Faszien und ihre Bedeutung für die Interozeption

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ORIGINALIA 25 Osteopathische Medizin 15. Jahrg., Heft 3/2014, S. 25–30, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed * Dr. biol. hum. Robert Schleip ist Direktor der Fascia Research Group der Universität Ulm und Forschungsdirektor der European Rolfing As- sociation. Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Heidelberg widmete er sich über drei Jahrzehnte der Manualtherapie, ins- besondere der Rolfing- und der Feldenkrais-Methode. Seit 2004 betätigt er sich in der wissenschaſtlichen Grundlagenforschung der Manual- therapie. Seine Promotionsarbeit zum ema „Aktive Kontraktilität der Faszien“ wurde 2006 mit dem Vladimir Janda Preis für Muskuloskeletale Medizin ausgezeichnet. Er war Co-Initiator des ersten internationalen Fascia Research Congress (Harvard Medical School, Boston, 2007) und der daran anknüpfenden Nachfolgekongresse (Amsterdam 2009, Vancouver 2012, Washington 2015). ** Dr. rer. nat. Heike Jäger studierte Biologie und ist seit 1996 in der Grundlagenforschung am Institut für Angewandte Physiologie der Univer- sität Ulm tätig. Seit 2010 engagiert sie sich für die Faszienforschung der Division of Neurophysiology in Ulm. Neben molekularbiologischen und elektrophysiologischen Forschungsprojekten zu Ionenkanälen arbeitet sie mit Messverfahren zur Charakterisierung von Gewebeelasti- zität und ist im Fach Physiologie an der Lehre der medizinischen Fakultät beteiligt. Faszien und ihre Bedeutung für die Interozeption Robert Schleip*, Heike Jäger** Zusammenfassung Den meisten Manualtherapeuten ist die no- zizeptive und propriozeptive Bedeutung der Faszien nicht neu. Zusätzlich sind fasziale Gewebe jedoch auch mit zahlreichen freien Nervenendigungen versehen, die eine inter- ozeptive Funktion haben. Diese projizieren zur Insula des Kortex, ein Areal das bei Pri- maten auf einmalig direkte Weise mit den peripheren Endigungen verbunden ist. Hier werden Körperempfindungen, die mit phy- siologischen Bedürfnissen assoziiert sind, mit emotionalen Färbungen verknüpſt (Temperatur, Eingeweideaktivität, Hunger, muskuläre Anstrengung, Vasomotorik etc.). Einige Pathologien hängen interessanter- weise eher mit einer gestörten Interozeption zusammen als mit einer gestörten Sensomo- torik; hierzu gehören u.a. posttraumatische Belastungsstörung, Reizdarm, Depression, Angstneurosen, schizoide Störungen, Ale- xithymie (Gefühlsblindheit) und Essstörun- gen. Das folgende Kapitel aus dem „Lehrbuch Faszien“ gibt einen Überblick über den derzeitigen Stand des relativ neuen Forschungsgebietes, mit besonderer Be- rücksichtigung der für Komplementärthe- rapeuten relevanten Aspekte. Schlüsselwörter Faszien, Insula, Körperempfindungen, Reiz- darm, Alexithymie, posttraumatische Belas- tungsstörung Abstract Most manual therapists are familiar with the nociceptive and proprioceptive functions of fascial tissues. However, these tissues are also densely innervated by free nerve en- dings which serve an interoceptive function. ese receptors project to the cortical in- bewusste Sinn für die normalen Funktionen des Körpers und seiner Organe als „Coenästhesie“ bezeichnet. Die alten deutschen Physiologen nann- ten ihn auch „Gemeingefühl“ und un- terschieden ihn von den klassischen „fünf Sinnen“ aus Sherringtons frühen Schriſten. In jüngster Zeit wurde dieses Sinnessystem unter dem Begriff „Inter- ozeption“ neu belebt und die Erkennt- nisse über seine anatomischen, physiologischen und neurologischen Eigenschaſten führten zu einer gera- dezu explosionsartigen Zunahme an wissenschaſtlichem Interesse und zahl- reichen Studien. Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Reizdarmsyndrom wurden in der Folge als Interozeptions- störungen beschrieben und es wurde sogar postuliert, dass die für die Intero- zeption zuständigen Nervenbahnen als anatomisches Korrelat für das Bewusst- sein angesehen werden könnten (Craig 2009). Die interozeptiven Rezeptoren sind freie Nervenendigungen, die zum größten Teil im Fasziengewebe überall im Körper liegen. Propriozeption und Interozeption sind im menschlichen Gehirn unterschiedlich organisiert und ganz unterschiedliche Bahnen sind an der Fortleitung der entsprechenden Si- gnale beteiligt. Was ist Interozeption? Früher wurden unter den Begriff „In- terozeption“ ausschließlich viszerale Einleitung Interozeption kann verstanden werden als ein neues Korrelat für die komplexen Verbindungen zwischen Faszienrezep- toren, Emotionen und Selbsterken- nung. Während der Propriozeptionssinn wohl allen geläufig ist, die therapeutisch mit und an der Faszie arbeiten, mag die Interozeption in Bezug auf die faszialen erapien für manchen neu sein. So ganz „neu“ ist sie als neurologisches Modell allerdings nicht: Im 19. Jahr- hundert wurde dieser überwiegend un- sula, an area in the brain which in primates is more directly connected with the periphe- ral nerve endings than in other species. rough this pathway body sensations which are related to physiological needs (such as temperature, hunger, visceral organ distension, vasomotor activity or muscular effort) are associated with emotional quali- ties. Interestingly, several pathologies are characterized by interoceptive rather than sensomotor disturbance. ese include postraumatic stress disorder, irritable bowel syndrome, depression, anxiety, schizophre- nic disorders, alexithymia (emotional blind- ness) and eating disorders. is chapter reviews the current insights of this new field of scientific inquiry, with particular atten- tion to aspects of relevance for complemen- tary medicine practitioners. Keywords Fascia, insula, body sensations, irritable bo- wel syndrom, alexythymia, post-traumatic stress disorder

