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    91. Die Wiederkehr der Farben 102. Dimensionen einer sthetik der Filmfarben 223. Der Weg der Kinofarben 264. Farbe ein heterogener Diskurs 30

    B. Erste Annherung: Farbe als Motiv 43I. Grundfarben 44

    1. Rot 442. Blau 593. Gelb 674. Grn 78

    II. Grundfarbenkontraste 941. Rot Grn 942. Rot Grn Blau Gelb 963. Die weie Totale Schnee im Film 1004. Am farbigen Abglanz haben wir das Leben: Die Poesie der Freien Farben 107

    C. Aus der Praxis der Farbe: Wahrnehmung und Dramaturgie 113I. Zur Geschichte und Deutung der Farbempfindung 1141. Farben Licht Bewegung 1142. Filmgeschichte schreibt Kunstgeschichte 1163. Welle Auge Denken Farbe 1194. Wie Farben reagieren 1215. Das Verhalten der Grundfarben 1276. Die Evolution des Farbensehens 133

    Filmanalyse 1:Alfred HitchcocksVertigo A faded negative 140

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    II. Kostm und Maske 167

    1. Haut-Farben Farben auf der Haut 1672. Eine kurze Geschichte der roten Lippen 1703. En Face in Farben Hauttne im Film 1744. Die zweite Haut: Farbe und Kostm 229

    Filmanalyse 2:Ingmar BergmansSchreie und Flstern Die Innenseite der Seele 246

    271

    2721. Das Auge 2722. Schatzsuche und Pioniertaten 2783. Hand- und Schablonenkolorierung 2814. Virage und Tonung 2915. Auf der Suche nach den Farben der Natur 300

    3061. Glorious Technicolor der Rolls Royce 3062. Die Entwicklung des Technicolor-Verfahrens 3093. Somewhere over the Rainbow ein Tornado und die Folgen 3154. Think Pink Farbakkord und Choreografie 3235. Performance in Farbe:The Red Shoes 3296. Knstlerfarben:An American in Paris 358

    7. Knstliche Farben:Singin in the Rain 3703751. sthetische Differenzen 3752. Die dramaturgische Kraft visueller Brche 3813. Funktionen des Wechsels der Farbmodi 3864. Alte Farben grausames Schwarzwei 3885. Farbspaltung und die Psychologie des Schizophrenen 390

    6. Das Kolorit der Zeit 394Filmanalyse 3:Carlos SaurasGoya: Die Spirale des Lebens 399

    419Zur Wirkung, Symbolik und Dramaturgie der Farbe im Film 420

    4251. Literatur 4252. Filmregister 437

    Inhalt6

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    Das BuchFarbe im Kino ldt zu einer Reise des Sehens ein: auf der Zeitachse der Kinoge-

    schichte, quer zu allen Genres, Bildstilen und Farbmoden. Ausgangspunkt dieser Reiseund Zwischenstopp auf jeder einzelnen Etappe ist das menschliche Auge, das Lichtreizeempfngt und zu unserem Gehirn schickt, welches in Farben denkt. Farbempfindungen Farbgedanken entstehen auf Grund einer bislang weder hirnphysiologisch noch psy-chologisch wirklich erforschten Kette von Verarbeitungsprozessen kognitiver, aber auchemotionaler Natur. Farben bilden eine Brcke ber das weitgehend unbekannte Nie-mandsland zwischen Verstand und Gefhl.

    Dieses Buch wurde fr mich selbst zu einem Schauplatz des Suchens und Findens, derEntdeckungen und Verwerfungen. Vieles mchte ich in Zukunft noch ergnzend zu mei-ner Auseinandersetzung mit der Farbe hinzufgen, zum Beispiel zu den verschiedenenFarbstilen der Kinogenres oder zu den deutschen Agfacolor-Filmen der vierziger Jahre,allenvoranzuJosefvonBakys Mnchhausen (D1943).DiesenThemenwillichmichinnchster Zeit in einzelnen Studien widmen.

    Zwischen den Textpassagen finden sich 229 kommentierte, die Filmanalysen sowie die

    systematischen und historischen Kapitel ergnzende Abbildungen. Dabei handelt es sichbis auf wenige Ausnahmen um Bilder aus Film-DVDs, die natrlich in gedruckter Formnicht mehr an die Qualitt der Filmfarben heranreichen knnen. Kein noch so sorgflti-ger Druck kann das Farberlebnis im Kino ersetzen, zumal die Lichtfarben des Filmswhrend der Projektion in stndiger Bewegung sind. Dennoch halte ich die Abbildungenals Hilfsmittel zum besseren Verstndnis des Themas fr sehr hilfreich.

    Wie auf einer Reise habe ich manche lange Stecke in schnellerem Tempo zurckgelegt,

    um an anderer Stelle lnger zu verweilen. Ich halte dies bei dem ThemaFarbe im Kino frunumgnglich, da der Gegenstand der Betrachtung selbst das Auge immer wieder zumDetail zieht. Farben fhren uns auch zu den bemerkenswerten Eigenheiten unserer kul-turellen Praxis im Umgang mit den Farben, die wir sehen, und den Farbstoffen, die wirangreifen knnen, mit denen wir uns schmcken oder Bilder malen, die voller Farbge-danken stecken.

    Ich mchte an dieser Stelle von ganzem Herzen den Menschen danken, die meine Ar-

    beit an dem BuchFarbe im Kinobegleitet und gefrdert haben. In besonderer Weise giltdieser Dank meinem Mann Rudolf Weidmann, der unermdlich und mit kreativem Elanjedes meiner Projekte frdert und mir stets mit Geduld, Rat und vielen Taten in einmali-

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    ger Weise zur Seite steht. Menschlich und beruflich bedeutet es fr mich ein groes

    Glck fr und mit Thomas Koebner arbeiten zu drfen, der mir in der Zeit des konzen-trierten Schreibens den notwendigen Freiraum gewhrte und stets zu einem kritischenGedankenaustausch bereit war. Fr seine freundschaftliche Frderung bin ich ihm zu-tiefst dankbar. Meiner Freundin und Kollegin Fabienne Liptay, die meine Leidenschaftfr Bilder teilt, habe ich vielfach fr ihre produktive Auseinandersetzung mit meinemBuch und fr ihre selbstlose Hilfsbereitschaft in allen Lebenslagen zu danken. MeineFreunde Martina Stppel und Matthias Bauer haben manche Stunde ihrer kostbaren

    Freizeit geopfert, um dem druckfertigen Buch den letzten Schliff zu verleihen. Ihnen binich ebenso zu groem Dank verpflichtet, wie Renate Kochenrath, die die letzte Fassungvor der Drucklegung noch einmal mit grter Sorgfalt durchgesehen hat.

    Vorwort8

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    HERO(Regie: Zhang Yimous, Hong Kong / China 2002)

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    1. Die Wiederkehr der Farben

    Nur dem, der die Farbe liebt, erffnet sich ihre Schnheit und ihr in-newohnendes Wesen. Die Farbe gibt sich jedem zum Gebrauch,aber nur dem sie hingebungsvoll Liebenden entschleiert sie ihr tiefe-res Geheimnis.

    (Johannes Itten: Kunst der Farbe)

    Das BuchFarbe im Kinogeht auf die Suche nach den Grundlagen einerFarbenlehre der

    Filmkunstund greift damit ein sprlich bearbeitetes Thema der Filmgestaltung und derFilmwahrnehmung auf.1 Beobachtet man die aktuellen Filmproduktionen aufmerksam,so ist die Renaissance der Farben auf der Kinoleinwand unbersehbar. Ob Zhang Yi-mous Martial-Arts-Film Hero (Hong Kong / China 2002), Christopher Nolans ThrillerMemento (USA 2000), Laetitia Colombanis lafoliepasdutout (F2002)oderPe-dro AlmodvarsHable con ella(E 2002) gerade in diesen auergewhnlichen Fil-men des internationalen Kinos untersttzen die Farben auf der Leinwand komplexe Ge-

    schichten. Almodvar verfolgt bei der visuellen Gestaltung seines wirklich verstrendenFilms ein klares Ziel: Farbe und Licht stehen unserer vorschnellen Verurteilung des sexu-ellen Missbrauchs einer hilflosen, weil im Koma liegenden, Frau im Weg. Eigentlich er-zhlt Almodvar eine unmgliche Geschichte auf unmgliche Weise. Ein Krankenpfle-ger liebt seine Schutzbefohlene mit zrtlichster Hingabe und allen Konsequenzen. Siewird schwanger und erwacht aus ihrem Koma. Ein verbotener Gedanke drngt sich auf:Seine Liebestherapie hat sie gerettet. So etwas ist und das gilt fr die Realitt allemal

    moralisch nicht erlaubt. Almodvar rttelt an einem echten Tabu. Entscheidend fr dieemotionale Wirkung seines Films, der uns einen objektiven Unhold zum Freund werden

    1 Einer Flle von technisch orientieren Abhandlungen ber Produktions- und Entwicklungsstadien vonFarbfilmen (siehe Anhang) steht die vergleichsweise karge Ausbeute an Untersuchungen zur sthetikund Dramaturgie gegenber. Auf den Punkt bringt dies das Inhaltsverzeichnis einer amerikanischen Pub-likation ber das Leben und Werk Stanley Kubricks. Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Teil II zuKubricks Gebrauch der Farbeumfasst ganze elf Seiten Farbabbildungen mit 3 Seiten Kommentar. In die-

    sem im Ganzen klugen Buch herrscht in Bezug auf die Farbe Zurckhaltung, obwohl das Thema durch dieAnordnung der Kapitel zu einem Hauptaspekt erklrt wird: Alexander Walker, Sybil Taylor, UlrichRuchti: Stanley Kubrick. Leben und Werk. Berlin: Henschel, 1999.

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    lsst, ist nicht der Plot, sondern die Gestaltung der Bilder und das Spiel der Schauspieler.

    Im warmen Braun dunkler Hlzer leuchten warme Rottne, Gelb und Gold auf. DieKunst der Designer ist an dem Kostm der Stierkmpferin zu bewundern, das fr diebrige Ausstattung des Films die leitenden Farbtne angibt. In die Geborgenheit derwarmen Farben kleiden sich auch die Pracht und der Stolz dieses zu Recht umstrittenen,choreografierten Kampfes zwischen Mensch und Tier. Almodvars Kampfszenen ver-dienen eine Detailanalyse, denn auch hier ist die Inszenierung der magebliche Faktorfr unsere Akzeptanz.

    Auf vllig andere Weise funktioniert die Farbdramaturgie des chinesischen Martial-Art-Films Hero von Zhang Yimou. In deutlicher Reminiszenz an Akira Kurosawas Meis-terwerkRashmon, das Lustwldchen(Japan 1950) konstruiert Yimou die multiper-spektivisch erzhlte Geschichte eines Attentats auf den Knig von Qin, dessen Kriegspoli-tik auf die Vereinigung aller chinesischen Provinzen zu einem gewaltigen Kaiserreich zielt.Hero handelt von einer Legende,die in einer Serie vonVarianten erzhlt wird: EinMeisterdes Schwertkampfes und Trger des bezeichnenden Titels Der Namenlose tritt vor den

    Knig, um zu berichten, dass er zu dessen Schutz die drei gefhrlichsten Attentter desLandes gettet habe. Der Knig schtzt die berragenden Fhigkeiten der drei AttentterZerbrochenes Schwert, Weiter Himmel und Fliegender Schnee als Schwertkmpferund davon untrennbar als Meister der Kalligrafie. Er erkennt das Heldentum der Frauund der beiden Mnner an, ungeachtet der Feindschaft, die sie ihm entgegenbringen. ImBewusstsein der berlegenheit der Attentter und darum von Skepsis befallen, befragt erden Namenlosen nach dem Hergang seiner Siege ber gleich drei als unbesiegbar gelten-

    de Gegner. Yimou kleidet jede der Episoden in eine andere Leitfarbe oder in meist nur auszwei Grundtnen bestehende Farbkompositionen, welche sich vor die thematischen Kr-per der Varianten wie tuschende Masken schieben. Die klaren und monochromen Farb-tne der verschiedenen Versionen werden erst in der Schlusssequenz, die von dem Liebes-tod des Paares Zerbrochenes Schwert und Fliegender Schnee handelt, durch eineMischfarbe, einen transparenten Goldton, ersetzt.

