindest nach seiner Schulzeit. Als der

Dorfpfarrer in einer Predigt während dem Zweiten Weltkrieg sagte, die

Schweizer müssten den Kopf hinhalten und verrecken, wenn Hitler käme,

kritisierte J. Schwab den Pfarrer während der Messe und brach mit der

Kirche, was sein Vater billigte (Interview). Meiers (S. 34) Vater war auch

keine angepasste Person: „… Vater war keineswegs ein reibungslos

funktionierender Roboter, sondern ein Mann, der oft aufbegehrte …“. M.

Vogel-Felder sagt von sich: „Wenn ich auf die Strasse gehe, interessiert

mich nicht, was andere über mich denken“ (Interview).

3.4. Sexualität

In der Familie Jäggi wurde über Sexualität „nicht oder nur

bedrohlich“ geredet (S. 182). Eine Begegnung mit einem Pädophilen

wagte Jäggi nicht Zuhause zu erzählen, obwohl sie ihn bedrückte (S.

182). Von seiner Aufklärung schreibt Jäggi nicht.

In allen als Quellen benutzten Familien war Sexualität tabu. Peter

Meiers (S. 88) Vater versuchte seinen Sohn erst aufzuklären, als dieser

17 war, und wie der Vater die Lage richtig einschätzte, schon „wusste

wie’s geht“. Bei Fritz Zorn (S. 69) waren „alle Gesprächsthemen tabu, die

etwas Interessantes an sich hatten. … Religion und Sexualität“. J. Marti

informierte sich auf dem Pausenplatz. Zuhause fanden seine ersten

.:7:.

Page 11: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Begegnungen mit Mädchen kein Gehör (Interview). Der Dorfpfarrer von

Reiden unternahm in J. Schwabs Klasse einen Aufklärungsversuch, die

Wahrheit hinter Bildsprache von Bienen und Blumen versteckend. Als die

Sechstklässler sich das Lachen nicht verkneifen konnten, brach er ab.

Aufgeklärt wurde J. Schwab durch ein Buch, das ihm seine Eltern gaben

(Interview). Auch in A. Schwabs (Interview) und M. Vogel-Felders

(Interview) Familien wurde nicht über Sexualität gesprochen.

3.5. Gehorsam

Urs Jäggi wurde „ohne Möglichkeit zur Widerrede“ erzogen. Essen

musste er, was auf dem Tisch stand (S. 184), mit italienischen Kindern

spielen durfte er nicht (S. 191). Begründungsversuche für sein Handeln

„schnitten“ die Eltern ab (S. 184). Trotz des anerzogenen Gehorsams

handelte Jäggi nicht immer danach, wie die gefälschte Unterschrift (S.

183) und seine Weigerung Mehlsauce zu essen (S. 184) zeigen.

M. Vogel-Felder wurde durch ihre Eltern zu Gehorsam erzogen: „Die

Eltern sagten, was wir machen mussten und uns war nichts anderes

bekannt als zu folgen“. Auch J. Marti musste gehorsam sein (Interview).

Fritz Zorn (S. 177) formuliert den Gehorsam in seiner Familie als geistige

Unfreiheit: „Nicht was ich wollte, ist geschehen, sondern was meine

Eltern ... in mich gelebt haben“. A. Schwab konnte zwar ihre Anliegen bei

den Eltern anbringen und bekam „manchmal auch recht“, trotzdem war

sie gehorsam. „Was die Eltern sagten, war richtig“, sagte sie (Interview).

Anders erlebte J. Schwab (Interview) seine Kindheit: „Wir waren nie

unter der Knute. … . Wenn man etwas haben wollte, wurde Zuhause

darüber gesprochen“.

3.5. Gefühle

Über Probleme sprach Jäggi mit seinen Eltern nicht (S. 188). Die

Angst vor der Schule, die ihn „monatelang“ eine Stunde zu früh weckte

(S. 181), die Angstgefühle, die ihn nach der Begegnung mit einem

Pädophilen quälten (S. 182), das Motiv seiner Unterschriftenfälschung (S.

.:8:.

Page 12: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

183) und seine Abneigung gegenüber Mehlsauce (S. 184) blieben

unbesprochen und seine eigene Bürde. Mit seiner Mutter hatte er

teilweise ein herzliches Verhältnis (S. 189). Auf S. 190 schreibt er, die

Scheizer Familien hätten das Gefühl es sei nicht nötig über Gefühle zu

sprechen.

Auf die Frage, ob er mit seinen Eltern über Gefühle sprach

antwortete J. Marti: „Nein“. Obwohl seine Kindheit viel Anlass zu Sorgen

bot: Schon als Primarschüler verdingten ihn seine Eltern und war nur

noch während den Wochenenden Zuhause. „Wenn ich in einem Tief war,

wurde dies nicht wahr genommen“, sagte er (Interview). Auch in M.

Vogel-Felders Familie „redete man nicht“ über Gefühle (Interview). Zorns

(S. 58) Eltern waren sich „nicht gewohnt, über seelische Nöte zu reden“.

Meier (S. 78) erlebte seinen Vater als „abhold“ gegenüber

Gefühlsäusserungen. J. Schwab (Interview) gab keine präzise Antwort. In

A. Schwabs Familie wurden Gefühle zwar gezeigt, über sie gesprochen

wurde aber nicht: „Den Vater haben wir umarmt, wann wir wollten.

Darüber [Gefühle] gesprochen haben wir selten“ (Interview).

3.6. Folgerungen

Trotz der Verschiedenartigkeit (soziale und geographische Herkunft)

der Quellbiographien gleichen sich die Erlebnisse, weshalb Jäggis

Kindheit in ihren Grundzügen als deutschschweizerisch bezeichnet

werden kann. Abgegrenzt gegenüber anderen Kulturräumen ist sie

dadurch nicht.

Eine an dieser Stelle tiefere Betrachtung bedürfte das Kapital 3.4. In

diesem zeigen sich Unterschiede in der anerzogenen Angepasstheit. Zum

einen zwischen Frau Vogel-Felder und Frau Schwab, zum anderen

zwischen Peter Meiers Vater und Zorn. Grund dafür könnte der soziale

Status der Familien sein. Als reiche Goldküstenfamilie hatte Familie Zorn

zu repräsentieren und vorbildlich zu sein. Von einer Arbeiterfamilie wie

Meiers erwartete die Gesellschaft weniger vorbildliches Verhalten. Durch

ihr Fehlverhalten hätten Arbeiter ohnehin wenig an Status verlieren

können. Ähnlich verhielt es sich für Bergbauern (M. Vogel-Felder) und

Gewerblern (A. Schwab). Nur letztere hatten Etwas zu verlieren. In die

.:9:.

Page 13: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Kategorie jener, die zu verlieren hatten, fallen als Juristenfamilie (S. 183)

auch Jäggis.

Urs Jäggis Kindheit unterscheidet sich von den Quellbiographien

durch seinen Mut die Regeln zu brechen, seine herzliche Beziehung zu

seiner Mutter, die in ähnlicher Weise nur A. Schwab schilderte und seine

Ängste, unter denen er als Kind litt. Alle anderen erzählten, weder Gewalt

an der Schule, noch die Unwissenheit über Sexualität und der Gehorsam

habe sie bedrückt.

4. LITERARISCHE BETRACHTUNG

4.1. Kritik an der Form

Sprache & Stil: Der Text ist in Prosa verfasst. Die Sprache ist

belletristisch. Kunstvoller Stilmittel bedient sich Jäggi nicht.

Struktur: Der Text ist in Teile gegliedert, die alle eine Überschrift

tragen. Diese sind nicht, wie in wissenschaftlichen Arbeiten üblich, auf

der gleichen Abstraktionsstufe, sondern in belletristischer Sprache

verfasst. Er weist, die für wissenschaftliche Arbeiten typischen Teile

Einleitung (S. 175 – 180), Hauptteil (S. 180 - 196) und Schluss (S. 196 –

198) aus, wobei diese nicht den von Metzger (2005, S. 124 – 128)

aufgestellten formalen Kriterien für wissenschaftlichen Arbeiten

entsprechen. Z.B. sind Einleitung und Schluss in sich in Teile gegliedert

und sind nicht mit ihrer Funktion betitelt. Die Einleitung nimmt viel Platz

ein. Der Hauptteil weist in sich keine klare Gliederung auf. Teilweise ist

er chronologisch (Kindheit zuerst, die Erziehung seiner Tochter zuletzt)

geordnet, jedoch nicht konsequent (Schulerlebnisse der eigenen Tochter

mitten im Hauptteil). Die verschiedenen Aspekte seiner Erziehung

behandelt Jäggi in der Tendenz im selben Teil, jedoch auch nicht

konsequent, z.B. erwähnt er die Schule auf S. 181 und auf S. 185 ein

zweites Mal. Dazwischen behandelt er nicht mit der Schule in

Zusammenhang stehende Themen.