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Osteopathische Medizin

15. Jahrg., Heft 3/2014, S. 25–30, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed

* Dr. biol. hum. Robert Schleip ist Direktor der Fascia Research Group der Universität Ulm und Forschungsdirektor der European Rolfi ng As-sociation. Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Heidelberg widmete er sich über drei Jahrzehnte der Manualtherapie, ins-besondere der Rolfi ng- und der Feldenkrais-Methode. Seit 2004 betätigt er sich in der wissenschaft lichen Grundlagenforschung der Manual-therapie. Seine Promotionsarbeit zum Th ema „Aktive Kontraktilität der Faszien“ wurde 2006 mit dem Vladimir Janda Preis für Muskuloskeletale Medizin ausgezeichnet. Er war Co-Initiator des ersten internationalen Fascia Research Congress (Harvard Medical School, Boston, 2007) und der daran anknüpfenden Nachfolgekongresse (Amsterdam 2009, Vancouver 2012, Washington 2015).

** Dr. rer. nat. Heike Jäger studierte Biologie und ist seit 1996 in der Grundlagenforschung am Institut für Angewandte Physiologie der Univer-sität Ulm tätig. Seit 2010 engagiert sie sich für die Faszienforschung der Division of Neurophysiology in Ulm. Neben molekularbiologischen und elektrophysiologischen Forschungsprojekten zu Ionenkanälen arbeitet sie mit Messverfahren zur Charakterisierung von Gewebeelasti-zität und ist im Fach Physiologie an der Lehre der medizinischen Fakultät beteiligt.

Faszien und ihre Bedeutung für die InterozeptionRobert Schleip*, Heike Jäger* *

ZusammenfassungDen meisten Manualtherapeuten ist die no-zizeptive und propriozeptive Bedeutung der Faszien nicht neu. Zusätzlich sind fasziale Gewebe jedoch auch mit zahlreichen freien Nervenendigungen versehen, die eine inter-ozeptive Funktion haben. Diese projizieren zur Insula des Kortex, ein Areal das bei Pri-maten auf einmalig direkte Weise mit den peripheren Endigungen verbunden ist. Hier werden Körperempfi ndungen, die mit phy-siologischen Bedürfnissen assoziiert sind, mit emotionalen Färbungen verknüpft (Temperatur, Eingeweideaktivität, Hunger, muskuläre Anstrengung, Vasomotorik etc.). Einige Pathologien hängen interessanter-weise eher mit einer gestörten Interozeption zusammen als mit einer gestörten Sensomo-torik; hierzu gehören u.a. posttraumatische Belastungsstörung, Reizdarm, Depression, Angstneurosen, schizoide Störungen, Ale-xithymie (Gefühlsblindheit) und Essstörun-gen. Das folgende Kapitel aus dem „Lehrbuch Faszien“ gibt einen Überblick über den derzeitigen Stand des relativ neuen Forschungsgebietes, mit besonderer Be-rücksichtigung der für Komplementärthe-rapeuten relevanten Aspekte.

SchlüsselwörterFaszien, Insula, Körperempfi ndungen, Reiz-darm, Alexithymie, posttraumatische Belas-tungsstörung