    Wie in dem spanischen DramaHable con ellafllt die Aufgabe, die emotionalen

    berschsse des Dargestellten zu visualisieren, auch in dem chinesischen Film Hero derFarbe zu. Die jeweilige Leitfarbe verfhrt in jeder Szene zu einer neuen Betrachtungs-weise, nicht ohne bei mehrmaligem Hinsehen auf die falsche Fhrte selbst aufmerksamzu machen (Abb. 114). Jede der entweder von dem Namenlosen oder dem Knig er-zhlten Auslegungen kombiniert die Fakten ein namenloser Held besiegt die drei ge-fhrlichsten Attentter, um den Knig zu schtzen mit einer neuen Variante der Ge-schichte und einer neuen Farbstimmung. Die rote Episode zieht das Ganze als Eifer-

    suchtsdrama mit tdlichen Folgen auf, whrend die blaue Variante, an die der Knigglauben mchte, die Geschichte emotional auf den Kopf stellt. Das heldenhafte Liebes-paar opfert sich hier in selbstloser Hingabe an die Sache, in echter berzeugung und aus

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    12 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    Abb. 1 Zhang Yimous philosophisches Heldenepos HEROdrfte als der farbdramaturgisch auergewhnlichsteFilm des Kinojahres 2003 gelten. Ein namenloser Held (Jet Li) hat die gefhrlichsten Attentter des Landes be-

    siegtunddarfsichausdiesemGrunddemKnigbisaufwenigeSchrittenhern.DerKnigbefragtihn,aufwelcheWeise es ihm gelungen sei, diedrei grten VirtuosendesSchwertkampfes, eine Frau (Fliegender Schnee) undzwei Mnner (Gebrochenes Schwert, Weiter Himmel), zu besiegen. Als Hommage an Akira KurosawasMeisterwerk RASHMONDAS LUSTWLDCHEN(Japan 1950) erzhlt Yimou die Geschichte eines philosophischen At-tentats auf den Tyrannen in mehreren Versionen. Jede Episode wird von einer eigenen Farbe getragen. Leuchten-des Rot kennzeichnet die Variante, bei der Liebesverrat und Eifersucht zur Waffe des Helden werden.

    Abb. 2 Fliegender Schnee ttet aus Eifersucht ihren Geliebten mit dem Schwert durch eine Wand hindurch.Die warme Farbtemperatur der roten Gewnder im Kontrast zu dem rtlich braunen Holz der Wnde erhlt

    durch verstrkende Filter noch mehr Leuchtkraft. Der Knig bemerkt die Lge sofort: Die beiden Attenttersind Schwertknstler und Meister der Kalligraphie. Niemals wrde das Paar zulassen, dass ungezgelte Gefh-le die Macht ber ihr Handeln bernehmen.

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    131. Die Wiederkehr der Farben

    Abb. 3 und 4 Zu den visuellen Hhepunkten des Films HEROzhlt der archaische Kampf zwischen Fliegender

    Schnee und Leuchtender Mond, der Dienerin des aus Eifersucht ermordeten Geliebten GebrochenesSchwert. Zhang Yimou inszeniert diesen Kampf vor einer ebenso irrealen wie zauberhaften Kulisse. Im Regengelber Bltter, bewegt von einem parteiischen Wind, kmpfen zwei Frauen um das Vorrecht der Liebe. Die Reifeund berlegene in leuchtendem Rot, die Dienerin in der Farbe um ein Weniges blasser. Nach dem Tod der Diene-rin frben sich die gelben Bltter blutrot, und ihr Gewand gleicht sich dem leuchtenden Rot ihrer Gegnerin an.

    Das Farbenspiel in HERObezieht die Hauttne der Darsteller mit ein. Rtlich, blulich, gelblich oder wei jenach Farbpalette des Bildes.

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    14 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    Abb. 5 An Intensitt kaum zu berbieten: Die Farben in HERO. Im Tod erglht das rote Gewand von Leuchten-der Mond inmitten von roten Blttern. Der Kontrast zwischen Figur und Grund wird durch die Farbverwand-

    lung der Bltter von Gelb zu Rot beinahe zum Verschwinden gebracht. Lediglich die graubraune, grob struktu-rierte Baumrinde und der Himmel bilden einen Kontrast zu der roten Bltterflut.

    Abb. 6 Durch die Aufwrtsfahrt der Kamera hin zu einem Topshot, einem Todesbild, reduziert sich das Farben-spektrum, da das fahle Blau des Himmels nicht mehr zu sehen ist. Die Bilderzhlung evoziert eine symbolischeTodesvorstellung: Der tote Krper verschwindet optisch in den Elementen der Natur.

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    151. Die Wiederkehr der Farben

    Abb. 7 und 8 Eine leuchtend blaue Bibliothek, die in Wei noch einmal zum Schauplatz der Demonstration der

    kmpferischen berlegenheit des namenlosen Helden werden wird, kennzeichnet die Variante der Geschichte,an die der Knig glaubt, weil er sie selbst erzhlt: Da sich der erste Attentter Weiter Himmel freiwillig vondem namenlosen Helden tten lie, glauben auch Fliegender Schnee und Zerbrochenes Schwert dem Na-menlosen helfen zu mssen.

    Die Kampfkunst des Helden heit Tten auf zehn Schritte. Damit sich der namenlose Held dem Knig, dener ermorden will, auf zehn Schritte nhern darf, muss er einen weiteren Sieg ber einen Attentter erringen. Dieblaue Variante handelt von der Bereitschaft, das eigene Leben einem hheren Ziel zu opfern, und von bedin-gungsloser Treue Tugenden, die dem Knig imponieren. Die leuchtenden Blautne der Szene schaffen um die

    Figuren einen Raum der aristokratischen Selbstbeherrschung und des Edelmuts. Einen Bruch erleidet die Sze-ne allerdings zu Beginn, nmlich durch den Beweis der berlegenheit des Helden auf Kosten der wertvollen Bi-biothek. Solche Brche entlarven den hypothetischen Charakter jeder einzelnen Sequenz.

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    16 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    Abb. 9 und 10 Die grn und schwarz gefrbte Variante erzhlt die Geschichte der Liebe zwischen FliegenderSchnee und Zerbrochenes Schwert und eines frheren, misslungenen Attentats auf den Knig aus der Per-spektive des Helden Zerbrochenes Schwert. Zerbrochenes Schwert hat zu diesem Zeitpunkt als einziger er-kannt, dass das Attentat auf den Knig Qinnicht begangen werden darf. Diese Erkenntnis hat er aus einer Kalligra-phie mit der Bedeutung Alle unter dem Himmel gewonnen. Der Knig muss leben, um die zerstrittenen chinesi-schen Knigreiche zu vereinen und Frieden zu schaffen. Schlielich entpuppt sich die Kalligraphie von Zerbroche-nes Schwert als das wahre Attentat auf den Knig, da sie ihn mit dem Gedanken konfrontiert, dass er notgedrun-gen philosophisch versagen muss, wenn er seinen Pflichten als Knig nachkommt und umgekehrt. Die hchsteKunst des Helden ist es, das Schwert aus den Hnden und dem Herzen zu nehmen und nicht mehr zu tten.

    Neben den Farben kennzeichnet alle Varianten die Verbindung zwischen Fallendem, Flieendem, Wehendemin leuchtenden Farben mit dem Schwertkampf. Das vom Dach des Tempels flieende Wasser erinnert whrenddes ersten Kampfes zwischen dem Namenlosen und Weiter Himmel an die Schlusssequenz aus RASHMON.

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    171. Die Wiederkehr der Farben

    Abb. 11 Der Kampf auf dem See zwischen Zerbrochenes Schwert und dem Namenlosen wird nur im Geisteausgefochten. In dieser Sequenz wird die philosophische Untrennbarkeit von Schwertkampf und Kalligraphie

    offensichtlich. Ob in Sand oder Bltter geschrieben, die rtselhaften Zeichen der Kalligraphie sind flchtig. Wel-ches Element knntedies besser visualisieren als dasWasser desSees, ein glatter Spiegel und tiefer Abgrund.Die Wasserszenen in Hero konnten nur in den wenigen Stunden am Morgen gedreht werden, wenn der Windruhte und das Wasser absolut still war.

    Abb. 12 Kopfber fliegen die Kmpfer auf die spiegelglatte Wasseroberflche zu, um ihre Schwerter wie Pin-sel in die blaue Farbe des Wassers zu tauchen, das die Spuren der Berhrung sofort wieder verwischt. Im Ge-gensatz zu den wenigen, dichten Blautnen in der nahezu monochromen Bibliotheksszene entfaltet die Natureine berflle an Farbabstufungen und Farbintensitten. Die Wasserflchen spiegeln das Grn der bewaldeten

    Berge und lassen permanent neue Farbtne entstehen. Leichtigkeit und Transparenz, dazu eine faszinierendeChoreographie der Bewegungen unterstreichen diesen magischen Moment in Blau.

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    18 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    Abb. 13 In Wei demonstriert der Namenlose seine berlegenheit, indem er einen weien Pfeil inmitten einerFlut fallender, schwarzer Pfeile der Lnge nach mit seinem Schwert spaltet. Dieses Schwert ist so scharf und

    fein, dass es den Krper, den es durchbohrt, zwar verletzt, aber nicht ttet. Die weie Variante erzhlt die Ge-schichte der drei Verschwrer als ein vorgetuschtes Opfer. Whrend der Knig glauben soll, die Attentterseien besiegt, knnen diese sich heimlich von ihren Verletzungen erholen.

    Abb. 14 Der Plan scheint perfekt, doch Zerbrochenes Schwert widersetzt sich dem Willen der anderen. Ererklrt, das Leben des Knigs schtzen zu wollen, weil nur dieser den Frieden bringen kann. ZerbrochenesSchwert hat das Schwert aus der Hand und dem Herzen gelegt. In einer grandiosen chinesischen Wsten-landschaft, unter dem stndigen Einfluss des Windes, bekmpfen sich Fliegender Schnee und Zerbroche-

    nes Schwert, da Fliegender Schnee den Plan des Attentats nicht fallen lassen will. Schlielich gehen sie ge-meinsam in den Liebestod, weil Zerbrochenes Schwert sich nicht verteidigt. Sie tragen die Farbe Wei, inAsien die Farbe der Trauer, vor einer ockerfarbenen, gelben Kulisse.

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    prinzipiell edlen Motiven heraus. Zu beobachten ist eine farbliche Umrahmung jeweils

    mehrerer Szenen. Auf Rot folgt Rot-Gelb und dann wieder Rot. Zwischen Blau und Blauist die monumentale, blau und grn ausgestattete Kampfszene im Palast des Knigs ei-ne Erinnerung in der Erinnerung platziert. Von geradezu grandioser Ausdruckskraftist neben dieser Blau-Grn-Sequenz vor allem der vergebliche Kampf der DienerinLeuchtender Mond gegen Fliegender Schnee, ein in leuchtendes und bewegtes Rotund Gelb getauchter Racheakt aus Liebe (Abb. 36). Aus der bermacht der klarenGrundfarben brichtHero erst im letzten Drittel der Handlung aus. Jetzt dominiert

    Wei, die Nichtfarbe, die alle anderen Farben in sich aufnimmt, und schlielich die gold-gelbe Farbe des Wstensandes, in dem Fliegender Schnee und ZerbrochenesSchwert nacheinander den Tod whlen (Abb. 13 und 14). Wie der Knig, der am Endeerkennen muss, dass er mit dem Namenlosen den gefhrlichsten aller Attentter in sei-ne Nhe kommen lie, gerade weil dieser ihn nicht umbringt, sondern mit Hilfe einesSchriftzeichen eine hhere Wahrheit zu erkennen lehrt, hat auch das Liebespaar zurWahrheit gefunden. Als erster erkannte Zerbrochenes Schwert, dass die hchste Weis-

    heit darin besteht, das Schwert aus der Hand und auch aus den Gedanken zu legen.Diesen Erkenntnisweg von der einfachen, in Analogie zu den monochromen Farbt-nen der jeweiligen Episoden ungebrochenen Lsung des Kampfes zu einer philosophi-schen Verweigerung des Naheliegenden durch ein Verlassen der geraden Pfade vollziehtdie Farbdramaturgie in Hero mit. Dabei muss der Film eine Zerreiprobe zwischen dergleichermaen wichtigen Funktion der entlarvenden Emotionalisierung oder symboli-schen Besetzung der Episoden durch die einzelnen Farbtne und jener ueren Beglei-

    tung eines inneren Erkenntnisweges durch die Vernderung der Farbtne zum Gemisch-ten und zur Vielfalt bestehen. Jene innere Komplexitt der Farbdramaturgie scheint mirfr die besondere Erscheinungsweise des FilmsHerowichtiger zu sein, als der Bezugzur besonderen Symbolik der Grundfarben in der chinesischen Kultur, auf die sich Yi-mou in seinen anderen Filmen, zum Beispiel in Heimweg (China 1999), in aller Deutlich-keit bezieht. Yimous FilmHerodemonstriert neben der auergewhnlichen Farbdra-maturgie paradigmatisch die potenzielle visuelle Kraft der Farbe im Kino, die als perma-

    nent in Bewegung begriffenes Licht-Spiel eine Leuchtkraft erreichen kann, zu der sichweder die Farben in der Malerei noch in der Fotografie im gleichen Mae bringen lassen.Fr die Leuchtkraft der Farben in Hero sorgen Farbfilter, welche die Grundfarben ver-strken und die Monochromie der einzelnen Sequenzen befrdern, sowie in intensivenFarbtnen gefrbte Kostme und eine umfassende Farbnachbearbeitung in der Postpro-duktion. Bildgestaltung und Ausstattung sind von einer derartigen Klarheit der Farbendurchdrungen, dass es an keiner Stelle zu einer Verwechslung mit den Farbtnen unserer

    Alltagswirklichkeit kommen kann. Die Qualitt der Farben betont den offenen Kon-struktionscharakter des Films, der zu einem Denkstck in den Chiffren einer Farben-schrift gert. Daneben ist nicht zu bersehen, dass Yimou einen Film geschaffen hat, der

    191. Die Wiederkehr der Farben

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    gleichwertig zur Dramaturgie der Farben das genussvolle Sehen der Farbe im Kino feiert.