4.2. Kritik am Inhalt

Schwäche des Textes ist die unklare Trennung zwischen

wissenschaftlicher Arbeit und persönlicher Erzählung in literarischer

.:10:.

Page 14: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Form. Zwar schreibt Jäggi in der Einleitung, sein Aufsatz „soll nicht

exemplarisch sein“ (S. 175). Mit dieser Aussage widerspricht er dem

Titel2, der Allgemeingültigkeit suggeriert. Jäggi schreibt von persönlichen

Erlebnissen und im nächsten Absatz über soziologische Theorien, die er

mit Quellen stützt, wie zum Beispiel auf S. 190, wo er von dem Leben

seiner Mutter im Alter zur Gehorsamstheorie wechselt. Diese stützt er

mit Quellen, wobei dies erst bei den letzten Sätzen seiner Ausführung

geschieht. Seine ersten Sätze zum Gehorsam im Abschnitt untermauert

er weder durch Quellen, noch durch Argumentation. Ein weiteres Beispiel

ist auf S. 194 zu finden, wo Jäggi behauptet: „die Schweizerfamilie ist,

kein Zweifel, eine eher nüchterne Erziehungsanstalt“. Diese These

beweist er nur durch seine eigenen Erlebnisse.

Diese Durchmischung von Literatur und Wissenschaft ist eigentlich

zu begrüssen. Das Lesen des Jäggi-Aufsatzes ist interessanter als das

einer auf empirischen Daten beruhenden soziologischen Abhandlung und

trotzdem gibt er mehr her, als ein durchschnittlicher Prosatext. Erstens

durch die scharfe Beobachtungsgabe Jäggis und zweitens durch das

eingebaute soziologische Wissen. Allerdings darf der Leser nicht dem

Trugschluss verfallen, Wissenschaft zu lesen. Diese Sicherheit ist bei

Jäggis Aufsatz nicht gegeben.

5. SCHLUSS

Als bürgerliche Familie entsprachen Jäggis dem politischen

Familienideal in der Schweiz. Der Vergleich mit den sechs Biographien

zeigt, dass Jäggis nicht nur ihren Familientypus mit vielen anderen

Schweizer Familien gemeinsam hatten, auch die an Jäggi vermittelten

Werte, der Schulalltag und der häusliche Umgang entsprach dem vieler

anderer. In den verglichenen Punkten erlebte Jäggi und die

Quellpersonen fast dasselbe, obwohl sie aus verschiedensten sozialen

Schichten und Orten kommen. Dass Jäggi mit seinem Essay das

Deutschschweizer Familienleben treffend beschreibt, liegt wohl eher an

2 Schweigen ist Gold oder einige Notizen eines in der Schweiz Aufgewachsenen zur

Schweizerfamilie.

.:11:.

Page 15: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

der Konformität von Jäggis Familie, als an seinen ausführlichen Studien.

Die Verwendung von solchen ist zumindest im Aufsatz nicht erkennbar.

Diese Arbeit beantwortet die Frage, ob Jäggis Kindheit in ihren

Grundzügen „deutschschweizerisch“ war mit einem Ja und wirft damit

eine neue Frage auf: Warum gleichen sich die Biographien von Personen

unterschiedlichster sozialer Herkunft in solchem Ausmass?

Diese Arbeit umfasst 21'991 Zeichen. Inklusive Leerzeichen und

Fussnoten. Exklusive Titelblatt, Inhaltsverzeichnis, Bibliographie, Anhang

und diesen drei Schlusssätzen.

.:12:.

Page 16: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

BIBLIOGRAPHIE

Gilland, P. (1991). Population et structures familiales en Suisse. In

Fleiner-Gerster, T., Giliand, P. & Lüscher, K. (Hrsg.), Familien in der

Schweiz (S. 59 - 74). Freiburg in der Schweiz, Universitätsverlag.

Gugerli, D. (1991). Das bürgerliche Familienbild im sozialen Wandel.

In Fleiner-Gerster, T., Giliand, P. & Lüscher, K. (Hrsg.), Familien in der

Schweiz (S. 59 - 74). Freiburg in der Schweiz, Universitätsverlag.

Gukenbiel, H.L. (2001). Familie. In Schäfers, B. (Hrsg.),

Grundbegriffe der Soziologie (7. Aufl., S. 80 – 84). Opladen, Leske +

Budrich.

Huber, D. (1991). Familienpolitische Kontroversen in der Schweiz. In

Fleiner-Gerster, T., Giliand, P. & Lüscher, K. (Hrsg.), Familien in der

Schweiz (S. 147 - 166). Freiburg in der Schweiz, Universitätsverlag.

Jäggi, U. (1978). Schweigen ist Gold oder einige Notizen eines in der

Schweiz Aufgewachsenen zur Schweizerfamilie. In Unbekannt (Hrsg.),

Wohlstand und Ordnung? Soziologie der Schweiz heute. (S. 173 - 198).

Basel, edition etcetera.

Meier, P. (1977). Stationen. Erinnerungen an Jakob Meier. Zugführer

SBB. Bern, Zytglogge Verlag.

Metzger, C. (2005). Lern- und Arbeitsstrategien (7. Aufl.).

Oberentfelden, Sauerländer.

Muschg, A. (1977). Vorwort. In F. Zorn, Mars. München, Kindler

Verlag.

Neolle-Neumann, E. & Petersen, T. (2000). Alle, nicht jeder.

Einführung in die Methoden der Demoskopie (3. Aufl.). Berlin, Springer-

Verlag.

.:13:.

Page 17: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Otto-Walter, R. (1973). Bürgerliche Familie. In Fuchs-Heinritz, W.,

Lautmann, R., Rammstedt, O. & Hans Wienold (Hrsg.), Lexikon zur

Soziologie (3. und überarb. Aufl., S. 197). Opladen, Westdeutscher

Verlag.

Rindlisbacher, U. (1987). Die Familie in der Literatur der Krise;

regressive und emanzipatorische Tendenzen in der deutsch-schweizer

Romanliteratur um 1935. Stuttgart, Haupt.

Rosenbaum, H. (1982). Formen der Familie. Untersuchungen zum

Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem

Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am

Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Rosenkranz, P. (1996). Luzern. Land, Leute, Staat (3. und überarb.

Aufl). Luzern, Kantonaler Lehrmittelverlag.

Schlesinger, R. (1949). Footnote to Socialism and the Family. In

Mannheim, K. (Ed.), Changing Attitudes in Soviet Russia. The Family in

the U.S.S.R. Documents and Readings (p. 281). London, Routledge &

Kegan Paul.

Unternährer, W. (1995). Geschichtes des Entlebuchs. Schüpfheim:

Druckerei Schüfheim.

Wolffson, S. (1949). Socialism and the Family (Unknown, Trans.). In

Mannheim, K. (Ed.), Changing Attitudes in Soviet Russia. The Family in

the U.S.S.R. Documents and Readings (pp. 280 – 315). London, Routledge

& Kegan Paul. (Original published 1936).

Zorn, F. (1977). Mars. München, Kindler Verlag.

.:14:.

Page 18: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

ANHANG 1: JOSEF MARTI

Das Interview mit Josef Marti fand am 21. Januar 2006 bei ihm Zuhause in Luthern als persönliches Gespräch zwischen dem Autor dieser Arbeit (Benedikt Vogel) und Josef Marti statt.

Wann sind Sie geboren?Am 7. Juni 1935

Wo wuchsen Sie auf?Mein erstes Lebensjahr lebte ich auf dem Hof Oberlehn in Menzberg, meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Hergiswil auf dem Hof Töifhübel.

Wie viele Geschwister hatten Sie?Ich bin der älteste von sieben Geschwistern. Ein Bruder wurde später Bauer im Jura, ein anderer Käser. Die Schwestern heirateten.

Welche Berufe übten Ihre Eltern aus?Meine Eltern waren Kleinbauern. Wir hatten etwa zwei bis drei Kühe auf dem Hof Töifhubel. Mein Vater verrichtete Gelegenheitsarbeiten, zum Beispiel als Waldarbeiter.

Welche Stellung hatte Ihre Familie in der Gesellschaft?Meine Familie war arm. Wir hatten nur zwei bis drei Kühe. Als Gelegenheitsarbeiter verdiente der Vater in den 40er-Jahren pro Tag drei Franken. Ein Ämtli hatte mein Vater nie. In Menzberg war er Mitglied der Musikgesellschaft, in Hergiswil nicht mehr. Unser Verkehrsmittel war das Velo, mit diesem dauerte der Weg an die Probe zu lange. Weil die Familie arm war, wurde ich schon Schüler Verdingbub. Zuerst bei der Familie Bühler in der Wyssmatt. Für die musste ich am Morgen mit dem Hund die Milch in die Käserei bringen und im Stall helfen. Später war ich noch bei einer anderen Familie.

Schule:Haben Sie sich wohl gefühlt in der Schule?So lang ich Zuhause war, fühlte ich mich wohl. Als ich als Verdingbub zu Bauern kam, hatte ich keine Zeit mehr zum Lernen und kam nicht mehr mit.