AbstractMost manual therapists are familiar with the nociceptive and proprioceptive functions of fascial tissues. However, these tissues are also densely innervated by free nerve en-dings which serve an interoceptive function. Th ese receptors project to the cortical in-

bewusste Sinn für die normalen Funktionen des Körpers und seiner Organe als „Coenästhesie“ bezeichnet. Die alten deutschen Physiologen nann-ten ihn auch „Gemeingefühl“ und un-terschieden ihn von den klassischen „fünf Sinnen“ aus Sherringtons frühen Schrift en. In jüngster Zeit wurde dieses Sinnessystem unter dem Begriff „Inter-ozeption“ neu belebt und die Erkennt-nisse über seine anatomischen, physiologischen und neurologischen Eigenschaft en führten zu einer gera-dezu explosionsartigen Zunahme an wissenschaft lichem Interesse und zahl-reichen Studien.Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Reizdarmsyndrom wurden in der Folge als Interozeptions-störungen beschrieben und es wurde sogar postuliert, dass die für die Intero-zeption zuständigen Nervenbahnen als anatomisches Korrelat für das Bewusst-sein angesehen werden könnten (Craig 2009). Die interozeptiven Rezeptoren sind freie Nervenendigungen, die zum größten Teil im Fasziengewebe überall im Körper liegen. Propriozeption und Interozeption sind im menschlichen Gehirn unterschiedlich organisiert und ganz unterschiedliche Bahnen sind an der Fortleitung der entsprechenden Si-gnale beteiligt.

Was ist Interozeption?

Früher wurden unter den Begriff „In-terozeption“ ausschließlich viszerale

Einleitung

Interozeption kann verstanden werden als ein neues Korrelat für die komplexen Verbindungen zwischen Faszienrezep-toren, Emotionen und Selbsterken-nung. Während der Proprio zeptionssinn wohl allen geläufi g ist, die therapeutisch mit und an der Faszie arbeiten, mag die Interozeption in Bezug auf die faszialen Th erapien für manchen neu sein. So ganz „neu“ ist sie als neurologisches Modell allerd ings nicht: Im 19. Jahr-hundert wurde dieser überwiegend un-

sula, an area in the brain which in primates is more directly connected with the periphe-ral nerve endings than in other species. Th rough this pathway body sensations which are related to physiological needs (such as temperature, hunger, visceral organ distension, vasomotor activity or muscular eff ort) are associated with emotional quali-ties. Interestingly, several pathologies are characterized by interoceptive rather than sensomotor disturbance. Th ese include postraumatic stress disorder, irritable bowel syndrome, depression, anxiety, schizophre-nic disorders, alexithymia (emotional blind-ness) and eating disorders. Th is chapter reviews the current insights of this new fi eld of scientifi c inquiry, with particular atten-tion to aspects of relevance for complemen-tary medicine practitioners.

KeywordsFascia, insula, body sensations, irritable bo-wel syndrom, alexythymia, post-traumatic stress disorder

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Empfi ndungen gefasst. Die aktuellen Konzepte beschreiben Interozeption dagegen allgemein als Sinn für den physiologischen Zustand des Körpers und das beinhaltet ein viel breiteres Spektrum an physiologischen Sinnes-wahrnehmungen, beispielsweise für Muskelkraft , Kitzeln oder vasomotori-sche Vorgäng e (Tab. 1). Diese Sinnes-wahrnehmungen werden durch die Stimulation markloser sensibler Ner-venendigungen (d.h. freier Nervenen-digungen) ausgelöst, die zur Inselrinde projizieren. Als Hauptziel propriozep-tiver Wahrnehmungen wird dagegen üblicherweise der primäre somatosen-sible Kortex angesehen (Berlucchi u. Aglioti 2010).Interozeptive Wahrnehmungen haben nicht nur sensiblen, sondern auch af-fektiven, motivationalen Charakter und stehen immer im Zusammenhang mit den Erfordernissen der Körperho-möostase. Sie bewirken die Motivation zu einem Verhalten, das für die Erhal-tung der körperlichen Unversehrtheit erforderlich ist.

Sinnliche Berührung

Eine neue und überraschende Ergän-zung der obigen Liste der interozepti-ven Wahrnehmungen ist der Sinn für sinnliche oder wohltuende Berührun-gen. Diese Entdeckung entsprang der Untersuchung einer ungewöhnlichen Patientin, der die myelinisierten aff e-

renten Fasern fehlten und bei der lang-sames Streichen über die Haut mit einer weichen Bürste ein schwaches und undeutliches Gefühl angenehmer Berührung (und allgemeinen Wohlbe-fi ndens) auslöste, obwohl diese Patien-tin überhaupt nicht angeben konnte, in welche Richtung das Streichen erfolgte. Die funktionelle Magnetresonanzto-mographie zeigte, dass ihr vages Gefühl mit einer deutlichen Aktivierung der Inselrinde einherging, während im pri-mären somatosensiblen Kortex keine Aktivierung sichtbar war (Olausson et al. 2010).Aus den Innervationsverhältnissen in der Haut von Primaten sowie nachfol-genden Untersuchungen an weiteren Patienten schloss man, dass die verant-wortlichen sensiblen Rezeptoren mark-lose aff erente C-Fasern mit niedriger mechanischer Reizschwelle sein müs-sen und dass diese Endigungen mit den interozeptiven Nervenbahnen verbun-den sein müssen. Die Aff erenzen haben eine geringe Leitungsgeschwindigkeit (mit einer Verzögerung von 0,5–1,0 s vom Reiz bis zur Ankunft im Gehirn). Da solche Rezeptoren trotz zahlreicher mikroneurographischer Aufzeichnun-gen niemals in den Handfl ächen gefun-den wurden, nimmt man inzwischen an, dass sie nur in der behaarten Haut vorkommen und in der haarlosen Haut fehlen.Es folgt daraus, d ass die menschliche Haut off enbar mit einem System beson-derer Rezeptoren für soziale Berührun-