    Licht und Farbe gehen im Moment der Filmprojektion im brigen immer eine besonde-re Verbindung ein.Die Filmwissenschaftlerin Christine Noll Brinckmann vergleicht Transparenz,

    Luminositt und Fluss der filmischen Farbe im dunklen Kinosaal mit der Farbwir-kung eines beleuchteten Aquariums und legt die Details dieses produktiven Bildes aus-fhrlich dar:

    Das filmische Bild ist oft mit einem Aquarium verglichen worden, dessen Durch-

    sichtigkeit, Wssrigkeit, Lichtdurchflutung und selbstttige Bewegung auf hnli-che Weise sensuell faszinieren. Nicht umsonst kommen Aquarien hufig in Spielfil-men vor, sowohl als Metapher fr das Medium wie aufgrund ihrer visuellen Quali-tten. Gebrochen durch Glas und Wasser scheint das Licht von anderer Art zu seinals auerhalb, im trockenen Raum. Es strmt und schimmert, reflektiert, und wo esauf Farben trifft, bringt es sie intensiv zum Leuchten. Taucht ein Fisch ab unter Al-gen, wird er rasch dunkel und unsichtbar. Das Geflle von Licht und Farbe ist im

    Wasser viel markanter als in der Luft. Auch das Format des Aquariums ist dem fil-mischen Bild vergleichbar (whrend Plakate das stehende Rechteck bevorzugen).Zudem umschliesst auch das Aquarium einen eigenen Raum, in den man blickt, oh-ne ihn zu betreten.2

    Etwas spter in ihrem Text verweist Noll Brinckmann auf den Lampioneffekt, derdurch die Dunkelheit des Kinos den Eindruck erzeugt, als glhte der Gegenstand auf

    der Leinwand von innen. Grundstzlich gilt: Die Farben des Kinos erscheinen durchdie Projektion immer als Lichtfarben, auch wenn es sich um eine Wiedergabe der Lokal-farben der gefilmten Dinge handelt. Wenn diese prinzipielle Disposition der Kinofarbenzur (bei weitem nicht von allen Filmemachern begrten) Intensitt der Farbtne durcheine Kennerschaft der Regisseure, der Bildgestalter und Ausstatter in Bezug auf die Fein-heiten der Farbkomposition entfesselt wird wie unzweifelhaft im Fall von Hero lsstsich die Farbsthetik des Kinos nicht mehr mit den Farben in den brigen bildenden

    Knsten vergleichen, auch nicht mit der technisch verwandten Fotografie, deren Lichtauf die Oberflche eines Fotopapiers gebannt werden muss. Eine Zwischenstellung zwi-schen dem projizierten, bewegten Film und dem auf Papier entwickelten, stillen Fotonimmt allerdings das projizierte Diapositiv ein. Eine letzte Anmerkung zur Farbgestal-tung von Hero sei an dieser Stelle noch gestattet: Basierend auf einer szenischen Leitfar-be von groer Klarheit entwickelt Yimou mit seinem Kameramann und der Ausstatterinminimale Farbabstufungen aus Mischtnen. Durch ihr Anderssein verhalten sich diese

    20 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    2 Christine Noll Brinkmann:Farbe. In: Wolfgang Beilenhoff, Martin Heller (Hrsg.): Das Filmplakat. Z-rich, Berlin, New York: Scalo, 1995, S. 224227. S. 224.

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    quantitativ als Nebenfarben gesetzten, zum Beispiel nur an einem Kostm auftretenden

    Farbtne im weitgehend monochrom gehaltenen Bild exzentrisch. Damit wird einGrundsatz jeder Farbdramaturgie deutlich, auf den ich im Verlauf meiner Untersuchungimmer wieder zurckkommen werde: Das visuelle Gewicht des Besonderen in der Farb-komposition.

    An den genannten Beispielen Hero, Hable con ella, aber auch an dem Thriller Me-mentooder dem Verwirrspiel la foliepas du toutfllt ein weiterer Punkt auf.Dramaturgie und Narration des Erzhlkinos werden immer komplizierter, die Grenzen

    des Erzhlbaren verschieben sich zusehends. In den letzten Jahren ist zu beobachten,dass das Interesse vieler Filmemacher zum einen der berwindung eines linearen Zeit-verstndnisses durch eine komplexe multiperspektivische Verschachtelung der filmi-schen Narration gilt, zum anderen einer fr den ersten Blick verborgen gehaltenen Ver-schiebung des Point of View in Bereiche radikaler Subjektivitt. In Ron Howards DramaA Beautiful Mind(USA 2001) ist der Zuschauer lange Zeit im Unklaren, ob er zumZeugen einer politischen Verschwrung oder einer Wahnvorstellung wird. Diese Wir-

    kung geht unter anderem auf die geschlossene, einer realistischen Inszenierung verpflich-tete Farbgestaltung des Films zurck. Weder Rckblenden noch Farbverfremdungendurchbrechen die scheinbar objektive Darstellung. In allem herrscht Kontinuitt undLogik. Erst zu dem Zeitpunkt, als Nash seine eigene Wahnwelt entlarvt, bricht die Farbefr wenige Minuten auseinander. Eine hnliche Strategie der Verschleierung verfolgtauch Alejandro Amenbar in seinem Horrorfilm The Others (USA/F/S 2001). DerFilm spielt eigentlich im Jenseits, die Protagonisten sind in Wahrheit tot und hinter den

    vermeintlichen Geistererscheinungen verbergen sich die lebenden Bewohner eines altenHauses. Der Zuschauer bemerkt dies erst in der Schlusssequenz. In beiden Filmen, die indie Einsamkeit eines Wahnsinnigen oder sogar in die Isolation einer Geisterfamilie ein-dringen, sorgt ein uerst genauer Umgang mit Farbe und Licht fr die emotionale Iden-tifikation des Zuschauers mit den Figuren. Die Farbgestaltung der Bilder spielt eine zen-trale Rolle fr die szenische Atmosphre, aber in beiden Fllen verdeckt sie zugleich ent-scheidende Ebenen, um das Publikum auf falsche Fhrten zu locken. Es liegt auf der

    Hand, dass das neue digitale Speichermedium Digital Versatile Disc (DVD) den Verwirr-spielen Vorschub leistet, denn die wirtschaftlich hchst erfolgreiche Form der Filmspei-cherung3 hat zu einer neuen Rezeptionsweise des wiederholten Studierens von Filmenund verbreitetem Sammlertum gefhrt. Auch einer kunstwissenschaftlichen Filmanalysezur Bildkomposition, Farbdramaturgie oder Lichtsetzung im Film und damit einer Aus-einandersetzung mit unterschiedlichen visuellen Stilen kommt die DVD endscheidendentgegen. Im Bezug auf die aus DVDs entnommenen Stills, die in der vorliegenden Stu-

    211. Die Wiederkehr der Farben

    3 Oliver Turecek, Andreas Grajczyk, Gunnar Roters: Video- und DVD-Markt im Aufwind. 2001 und 2002erfolgreiche Jahre fr die Videobranche. In: Media Perspektiven, 2/2003, S. 7685.

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    die lediglich als Bildbelege und nicht etwa als sthetischer Ersatz fr die Kinoprojektion

    eingesetzt sind, muss stets reflektiert werden, dass das stillgestellte Bild eine Hilfskon-struktion darstellt, denn wir nehmen im Kino Bilder in einem kontinuierlichen Bewe-gungfluss wahr. Es ist aber auch immer wieder deutlich erkennbar, dass Filmszenen aufden visuellen Hhepunkt hin inszeniert sind, auf ein durchkomponiertes Frame, in demdie Figuren und Objekte in ein fr Augenblicke fixiertes Verhltnis treten, das in den Be-wegungsfluss einen kurzen Moment der Dauer einschreibt. Viele der in diesem Buch ge-zeigten Bildbeispiele stellen solche Momente dar.

    2. Dimensionen einer sthetik der Filmfarben

    In unserer normalen Alltagswahrnehmung so schtzen Wahrnehmungsforscher ent-schlsselt ein Mensch mindestens vierzig Prozent aller visuellen Informationen durchFarben.4 Wir orientieren uns mit Hilfe von Farben, knnen Entfernungen und Raumper-spektiven durch Farbtne und durch Farbabstufungen abschtzen, beurteilen den Zu-

    stand von Nahrungsmitteln auf Grund von Farbe und Geruch, haben recht genaue Vor-stellungen davon, welche Farben wir an welchen Objekten fr schn und welche fr ab-stoend halten kurzum, wir benutzen im Alltag ein uerst komplexes Farbsystem, daszudem auch noch persnlichen und regionalen Vorlieben und Moden unterworfen ist.Weil Farben fr die menschliche Wahrnehmung viele zentrale, aber in der Regel unbe-wusst bleibende Funktionen erfllen, nehmen wir sie in Bildern hufig auch nur mithalbem Auge wahr. Auf Grund des vermeintlichen Abbildcharakters gerade von

    Spielfilmszenen werden Farben auf der Leinwand mit Farbenerscheinungen, wie sie unsallenthalben im Alltag begegnen, verwechselt. Im Glauben an die Abbildungsbeziehungzwischen fotografisch erzeugten Bildern und der Realitt werden auch die Farben inSpielfilmen hufig als naturgegebene Objektfarben hingenommen. Dringt man in dieGeschichte der technischen Bemhungen um den Farbfilm ein, so erweisen sich die Far-ben im Kino als das genaue Gegenteil naturgegebener Farben.

    Auch unser Umgang mit Farben im wirklichen Leben gibt Anlass zu genauer Ana-

    lyse, denn er ist komplex und verrterisch. Unsere allmorgendliche Wahl der Kleidungund die Ausstattung unserer eigenen vier Wnde enthllen zumeist unausgesprocheneTeile unseres Selbstbildes, ein Ausdrucksmodus, den die darstellenden Knste reflektie-ren und zur Konzeption dramatischer Figuren auf der Bhne und der Leinwand einset-zen knnen, weil er vom Publikum intuitiv verstanden wird. Andererseits gehren farb-symbolische und psychologische Klischees mittlerweile zu den Standards unserer mas-

    22 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    4 Norbert Welsch/Claus Chr. Liebmann:Farben: Natur, Technik, Kunst. Heidelberg, Berlin: Spektrum,Akad. Verl., 2003. S. 1. Harald Kppers: Das Grundgesetz der Farbenlehre. 10., berarbeitete und aktuali-sierte Auflage, Kln: DuMont Buchverlag, 2002. S. 7.

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    senmedialen Ratgeberkultur, so dass auch der alltgliche Umgang mit Farben von

    willentlichen Ausdruckstrategien bestimmt wird. Wenn der Ausdruckscharakter vonFarben diskutiert wird, so zumeist in seiner mittlerweile durch populre Farbratgeberbekannt gewordenen Symbolhaftigkeit, die Farben bestimmten Klischees zuordnet.Ausdruck, Geschichte und sthetische Funktion der Farben im Film sind allerdings we-sentlich komplizierter.