Hatten Sie das Gefühl in der Schule habe die Herkunft und der soziale Status eine Rolle gespielt?Anders behandelt … Ich habe mich immer ein bisschen Minderwertig gefühlt. Die anderen hatten Dinge, die wir uns nicht leisten konnten. Im Grossen und Ganzen ging’s aber schon. Mit den Lehrern kam ich gut durch. Sie gaben mir nie das Gefühl, als Sohn armer Bauern würde nie Etwas aus mir werden. Ich war nie ein besonders guter Schüler, aber auch nicht besonders schlecht.

Wurden Sie in der Schule geschlagen?

.:15:.

Page 19: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Richtig geschlagen haben mich die Lehrer eigentlich nicht. Nur so, wie das früher halt war. Ein Schlag auf den Kopf, das hat gar nicht geschadet. Das ich nach vorne musste um zu knien kam vor, aber nie so, dass ich mich Zuhause hätte beklagen müssen, ich sei geschlagen worden.

Haben Sie sich davor gefürchtet?Nein.

Welches waren Ihre Stärken und Schwächen?Als wir in der Sekundarschule hätten Französisch lernen sollen, hatte ich Mühe. In Schönschreiben und Rechnen war ich gut. Ich hatte eine schöne Schrift. In den beiden Fächern, die damals die wichtigsten waren, kam ich gut durch.

Inwiefern haben sich Ihre Eltern um Ihre Schulleistungen gekümmert?Sie wollten das Zeugnis sehen und achteten darauf, dass wir gute Noten hatten. Wenn ich im Rückstand war, musste ich dies nachholen.

Beruf:Was war Ihr Berufswunsch?Eigentlich wollte ich Koch werden, es gab aber keine Lehrstelle in der Nähe. Beim Schreiner im Dorf wurde eine Lehrstelle frei, die ich bekam. Nach eineinhalb Jahren wurde der Lehrmeister krank. Danach kam ich nach Luthern, wo ich die Lehre beendete.

Was meinten Ihre Eltern zu Ihrem Berufswunsch?Als im Dorf die Schreinerstelle frei war, hat mir das zuerst schon nicht gepasst, aber ich wollte eine Lehre machen. Wehren hätte nichts genützt, da es an Geld fehlte. Wenn ich heute jung wäre, könnte ich frei wählen, was ich will. Das war damals noch anders.

Welchen Beruf übten Sie zuletzt aus?Ich konnte die Schreinerei meines Lutherer Lehrmeisters übernehmen, die ich bis zur Pension selbst führte.

Pubertät:Wie haben Sie Ihre Pubertät erlebt?Meine Eltern haben nie mit mir darüber gesprochen. Ich musste herausfinden, was mit mir vorging. Angst, weil ich nicht wusste, was mit mir geschieht, hatte ich nie.

Wie sind Ihre Eltern mit Ihrer Pubertät umgegangen?Wenn ich Zuhause von einem Mädchen erzählte, wurde ich nicht ernst genommen. Die Eltern meinten jeweils ich sei noch zu jung. Mit der Zeit erzählte ich solche Dinge nicht mehr Zuhause. Einen Fernseher, wo man sich solche Dinge hätte anschauen können, hatten wir ja auch noch nicht. Frauen hatte ich ein paar, aber Heiraten … Ich hatte kein Geld dazu. So wie meine Eltern wollte ich’s nicht mehr machen: Kinder in die Welt stellen und sie kaum ernähren können. Eine Frau aus dem Dorf wäscht

.:16:.

Page 20: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

mir und putzt die Wohnung. Jetzt sehe ich, wie schön es wäre eine Frau zu haben. Früher musste ich das alles selbst machen. Während der Lehre hatte ich ein einfaches Zimmer, da wusste ich am Abend nicht viel anderes zu tun, als in die Dorfbeiz zu sitzen. Eine Wohnung mieten, wie die jungen Leute heute, war für uns nicht möglich. Um zehn Uhr musste ich wieder Zuhause sein, damit dies der Chef kontrollieren konnte, musste ich ihm klingeln, wenn ich nach Hause kam. In einer eigenen Wohnung wäre das nicht nötig gewesen. Die Mahlzeiten nahm ich beim Chef ein. Sie wurden vom Lohn abgezogen. Ich hätte abends schon in die Stube des Chefs gehen können, dort wurde ich aber den ganzen Abend ausgefragt. Weg gehen hätte ich auch nicht gekonnt, Geld hatte ich ja keines. Stiftenlohn gab’s damals keinen. Mein Vater arbeitete als Waldarbeiter, um für meine Lehre zu bezahlen.

Erziehung:Welche Werte vermittelten Ihnen Ihre Eltern?Nett zu anderen Leuten sein, grüssen, nicht auslachen und sich aus Dingen raushalten, die einem nichts angehen.

Welche Werte gewichteten Ihre Eltern höher: Freies Denken oder Gehorsam?Gehorsam sein mussten wir schon. Was hätten wir anderes gewollt? Als ich Verdingbub und später als Schreinerlehrling von Zuhause wegkam, musste ich selbst schauen, dass ich durchkam. Zum ersten Mal in meinem Leben. Wenn ich Zuhause half, kontrollierte der Vater meine Arbeit sehr genau. Wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entsprach, sagte er, ich müsse es das nächste Mal besser machen.

Konnten Sie Ihre eigene Meinung einbringen?Wir konnten schon unsere eigene Meinung sagen, aber was hat das genützt? Mit welchem Geld hätten wir bezahlen sollen, wenn wir Etwas anschaffen wollten? Wenn wir vorschlugen Zuhause Etwas anders zu machen, hat der Vater schon zugehört. Wenn er Weg war und wir Zuhause die Arbeiten anders erledigten als er üblicherweise, fluchte er zuerst. Wenn er merkte, dass unser Weg besser war, lobte er uns.

Wie gingen Ihre Eltern mit Ihren Problemen um?Ich hatte nie Probleme, da ich als Bub schon weg kam, hatte ich nie Heimweh. Wenn ich recht gehalten wurde, dann war ich schnell zufrieden. Ich kannte nichts anderes als Arbeiten. Wenn ich in einem Tief war, wurde dies nicht wahrgenommen. Meine Eltern waren nicht so empfindlich, sie mussten auch gar strub durch. Deshalb habe ich nicht geheiratet, ich wollte nicht Kinder in die Welt setzen, die es gleich gehabt hätten wie ich.

Wurde über Gefühle gesprochen?Nein. Gefühle waren nie ein Thema.

Waren Schläge Teil Ihrer Erziehung?

.:17:.

Page 21: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Etwa ein Klaps ab und zu, aber nie richtig geschlagen. Auch Vater und Mutter haben sich nie geschlagen, auch wenn sie noch so einfach durchs Leben mussten. Gestritten haben sie sich schon, aber nie geschlagen.

Hatten Sie in Ihrer Kindheit Kontakt mit Ausländern? Wie haben Sie den Kontakt erlebt?Als ich zur Schule ging, gab es noch keine Ausländer im Dorf, die kamen erst später. Mit einem gearbeitet habe ich nie. Als später in Luthern Ausländer lebten, kam ich immer mit ihnen aus. In Luthern hatte es aber auch immer nur Anständige, sonst hätten wir sie zum Teufel gejagt. Schlägereien mit Messern, wie ich von anderen Orten hörte, gab es in Luthern nie.

Welche Rolle spielte Geld in Ihrer Familie?Mit Geld konnten wir nie spielen, es war ja nie welches vorhanden. Genügend zu Essen und Kleider hatten wir immer. Wir hatten halt nicht die mondernsten Kleider, aber man durfte mit ihnen auf die Strasse. Gestört hat mich das nicht.

Was sagten Ihre Eltern, wenn Sie Ungewöhnliches wollten?Wenn ich etwas kaufen wollte, sagten sie, ich müsse es selbst bezahlen. Damit war die Sache erledigt, ich hatte ja kein Geld. Etwas anderes, wie z.B. ein längerer Ausflug, hätten sie selbst nicht gekannt. Vielleicht einmal im Jahr wanderten wir am Sonntag auf den Napf. Meine Eltern arbeiteten die ganze Woche, da waren sie sonntags müde. Als wir älter wurden, fuhren wir Kinder ab und zu mit dem Velo weg. Die Eltern sorgten sich um uns, bis wir wieder Zuhause waren. Mit etwa zwanzig fuhren wir manchmal am Sonntagmittag nach Luzern und abends wieder nach Hause. Verkehr wie heute gab es damals noch nicht. In der Stadt gefiel es mir nie. Bis heute könnte ich nicht in einer Stadt leben. Mir kam das alles immer zu gross vor. Ich kaufe bis heute nicht gerne in grossen Läden ein. Heim ging ich immer gern. Zuhause war es doch noch ein bisschen schöner, als in der Fremde, z.B. konnte ich den Eltern erzählen, was ich erlebt hatte.