gen ausgestattet ist, das möglicherweise die Grundlage für die emotionalen, hor-monellen (z.B. Oxytocin) und affi liati-ven Reaktionen auf streichelnden Hautkontakt bildet (Abb.  1). Auf die tiefe Bedeutung, die ein solches System für die Gesundheit und das Wohlbefi n-den des Menschen hat, wurde schon län-ger hingewiesen (Montague 1971), insbesondere auch nach den klassischen Studie von Harlow (1958) an neugebo-renen Rhesusaff en, die auf tröstende Be-rührung durch eine Surrogatmutter mit Zuneigung reagierten.

Eine phyloge n e t i s c h neu e E nt w i c klungD i e aff erenten Neuronen für die Intero-zeption enden in der Lamina  I, der

Tab. 1: Interozeptive Empfindungen sind unter anderem1 Wärme, Kälte2 Muskelaktivität3 Schmerz, Kribbeln, Jucken4 Hunger, Durst5 Lufthunger6 Geschlechtliche Erregung7 Weingeschmack (bei Sommeliers)8 Herzschlag9 Vasomotorische Aktivität10 Harnblasenfüllung11 Dehnung von Magen, Rektum oder Ösophagus12 Sinnliche BerührungDie Afferenzen, die diese Empfindungen übermitteln, ziehen mit dem Tractus spinothalamocorticalis von der Lamina I zur Inselrinde.

Abb. 1: Die Entdeckung interozeptiver Rezeptoren in der Haut des Menschen. Neben propriozeptiven Nervenendigungen enthält die menschliche Haut interozep-tive C-Faserendigungen, deren Reizung ein allgemeines Gefühl des Wohlbehagens auslöst. Die neuralen Verbindungen dieser langsam leitenden Rezeptoren folgen nicht dem üblichen Weg über die Pyramidenbahn zu den propriozeptiven Gebieten im Gehirn, sondern projizieren zur Inselrinde, also einem der wichtigsten Kontrollzentren für die Interozeption. Dies wurde kürzlich durch Untersuchun-gen an Patienten festgestellt, denen die myelinisierten Afferenzen komplett fehlen. Wenn diese Patienten sanft gestreichelt wurden, reagierten sie mit einem Gefühl allgemeinen Wohlbehagens, obwohl sie andererseits nicht in der Lage waren, die Richtung der Streichelbewe-gung anzugeben. Mittels zerebraler Bildgebung stellte man dann fest, dass die Berührung zu einer Aktivierung der Inselrinde, nicht aber der üblichen propriozeptiven Hirnareale führte, und schloss daraus, dass die menschliche Haut spezielle Berührungsrezeptoren mit langsamer Reizleitung enthält, die Teil eines neurobiologischen Systems für soziale Berührung sind. © iStockphoto.com/Neustockimages

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oberfl ächlichsten Schicht im Hinter-horn des Rückenmarks. Lamina I hat enge Verbindung zu den sympathi-schen Kernsäulen des thorakolumbalen Rückenmarks, in denen die sympathi-schen präganglionären Zellen des au-tonomen Nervensystems ihren Ausgang nehmen. Diese projizieren zu den wichtigsten integrativen Homöos-taseregionen im Hirnstamm, unter an-derem auf Hirnstammregionen (wie den Nucleus parabrachialis), die enge Verbindungen zur Amygdala und zum Hypothalamus haben. Daneben gibt es Projektionen auf die Inselrinde.Interessanterweise ist gerade diese spi-notha lamokortikale Bahn von La-mina  I eine phylogenetisch neue Errungenschaft der Primaten. Die Bahn entwickelte sich aus dem aff eren-ten Schenkel eines evolutionsgeschicht-lich älteren Systems, das für die Aufrechterhaltung der Homöostase im Körper verantwortlich ist. Allgemein werden bei Säugetieren die Signale der Lamina-I-Neuronen im Nucleus para-brachialis integriert und erst von dort aus über den ventromedialen Th ala-muskern zur Inselrinde weitergeleitet (Craig 2009). Bei den Primaten gibt es dagegen direkte Projektionen von La-mina I zu den Th alamusregionen und von dort aus weiter zur Inselrinde (Abb. 2). Anders ausgedrückt: Prima-ten besitzen eine direktere Verbindung zwischen der interozeptiv-aff erenten Region im Rückenmark (Lamina  I) und der Inselrinde. Vergleichbare Un-terschiede zwischen Primaten und an-deren Säugern wurden in der neuronalen Architektur der Proprio-zeption bisher nicht gefunden.Die Inselrinde selbst ist hierarchisch gegliedert: Primäre sensible Aff eren-zen, die interozeptive Wahrnehmungen übermitteln, projizieren auf die hintere Insel und werden dann in der mittleren und vorderen Inselrinde zunehmend verfeinert und integriert (Devue et al. 2007). Das höchste Integrationsniveau liegt also in der vorderen Inselrinde vor, die enge Verbindungen zum vor-deren Bereich des Gyrus cinguli auf-weist. Beide zusammen bilden ein Emotionsnetzwerk, in dem die limbi-