    Eine Farbenlehre der Filmkunst muss eine Reihe heterogener Fragestellungen undThemen reflektieren und in ihren inneren Zusammenhngen begreifbar machen. Farbe

    im Film ist historisch gesehen ein technisches Problem, an dessen Lsung Physiker, Che-miker und Bildgestalter mit groer Beharrlichkeit gearbeitet haben und dies immer nochtun. Schon die ersten Filmstreifen wurden mit mehr oder weniger effektiven Methodengefrbt. Jedes der frhen Verfahren zur monochromen Viragierung oder Tonung vonBildsequenzen, aber auch die mehrfarbige Hand- oder Schablonenkolorierung begrn-det fr sich eine neue Bildsthetik, die jenseits des technischen Fortschritts weiterexis-tiert. Mit der Entdeckung der Mehrfarbverfahren hat sich das monochrome Einfrben

    der Bilder als Gestaltungsmittel nicht erledigt. Die Bildgestaltung unterschiedlichsterzeitgenssischer Filme Beispiele sind Steven Soderberghs Drogenthriller Traffic(D/USA 2000), Veit Helmers irreales Mrchen Tuvalu (D 1999), Marc Caros und Jean-Pierre Jeunets Satire Delicatessen (F 1991) oder James Camerons Terminator-Filmen(USA 1984, USA/F 1991) basiert auf einer monochromen sthetik, deren visuelle Wir-kung an die Virage erinnert.

    In den zehner und zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts werden unzhlige

    physikalische und chemische Patente zur Farbfilmproduktion angemeldet, erprobt undwieder verworfen.5Jedes Verfahren bedingt seine eigene sthetik und auch seine eigenenMngel, wobei gerade die visuelle Ferne zur bunten Welt der Realitt im Gegensatz zurin der damaligen Zeit schon recht natrlich wirkenden Farbfotografie ungewhnlicheGestaltungschancen in sich birgt. Das unbewegte Bild kommt, wie spter noch zu zeigensein wird, der Farbtechnologie strker entgegen als die bewegten Bildfolgen des Films.Erst in den dreiiger Jahren vorrangig durch die Innovationen von Technicolor kn-

    nen Farbtne im bunten Bild wirklich gezielt als dramaturgische Elemente eingesetztwerden. Mit Technicolor und etwas spter mit Agfacolor beginnt eine differenzierteAuseinandersetzung der Filmemacher mit der Gestaltungsvielfalt der Farbdramaturgie.

    Jetzt kann auf einer neuen Ebene visuell erzhlt werden, deren kreatives PotenzialKnstler wie Sergej Eisenstein schon frh in hchste Euphorie versetzt. Andere frchten

    232. Dimensionen einer sthetik der Filmfarben

    5 Umfangreiche Informationen hierzu hat vor allem Gert Koshofer zusammengetragen, u.a. in seinem Buch Co-

    lor. Die Farben des Films.Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH, 1988. Eine sehr gute Einfhrungin die komplizierte Materie bietet auerdem die zweiteilige Fernsehdokumentation Die Lust an der Farbe.Die Geschichte des Farbfilms (Teil 1 und 2; D 1993/1994) von Harald Pulch und Martin Loiperdinger.

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    sofort eine Verflachung des Filmbildes, weil es durch seine Buntheit der Realitt zu nahe

    zu kommen droht. Wieder kmpfen die Macher mit einer stattlichen Reihe von techni-schen und sthetischen Problemen: Farbkontinuitt, Lichtschwankungen, die wesent-lich geringere Lichtempfindlichkeit des Farbmaterials, welche zu einem so massiven Ein-satz von Licht zwingt, dass den Schauspielern die Maske im Gesicht schmilzt, und nichtzuletzt mangelnde Erfahrung mit der Entwicklung des Materials belasten die Ergebnisseauf der Leinwand. Noch dazu explodieren die Kosten der Farbproduktionen. Bis in diesechziger Jahre unterliegen sthetische Entscheidungen fr oder gegen Farbe in einer

    Filmproduktion in erster Linie konomischen Zwngen. Nicht nur im Fall von WilliamWylers MelodramJezebel(USA 1938) fhrt der Verzicht auf bunte Farben im schlie-lich schwarzweien Film zu einer raffinierten indirekten Inszenierung einer Farbe, indiesem Fall des unsichtbaren Rots durch dichte glnzende Schwrze, die das Rot nurnoch ahnen lsst. Rot ist das zentrale Farbmotiv in Wylers Film, auch weil diese wich-tigste Primrfarbe unsichtbar bleibt. Im schwarzweien Tonfilm wird es auch mglich,ber Farben zu sprechen und somit eine indirekte Farbdramaturgie aufzubauen, welche

    sich auf Farbwirkungen bezieht, die das Publikum auch auf Grund seiner Kunstkenntnisund nicht zuletzt durch den alltglichen Umgang mit Farben kennt. Diese bewusste, aberindirekte Begegnung mit Farben, die schwarzweie Filme mit Farbmotiven dramatur-gisch zwischen den Farbfilm und die Literatur schiebt, die ihrerseits farbmotivische Er-zhltechniken entwickelt hat, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers in manchen Fl-len strker auf den Diskurs der Farben als ein buntes Bild. Auf jeden Fall machen indirek-te Farbdramaturgien auf die imaginre Qualitt von Farben und auf die Konstitution

    unsichtbarer Farbwirkungen durch die unterschiedlichen Sprachen aufmerksam. DieBeziehung zwischen Farbempfindungen und Farbbenennungen wird seit den siebzigerJahren in der Sprachwissenschaft erforscht.

    Rudolf Arnheim und Bla Balzs gehren zu den ersten Filmtheoretikern, die dasknstlerische Problem der Farbgestaltung reflektieren. Arnheim, der zu den fhrendenKunstwissenschaftlern zhlt und als Gestaltpsychologe immer die Grundgesetze dermenschlichen Wahrnehmung in seine berlegungen einbezieht, wei um die Komposi-

    tionsprobleme, die aus der Vielfalt der Farbtne resultieren und zu Disharmonie oder zuStrukturlosigkeit im Bild fhren knnen. In dieser Entdeckung steckt selbstverstndlichsofort ein Gewinn an knstlerischen Ausdrucksformen, denn schlielich knnen Bilderaus der Ordnung der Dinge und der Erscheinungen ausbrechen, um eine Gegenwelt dar-zustellen. Albert Lewins Oscar WildeVerfilmung The Picture of Dorian Gray(USA 1945) benutzt die Zerstrung der Farbformen genau in diesem Sinn. LewinsSchwarzweifilm enthlt wenige, in Technicolor gedrehte Aufnahmen des Gemldes,das den moralischen Zustand des Helden Dorian Gray entlarvt. Er bentigt die Farbegleichermaen zur Darstellung von Schnheit und Harmonie wie zu deren Zerstrung.In Colombanis Film la foliepas du toutspielt die Hommage an dieses bewegte

    24 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

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    Portrt des Zerfalls eine tragende Rolle, allerdings in einer raffinierten Verkehrung der

    Dinge. Das Portrt des Geliebten, das am Ende des Films als Mosaik aus ungeordnetbunten Psychopharmaka-Tabletten hinter dem Schrank der wahnsinnig verliebten An-glique (Audrey Tautou) auftaucht, spiegelt nicht die moralische Verwerflichkeit desPortrtierten wider, sondern ist das Ergebnis einer emotionalen Besessenheit Angli-ques, die sich in Hass verkehrt hat. Die einseitig imaginre Liebesgeschichte setzt sich ausfragmentarischen Bildfolgen zusammen wie das Portrt aus Tabletten oder auf einer Me-taebene die Form filmischer Narration. Wir sitzen der einseitigen Liebesgeschichte bis

    zu ihrer Wiederholung aus einer anderen Perspektive auf, weil der Film bis dahin so tut,als sei sein Point of View ein objektiver.David Bordwell verfolgt in seinen Untersuchungen die Entstehung der narrativen

    Techniken von Montage und Continuity von den Anfngen des Kinos bis heute.6 Durch-aus in manchem Detail diesem Prozess verwandt, entwickeln sich mit der technischenBewltigung des Farbproblems auf einer anderen Ebene neue Formen der erzhlerischenund der visuellen Gestaltung von Filmen und darber hinaus vergleichbar mit der Re-

    zeptionsgeschichte der Montage wchst ein neues Verstndnis des visuellen Erzhlensbei den Zuschauern. Im Unterschied zur Montage, die auf die ersten Beobachter ge-schnittener Filmsequenzen befremdend gewirkt haben muss, sind Farben ein notwendi-ger Bestandteil unserer natrlichen Wahrnehmung und werden (zu) schnell fr selbst-verstndlich genommen. Also erreicht das Eindringen der Farbe in den Film im Gegen-satz zur Montagetechnik zunchst eine visuelle Annherung an die Realitt, allerdingserst ab dem Moment, als die filmtechnischen Probleme als gelst betrachtet werden kn-

    nen. Zuvor sind die Bilder des Films entweder schwarzwei oder in Bezug auf die eigent-liche Zielsetzung der Erfinder unzureichend gefrbt, denn die frhen Techniken solltenvor allem eines erreichen: Die Farben des Films sollten natrlich wirken. Die visuellenStile der Frbetechniken mgen als Zufallsprodukte angesehen werden, und doch be-ginnt mit den Experimenten sowohl die sthetische als auch die dramaturgische Ge-schichte der Farben im Film.

    Mit der Verbesserung der Farbfilmtechnik werden Farbnaturalismus und Farbexpres-

    sionismus gleichermaen zu Optionen der Gestaltung. Wenn sich die Farben im Bilddeutlich ins Irreale entfernen, geben sie ihre Eigendynamik offen zu erkennen. Teilweisesogar vergleichbar mit den Techniken von Continuity und Montage lassen sich zweiprinzipiell unterschiedliche Gestaltungsweisen und damit Wirkungsweisen von Farbenim Film unterscheiden: die im jeweiligen kulturellen Kontext natrlich wirkende Farb-gebung und die abstrakte, symbolische oder expressionistische Verfremdung von Far-

    252. Dimensionen einer sthetik der Filmfarben

    6 Zum Beispielin dem Buch On the History of Film Style.Cambridge,Massachusetts and London, England:Harvard University Press, 1997, oder in der auf Deutsch vorliegenden Studie Visual Style in Cinema. VierKapitel Filmgeschichte. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 2001.

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    ben. Im ersten Fall einer Farbgestaltung, die auf der gewohnten Farberfahrung des Zu-

    schauers aufbaut, kann es leicht zu der bereits angesprochenen Verwechslung mit derWirklichkeit kommen. Realistische Farben werden auf den ersten Blick hufig nicht alsAusdrucksmittel wahrgenommen. Eine wirklichkeitsnahe Farbgebung verlockt dazu,bersehen zu werden. Auf der anderen Seite eignen sich die natrlichen Farben dazu,auf subtile Weise emotionale Wirkungen hervorzurufen. Verfremdungen im Farbbereichprovozieren dagegen Distanz und lassen nicht zu, dass Film und Realitt im Akt derWahrnehmung in eins gesetzt werden. Fremde oder entfesselte Farben erzeugen mitun-

    ter einen Brechtschen Effekt, sie zerreien die Illusionen des Zuschauers wie die direkteAnsprache des Publikums durch den Schauspieler.Seit Beginn der Geschichte des Farbfilms bewegen sich die bunten Filme zwischen

    diesen beiden sthetischen Extremen. Im argumentativen Bezug hierzu bleibt auch dietheoretische Beurteilung der Mglichkeiten der Farbgestaltung zwischen Begeisterungund Ablehnung hin- und hergerissen, im Falle von Bla Balzs sogar von Text zu Text.Befrchtet Balzs in Der sichtbare Mensch(1924) noch einen Kunstverlust durch die

    vollkommene Naturtreue des Farbenfilms, so erkennt er in Der Geist des Films (1930),dass eine genaue Wiedergabe der Natur im Bild einer knstlerischen Gestaltung desFilms nicht hinderlich sein muss: Hingegen wird die genaue Farbenphotographie imFilm eine erneute Erlebnissphre fr die Kunst erschlieen. Jetzt macht Balzs eine ent-scheidende theoretische Entdeckung: die sthetische Fhigkeit bewegter Bilder, eineFarbenballade zu singen, welche in unaufhrlich aufgeregter Bewegung die meta-morphische Physiognomie der Natur auf eine besondere Weise zur Erscheinung bringt.7

    In vielen Varianten von Alfred Hitchcocks MeisterwerkVertigo

    (USA1958)biszuDa-vid Lynchs Lost Highway (USA/F 1997) wird die sthetik der Farbverwandlung zumThema filmischer Erzhlung, das die Identitt der Figuren instabil werden lsst, das sichzwischen die Materie und ihre Erscheinungen schiebt, das der Irritation und zugleichdem Augenschmaus dient, das aber hufig auch konstitutiv fr die Logik der Montagewird, nicht zuletzt, wenn es um die Verschachtelung von Zeitebenen geht.