Wofür sind Sie Ihren Eltern im Rückblick dankbar?Dass sie sich für mich abgerackert haben. Was meine Mutter Zuhause alles gemacht hat, wenn der Vater auswärts arbeitete … Für das würde ihnen Danke sagen und dass ich zu Essen hatte und eine Lehre machen durfte.

Was hätten Ihre Eltern besser machen sollen?Sie machten das Möglichste. Wenn sie es besser gehabt hätten, wäre es auch uns Kindern besser gegangen. Mehr Offenheit hätte ich nicht von ihnen erwartet. Besser Aufklären, das wäre schon gut gewesen, das ist heute ganz anders. Wir mussten alles über Umwege erfahren. Selbst habe ich ja auch nie darüber gesprochen, weil ich nichts darüber wusste. Aufgeklärt haben mich Mitschüler auf dem Pausenplatz. Einmal in der Kinderlehre, hat uns der Pfarrer in zwanzig Minuten aufzuklären versucht.

.:18:.

Page 22: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

ANHANG 2: MARIE VOGEL-FELDER

Das Interview fand am 30. Dezember 2005 bei Marie Vogel-Felder

Zuhause als persönliches Gespräch statt zwischen dem Autor dieser

Arbeit (Benedikt Vogel) und Marie Vogel-Felder statt. Die Interviewte ist

die Grossmutter des Autors dieser Arbeit.

Schule:Hast du dich in der Schule wohl gefühlt?Ich hatte nie Probleme mit den Lehrern. Ich habe mich wohl gefühlt.

Denkst du als Bauernmädchen in der Schule anders behandelt worden zu sein?Man hat nicht gemerkt, dass man ein Bauernmädchen ist. Wir mussten ab der zweiten Klasse immer Schriftdeutsch sprechen. Dies wussten alle und war deshalb nichts Besonderes. Die sechste Primarklasse besuchte ich mit einem Lehrersohn. Er ging nie gerne zu seinem Vater zur Schule, da er von ihm harsch kritisiert wurde.

Wurdest du in der Schule geschlagen?Einmal mussten wir nach vorne um dem Lehrer etwas zu zeigen. Viele hatten den gleichen Fehler im Heft. Der Lehrer warnte, wer diesen Fehler noch einmal bringe, bekomme auf die Finger. Schon beim Anstehen bemerkte ich, dass ich diesen Fehler im Heft hatte, bin jedoch nicht an den Platz zurück um den Fehler zu korrigieren, was ein Fehler war. So bekam ich einzige Mal mit dem Lineal auf die Finger. Ich spürte den Schlag noch lange und habe geweint. Ich habe Zuhause davon erzählt. An die Reaktion der Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich haben sie über den Lehrer geschimpft. Ich habe auch gesehen, dass der Lehrer Buben schlägt. Die Buben, die gerne nicht folgten oder Blödsinn machten in der Pause. Danach wurden die Vorfälle besprochen und die schuldigen wurden bestraft. Ich war nie bei einer Streiterei dabei. Ich hielt mich davon fern.

Hast du dich vor diesen Schlägen gefürchtet?Mit Angst ging ich nie zur Schule, gerne allerdings auch nicht. Ich hatte einen langen, weiten Schulweg.

Welches waren deine Stärken und Schwächen in der Schule?Im Gegensatz zu vielen andern schrieb ich immer gerne Aufsätze. Schön schreiben konnte ich nie, was immer kritisiert wurde. Schönschreiben war wichtig. Meine Eltern haben sich nie darum gekümmert, da der Durchschnitt gut war.

.:19:.

Page 23: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Kommen dir spontan Erinnerungen in den Sinn, wenn du an die Schule zurück denkst?In der fünften Klasse hatten mein Vater und der Lehrer Differenzen. Mein Bruder hatte Musikstunden, der Lehrer, der Dirigent der Musikgesellschaft war, drohte, mein Bruder werde nie Mitglied der Musikgesellschaft werden. Als er aus der Schule kam, wurde er trotzdem aufgenommen. Da niemand den gleichen weiten Schulweg hatte wie ich war ich schon ein bisschen einsam. Meine Eltern haben mir zugehört, wenn ich erzählte. Ich erinnere mich noch an Frieda [Mädchen in Maries Alter]. Sie besuchte mich einmal Zuhause, als unser Haus abgebrannt war. Sie brachte mir Kleider.

Beruf:Welchen Beruf/Schule wolltest du erlernen?Ich hatte nie einen Traum, was ich werden wollte, weil ich schon früh wusste, einmal Geld verdienen und Zuhause abgeben zu müssen. Mein Bruder und ich hätten gerne die Sekundarschule besucht. Der Lehrer meinte ich wäre dazu in der Lage und sprach mit meinem Vater. Da die Sekundar- aber zwei Jahre länger gedauert hätte als die Realschule sagten meine Eltern ich müsse die Realschule besuchen. Nach sieben Schuljahren kam ich aus der Schule. Wie die meisten andern trat ich danach eine Stelle an. Ich war Magd bei einer Bauernfamilie. Meine Mutter versprach mir, ich dürfe mit 18 Jahren eine Bäuerinnenschule besuchen. Darauf freute ich mich. Als ich 18 war durfte ich die Bäuerinnenschule in Sursee besuchen, wo ich theoretischer Buchhaltung, Gartenbau, Haushaltung, Kleintierhaltung, Feld- und Handarbeit ausgebildet wurde. Damals hatte man kaum Maschinen. Die Bauernarbeit war mehrheitlich Handarbeit. Zwei Sommer lang dauerte die Ausbildung. Im Winter verdiente ich Geld. Die Eltern bezahlten die Schule aus dem Geld, das ich Zuhause abgab. Als Bauernmädchen war es üblich ein Welschlandjahr zu machen oder die Bäuerinnenschule. An einem Welschlandjahr hatte ich kein Interesse. Ich wollte die Schule eigentlich nicht machen. Die Mutter sagte aber, das sei gut für mich. Da sie es mir bezahlte, nahm ich an. Sie hatten das Gefühl, man brauche schon ein bisschen Ausbildung. Es war üblich, dass Mädchen Haushaltung lernte. Ich kannte wenige, die einen Beruf lernten. Welschland, Magd oder Bäuerinnenschule war üblich. Eine richtige Ehefrau musste den Haushalt führen können.

Pubertät:Wie sind die Eltern mit deiner Pubertät umgegangen?Ich habe nie viel gemerkt. War nie ein Thema.

Erziehungsmethoden:Was passierte, wenn du nicht artig warst? Als Älteste hatte ich selbst erziehende Aufgaben. Geschlagen wurde ich nie.

.:20:.

Page 24: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Wie wichtig war Freiheit?Ich musste das machen, was die Eltern sagten. Das war gang und gäbe. Die Eltern sagten, was ich machen musste und uns war nichts anderes bekannt als zu folgen. Ohne Widerstand. Es war nie Thema ob man etwas darf oder nicht. Das war einfach klar.

Durftest du deine Meinung einbringen?Ich konnte mich schon auch einbringen. Wenn mir die jüngeren Geschwister widersprochen haben, dann habe ich das mit den Eltern besprochen. Wenn die Jüngeren mir widersprachen, widersprachen sie indirekt auch meiner Mutter, was diese nicht akzeptierte.

Wie gingen die Eltern mit deinen Problemen um?Der Vater war immer aufmerksam. Er hat immer gefragt, wie es geht auf dem Schulweg und in der Schule. Wenn ich erzählt habe, der Lehrer sei streng gewesen, fand sie das verwerflich. So gehe man doch nicht um in der Schule, sagte er. Der Lehrer konnte nicht auf den einzelnen eingehen. Wir waren 45 in der Klasse. Auf meine Gefühle gingen die Eltern nicht ein. Über diese redete man nicht. Als unser Haus abbrannte redeten wir schon zusammen. Wir Kinder waren bei anderen Leuten verteilt. Der Vater hat uns, wenn wir in sahen ausführlich gefragt, wie es gehe. Ich war bei einem kinderlosen Paar, das mich behalten wollte. Sie sagten, ich habe es bei ihnen schöner. Ich wollte aber nicht bleiben und habe es meinem Vater erzählt [Dieser nahm Marie anscheinend ernst. Sie wuchs bei ihren Eltern auf]. Ich war damals in der dritten Klasse. Als das Haus abgebrannt war sagte mir mein Vater, ich solle nicht weinen, er werde das Haus wieder aufbauen. Wir Kinder müssten jetzt zu einer Tante gehen. Wenn das Haus fertig sei, könnten alle wieder nach Hause kommen, sagte er. Darauf freute ich mich. Faste alle Gastfamilien wollten uns vorübergehend Verdingten behalten. Wir wollten jedoch alle wieder heim. Am Mittagstisch stritten wir ab und zu. Wir mussten immer von allem essen, was auf dem Tisch stand. Ab und zu werten wir uns, worauf aber nicht eingegangen wurde. Ein Bruder maulte immer. Er hatte die Wahl nichts zu essen oder was auf dem Tisch stand runter zu würgen. Der Vater zwang ihn dazu. Es wurde auch kontrolliert, ob nicht gschnouset [genascht] wurde. Der Vater hat nie gesagt, warum wir alles essen müssen. Es war einfach so. Das habe ich auch in meiner Familie weiter gezogen. Meine Kinder mussten auch alles essen, ob sie es gern hatten oder nicht. Erklärt haben wir dies unseren Kindern nie genau. Xaver wollte nie Suppe essen, die übliche Strafe wäre gewesen, dass ihn der Vater ins Zimmer sperrte. Er war jedoch immer flink genug zu entwischen und sich vor dem Suppenessen zu drücken.