sche Inselrinde für die sensible Wahr-nehmung und die bewussten Gefühle zuständig ist, der Gyrus cinguli dage-gen für die Motivation und die moto-rischen Elemente, mit denen die Emotionen durch Verhaltensweisen zum Ausdruck ge bracht werden.Wenn man das emotionale Verhalten von Nichtprimaten beobachtet, wir d man durch die Neigung zu anthropo-morphen Interpretationen leicht zu der Annahme verleitet, dass diese Tiere kör-perliche Gefühle in der gleichen Weise wahrnehmen wie wir selbst. Dass dies wohl nicht der Fall ist, zeigen die unter-schiedlichen interozeptiven Signalwege; denn bei den Nichtprimaten ist die phy-logenetisch neue Verbindung, über die interozeptive Wahrnehmungen zu Th a-lamus und Hirnrinde übermittelt wer-den, nur rudimentär oder gar nicht angelegt (Craig 2003).

Dem Netzwerk aus vorderer Inselrinde und Gyrus cinguli wird auch die spezi-fi sche Funktion der Selbsterkennung zu-geschrieben (Devue et al. 2007). Von Craig (2009) stammen eindrucksvolle Daten, die zeigen, dass die vordere In-selrinde eine besonders „menschliche“ Hirnstruktur ist. Sie ist wesentlich daran beteiligt, dass alle subjektiven Empfi n-dungen mit Bezug zum Körper (und insbesondere seiner Homöostase) zu emotionalen Erfahrungen werden und in das Bewusstsein der Umgebung und des Selbst integriert werden. Craig ver-tritt daher die Auff assung, dass die menschliche Inselrinde und ihre beson-deren spinothalamischen Aff erenzen unsere Spezies von anderen Säugern un-terscheidet, indem sie die bewusste Selbst- und Körperwahrnehmung er-möglicht. In die gleiche Richtung geht Damasio (1994) mit seiner Aussage, dass der Mensch – insbesondere in komplexen Settings und Konfl iktsitua-tionen – sog. „somatische Marke r“, also unbewusste somatische Wahrnehmun-gen (z.B. als „Bauch gefühl“) verwendet, um seine Entscheidungen zu treff en. Wie in Craigs Konzept der spezifi sch menschlichen Interozeption sieht auch Damasios Modell in der menschlichen Inselrinde (zusammen mit den neu er-worbenen spinothalamischen Aff eren-zen) ein wesentliches Element für die Integration von Körperwahrnehmun-gen und mentalen Prozessen.

Interozeption und psychosomatische Erkrankungen

Die (Wieder-)Entdeckung der Intero-zeption, ihrer Bedeutung für die Selbst-regulation des Menschen und ihrer besonderen neuralen Architektur beim Menschen löste eine Welle von Studien aus, i n de nen die Wechselbezie hung zwischen verschi edenen Aspekten der mensch lichen Gesundhe it und der In-terozeption untersucht wurden. Dies entwickelt sich aktuell zu einem neuen und spannend en Forschungsgebiet der P sychobio logie und die bisher durch-

Insula

Thalamus

Nucl. parabrachialis

Lamina Ides Rückenmarks

freie Nervenendigungen

Abb. 2: Die neu erworbene „Abkürzung“ der Primaten für interozeptive Afferen-zen. Bei den Säugetieren beginnt die wichtigste Bahn mit freien Nervenendi-gungen, die zur Lamina I im Rückenmark und weiter zum Nucleus parabrachialis im Hirnstamm projizieren. Erst von dort aus gelangen die Signale über den Thalamus zur Inselrinde. Primaten besitzen dagegen als phylogenetischen Neuerwerb eine direktere Verbindung zwischen der spinalen Region für interozeptive Afferenzen und der Inselrinde (schwarzer Pfeil).