    3. Der Weg der KinofarbenIm Mittelpunkt eines Buchs ber die Farbe im Kino muss das Zusammenspiel von Farbe,Licht und Bewegung stehen, weil diese Relation spezifisch filmisch ist und nur auf derTheaterbhne einen annhernd mit dem Film vergleichbaren Stellenwert besitzt. OhneLicht und damit auch ohne Bewegung, denn Licht ist physikalisch gesprochen eine kom-plexe Wellenbewegung, entstehen keine Farben, weder in der Kunst noch in der Wirk-

    26 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    7 Bla Balzs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main: stb, 2001. S. 97 f. Ders.:Der Geist des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 107110.

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    lichkeit; ohne das Gehirn des Menschen oder mancher Tiere auch nicht. Wie im Kapitel

    Die Empfindung der Farben auszufhren sein wird, formen sich Farbeindrcke als visu-elle Ereignisse in unserem Gehirn erst, wenn Lichtstrahlen, nachdem sie auf unterschied-lich strukturierten Objektoberflchen gebrochen wurden, in unserem Auge auf farb-und lichtempfindliche Rezeptoren treffen, die diese Reize zu Farbempfindungen verar-beiten und weiterleiten. Auch wenn die Farbwahrnehmungsfhigkeit verschiedenerMenschen nach medizinischen Mastben vollstndig und damit vergleichbar entwickeltist, fallen die Ergebnisse der Farbempfindungen individuell aus. Im Gesprch ber Far-

    ben lsst sich erkennen, dass uns nicht nur die Worte fehlen, wenn es um die Beschrei-bung geringfgiger Farbabstufungen geht, die unser Wahrnehmungsapparat noch pro-blemlos unterscheiden kann, sondern dass unser Farbempfindungsvermgen unter-schiedlich stark ausgeprgt und geschult ist. Angesichts der stndigen Vernderung desLichts und damit der Farben unserer Umgebung stellt sich noch dazu die Frage, ob zweiPersonen, die eine Farbe beschreiben sollen, dies auch wirklich unter vergleichbaren Be-dingungen tun. Die Beantwortung solcher Fragen muss den Naturwissenschaftlern

    berlassen bleiben, die im empirischen Experiment an Probanden zu wissenschaftlichhaltbaren Ergebnissen zu gelangen suchen, was gerade bei der Farbwahrnehmung nichteinfach ist.8 Da Farbe allerdings eine zentrale Gestaltungskategorie der visuellen Knsteist, muss sich auch die Filmwissenschaft mit der Wahrnehmungsproblematik und mitden optischen, physikalischen und chemischen Entstehungsbedingungen von Farben be-fassen. Bis Farben auf der Leinwand in Erscheinung treten knnen, durchlaufen sie einestattliche Reihe von Verwandlungen.

    Die Farben der Theaterbhne lassen sich im Verhltnis zum Film viel leichter beherr-schen, schlielich stehen sie der Realitt wesentlich nher. Ein einfaches Beispiel magdies verdeutlichen: Die Farben der Kostme und der Dekorationen entstehen auf keinemanderen Weg als die Farben unserer Alltagskleidung und Mbel. Sie sind das Ergebnisvon Stoffauswahl, Frbung und Lichtsetzung. Die Beleuchtung kann ein Bhnenbildverwandeln, ohne dass sich Material, Form und Anordnung ndern mssen. Wenn mei-sterhafte Bhnenbildner und Lichtsetzer am Werk sind, fhrt dieser Moment der Ver-wandlung der Bhne durch Licht und damit durch Farbe einen Zauber in der unmittelba-ren Gegenwart des Zuschauers vor, ein zum Greifen nahes Traumbild. Bei einer Film-produktion beginnt die Auseinandersetzung mit der Farbe viel frher und ist mit derGestaltung des Sets und dem Moment der Inszenierung einer Szene noch lange nicht amEnde. Auf die Auswahl des geeigneten Filmmaterials, die Entscheidung fr Farbfilm,

    273. Der Weg der Kinofarben

    8 Zum Einstieg sei empfohlen: E. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie. Eine Einfhrung.2. Nach-

    druck. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag, 2001. Kapitel 4:Farbwahrnehmung.S. 124163. Auerdem das Spektrum der Wissenschaft Spezialheft: Farben. 4/2000, das einen ersten ber-blick ber die thematische Vielfalt des Themas Farbe in den Naturwissenschaften gibt.

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    Schwarzweifilm oder fr beides, die Suche nach Drehorten (innen und auen), den Bau

    von Modellen und Studiodekorationen, die Wahl des Kameratyps, der Objektive, Lam-pen, Filter, Folien, die Gestaltung der Kostme und der Sets folgt das Experiment mit derWechselwirkung der Materialien untereinander. Natrliches Licht erzeugt eine andereFarbsthetik auf dem Filmmaterial als knstliches Licht, es ist unbestimmbarer und birgtviele Risiken in sich. Bestimmte Stoffe ein Beispiel ist Samt sind schwer zu beleuchten.Selbst fr Dreharbeiten mit Schwarzweifilm mssen die Farben der Kostme und derAusstattung gezielt gewhlt werden, so dass die gewnschten Graustufen im Bild entste-

    hen. Die Graustufen, die im schwarzweien Filmmaterial Farben wiedergeben, entspre-chen nicht zwangslufig den Helligkeitswerten der Farben. Farbtne verndern sich aberauch auf dem Farbfilmmaterial, wobei die Risikobereiche Filmabtastung und Entwick-lung nicht zu vernachlssigen sind. In der Nachbearbeitung des Materials werden Ver-fremdungen und letzte Feinheiten frher auf der optischen Bank, heute am Computer erarbeitet wie an einer Staffelei. Farbkontinuitt und Farbtemperatur des fertigen Filmsmssen stimmen, auch wenn das Rohmaterial noch den einen oder anderen Sprung auf-

    weist. Analytisch, d.h. durch interpretierende Beobachtung, ist dieser technische Entste-hungsprozess ohne Auskunft der Macher kaum noch nachvollziehbar, auch nicht frPraktiker, denn er soll sich hinter der Perfektion des Ergebnisses verstecken. Whrendeines Seminars berichtete der Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller davon, wie er im-mer wieder in die Abtastung und Entwicklung des Materials eingegriffen hat. Eine oftangewandte Methode der Filmgestaltung ist die Manipulation der Farbtemperatur desMaterials mit ihren starken Auswirkungen auf die emotionale Bildwirkung. Die neueTechnik hat massive Auswirkungen vor allem auf den Produktionsprozess von Kinofil-men, auch auf die Arbeit am Set, bei der die Eingriffe der Nachbearbeitung bereits be-rcksichtigt und geplant werden. Digitale Farb- und Lichtbestimmung kommen nichtnur bei der Nachbearbeitung des Materials fr die Kinofassung und gesondert fr dieDVD-Auswertung von Kinofilmen zum Einsatz, sondern auch bei der Arbeit der Film-restauration.9 ber Farbe im Film muss darum von Regisseuren, Kameraleuten, Cutternund Restaurateuren gelernt werden, aus Interviews und Produktionsberichten, die nichtnur Detailwissen, sondern auch die Gewissheit der groen Sensibilitt herausragenderFilmemacher im Umgang mit den Farben vermitteln.

    Bis die Farben des Films im Kino angelangt sind, durchlaufen sie eine ganze Reihe vonchemischen und physikalischen Bearbeitungsstufen und sind das Ergebnis vieler knst-lerischer und technischer Entscheidungen. Fr die Leinwand mssen sich Farben mehr-

    28 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    9 Gut dokumentierte DVD-Ausgaben enthalten hufig informative Features zur Bildgestaltung. So findetsich zum Beispiel auf der Platinum Edition zu David Finchers Serienkillerfilm Se7en (USA1995)eineDo-

    kumentation zur digitalen Farbnachbearbeitung. Die DVD-Sammlung Marilyn Monroe DiamondCollectionsowie die DVD-Fassung vonVertigoenthalten die vergleichende Gegenberstellung desMaterials vor und nach der Farbrestauration.

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    fach verwandeln. Dies rckt den Produktionsprozess des Films in die Nhe der Malerei,

    zu deren Kunstgeschichte auch die Materialgeschichte, die Produktion von natrlichenund knstlichen Farbstoffen, die Verarbeitungspraxis und die Haltbarkeit der Farben ge-hrt. Der Verfall der Farben und ihre Restauration sind darum ebenso Teil der Rezep-tionsgeschichte des Farbfilms wie der Farbmalerei. Seit der Entstehung des Films beein-flussen sich diese beiden Knste ohnehin. Zunchst lernen die Filmemacher von den Ma-lern, welche Wirkung Licht hat, wie die Zweidimensionalitt des Bildes durch dieBildgestaltung berwunden werden kann, welche unterschiedlichen Formen der Bilds-

    thetik sich auf den Film bertragen lassen. Es dauerte nicht allzu lange, bis sich diesesVerhltnis umkehrte und die moderne Malerei die junge Kunst des Kinos in Sujet, Form-und Farbgebung reflektierte. Doch whrend das stille Bild der Malerei dazu einldt, es inRuhe zu betrachten, jede Farbnuance, Formgebung und Objektbeziehung ausfhrlichzu studieren, ist der Film ungeachtet der Komplexitt jedes einzelnen Bildes im Fluss derBilder zwar wiederholbar, aber im Augenblick seiner Projektion fr den Zuschauer sovergnglich wie das Theater. Die Tatsache, dass das sorgsame Arrangement der Bilder oftgenug ungesehen bleibt, Farben, Details in Kostm, Ausstattung und die Feinheiten desSchauspiels nicht bewusst wahrgenommen werden, ist kein Beweis gegen die subtile, tie-fe Wirkung genau dieser Elemente des Bildes auf den Zuschauer. Farben, Licht, Bewe-gungen, aber auch Gerusche und Musik sind die wichtigsten Bestandteile der emotiona-len Wirkung des Films. Allein zur synsthetischen Begegnung von Farbe und Klang imFilm liee sich eine eigene Studie rechtfertigen, die in der Musikwissenschaft und derKunstgeschichte gleichermaen auf historisch und sthetisch komplexes Quellenmateri-al stoen wrde. Eine sthetik der Farbe im Kino erweist sich also als uerst komplexesUnterfangen, das per se interdisziplinr orientiert sein muss, auch wenn ein solcher An-spruch auf Grund der Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Disziplinen, die sichmit Farbe auseinandersetzen, kaum eingehalten werden kann.

    Farbe ist ein wissenschaftliches Grundproblem in einer Vielzahl von natur-, geistes-,kunst- und kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen. Die Physik setzt sich nicht erst seitIsaac Newtons bahnbrechender Forschung mit der Beschaffenheit des Lichts auseinan-der. In der Chemie spielen die Zusammensetzung und die Reaktionsweisen natrlicherund knstlicher Farbpigmente, Schalterfunktionen von Farben oder Interferenzphno-mene eine zentrale Rolle. Geologen und Mineralogen gelangen zu Erkenntnissen berdie Geschichte der Erde auch auf Grund der Farbqualitt der untersuchten Materialienund Gesteine. Die Evolution der unterschiedlichen Spezies hngt mit der Entstehung desFarbensehens zusammen, da diese Fhigkeit von unbedingtem Vorteil bei der Nahrungs-suche ist. Wahrnehmungsforscher und Psychologen untersuchen das Farben-Sehen beiMenschen und Tieren. Da Farben in unserem Alltag, im Verkehr, in der Mode, in der Ge-staltung des Lebensraumes unersetzbar sind, formen sie zu einem mageblichen Teil un-sere Kulturgeschichte mit. Historiker und Anthropologen erforschen die kultische Rol-

    293. Der Weg der Kinofarben

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    le, die Farbstoffe in der Vor- und Frhgeschichte der Menschheit spielen. Wappen, Kos-

    tme, Siegel und das politische oder auch gesellschaftliche Zeremonialwesen beziehenihre Ausdruckskraft aus Farben. In der historischen Sprachforschung verfolgen Wissen-schaftler die Entstehung der Farbbezeichnungen in verschiedenen Sprachen und Kultu-ren. Die Musikpsychologie befasst sich unter anderem mit der Erforschung der Syns-thesie von Farbe und Klang. Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit der Farbe einzentrales Forschungsgebiet der Kunstgeschichte und der Kunstwissenschaft.10

    Schon dieser knapp gehaltene berblick ber die verschiedenen Farbforschungsfelder

    gibt zwei methodische Probleme zu erkennen. Erstens wird schon hier deutlich, dass vie-le in den unterschiedlichen Fchern errungene Erkenntnisse ber Farbe und Farbenwichtige Bausteine fr eine sthetik der Farbe im Kino bilden. Zweitens ist echtes Spe-zialistenwissen in so vielen Bereichen kaum zu erlangen. Farbforschung ist in jeder Hin-sicht Grundlagenforschung. Auf den Gebieten der Farbforschung zeichnet sich immerwieder ab, dass man sich als Mensch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mitFarbe immer auf anthropologischem Terrain bewegt, schon auf Grund der Gebunden-heit an die eigene Wahrnehmung. Untersuchungen der Farbwahrnehmung von Tierenbleiben in Teilbereichen immer spekulativ, weil wir nicht wirklich wissen knnen, wieder bunte Fangschreckenkrebs mit Hilfe von zwlf unterschiedlichen Farbrezeptoren inseinen aus einer geometrischen Anordnung winziger Linsen und Lichtrezeptoren be-stehenden Augen11 seine Welt sieht und was genau er mit seinen Farbinformationenanfngt. Farbempfindungen entstehen beim Menschen im Gehirn und zwar auf Grundeiner langen Abfolge von komplexen Verarbeitungsprozessen. Die visuellen Knste sindvon Menschen fr Menschen gemacht. Im Fall des Films korrespondiert auch die Tech-nik der Farbfilmherstellung aufs Feinste mit den Bedingungen der menschlichen Wahr-nehmung. Filmknstler und Zuschauer bewegen sich prinzipiell innerhalb des gleichenSystems, auch wenn zu vermuten ist, dass von Mensch zu Mensch erhebliche intersub-

    jektive Differenzen in der Empfindung von Farben bestehen.