Werte:Welche Werte waren für deine Eltern am wichtigsten?Dass die Arbeit gemacht war. Gut schaffen war wichtig, hatte ich das Gefühl. Ausdrücklich gesagt, haben dies die Eltern nie. Mein Bruder Toni,

.:21:.

Page 25: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

hatte Mühe die Arbeit recht zu machen. Er weinte regelmässig. Er war gar nicht in der Lage gut Arbeit zu vollbringen. Auch in der Schule hatte er mühe. Meine Eltern schimpften mit ihm. Wenn er sich Mühe gebe, könne er schon gut schaffen, sagten sie. Wenn er deswegen weinte, wurde er einfach nicht beachtet. Er hat zwei Mal eine Lehre begonnen und ist danach weg gelaufen. Er nahm eine Stelle an um Lohn zu verdienen. Zuerst war er Hilfsarbeiter bei einem Wagner, danach machte er die Autoprüfung um für Lohn Auto zu fahren. Später fuhr er bei der gleichen Firma Autobusse. Inzwischen ist er pensioniert. Alle haben etwas gelernt. Meine Schwester zum Beispiel Damenschneiderin. Damals hatte ich eine Stelle. Das Geld musste ich nicht mehr nach Hause geben. Meine jüngere Schwester, wollte eine Lehre als Damenschneiderin beginnen. Meine Eltern erlaubten es nicht, da jemand Zuhause bleiben müsse um zu helfen. Als sie trotzdem eine Lehrstelle fand, musste ich nach Hause um zu helfen. Ich wehrte mich dagegen, habe auch überlegt nicht nach Hause zu gehen, erfüllte der Mutter aber trotzdem ihren Wunsch, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte. Die Mutter hätte die Arbeit nicht mehr alleine machen können. Damals war ich 22 Jahre alt. Ich ging nicht gerne heim, weil mein Bruder auch Zuhause half. Er wollte immer regieren, gefolgt habe ich ihm aber nie. Ich machte immer nur, was meine Mutter sagte. Meine Eltern behandelten mich damals wie eine Erwachsene. Ich durfte auch mitentscheiden. Entlöhnt wurde ich für die Arbeit nicht, wahrscheinlich habe ich Sackgeld bekommen, weiss es aber nicht genau. Geld verdiente ich während dieser Zeit durch meine Stelle im Hotel Adler im Dorf.

Als ich zwanzig Jahre alt war lernte ich an der Chilbi auf dem Menzberg Xaver kennen. Ich schrieb ihm, ich wolle die Beziehung nicht aufrechterhalten. Ich fühlte mich noch zu jung. Nach vier Jahren ohne Kontakt tauchte plötzlich an einem kalten Wintertag auf. Ich war in Escholzmatt an der Chilbi gewesen. Ein Mann brachte mich mit dem Schlitten nach Hause, wo Xaver im Schopf auf mich wartete. Ich erkannte ihn sofort, obwohl wir seit vier Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Es war in der Zeit, in der ich Zuhause bei der Arbeit half. Mit dem Geld, das ich im Hotel Adler verdient habe, konnte ich meine Aussteuer finanzieren. Es war üblich, dass die Frau Möbel und Bettwäsche für das Schlafzimmer in die Ehe mitbrachte. Besser verdienende kauften auch Stubenmöbel. Vor meiner Heirat kam ein Nachbarsmädchen vorbei und fragte, ob ich wirklich heiraten will und was ich denn vorzeigen könne. Ich zeigte ihr stolz die schöne Bettwäsche und die Tüchlein in meinem Zimmer. Man hätte auch ohne Aussteuer heiraten können, als Mädchen war man aber stolz auf eine grosse Aussteuer in die Ehe mitzubringen.

Hattest du Kontakt mit Ausländern?Bei uns in Schüpfheim gab es kaum Ausländer. Im Hotel Adler arbeitete eine italienische Küchengehilfin. Ich mochte sie gut, habe viel mit ihr gearbeitet. Als ich als Kind in der Schule war, gab es keine Gastarbeiter, jedoch Internierte. Die Eltern sagten, es sie seien arme Leute, wir sollen freundlich zu ihnen sein. Auch als ich erwachsen war, gab es noch

.:22:.

Page 26: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Internierte. Ich blieb auf Distanz mit ihnen. Es gab schon Mädchen, die mit ihnen zum Tanz gingen. Dazu hätte ich mich aber nicht getraut. Ich hätte es auch nicht gewollt. Ich wollte keinen Kontakt mit Ausländern. Sie waren fremd. Ich weiss nicht genau warum ich keinen Kontakt wollte, sie stiessen mich einfach ab. Als Kind war das Ausland während dem Zweiten Weltkrieg ein Thema. Mein Vater hat uns immer erklärt, was im Ausland passierte. Einmal spielte ich als Kind draussen mit meinem Bruder unter den Bäumen. Wir hörten ein komisches Geräusch und sahen etwas uns Unbekanntes. Wir meinten es sei ein in der Luft fahrendes Auto und fürchteten uns. Der Vater erklärte uns, dies sei ein Zeppelin. In Deutschland würden solche gebaut. Danach fürchteten wir uns nicht mehr und hofften der Zeppelin fliege auf dem Rückweg wieder bei uns vorbei. Der Vater erzählte uns oft von der grossen weiten Welt, von fremden Ländern.

Welche Rolle spielte Geld in deiner Kindheit?Meine Eltern verdienten nicht viel, weshalb ich als Jugendliche Geld nach Hause gab. Die Eltern haben immer gespart und sich nie etwas gegönnt. Viel mehr hätten meine Eltern zwar nicht ausgeben können, teilweise sparten sie aber unsinnig. Vielleicht wären sie auch durch gekommen, wenn wir Älteren ein bisschen weniger Geld hätten nach Hause geben müssen. Die jüngeren Geschwister konnten alle eine Lehre machen, wir älteren mussten arbeiten. Darüber bin ich aber nicht böse.

Was sagten deine Eltern, wenn du ungewöhnliches machen wolltest?Ich wollte wahrscheinlich schon Dinge machen, die meine Eltern nicht verstanden, kann mich aber an kein Beispiel erinnern. Ich habe meinen Kindern immer wieder gesagt, sie sollen auf dem Schulweg nicht streiten und wenn es dazu komme, sollen sie ausweichen.

Erlebnisse in der Stadt:Meine Mutter hatte einen Bruder in Basel. Er war Fabrikarbeiter und hatte eine grosse Familie. Als ich zwischen 22 und 24 Jahre alt war durfte ich zu ihm auf Besuch. Ich hatte Angst dorthin zu gehen. Ich musste in Luzern und Basel umsteigen, was ich nicht kannte. Ich hatte Herzklopfen, weil alles so fremd war. Ich habe nur Frauen nach Auskunft gefragt, keine Männer.Ich hatte immer eine Abneigung gegen die Stadt, ich wollte auf dem Land bleiben. An Luzern hatte ich mich gewöhnt, dort hatte ich keine Angst. Meine Mutter hatte Verwandte in Luzern. Wenn ich nach Luzern fuhr, besuchte ich sie jeweils widerwillig. Nach dem Essen spazierten wir den Quai entlang. Die Verwandten legten dazu einen Hut auf, den der Mann immer lüftete, wenn er jemand kannte. Ich grüsste nicht, da ich die Leute ja nicht kannte. Da ich vom Land kam, hatte ich keinen Hut. Ich kam mir schon komisch vor, da ich keinen Hut hatte und die Manieren und Umgangsformen der Stadtleute nicht kannte. Geschämt habe mich aber

.:23:.

Page 27: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

nicht, ich kannte ja niemand. Es war mir gleichgültig. Als ich älter wurde, begann ich mich zu wehren, und besuchte die Verwandten nicht mehr.

Was bedeutet dir die Meinung von andern?Ich lasse andern Leuten ihre Meinung und streite nicht darüber. Wenn ich auf die Strasse gehe interessiert mich nicht, was andere über mich denken. An Arbeitsstellen war mir jeweils die Meinung der Meisterleute wichtig, die Meinung der andern war mir egal.

Wie erzogst du selbst:Welche Werte wolltest du den Kindern vermitteln?Das habe ich nie genau überlegt. Das funktionierte automatisch. Ich wollte, dass meine Kinder aufrichtig sind und ihre Pflicht tun, die in der Schule verlangt wurden und dass sie in die Kirche gingen.