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geführten Studien zeigen, dass vi ele komplexe Erkranku ng en mit somato-emotionaler Komponente off enbar durchaus mit der Verarbeitung v on in-terozeptiven Signalen zu tun habe n, denn die Interozeption scheint bei die-sen Erkrankungen deutlich verändert zu sein. Allerdings muss die genaue Systemdynamik dieser Zusammen-hänge (einschließ lich der Unterschei-dung zwischen den primären Ursachen und den s ekundären Wirk ungen) für die meist en Interozeptionsstörungen erst noch geklärt werden. Im Folgen-den werden e inige Beispiele für die komplexen Wechselbeziehungen auf-geführt.Bei Angststörungen und auch bei De-pressionen ist die interozeptive Signal-verarbeitung signifi kant verändert. Die interozeptiven Signale sind bei diesen Erkrankungen verstärkt, aber unscharf und als Reaktion auf die schlecht vor-hersehbaren interozeptiven Zustände kommt es off enbar zu einer verstärkten Top-down-Modulation der Signale, d.h. ihre Verarbeitung wird durch selbstbe-zogene Überzeugungen verstärkt (Pau-lus u. Stein 2010). Bei diesen beiden somatoemotionalen Erkrankungen liegt also off enbar keine Beeinträchtigung der aff erenten interozeptiven Signalgebung zugrunde, sondern sie können als ver-änderte interozeptive Zustände infolge unscharfer, verstärkter selbstbezogener Überzeugungen bezüglich der intero-zeptiven Wahrnehmungen aufgefasst werden.In ähnlicher Weise zeigten bildge-bende Untersuchungen des Gehirns bei Patienten mit Reizdarmsyndrom eine gestörte Modulation der Inselrin-denreaktion auf viszerale Stimuli (z.B. bei einer experimentell induzierten schmerzhaft en Dehnung des Rektums und der nachfolgenden Entspannung). Man vermutet, dass diese dysfunktio-nale Regulation möglicherweise die neurale Basis für die durch Stress und negative Emotionen veränderte visze-rale Interozeption dieser Patienten darstellt (Elsenbruch et al. 2010).Substanzmissbrauch und andere Such-terkrankungen wurden ebenfalls als Interozeptionsstörungen beschrieben.

Off enbar ist bei einer Drogenabhän-gigkeit das, was der Suchtkranke pri-mär anstrebt, die Wirkung seines Drogen anwendungsrituals auf die in-terne Körperwahrnehmung. Das Ab-hängigkeitsgefühl, die Erinnerung an und die Entscheidung über die Durch-führung des Drogenanwendungsritu-als hängen davon ab, wie die Inselrinde die Erfüllung dieses Ziels in Form in-terozeptiver Empfi ndungen darstellt. Für andere Suchterkrankungen wie Rauchen, Sex-, Spiel- oder Esssucht wurde die Beteiligung ähnlicher inter-ozeptionsbezogener insulärer Mecha-nismen postuliert (Naqvi u. Bechara 2010).Auch im kardiovaskulären Bereich wurde bei einer so häufi gen Erkran-kung wie der essenziellen Hypertonie beobachtet, dass schon im Frühsta-dium eine verstärkte interozeptive Wahrnehmung vorliegt, die auch einen Einfl uss auf die weitere Krankheitsent-wicklung haben soll (Koroboki et al. 2010). Das Altern und posttraumati-sche Belastungsstörungen gehen dage-gen mit einer signifi kanten Abnahme der interozeptiven Wahrnehmung ein-her. Hier könnten aufmerksamkeitsba-sierte Techniken zur Schulung der Wahrnehmung unterschwelliger kör-perlicher Signale therapeutisch hilf-reich sein (van der Kolk 2006).

Die Faszie als InterozeptionsorganNur bei einem geringen Teil der sensib-len Nervenendigungen im Bewegungs-apparat handelt es sich um myelinisierte, propriozeptive Mechanorezeptoren wie Muskelspindeln, Golgi-Rezeptoren, Pa-cini- oder Ruffi ni-Körperchen. Die überwiegende Mehrzahl (etwa 80%) der aff erenten Nerven enden frei (Schleip 2003). Diese freien Nervenendigungen werden als „interstitielle Muskelrezep-toren“ bezeichnet, l iegen in den faszialen Gewebeanteilen wie dem Peri- und En-domysium und sind entweder mit marklosen aff erenten Neuronen (Typ-IV- oder C-Fasern) oder mit markhalti-gen Axonen (Typ-III- oder Aδ-Fasern)

verbunden. Zu etwa 90% gehören sie zur Gruppe der langsam leiten den C-Fasern (Mitchell u. Schmidt 1977). Deren Sti-mul ation aktiviert nach funktionellen MRT-Untersuc hungen von Olausson et al. (2008) nicht den primären somato-sensiblen Kortex, sondern die Insel-rinde. Die Rezeptoren haben also off ensichtlich keine propriozeptive, son-dern eine interozeptive Funktion.Dies führt zu der überraschenden Fest-stellung, dass die Zahl der interozepti-ven Rezeptoren im Muskelgewebe weit höher ist als die der propriozeptiven. In Zahlen ausgedrückt kommen dort schätzungsweise auf jede propriozep-tive Nervenendigung mehr als sieben Endigungen, die als Interozeptionsre-zeptoren eingestuft werden können.Manche dieser freien Nervenendigun-gen sind Th ermo-, Chemo- oder multi-modale Rezeptoren, aber die meisten fungieren als Mechanorezeptoren und reagieren auf mechanischen Zug, Druck und Schubverformungen. Teilweise ha-ben sie eine hohe Reizschwelle; ein rele-vanter Anteil (etwa 40%) gehört jedoch zu den niederschwelligen Rezeptoren und reagiert schon auf leichte Berüh-rung „selbst mit einem feinen Pinsel“ (Mitchell u. Schmidt 197 7). Sehr wahr-scheinlich sprechen diese Rezeptoren also auch auf die Gewebemanipulatio-nen eines myofaszialen Th erapeuten an.