    4. Farbe ein heterogener Diskurs

    Immer wieder war in den letzten Jahren in Fachzeitschriften und Filmbchern zu lesen,dass das groe Buch ber die Farbe im Film erst noch geschrieben werden muss. Ange-sichts der Bedeutung des Themas kursieren vergleichsweise wenige, zumeist nur kurzeStudien ber die dramaturgische und sthetische Bedeutung der Farbe im Film. In seinerRezension des postum erschienenen BuchesFilmfarben12 der bedeutenden Filmtheoreti-

    30 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    10 Vgl. hierzu u.a.: Irene Schtze: Sprechen ber Farbe: Rubens und Poussin. Bildfarbe und Methoden derFarbforschung im 17. Jahrhundert und heute. Weimar: VDG, 2004.11 Welsch:Farben: Natur, Technik, Kunst. S. 268.

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    kerin und -historikerin Frieda Grafe bemerkt Thomas Brandlmeier, dass sich in der

    Filmwissenschaft niemand so recht und entschieden auf den schlpfrigen Boden derFarbsthetik13 begeben will. Zu den wichtigen Quellen gehrt vor allem das Buch Color.Die Farben des Filmsvon Gert Koshofer, der sich ausgezeichnet in der Vielzahl unter-schiedlicher Farbfilmverfahren auskennt, die seit dem Beginn der Filmgeschichte zumEinsatz gekommen sind. Seine Abhandlung verschafft den notwendigen berblick berdie internationale Entwicklung der Farbfilmtechnologie und verfolgt die verschiedenenWege der Filmnationen bis in die achtziger Jahre, illustriert durch die markantestenFilmbeispiele. Koshofers Buch macht auch deutlich, wie viel politische Ideologie in derGeschichte des Farbfilms steckt. Whrend der Zeit des deutschen Nationalsozialismuskam es zwischen den USA und Deutschland zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen um dasbeste Farbfilmverfahren. Das amerikanische Technicolor- und das deutsche Agfaco-lor-Verfahren standen im Wettstreit um einen nicht unerheblichen Markt, um Gewinne,die schlielich nur mit der Gunst des Publikums zu erzielen waren, das sich fr die Farbeim Kino begeistern musste. Farbe war auch ein Wahrnehmungsluxus (Frieda Grafe),ein Augenschmaus fr das an puritanisches Schwarzwei gewhnte Publikum. In die-ser Konkurrenzsituation wurde der Farbfilm in Deutschland zu einem Propaganda-Instrument, mit dem man nicht nur besonders wirksam zu unterhalten und die auslndi-sche Konkurrenz zu beeindrucken versuchte, sondern mit dem man auch im wissen-schaftlich-technologischen Bereich berlegenheit demonstrieren konnte. Veit Harlansmonstrse Durchhalteproduktion der letzten Kriegsmonate Kolberg (D 1945) mit demdamaligen Schauspielstar Heinrich George in einer der Hauptrollen konnte zwar in denzerstrten deutschen Stdten kaum noch dem breiten Kinopublikum zugnglich ge-macht werden, wurde dafr aber am 30. Januar 1945 in einer Vorfhrkopie ber der At-lantik-Festung La Rochelle abgeworfen, um den dort eingeschlossenen deutschen Solda-ten die technologischen Fortschritte des Heimatlandes eindrcklich und bunt zu demon-strieren. Ebenso bemerkenswert ist der Einsatz von 187 000 Soldaten und 6 000 Pferden,die von der Front abgezogen wurden, um als Statisten in dem Propagandafilm mitzuwir-ken. Veit Harlan arbeitete wiederholt mit Bruno Mondi zusammen, einem zwielichtigenPionier des Farbfilms, der auf Grund seiner unbestrittenen Meisterschaft als Bildgestal-ter bald nach Kriegsende fr die DEFA an der Seite des Regisseurs Paul Verhoeven dashumanistische Hauff-MrchenDas kalte Herz(DDR 1950) drehte. Die FilmografieBruno Mondis beweist beispielhaft, wie hoch der Stellenwert eines Farbfilmspezialisten

    314. Farbe ein heterogener Diskurs

    12 Frieda Grafe:Filmfarben. Berlin: Verlag Brinkmann & Bose, 2002.Der Band versammelt Interviews, Zeit-schriftenartikel und kurze Studien Grafes zur Farbe im Film, die eindrcklich machen, dass Farbe einesder fr Grafe lebenslang relevanten Themen gewesen ist. Ein umfangreiches, systematisches Werk, wie es

    ihr vermutlich vorschwebte, durfte nicht mehr entstehen.13 Thomas Brandlmeier:Farbe ist das Verdrngte im Kino. Frieda Grafes Schriften, Band 1. In: epd Film12/2002. S. 1415.

    32 A V d F b i l d Ki

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    in den vierziger und fnfziger Jahren war, zumal der Kameramann des auf Grund seiner

    nationalsozialistischen Hetzpropaganda bis heute verbotenen Harlan-FilmsJud S

    (D1940) schon wenige Jahre nach Kriegsschluss sogar im kommunistischen Osten Filmedrehen konnte.

    Zur Geschichte des Farbfilms zhlen aber auch die unterschiedlichen Diskurse berFarbe im Film und in der Kunst, die durch zum Teil heftige Kontroversen bestimmt wa-ren. Seit Jahrhunderten streiten sich bildende Knstler und Theoretiker um die Konkur-renz zwischen Form, Kontur, Linie und Farbe, um wechselnde Hierarchien zu zemen-tieren. Die Rede von der Minderwertigkeit der Farbe, die als Instrument der Emotion dieVernunft unterwandert, nimmt schon beinahe stereotype Zge an. Gerade diese Ableh-nung, die in der Renaissance ihren Anfang nimmt und zu den Standardargumenten derAufklrung gehrt, ist entlarvend. Sie artikuliert unfreiwillig ngste vor dem Irrationa-len, der Phantasie und beinahe obligatorisch in dieser Reihe vor dem Weiblichen, daszur irrationalen Farbe gehren soll, wie das Mnnliche zur rationalen Form. Das lang ge-hegte Misstrauen gegen die unbewusst emotionalisierende Wirkung der Farbe bildet sichin dem immer noch aktuellen Glauben an die Authentizitt schwarzweier Bilder ab, derdurch das Vorurteil des greren Kunstwertes schwarzweier Bilder flankiert und kon-trastiert wird. In den Anfngen des Farbfernsehens in den fnfziger Jahren wurde dieFarbe im Unterhaltungsprogramm zwar begrt, in den Nachrichten aber eher misstrau-isch wahrgenommen. hnlich unreflektiert funktioniert die Antifarb-Polemik zuguns-ten der Schwarzweifotografie. Farbe ist nicht nur in der Geschichte des Films ein blin-der Fleck oder wie Frieda Grafe bemerkt das Verdrngte im Kino, sie wird auch inder Auseinandersetzung mit der Fotografie erstaunlich selten thematisiert. Und dies, ob-wohl Filmemacher wie Fotografen und Maler sich permanent auf hchst differenzierteWeise mit Farbe und Farben auseinandersetzen.

    Der Knstler und Autor David Batchelor geht in seiner Studie zum Thema Chromo-phobie14 auf einzelne Filmbeispiele ein, die die traditionelle Angst vor der Farbe durch dieKonfrontation von schwarzweien und bunten Sequenzen reflektieren. Batchelor fasstzusammen, dass Farbe auf der einen Seite als Eigenheit irgendeines fremden Krpersidentifiziert wird:

    () meistens des weiblichen, orientalischen, primitiven, kindlichen, vulgren, ab-sonderlichen oder pathologischen. Im zweiten Fall verbannt man Farbe in dasReich des Oberflchlichen, Nachtrglichen, Unwesentlichen oder Kosmetischen.Einerseits erscheint Farbe als fremd und daher gefhrlich. Andererseits gilt sie alsblo zweitrangige und nebenschliche Qualitt der Erfahrung und wird daher als

    32 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    14 David Batchelor: Chromophobie. Angst vor der Farbe. Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG,2002.

    334 Farbe ein heterogener Diskurs

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    ernsthafter Betrachtung unwrdig erachtet. Farbe ist entweder gefhrlich oder tri-vial, oder sie ist beides.15

    Als Gewhrsmann einer solchen Verurteilung der Farbe zitiert Batchelor den Farbtheo-retiker Charles Blanc, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Untergang der Kulturdurch die Farbe folgendermaen auf den Punkt bringt:

    Die Vereinigung von Farbe und Zeichnung ist notwendig, um die Malerei hervor-zubringen, so wie die Vereinigung von Mann und Frau, um die Menschheit zu er-zeugen, aber die Zeichnung muss ihre Vormacht ber die Farbe behaupten. Sonsteilt die Malerei ihrem Untergang entgegen: Sie wird durch die Farbe fallen, wie dieMenschheit durch Eva gefallen ist.16

    Auch wenn eine solche uerung mittlerweile mehr als skurril wirkt, so bringt sie den-noch etwas zum Ausdruck, das auch zu Beginn des dritten Jahrtausends noch in unsererKultur zu schwelen scheint: Das diffuse Gefhl, ein berma an Farbe bringe das Ver-nunft zentrierte Selbstbild einer hoch technisierten und rationalisierten Kultur ins Wan-

    ken. So ngstigt sich der Medienphilosoph Vilm Flusser vor der Farbenexplosion derGegenwart, vor der Programmierung des Menschen durch Farben zu einem willenlosenKaufinstrument und bersieht dabei die Mehrdimensionalitt bunter Farben, die sichnicht fr eine Programmiersprache eignen. Fast scheint es, als sehne sich Flusser nach derrelativen Farblosigkeit des Vorkriegs in Analogie zu dem Aussehen der sozialisti-schen Lnder, in denen der Zerfall der Stdte nicht durch Werbeplakate kaschiert wird:

    Unsere Umgebung ist von Farben erfllt, welche Tag und Nacht, in der ffentlich-keit und im Privaten, kreischend und flsternd, unsere Aufmerksamkeit erhei-schen. Unsere Strmpfe und Pyjamas, Konserven und Flaschen, Auslagen und Pla-kate, Bcher und Landkarten, Getrnke und Ice-creams, Filme und Fernsehen, al-les ist in Technicolor.17

    Die modernen Farben, die Flusser das Frchten lehren, werden seit der Mitte des 19.Jahrhunderts in den Hexenkesseln der chemischen Industrie gebraut und sind billiger zu

    haben als die natrlichen Farbpigmente. Ihrem Einzug in die moderne Gesellschaft fallen

    334. Farbe ein heterogener Diskurs

    15 Batchelor: Chromophobie. S. 2021.16 Batchelor: Chromophobie. S. 21. Dort zitiert nach Charles A. Riley II: Color Codes. Hannover, London

    1995, S. 6.17 Vilm Flusser: Medienkultur. 3. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2001. S. 21. Flus-

    ser bezieht sich auf die Situation vor dem zweiten Weltkrieg, also auf die so genannten Golden Twenties,die zumindest in der Mode alles andere als Grau waren. Die schwarzwei gedrehten Stummfilme der

    zwanziger Jahre waren im brigen sehr oft bunt eingefrbt. In die erblhende Werbeindustrie hatten dieFarben ohnehin bereits Einzug gehalten. Siehe: Gnter Agde: Flimmernde Versprechen. Geschichte desdeutschen Werbefilms im Kino seit 1897.1. Aufl., Berlin: Verlag Das Neue Berlin, 1998.