Was erfüllt dich mit Stolz, wenn du an deine Kinder denkst?Ich freue mich, dass keines auf Abwege gekommen ist und alle eine Lehre gemacht haben. Mir war wichtiger, dass meine Kinder ihren eigenen Weg finden, als dass sie nicht anecken.

ANHANG 3: HERR UND FRAU SCHWAB

Das Interview fand mit Herr und Frau Schwab gleichzeitig am 21. Januar 2006 bei ihnen Zuhause in Reiden LU als persönliches Gespräch statt. Ihr Name ist geändert und dem Verfasser dieser Arbeit bekannt. Zur besseren Lesbarkeit: Die Textteile von Frau Schwab sind in roter, jene von Herr Schwab in blauer Schrift.

Wann sind Sie geboren?Frau Schwab: 1925. Herr Schwab:: 9. Juni 1923.

Wo wuchsen Sie auf?Ich bin in Escholzmatt LU geboren und in Schüpfheim LU aufgewachsen.Ich bin in Reiden LU geboren und aufgewachsen. Mein Urgrossvater war ein Hugenotte, stämmig aus Nimes in Frankreich. Meine Mutter war katholisch, mein Vater reformiert. Ich selbst bin katholisch.

Wie viele Geschwister haben Sie?Ein älterer Bruder und eine jüngere Schwester. Eine Schwester.

Welche Berufe übten Ihre Eltern aus?Mein Vater war Schreiner und Zimmermeister mit eigenem Geschäft in Schüpfheim. Die Mutter servierte im Rössli in Schüpfheim, aber nur, wenn der Vater zuhause war. Mein Vater war Coiffeur in Reiden. Nach dem Krieg hat er das Geschäft aufgegeben. Als Aktivdienstler, hatte er während dem Krieg keine Zeit sich um das Geschäft zu kümmern. Ein guter Bekannter hielt ihm eine

.:24:.

Page 28: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Stelle bei der Siegfried [Pharmazeutisches Unternehmen in Zofingen] zu. Dort arbeitete er bis zu seiner Pensionierung. Die Mutter führte eine Mercerie im Haus der Familie.

Welche Stellung hatte Ihre Familie in der Gesellschaft?Mein Vater war als Schreiner und Zimmermeister in Kontakt mit vielen Leuten, besonders mit den Bauern. Manchmal arbeitete er auch in der Stadt Luzern. Geld war immer genügend vorhanden. Mein Vater hat anderen geholfen, wo er konnte. Z.B. gebürgt für andere. Geflickte Kleider mussten wir nie anziehen, da die Mutter selbst nähte. Meine Eltern waren Geschäftsleute. Politische Ämter übten sie keine aus, dies hätte schon Vaters Stellung als Dorfcoiffeur nicht erlaubt. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 traf die Familie schwer. Die Familie hätte dringend 4000.- CHF aufbringen müssen, was ihr aber in dieser schwierigen Zeit nicht gelang. Mutters Bruder war Vizedirektor der Schweizerischen Bankvereinsfiliale in Zofingen. Er empfahl der Familie Privatkonkurs. Er werde bei der anschliessenden Steigerung das Haus zurück kaufen und der Familie zur Verfügung stellen. Der Plan misslang, weil entgegen der Erwartungen, ein anderer Bieter auftrat und das Haus erwarb. Ich selbst habe durch Bankenkonkurs das Guthaben auf meinem Kindersparbuch verloren. Trotz diesen Querelen konnten wir normal leben. Grosse Sprünge waren halt nicht möglich. Wenn die Kleider kaputt waren, wurden sie halt geflickt und im Sommer gingen wir Barfuss zur Schule. Das war damals normal.

Schule:Haben Sie sich in der Schule wohl gefühlt?`Ich kann es nicht genau sagen. Ich ging zur Schule weil es sein musste. Den Lehrer Teufer fürchtete ich, weil er gewisse Kinder schlug. Er war jemand im Dorf. Neben der Schule spielte er die Kirchenorgel. Mich schlug er nie, ich hatte bei ihm ein Stein im Brett. Warum weiss ich nicht. Einmal nahm er seine Tochter zu einem Schlittelausflug meiner Klasse mit. Sie erzählte mir Jahre später, ihr Vater habe ihr gesagt, sie dürfe nur bei mir Mitfahren. Meine Mitschülerin Liselotte hatte er auf der Latte. Ihr Vater kam einmal in der Schule vorbei. Lehrer Teufer ging nach draussen und kam lange nicht zurück. Die Kinder in den vordersten Bänken öffneten die Türe und berichteten Liselottes Vater habe Lehrer Teufer am Kragen gepackt und an die Wand gedrückt. In der vierten Klasse sagte mir mein Vater, die Angst sei kein guter Ratgeber. Wenn man etwas mache, solle man dabei keine Angst haben. Ab der fünften Klasse, bei Lehrer Zemp, wurde ich oft Ohnmächtig. Lehrer Zemp wohnte im Schulhaus. Wenn ich bleich wurde, sagte er seinem Sohn, der auch in meiner Klasse war, er solle mit mir in seine Wohnung gehen, damit ich mich kurz hinlegen und erholen könnte. Später stellte sich heraus, dass ich einen Herzfehler hatte. Man hatte vor jedem Lehrer Angst. Sie führten sich auch dementsprechend auf. Ich kam gut durch die Schule und hatte mit keinem Lehrer Schwierigkeiten. Ich konnte mir den Stoff gut merken. Meistens lass ich die Dinge auf dem Schulweg zwei- bis dreimal durch. Danach konnte ich sie.

.:25:.

Page 29: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Haben in der Schule die Herkunft und der soziale Status eine Rolle gespielt?Nein.Nein.

Wurden Sie in der Schule geschlagen?Nein, ich nicht. Andere schon. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das, weil es gesprochen hatte, während einer ganzen Stunde ihr Etui im Mund behalten musste, wie ein Hund einen Knochen.Nein. Vielleicht ab und zu ein kurzer Schlag auf den Kopf, mehr nicht. In der Oberstufe wurden die Schüler nicht mehr geschlagen.

Haben Sie sich davor gefürchtet?Ich habe mich nicht gefürchtet. Mein Bruder schon. Als er in der sechsten Klasse war, stellte ihm der Lehrer eine Frage, die er nicht beantworten konnte. Darauf sagte ihm der Lehrer, er müsse dies wissen, sogar seine Schwester in der zweiten Klasse wüsste es. Das konnte mein Bruder nicht ertragen. Nach dieser Schelte des Lehrers konnte mein Bruder meine Schwester nicht mehr leiden. Meine Mutter konnte die beiden nicht mehr alleine Zuhause lassen. Der Dorflehrer Hans Meier war sehr streng. Er war Organist und engagiert im Kirchengesang. Nach der Schule mussten wir bei ihm Kirchenlieder singen, was die Buben nicht mochten. Aber der sechsten Klasse hatte man die Chance dank Stimmbruch nicht mehr mitsingen zu müssen. Die Buben sangen absichtlich zu hoch oder zu tief um nicht mehr zu den Kirchengesangsstunden gehen zu müssen. Meier hat einmal ein Mädchen auf die Wandtafel gesetzt und mit ihren Zöpfen befestigt danach zog er die Tafel hoch und liess das Mädchen oben. Um Schüler zu bestrafen, mussten sie vorne, bei der Tafel auf Holzscheite knien oder sie mussten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, eine Haselrute mit dem Mund vom Boden aufheben. Wer das Gleichgewicht verlor, schlug mit dem Kiefer auf dem Boden auf. Im Dorf mussten wir Kinder die Lehrer und den Pfarrer mit Händedruck begrüssen. Manchmal waren die Lehrer aber auch lieb. Lehrer Meier zum Beispiel schickte einmal einen Schüler, der eine Rechnen eine Aufgabe falsch gelöst hatte, in die Metzgerei, um dort Landjäger zu holen und dabei zu lernen, wie man richtig zusammen zähle. Die Landjäger verteilte er darauf in der Klasse. Wir Buben hielten zusammen wie Pech und Schwefel. An eine Streich kann ich mich erinnern: Als ich in der Sekundarschule war, gab es im Schulhaus einen Briefkasten. Wir Buben versuchten von der Treppe aus ihn durch Spucken zu treffen. Ein Mädchen hat uns verpfiffen und wir wurden zu Lehrer Schmied zitiert. Dieser packte einen von uns am Kragen und zog die Hand zur Ohrfeige auf. In diesem Moment standen wir alle, die alle mindestens so gross waren wie der Lehrer, auf. Darauf liess dieser die Hand wieder sinken.

Welches waren Ihre Stärken und Schwächen?Ich denke ich war eine mittelmässige Schülerin. Eine Freundin sagte mir kürzlich, ich sei gut gewesen. Versetzt wurde ich immer. Nach der

.:26:.