Man uelle Therapie und InterozeptionBei der Behandlung von Muskelgewebe denkt ein myofaszialer Th erapeut in der Regel an die direkten biomechani-schen Wirkungen auf die nicht neura-len Gewebe oder an die Stimulation spezifi scher propriozeptiver Rezepto-ren wie Muskelspindeln, Golgi-Rezep-toren etc. Aus den obigen Überlegungen ergibt sich jedoch, dass die interozep-tiven Rezeptoren und ihre Wirkungen bei der manuellen Th erapie vielleicht in viel stärkerem Ausmaß berücksich-tigt werden sollten, als dies bisher ge-lehrt bzw. praktiziert wird.Ein Teil der interozeptiven Nervenendi-gungen im Muskelgewebe werden als

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Ergorezeptoren bezeichnet: Sie senden Informationen über die lokale Arbeits-belastung des Muskels an die Inselrinde. Reizt man sie mechanisch, wird die lo-kale Durchblutung über eine Änderung der sympathischen Eff erenzen verstärkt. Bei Stimulation anderer interozeptiver Nervenendigungen nimmt dagegen die Hydration der Matrix zu, indem die Ex-travasation von Plasma – d.h. der Aus-tritt von Plasma aus den kleinsten Blutgefäßen in die interstitielle Substanz – verstärkt wird (Schleip 2003).Es kann daher ausgesprochen sinnvoll sein, bei der Behandlung stets auf die vegetativen – und auch auf die lim-bisch-emotionalen (d.h. insulären) – Reaktionen des Klienten zu achten und die Richtung, Geschwindigkeit und In-tensität der Berührung so zu steuern, dass tiefgreifende vegetative Wirkun-gen (wie z.B. die Veränderung der lo-kalen Gewebewässerung) ermöglicht werden. Zudem kann der Klient auch durchaus zur verfeinerten Wahrneh-mung seiner interozeptiven Signale – und zu einer verbalen Rückmeldung darüber – aufgefordert werden. Wäh-rend bei den Griff en selbst propriozep-tive Empfi ndungen im Vordergrund stehen, können die feineren interozep-tiven Empfi ndungen meist besser in den (mindestens einige Sekunden lang dauernden) Ruhephasen zwischen den einzelnen Manipulationen wahrge-nommen werden. Subjektive Gefühle von Wärme, von Leichtigkeit oder Schwere, Enge oder Weite, Fließen, Übelkeit, Pulsieren, spontaner Zunei-gung oder allgemeinem Wohlbefi nden sind solche interozeptiven Wahrneh-mungen, die durch die myofasziale Ge-webemanipulation ausgelöst werden können. Für den Th erapeuten können diskrete Veränderungen am Klienten – lokal verstärkte Gewebehydration, Änderungen von Temperatur, Haut-farbe oder Atmung, Mikrobewegungen der Extremitäten, Pupillenerweiterung oder Gesichtsausdruck – wertvolle Hinweise auf die physiologischen, in-terozeptiv vermittelten Wirkungen sei-ner Behandlung sein.Auch für einen Th erapeuten, der die vis-zeralen Gewebe – beispielsweise bei der

viszeralen Osteopathie – mechanisch stimuliert, sollte die aufmerksame Wahrnehmung interozeptiver Wirkun-gen und der damit verbundenen physio-logischen und psychoemoti onalen Eff ekte von Nutzen sein. Neuere Er-kenntnisse zum Umfang des enteralen Nervensystems zeigen uns, dass unser „Bauchhirn“ mehr als 100 Millionen Neuronen umfasst (Gershon 1999). Die meisten von ihnen liegen im Bindege-webe zwischen der inneren und äußeren Muskelschicht der Lamina muscularis externa (Auerbach-Plexus) oder aber in der dichten Bindegewebeschicht der Submukosa (Meissner-Plexus). Viele dieser viszeralen Nervenendigungen ha-ben unmittelbar mit der Interozeption zu tun und sind über die oben beschrie-bene spinothalamokortikale Bahn über Lamina I mit der Inselrinde verbunden. Wenn man bedenkt, dass das Reizdarm-syndrom und andere komplexe Erkran-kungen mit einer gestörten Modulation der Inselantwort auf viszerale Reize ein-hergehen, ist es gut vorstellbar, dass eine langsame und bewusste manuelle Kraft -ausübung auf die viszeralen Gewebe – sofern dabei ein Gefühl der Sicherheit und der Aufmerksamkeit für den Klien-ten vermittelt wird – ein sinnvoller, wenn nicht sogar idealer Ansatz zur För-derung der gesunden interozeptiven Selbstregulation sein könnte.Wer myofasziale oder viszerale Th era-pien durchführt, sollte ebenfalls nicht überrascht sein, wenn er mit psycho-emotionalen Reaktionen in Form einer veränderten Binnenwahrnehmung von Körper und Selbst oder aber von affi li-ativen Emotionen konfrontiert wird. Durch die Stimulation interozeptiver freier Nervenendigungen in der Haut, im viszeralen Bindegewebe und im Muskelgewebe können solche Reakti-onen durchaus ausgelöst werden.