    34 A Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

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    die letzten berreste mittelalterlicher Kleiderverordnungen zum Opfer, nach denen bil-lige Kleidung, die Lumpen der Armen, grau und farblos zu sein hatte. Es ist aus vielerleiGrnden Vorsicht bei der Verdammung der Buntheit geboten. Ein gewichtiges Argu-ment ist historischer Natur und erinnert daran, dass viele verblasste Gebude zur Zeit ih-rer Erbauung vor vielen Jahrhunderten leuchtend bunt angemalt waren, dass Farbstoffezu den wichtigsten Handels- und Kulturgtern gehrten, dass Bcher mit prachtvollenbunten Initialen geschmckt waren und dass die stndischen Exklusivrechte an bestimm-ten Farbstoffen und Tnen auf der anderen Seite zur Diskriminierung von gesellschaftli-chen Auenseitergruppen gefhrt haben. Farben sind ein kulturhistorisch zu schwieri-ges Thema, als dass ihnen polemisch beizukommen wre. Ein weit reichendes Beispiel:Michael Baxandall verweist auf die komplexen Hintergrnde, die im 15. Jahrhundert da-zu fhrten, dass Schwarz zur bevorzugten Kleiderfarbe erklrt wurde und Farben ausdem ffentlichen Leben verschwinden sollten. Krisensituationen, die Entdeckung derAskese und das Bedrfnis, sich von den prunkschtigen Neureichen abzugrenzen ha-ben zu einem Paradigmenwechsel in den Bekleidungsgewohnheiten der Oberschicht ge-fhrt, der nachhaltige Wirkungen zeitigen sollte.18

    Zur Uniformierung des Intellektuellen gehrt nicht von ungefhr schon seit langemein einfaches tiefes Schwarz, eine Bekleidungsnorm, gegen die sich knstlerische Avant-garden immer wieder auflehnen, wie um nur ein prgnantes Beispiel zu nennen diebunte Gemeinschaft um Andy Warhol demonstrierte. Auch Eleganz tritt seltenquietschbunt in Erscheinung, sondern bt sich in dezenter Zurckhaltung in Schwarz,Wei oder hchstens in der klaren Einfachheit monochromer Farben. Buntes und wildGemustertes tragen die Auenseiter, die Knstler, die Verrckten, die Kinder, oder aberin frheren Zeiten die Armen, die es sich bis zur Einfhrung von industriell gefertigtenund gefrbten billigen Waren kaum leisten konnten, ihre Kleidung oder ihr Mobiliarnach Geschmacksgrnden zusammenzustellen. Die Farben der Armut sind zum Schre-cken auch noch vergilbt und verblasst, zeigen Spuren des Alters und des Verfalls. InErich Kstners humoristischem Roman ber Arm und Reich Drei Mnner im Schnee(1934) verkleidet sich der Millionr Tobler in einen armen Mann, steigt als Gewinner ei-nes Preisausschreibens in einem Skihotel der Nobelklasse ab und testet die Menschheitauf Herz und Nieren. Seine Kleidung besorgt er sich beim Trdler, braun, violett, ver-gilbt, knallrot und grau kariert. Kstner schildert die Sorgfalt, die Tobler bei dieser Aus-wahl walten lsst, denn es gilt, den Farbton einer sozialen Klasse zu treffen, die ihreFarben eher zufllig trgt.19

    34 A. Vorrede zum Farbenspiel des Kinos

    18 Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance.Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999, S. 25.19 Erich Kstner: Drei Mnner im Schnee. 1. Aufl., Zrich 1934, Mnchen: dtv, 2002. S. 34 ff.

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    gestaltig, um wirklich wie ein Symbol zu funktionieren. In mile Zolas Roman Nanagibt es einen eindeutig symbolisch konnotierten roten Sessel, der das Gemeimnis seinerBesitzerin (fr den Leser ebenso wie fr die anderen Romanfiguren) verrt. Zola be-schreibt mit poetischer Akribie Fassade und Ausstattung des Hauses Muffat, auenhoch und schwarz in der Schwermut eines Klosters, innen gro, hoch, dunkel, dmm-rig, ernst und streng. Der Graf Muffat, streng katholisch erzogen und dadurch in allenLebensuerungen empfindlich gehemmt, hat eine junge und schne Frau geheiratet, ei-ne Frau, die ihm eigentlich nicht zuzutrauen ist, die er nur auf Grund seiner gesellschaft-lichen Stellung bekommen konnte. Zola schildert wie ein Filmemacher mit Hilfe derAusstattung des Raumes die familire und eheliche Situation der Muffats und markiertden wunden Punkt in Rot.

    Doch gegenber dem Lehnstuhl, in dem die Mutter des Grafen gestorben war, ei-nem wuchtigen Mbel aus steifem Schnitzwerk und hartem Stoff, sa auf der ande-ren Seite des Kamins die Grfin Sabine in einem tiefen Sessel, dessen rotes Seiden-polster weich war wie Eiderdaunen. Das war das einzige moderne Mbelstck, ein

    Eckchen Phantasie, das von all dieser Strenge grell abstach.22

    Reduziert man dieses Bild fr einen imaginren Moment auf seine Farbigkeit, so bricht ineiner unbunten dunklen Flche der weiche rote Sessel auf wie eine Wunde, in der dieGrfin Platz genommen hat. Nur auf Grund des visuellen Symbols wird bereits an dieserStelle des Textes deutlich, dass das Begehren des Grafen, der zu diesem Zeitpunkt nochnichts ber sein verdrngtes Gefhlsleben wei, sein Gegenbild in einer Frau findet, dieihre Wnsche kennt und vorlufig auf Grund uerer Zwnge nicht auslebt. Der aus ei-ner programmatischen Unkenntnis seines Selbst resultierende Sturz des Grafen in einamorphes Begehren, der verheerende Folgen nach sich zieht, ist mit den gezielten Schrit-ten der Gattin nicht zu vergleichen. Ein roter Sessel im tristen Szenario zieht alle Blicke,alle Bedeutungen, alle Wnsche auf sich. Er verspricht eine Geschichte der Verwand-lung. Weich wie ein Krper, dabei elegant und modern, ein Eckchen Phantasie, vonsattem Rot, ist er schon auf Grund seiner anmaenden Verteidigung der Sichtbarkeit einStrfaktor im Getriebe einer verlogenen und im Tiefen vulgren Gesellschaft. Grfin Sa-bines roter Sessel ist weder verlogen noch vulgr oder primitiv. Er verbirgt und verrtnichts. Aber in ihm findet sich eine Ahnung einer glcklichen, sanften, sinnlichen, jubi-lierenden Sexualitt, die in nichts Geschriebenem23 zu finden sein kann, weil sie durchdas gesprochene oder geschriebene Wort zwangslufig brutalisiert wrde. In Zolas Ro-man verwirklicht sich diese Idee einer lebensbejahenden sanften Sexualitt nicht, aberman darf mutmaen, dass sie in der Figur der Grfin absichtsvoll versteckt sein knnte,

    p

    22 mile Zola:Nana. Frankfurt am Main: insel taschenbuch, 1979. S. 74.23 Roland Barthes: ber mich selbst. Mnchen: Matthes & Seitz Verlag GmbH, 1978. S. 155.

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    deren innere Entwicklung in Konsequenz dieses Zusammenhangs nicht beschriebenwird. In der Figur der Grfin vermutet die Leserin eine weibliche Figur mit einer diffe-renzierten Psychologie.

    Von dieser literarischen Szene fhren viele Wege zum Film. Der rote Sessel ist eine nurauf den ersten Blick entschlsselbare Darstellungsform, die mit der Welt des Verborge-nen eine enge Verbindung eingegangen ist. In seiner Signalfarbe zeigt sich das Unsichtba-re, ohne rationalisierbar und begreifbar zu werden. Natrlich tritt der Sessel zunchst alsErzhler auf: Die Grfin gehrt nicht zu dem Grafen und seiner toten Umgebung. Siekann sich jederzeit aus dieser passiven Position erheben. Das System der Unterdrckungfunktioniert nicht, solange es diesen Sessel gibt. Je nher jedoch Auge, Hand und Hautdiesem Sitzmbel kommen, wrmend in Farbe und Form, glatt und von zartem Stoff,desto mehr verwandelt es sich von einem Symbol der Andersartigkeit in das Pendant ei-nes abwesenden Liebhabers, der den Krper der jungen Grfin umfngt. In der Glut sei-ner Farbe droht es auch mit Zerstrung. Zwischen seinem entschiedenen Rot und derfarblosen Umgebung besteht ein Geflle wie zwischen der bewusstlosen Hingabe desGrafen und der Haltung der Grfin. Der rote Sessel lebt. Die Geschichte des Films kenntviele Beispiele eines vergleichbaren Animismus der Gegenstnde, ein wesentlicher As-pekt der filmischen sthetik und Narrativik. In der Filmtheorie wurde und wird dieseFhigkeit zur Belebung toter Dinge immer wieder als grundlegender Bestandteil des Fil-mischen definiert.24

    Im Film wre das Rot des Sessels unmittelbar sichtbar. In einem solchen Bild mssteschon die Position des Sessels auf der anderen Seite des Kamins als rebellisches Gegen-stck zu dem wuchtigen Lehnstuhl der verstorbenen Mutter ins Auge stechen. ChristianMikunda verweist in Anlehnung an den Farbtheoretiker Johannes Itten auf die krperli-che Wirkung intensiv leuchtender Farbflchen, die den Blutdruck und andere physiolo-gische Systeme beeinflussen und bei Neurotikern einen schockhnlichen Zustand ausl-sen25 knnen. Dies gilt vor allem fr groe gesttigte monochrome Farbflchen in denGrundfarben und allen anderen Farben voran fr Rot, die Farbe mit der lngsten Wellen-lnge im Spektralband, die buchstblich ins Auge zu springen droht. Etwas Rotes zu se-hen, regt immer ein wenig auf. Ein groer roter Fleck in einem ansonsten unbunten Bildbesitzt visuelles Gewicht, er definiert und verschiebt den Schwerpunkt des Bildes ent-scheidend. In Zolas Raumentwurf fhrt der rote Sessel zu einer optischen Schieflage. Ineinem Mbelarrangement, das vermutlich den Gesetzen zentralperspektivischer Ord-nung zu gehorchen hat, einer wrdevollen Anordnung der Reprsentation, kann diese

    g

    24 Balzs: Der sichtbare Mensch.S. 59. Edgar Morin: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Un-

    tersuchung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1958. S. 81.25 Christian Mikunda:Kino spren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien: WUV-Univ.-Verl.,2002. S. 238.

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    Verschiebung nicht unbemerkt bleiben. Ein Affront auf Grund eines Umsturzes derMachtverhltnisse: Der Einzug des roten Sessels wird vermutlich nicht ohne Widerstandvor sich gegangen sein. Wenn die Farbe des Sessels sichtbar wird, ergibt sich allein aufdem Weg der Bildspannung, der Position und Relation zu anderen Gegenstnden imRaum eine entscheidende Bedeutungsdimension. Die Farbe, die in Zolas Text symbo-lisch als Zeichen des Begehrens der Grfin gelesen werden kann, die sich auf einer zwei-ten Ebene in ihrem Zusammenspiel mit der Tiefe, der Weichheit und dem Stoff des Ses-sels in einen erotischen Fetisch und Liebhaber verwandelt, bildet zustzlich den opti-schen Schwerpunkt im Raum, der als Metapher des Scheiterns der Tradition und alsZeichen der Instabilitt einer Ehe zu verstehen ist. Als einziger und entscheidender eroti-scher Reiz bricht das Rot aus dem Bild und seiner Komposition aus und verwandelt die

    junge Grfin auch fr den Leser und den Zuschauer in eine Figur der Verfhrung. Gera-de weil diese Szene hier nur in literarischer Form herangezogen wird, gibt sie Aufschlussber diesen potenziellen visuellen Gehalt.