Page 30: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

sechsten Klasse wechselte ich in die Sekundarschule. Dich oft krankheitshalber fehlte, musste ich die erste Sekundarklasse wiederholen und wurde dann entlassen. Meine Schwester war eine gute Schülerin. Der Lehrer und der Pfarrer sagten, sie wüssten nicht mehr was sie mit ihr machen sollten. Sie stelle Fragen, die sie selbst nicht beantworten könnten.Im Schönschreiben war ich nie besonders gut. Eine 4 bekam ich allerdings nie, es reichte immer mindestens für eine 4-5. Noch jetzt schreibe ich nicht schön. Es musste alles immer sehr genau gemacht werden. Im Zeichnen zum Beispiel stellte der Lehrer eine Birne auf, die wir realistisch abzeichnen mussten. Ich konnte gut singen. Meine Schwester und ich sangen viel zusammen. Manchmal am Abend draussen in unserem Garten oder zusammen mit der Mutter, wenn sie nähte. Meine Mutter nähte viel, während dem ersten Weltkrieg arbeitete sie in der Militärschneiderei. Während der Fasnacht gingen meine Schwester und ich von Tür zur Tür und sangen. Einmal war bei einer Familie ein Pater, der krank von einer Mission aus Afrika zurückgekehrt war. Er bat uns für ihn zu singen. Von da an wurden wir immer wieder gebeten für kranke Leute im Dorf zu singen. Auch wenn wir Lausbuben waren, haben wir oft gesungen. Wenn zehn bis zwölf Kinder zusammen waren, stimmte plötzlich jemand ein Lied an und alle sangen. Während meiner Schulzeit wurde von der deutschen auf die lateinische Schrift umgestellt, was mir mühe bereitete. Im Schönschreiben war ich angeblich schlecht. In der zweiten Sekundarklasse hatte ich Mühe mit der amerikanischen Buchhaltung. In diesen beiden Fächern musste ich halt mehr arbeiten als andere und bekam halt trotzdem nicht gute Noten. Manchmal musste ich Dinge zweimal schreiben, weil sie nicht schön waren. Schlussendlich habe ich die Schule aber geschafft.

Inwiefern kümmerten sich Ihre Eltern um Ihre Schulleistungen?Meine Eltern waren loyal und gaben keine grossen Kommentare zu meinen Schulleistungen ab. Sie schauten die Noten an und ermahnten mich für Fächer, in denen ich nicht gut war, mehr zu arbeiten. Viel mehr wurde nicht über die Schule gesprochen. Wenn die Lehrer sich beim Vater die Haare schneiden liessen, sprach er mit ihnen über meine Leistungen. Wenn sie über mich beklagten, schimpfte der Vater jeweils beim Abendessen mit mir.

Beruf:Was war Ihr Berufswunsch?Ich hätte gerne Medizin studiert, aber das Geld reichte nicht. Vielleicht wäre ich auch nicht intelligent genug gewesen [Frau Schwab meint, diese wäre kaum das Problem gewesen].Ich wollte Verkäuferin werden.

Was meinten Ihre Eltern dazu?Sie sagten, ich solle mir das aus dem Kopf schlagen. Es sei zu wenig Geld vorhanden.

.:27:.

Page 31: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Während dem Krieg konnte man nicht machen was man wollte. Mein Bruder zum Beispiel machte seine Lehre beim Vater. Dieser fertigte während dem Krieg Munitionskisten an. Gebaut wurde in dieser Zeit kaum. Meine Eltern haben meinen Berufswunsch unterstütz. Meine Mutter beschaffte mir über ihre Kollegin Frau Huber eine Anlehrstelle als Verkäuferin bei der Huber Papeterie und Druckerei in Entlebuch.

Welchen Beruf haben Sie erlernt?Nach der Schule, im alter von 15 Jahren, kam durch meinen Onkel als Halbvolontär in einem Jesuitenkloster in Belgien. Ich lernte dort Französisch und half bei allfallenden Hausarbeiten im Kloster mit. Im Kloster gab es 253 Jesuiten, darunter viele Akademiker. Das Kloster war Ausgangsort der Jesuitenmission in Madagaskar, weshalb auch der Bischof von Madagaskar im Kloster war. Da er fünf Jahre in der Schweiz wirkte, verstand er gut Schweizerdeutsch. Manchmal half er uns Schülern beim Abwaschen. Einer meiner Mitschüler wurde später Rektor des kantonalen Lehrerseminars in Hitzkirch.Im Herbst 1939 hätte uns Schweizer Schüler im Jesuitenkloster fast vergessen. Eines Tages rief das Schweizer Konsulat aus Brüssel an, einer von uns müsse sich bei ihnen in Brüssel melden. Da ich der grösste war und anständig Französisch sprach, wurde ich ausgewählt. Der Konsul eröffnete mir, am nächsten Tag fahre der letzte Zug aus Belgien in die Schweiz. Wir müssten entscheiden, ob wir in Belgien bleiben wollten oder nicht. Die Internierungskarten lagen auf seinem Pult bereit. Ich hatte schnell entschieden: Nach Hause fahren. Uns war klar, dass Hitler entweder durch Belgien oder die Schweiz nach Frankreich marschieren würde. Der Konsul empfahl uns via Frankreich nach Hause zu fahren. Nach dem Gespräch in Brüssel fuhr ich ins Kloster zurück, wo ich meine Kameraden Bericht erstatten. Am nächsten Tag, halb fünf Uhr morgens, mussten wir auf dem Zug sein. Ein Pater empfahl uns an unseren Koffern Wimpel mit der Aufschrift „Etudiant Suisse“ anzubringen um Schwierigkeiten wegen unserer deutschen Sprache zu vermeiden. Die Reise wurde durch die komplizierte Beschaffung von Ein-, Aus-, und Durchreisebewilligungen für Belgien und Frankreich und ständige Militärkontrollen erschwert. In Paris musste ich die Behördenkontakte erledigen, da ich einen französisch klingenden Namen habe. Drei Tage und drei Nächte waren wir unterwegs. In Genf wurden wir von Pfadfindern empfangen, die uns Billete für die Heimreise verteilten. Die Reise durch die Schweiz wurde durch den Kriegsfahrplan erschwert. Züge mussten auf Soldaten warten. Ein regulärer Fahrplan existierte nicht mehr. Als ich endlich Zuhause in Reiden ankam hätte ich, müde von der langen Reise, beinahe verschlafen. Zum Glück weckte mich ein Bekannter, der zufällig im selben Zug war, rechtzeitig. Zuhause angekommen sah ich zum ersten Mal unsere neue Wohnung. Während ich weg war, mussten meine Eltern unser Haus verkaufen.Wieder Zuhause absolvierte ich eine Anlehre als Mechaniker bei der Maschinenfabrik Reiden. Für eine Lehre hätte das Geld nicht gereicht, da der Vater im Militär war und meine Schwester krank im Spital lag. Für 60 Rappen Stundenlohn fertigte ich Munition. Ausschussware wurde dem Lohn abgezogen, da die Arbeiter im Betrieb einander kannten, gelang es

.:28:.

Page 32: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

uns Fehler zu vertuschen, z.B. indem wir Ausschussmunition im Winter im Ofen verbrannten oder mit nach Hause nahmen und auf dem Weg versteckten. Als Zusatzfunktion war ich mehrere Jahre Betriebssanitäter. Verkäuferin.

Welchen Beruf übten Sie zuletzt aus?Zuletzt war ich Schleifer bei der Maschinenfabrik Reiden. Ich wuchs in diese Arbeit hinein. Bei dieser Arbeit war ich nicht immer unter Aufsicht, was mir gefiel. Ich arbeitete bei der Montage der Präzisionsschleife, bis sie wieder abgebaut wurde an diesem Gerät. Ich war 15 Jahre lang Kioskleiterin am Bahnhof Reiden. Die Stelle bekam ich, weil ich vier Jahre lang im Welschen war. Die Kiosk AG korrespondierte nur auf Französisch. 22-jährig war ich damals die jüngste Kioskleiterin in der Schweiz.

Pubertät: Wie haben Sie Ihre Pubertät erlebt?Die Pubertät weder Zuhause noch in der Schule ein Thema. Die Eltern gaben mir ein Buch und sagten ich solle es lesen. Sonst war die Pubertät nie ein Thema. Einmal kam Pfarrer Schnieder in die Schule. Wir Buben wurden, damals waren wir in der sechsten Klasse, von den Mädchen getrennt unterrichtet. Er sagte, er müsse mit uns ein ganz heikles Thema behandeln. Wenn einer darüber Lache, sei er ein „Söicheib“, sagte Schnieder. Dann begann er von Bienen und Blumen zu erzählen. Ein Bub nach dem andern hob seinen Pultdeckel um dahinter sein Lachen zu verstecken. Nach zehn Minuten brach der Pfarrer ab und wünschte uns zum Teufel. So wurden wir aufgeklärt.