Bewegungstherapien und InterozeptionIm Leistungssport geht es oft um die Er-reichung externer Ziele und häufi g muss man sich dabei über innere Empfi ndun-gen von Schmerz, Müdigkeit u.Ä. hin-

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René Zweedijk D.O., BSc., Ost.Med.,DPO (NL)22. – 24. Oktober 2015

Genetische Biotypologie in der Osteopathie 1

Albert Garoli M.D., Ay., TCM (I, NZ)05. – 08. November 2015

Osteopathie im Säuglings- und Kindesalter2-jährige Ausbildung mit Beginn im April 2015

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Page 6: Faszien und ihre Bedeutung für die Interozeption

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Osteopathische Medizin

15. Jahrg., Heft 3/2014, S. 25–30, Elsevier GmbH, www.elsevier.com/locate/ostmed

wegsetzen. Im Gegensatz dazu fördern komplementärmedizinische Praktiken wie Yoga, Tai Chi, Qi Gong, Feldenkrais, Pilates, Body Mind Centering oder Con-tinuum Movement gerade die konzent-rierte Wahrnehmung der feinen Signale aus dem eigenen Körper. Je nach den Schwerpunkten des einzelnen Lehrers oder der Schule richten sich diese Bemü-hungen manchmal fast ausschließlich auf die Verfeinerung der propriozepti-ven Wahrnehmung. Der Praktizierende lernt dann beispielsweise winzige Bewe-gungen einzelner Wirbel zu fühlen oder seine Lendenlordose unter den verschie-densten Belastungen zu kontrollieren – und bleibt dabei doch möglicherweise ein „interozeptiver Anal phabet“, der nicht in der Lage ist zu unterscheiden, ob das, was er gerade in seinen Einge-weiden wahrnimmt, ein leerer Magen, Lampenfi eber, ein mitfühlendes „Bauch-gefühl“ für die Probleme eines anderen oder schlicht eine akute Gastritis ist.Andere Lehrer legen dagegen auch Wert auf die Kunst der diff erenzierten Wahrnehmung interozeptiver Signale und weisen ihre Schüler hin auf Emp-

fi ndungen wie ein feines Kribbeln un-ter der Haut, ein allgeme ines oder lokalisiertes Wärmegefühl, eine subjek-tive Empfi ndung von innerer Weite, in-nerer Ruhe, Lebendigkeit, ein inneres „Ankommen“ oder eine meditative Veränderung der allgemeinen Selbst-wahrnehmung. So können beispiels-weise lageabhängige Änderungen der Schwerkraft – z.B. bei Umkehrhaltun-gen im Yoga – leicht neue, interessante (und hoff entlich nicht beunruhigende) Empfi ndungen in den viszeralen Liga-menten auslösen und auf d iese Weise die Verfeinerung der interozeptiven Wahrnehmung fördern.Nachdem die aktuelle Forschung Hin-weise auf eine enge Beziehung von Inter-ozeptionsstörungen und verschiedenen Erkrankungen (wie Reizdarmsyndrom, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen) gefunden hat, er-scheint es durchaus vorstellbar, dass sol-che Bewegungsformen therapeutisches Potenzial für diese psychoemotionalen Erkrankungen haben. Typischerweise fördern sie eine Haltung der inneren Achtsamkeit, der verfeinerten Fähigkeit

zum „nach Innen hören“, und häufi g wechseln sich kurze Phasen aktiver mo-torischer Aufmerksamkeit mit an-schließenden Ruhepausen ab, in denen der Schüler auf die diskreten interozep-tiven Signale aus seinem Körper achtet. So überrascht es nicht, dass in einigen Studien bereits positive und gesund-heitsfördernde Eff ekte der „achtsam-keitsbasierten“ Th erapien bei vielen und auch häufi gen Erkrankungen ge-funden wurden (Astin et al. 2003).

Quelle: Schleip R, Jäger H (2014) Inter-ozetion. In: Schleip R, Findley TW, Chai-tow L, Huijing PA (Hrsg.) Lehrbuch Faszien. München: Elsevier

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Korrespondenzadresse:

Dr. biol. hum. Robert SchleipFascia Research GroupDivision of NeurophysiologyUniversität UlmAlbert-Einstein-Allee 1189081 Ulm