    In einer filmwissenschaftlichen Untersuchung der Farbe im Kino hat man es berwie-gend mit der unmittelbaren optischen Erscheinung von Farben zu tun. Und doch soll anden Diskurs ber Farben und die Farbmotivik im Schwarzweibild erinnert werden,denn auch diese indirekten Erscheinungsformen von Farben gehren zu einer Farben-lehre des Films. Hier erschliet sich ein umfang- und themenreiches Gebiet in der Aus-einandersetzung mit der Kunstform des Films, an dem derzeit noch eine berschaubareAnzahl von Filmanalytikern arbeitet. Neben Frieda Grafe und Christine Noll Brinck-mann sind hier vor allem Hans J. Wulff und Irmbert Schenk zu nennen.26 Wulff unter-nimmt erste Anstrengungen zu einer begrifflichen Systematisierung im Rahmen der se-miotischen Theorie und kategorisiert Farbsignifikation auf der Ebene des Ikonismusund der hheren signifikanten Stufen. Die ikonische Reprsentation der Farben im Film,die auf Grund ihrer Wirklichkeitsnhe nur eine Abbildungsfunktion zu realisieren schei-nen, ist die einfachste und zugleich die komplizierteste Farbwirkung im Film.

    Fr das normale Filmbild, fr die normale Einstellung ist aber Farbigkeit ei-ne elementare Gegebenheit des filmischen Abbildens wie die Farbigkeit der Din-

    ge essentielles Merkmal der Wahrnehmungswelt ist. Gerade in der Korrespondenzihrer Farbigkeit sind Film und Realitt aufeinander bezogen.27

    Damit macht Wulff auf etwas aufmerksam, das in der Auseinandersetzung mit den Far-ben des Films von zentraler Bedeutung sein muss. Selbst im Falle einer dokumentari-

    26 Hans J. Wulff: Die signifikanten Funktionen der Farben im Film.In:ArsSemiotikaVolume11(1988),No.. Tbingen: Gunter Narr Verlag, 1988. S. 364376. Irmbert Schenk:Aphoristisches zur Farbe im Stumm-

    film. Siehe auerdem auch die in der serie moderner filmverffentlichte Diplomarbeit von Silke Egner:Bilder der Farbe. Weimar 2003.27 Wulff: Die signifikativen Funktionen der Farben im Film. S. 364.

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    schen Szene, die unter hchster Zurckhaltung der Filmemacher entstanden ist, so dassdie Farben der Wirklichkeit per Zufall im Bild in Erscheinung treten, erschpft sich dieBedeutung der Farben nicht in der Abbildungsfunktion. Die Farben bringen die ganzeBandbreite ihrer Alltagsbedeutung mit in den Dokumentarfilm ein, die der Zuschauersieht und intuitiv versteht. Dies lsst sich am Beispiel des roten Sessels konkretisieren,den es nicht nur in Romanen und Filmen, sondern auch im realen Leben gibt. Man stellesich vor, ein Dokumentarfilmer mchte ein Ehepaar interviewen und interessiert sich ei-gentlich vor allem fr den Mann. Doch in dem tristen konservativen Wohnzimmer derbeiden existiert als einziges aufflliges Mbel ein knallroter Sessel, das persnliche Sitz-mbel der Gattin. Belsst es der Filmemacher bei dieser Raum- und Farbkonstellation,so riskiert er, dass der Sessel seiner Besitzerin dazu verhilft, zur eigentlichen Attraktiondes Bildes zu werden. Vielleicht verdankt die Szene diesem optischen Schwerpunkt aberauch ihre Spannung. Eine ikonische Reprsentation der Farbe, die lediglich in ihrer Ab-bildungsfunktion der Wirklichkeit relevant ist, kommt in Spielfilmen ohnehin nicht vorund ist streng genommen auch im Dokumentarfilm nur eine theoretische Annahme.Denn auch im Dokumentarfilm, der gedreht und geschnitten werden muss, sind Farbengegenber den Verhltnissen in der Realitt aufPrgnanz organisiert.28 Das Prgnanz-prinzip liegt im brigen hufig auch den Farben der Wirklichkeit zu Grunde. Manchmalstehen rote Sessel nicht per Zufall in traurigen Rumen.

    Als hhere signifikante Stufen der Farbgestaltung unterscheidet Wulff 1) Farben inAusdrucksfunktion, 2) die emotiv-affektive Assoziativitt der Farben, 3) die symboli-schen Funktionen der Farben.29 Zu den wichtigen Punkten seines Modells gehrt die Er-kenntnis, dass Farben im Film nicht in einer absoluten Ausdrucksfunktion auftreten,sondern immer in Bezug auf den filmischen Kontext zu verstehen sind. Obwohl mit derFarbe Rot elementare Vorstellungen von Liebe, Leben, Sexualitt und Tod verbundensind, ist denkbar, dass Rot in einem Farbfilm konnotativ vllig neu besetzt wird. Die Far-be funktioniert dann innerhalb eines narrativen Systems losgelst von ihrer Symbolik,aber nicht unbelastet durch die anderen signifikanten Stufen der Farbgestaltung. Geradedie emotiv-affektive Assoziativitt der Farbe Rot, die als wrmste Farbe gilt, als Farbevon groer Spannung und Aggressivitt, kann auch durch eine Umkodierung nicht ver-hindert werden. Zusammenfassend unterscheidet Wulff zwischen fnf groen Gruppender Farbverwendung im Film folgendermaen:

    Ich will dem makrostrukturell motivierten Gebrauch der Farben hier nicht weiternachgehen; ich will aber wenigstens festhalten, dass die makrostrukturellen Ver-wendungen der Farben sich heuristisch in fnf groe Gruppen einteilen lassen: (1)Farben knnen in Koordination mit der narrativen Entwicklung verwendet werden

    28 Wulff: Die signifikativen Funktionen der Farben im Film.S. 364.29 Wulff: Die signifikativen Funktionen der Farben im Film.S. 366367.

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    (vgl. Kindern 1977, 81, zur zeitlichen Gliederung); (2) Farben knnen quasi alsLeitmotive eingesetzt werden und so vor allem als Instantiierungen von Themendienen (zum Stichwort Leitmotiv vgl. Sharits 1966, 25; Eisenstein 1970, 128; Ei-senstein 1975, 194); (3) Farben knnen als Mittel der Subjektivierung oder Perspek-tivierung dienen; (4) Farben knnen die Zeitstufen eines Textes voneinander kon-trastieren; (5) sie knnen Vernderungen des Rollengefges kenntlich machen.30

    Neben Wulffs Ansatz existieren in einigen filmanalytischen Bchern jeweils knappe Ex-kurse zur Farbe. Zu erwhnen sind hier neben Christian MikundasKino spren und Silke

    Egners Studie Bilder der Farbeauch das neu berarbeitete Buch Film Artvon DavidBordwell und Kristin Thompson.Das vorliegende Buch ist als umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Phnomen

    Farbe und im Besonderen mit den Farben des Films angelegt. Durch verstrkte Restaura-tionsbemhungen im Zuge der Neuvermarktung alter Farbfilme auf DVD hat sich dieMaterialbasis fr Farbuntersuchungen qualitativ und quantitativ erheblich verbessert.Fraglos sind Qualitt und Wirkung der Filmfarben am besten im Kino zu beurteilen,

    aber es ist zu bedenken, dass auch Kinoprojektionen sichtbaren Schwankungen in derBildqualitt unterworfen sind. Viele Farbfilme vor allem der frhen Eastman-Periodesind verblasst oder verfrbt, so dass sie entweder in der gealterten Form oder wenn, wieim Fall von HitchcocksVertigo,vorhanden als restaurierte Fassung herangezogenwerden mssen.

    Man plagt sich also auch als Filmwissenschaftler mit den Problemen der Kunsthistori-ker, die sich fragen mssen, ob Michelangelos Sixtinische Kapelle wirklich einmal so bunt

    war wie nach ihrer Restauration. Solche Fragen zwingen manchmal zu Spekulationen.Derartige Unschrfen bestimmen jede Begegnung mit knstlerischen Materialien. DieVideoaufzeichnung einer Theaterauffhrung ist nur ein mder Abklatsch des Ereignis-ses, Beethovens Musik klingt bei jedem Orchester und in jedem Konzertsaal anders, diegroen Gemlde altern und verwandeln sich im Tages- oder Kunstlicht. Performance-knstler machen die Vergnglichkeit der Kunst sogar zu einem sthetischen Ereignis.Das Material der Kunst ist vergnglich.

    Wichtiger als das bliche Lamento ber fehlende ideale Bedingungen scheinen mir dertheoretische Entwurf und die Genauigkeit der Analysen zu sein. Die Farbenlehre desFilms bentigt drei groe Arbeitsfelder zu ihrer Vollstndigkeit. Im Anschluss an dieausfhrliche Vorrede und eine Reihe von Motivstudien zu den Grundfarben folgen Dar-stellungen der in Bezug auf das Kino wichtigen Themenfelder der Wahrnehmungsphy-siologie sowie der anthropologischen und kulturellen Praxis der Farben. Die erste Be-gegnung mit der merkwrdigen Immaterialitt der Farben wirkt verunsichernd: Was be-

    30 Wulff: Die signifikativen Funktionen der Farben im Film.S. 375.

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    deutet die Tatsache, dass Farbempfindungen eine Gehirnleistung auf Grund komplexer,vorgeschalteter Reizverarbeitungsprozesse sind? Die Dinge der empirischen Auenwelttrennen sich pltzlich von ihren bunten Bildern. Wie kann man sich ihre Farblosigkeitdenken? Bedeutende Wissenschaftler, Philosophen und Knstler wie Isaac Newton, Jo-hann Wolfgang von Goethe, Arthur Schopenhauer oder Ludwig Wittgenstein waren vonder Farbe und den Farben ungeheuer fasziniert und haben sich zeitlebens mit diesemThemenbereich beschftigt. Goethe hielt seine Farbenlehre fr sein wichtigstes Werk.Auch wenn mittlerweile die unterschiedlichen Wissenschaften auf dem Gebiet der Farb-forschung wesentlich weiter gekommen sind, bleiben in Bezug auf unser Farbensehenviele Fragen offen.

    Die physikalischen und physiologischen Prozesse der Farbentstehung, Farbrezeptionund der Farbsignalverarbeitung sind kompliziert in ihrer Darstellung und in ihrer Wir-kung. Sie fhren darber hinaus zur psychologischen Verarbeitung der Farben, die imExtremfall so weit geht, dass sie wiederum physiologisch messbar wird, wodurch sich ei-ner der Kreislufe schliet. Farben und dies wird an spterer Stelle der Untersuchungzumindest angerissen beliefern unser Gehirn mit einer Masse von Informationen, dieder Orientierung, dem berleben, der Emotionalisierung, dem Verstndnis von Zusam-menhngen und Wechselwirkungen, dem Bedrfnis nach Ausdruck dienen. JederMensch ist an sich eine Farberscheinung, und dies ist nicht nebenschlich. Schon die Far-be der Haare kann darber entscheiden, ob ein Kind in der Gruppe akzeptiert ist, ob einMensch als begehrenswert wahrgenommen wird, ob ein Mensch sichtbarer ist als andere.Die Stigmatisierung und gleichzeitig hohe erotische Bewertung der Rothaarigen, die eswert ist als ein eigenes Stck Kulturgeschichte niedergeschrieben zu werden, ist nur einesvon vielen prgnanten Beispielen.31

    Innerhalb des Arbeitsfeldes Farbwahrnehmung findet sich auch eine Einfhrung indie verschiedenen Farbordnungssysteme sowie in die grundlegende Fachterminologieder Farbenlehre. Ohne das Begriffsinventarium, das hier erklrt und definiert wird, sindFarbanalysen kaum mglich. Die unterschiedlichen Farbfilmverfahren, die unter demOberbegriff Farbfilmgeschichte im Anschluss abgehandelt werden, korrespondierenmit den verschiedenen Farbmischungsverfahren von Licht- und Krperfarben. Die Ent-

    wicklungsgeschichte des Farbfilms ist ohne diese Grundlagen nicht zu verstehen, zudemdie verschiedenen Wege zu Ergebnissen von neuer sthetischer Qualitt gefhrt haben,die sich aus den Mischungs- und Produktionsverfahren ableiten lassen. In der Frhphasedes Farbfilms, die schon whrend der frhen Filmgeschichte beginnt, wird fieberhaft ge-forscht und experimentiert. Die Ergebnisse sind bunt, gehorchen aber nur selten demGebot der Natrlichkeit. Sie begrnden Farbsthetiken, an die sich auch sptere Filme-

    31 Zum Beispiel in dem kurzweiligen und informativen Buch von Irmela Hannover:Frauen mit roten Haa-ren. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, 1999.

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    macher immer wieder erinnern. Zu dem Arbeitsfeld Farbfilmgeschichte gehrt nichtnur die Entwicklung der Technik. Gerade in den Anfngen des Farbfilms mussten dieFilmemacher ihr Handwerk quasi noch einmal neu erfinden. Wie schminkt man einenSchauspieler fr den Farbfilm? Welche