Wie sind Ihre Eltern mit Ihrer Pubertät umgegangen?Es wäre bitter gewesen darüber zu sprechen. Mädchen trugen Röcke, Buben Hosen. Basta. Es wurde auch kein Aufheben um die Pubertät gemacht wie heute. Ein Buch hatte ich keines. Unter dem Schweigen Zuhause habe ich nie gelitten. Ich hatte ja ein Buch und wusste was los war.

Erziehung:Welche Werte vermittelten Ihnen Ihre Eltern?Man solle korrekt und anständig leben. Meine Eltern haben mir z.B. erklärt, die Juden seien Menschen wie wir. Mein Vater sagte immer, wenn du irgendwo bist, dann benimm dich so, dass du immer, ohne dich zu schämen, dorthin zurück kannst.

Welche Werte gewichteten Ihre Eltern höher: Freies Denken oder Gehorsam?Wir mussten schon artig sein, durften aber auch unseren eigenen Willen haben. Wenn wir etwas wollten, wurde darüber gesprochen. Manchmal gaben uns die Eltern auch Recht. Wir mussten uns aber immer korrekt verhalten.

.:29:.

Page 33: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Wenn man etwas haben wollte, wurde Zuhause darüber gesprochen. Wir waren nie unter der Knute.

Konnten Sie Ihre eigene Meinung einbringen?Ja. Meine Eltern waren für mich wie Freunde. Ich konnte immer zu den Eltern gehen um sie um Rat zu fragen. Man hatte selbst wenig Initiative. Was die Eltern sagten, war richtig. Bei grösseren Vorhaben, habe ich immer die Eltern um Rat gefragt. Ja. Wir konnten Zuhause diskutieren. Dazu ein Beispiel: Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren mussten damals nach der Sonntagsmesse in die Christenlehre. Die Anwesenheit wurde mit einer Liste kontrolliert. Als ich von Belgien heimkam, war ich nicht mehr auf dieser Liste, ging aber trotzdem hin, weil alle meine Freunde dort waren. Während dem Krieg war lange Zeit die Funkerkompanie vier in Reiden stationiert, die der Pfarrer einmal zu Beginn der Messe besonders begrüsste. Während der Predigt sagte der Pfarrer: ‚Was möchten wir dummen Schweizer machen, wenn Hitler käme? Wir müssten den Kopf hinhalten und verrecken’. Ich fand das nicht in Ordnung und sagte dies meinen Nachbarn. Sie waren meiner Meinung. Pfarrer Schnieder hörte unser Gespräch und sagte: ‚Haltet die Klappe’. Ich stand auf und sagte, ich fände nicht in Ordnung, was er gesagt habe. Unsere Väter seien im Dienst, sie müssten den Kopf hinhalten und verrecken. Darauf meinte der Pfarrer: ‚Euch täte es am besten, wenn Hitler käme, dann wärt ihr in der Hitlerjugend und würdet nicht die ganze Zeit den Mädchen hinterher laufen’. Darauf ich: ‚Wann sind wir Mädchen hinterher gelaufen?’ Der Pfarrer erwiderte, es sei jetzt nicht angebracht dies zu erwähnen. Als wir aus der Kirche gingen, wollte der Pfarrer dem kleinsten von uns eine Ohrfeige verpassen, erwischte ihn aber nicht. Ich sagte dem Pfarrer: ‚Wenn Sie Leo schlagen, dann schlage ich zurück!’ Ich erzählte von dem Vorfall Zuhause. Der Vater sagte, als Protestant sage er nichts dazu. Ich sei jetzt 16 Jahre alt und habe Glaubens- und Gewissensfreiheit, ich solle selbst entscheiden. Darauf ging ich nie mehr in die Christenlehre. Der Pfarrer hat mit allen Mitteln versucht, damit ich wieder in die Christenlehre gegangen wäre. Er hat meine Mutter angerufen, ihr und mir Briefe geschrieben. Durch andere hat er mir ausrichten lassen, wenn ich nicht zur Christenlehre erscheine, werde er mich von der Polizei abholen lassen. Trotzdem ging ich nicht hin. Er drohte mir sogar zu der Geschichte beim Bischof vorzusprechen. Ich erwiderte ihm, in einem solchen Fall nicht zu schweigen. Darauf gab er auf. Er schickte mir noch ein Gebetsbuch und einen Rosenkranz. Beides gab ich wieder zurück.

Wurde über Gefühle gesprochen?Wir durften Gefühle offen zeigen. Den Vater haben wir umarmt, wann wir wollten. Darüber gesprochen haben wir selten. Als ich während meiner Zeit im Welschland einen Freund hatte, erzählte ich dies aber meinen Eltern. Er besuchte uns sogar einmal. Wenn ich Tiefs hatte, bemerkten dies die Eltern. Durch einen angeborenen Herzfehler hatte ich oft zuwenig Blut und fehlte oft in der Schule. Es dauerte sehr lang, bis Ärzte die Ursache herausfanden.

.:30:.

Page 34: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Ich hatte nie einen Schulschatz oder ähnliches, dafür viele Freunde. Am Abend und am Wochenende gingen wir oft zusammen spazieren. Wenn wir Geld hatten, kauften wir uns auf dem Weg ein Bier. Schulfreundinnen und Freunde wie heute gab es damals nicht. Als wir älter waren fuhren wir oft mit dem Velo nach Truebschachen, dort konnte man Sonntagnachmittags immer tanzen. Wenn es dunkel wurde, mussten wir wieder Zuhause sein, höchstens zum Milchholen durften wir noch raus. Auch wir mussten zum Abendessen immer Zuhause sein. Ich lernte früh Musik machen. Ab der zweiten Sekundarklasse hatte ich zweimal pro Woche Probe mit der Musikgesellschaft. Das ist ein Grund, warum ich Probleme mit Lehrer Schnieder hatte.

Waren Schläge Teil Ihrer Erziehung?Ich wurde nie geschlagen. Wenn wir Unsinn machten, sagten die Eltern ‚Das machst du nicht mehr. Basta!’. Damit war die Sache erledigt. Ich wurde auch nicht geschlagen. Vielleicht einmal ein Schlag auf den Hintern, aber richtig geschlagen wurden wir nicht. Zur Strafe mussten wir jeweils in die Ecke stehen und beten.

Hatten Sie in Ihrer Kindheit Kontakt mit Ausländern? Wie haben Sie den Kontakt erlebt?Ich besuchte mit einem Deutschen die Schule. Er war ein Kolleg von mir, wie alle anderen auch. Mein Grossvater war Metzger in Triengen. Neben ihm wohnten Deutsche. Der ältere der beiden Söhne der deutschen Familie ist mein Firmgötti. Bei uns im Dorf gab es keine Ausländer.

Was sagten Ihre Eltern, wenn Sie Ungewöhnliches von ihnen wollten?Das war schwierig. Ich hatte z.B. kein Fahrrad. Die Eltern sagten, ein Fahrrad müsse reichen. Noch als ich über zwanzig Jahre alt war, musste ich meinen Vater, ob ich das Fahrrad benutzten dürfe.

Wofür sind Sie Ihren Eltern im Rückblick dankbar?Im Rückblick bin ich für alles dankbar, was Sie mir auf den Lebensweg mitgaben. Sie gaben mir ein freies Leben und legten mir keine Hemmnisse in den Weg. Wir hatten auch Meinungsverschiedenheiten. Wenn ich mit Etwas nicht einverstanden war, musste ich dies schlucken. Als ich dieses Haus kaufte, nahm ich bei meiner Mutter ein Darlehen von 21'000 Franken auf. Dies musste ich bis zum letzten Franken verzinsen.

Erziehung der eigenen Kinder:Welche Werte versuchten Sie Ihren eigenen Kindern zu vermitteln?Dass sie anständig sind und überlegen, was sie tun und dass sie aus ihrem Leben das Beste machen sollen. Dass sie nicht in die Drogen fallen. Beide kommen noch immer regelmässig nach Hause.

.:31:.

Page 35: Familienstrukturen

Urs Jäggis familiensoziologischer Essay.

Unsere Kinder und Grosskinder sind uns stark verbunden. Die zehnjährige Enkelin ist gut in der Schule. Sie nennt uns papapa (Grossvater) und meme (Grossmutter).

Was erfüllt Sie mit Stolz, wenn Sie an Ihre Kinder denken?Das sie Etwas geworden sind. Die Tochter ist Hauswirtschaftslehrerin, der Sohn Mechaniker. Er ist sehr talentiert mit Computern. Bevor er seine Mechanikerlehre begann, arbeitete er beim Schweizerischen Bankverein, wo er oft knifflige Computerprobleme lösen konnte, obwohl er nur als Hilfskraft angestellt war. Beim Bankverein bleiben wollte er nicht, er wollte nicht in einem Büro arbeiten. Noch heute kommen bei ihm viele Leute mit Computerproblemen vorbei. Er hilft immer umsonst. Ersatzteile besorgt er sich bei der Elektroschrottsammelstelle. Hat auch Unsinn gemacht.

.:32:.