FAUST - Badisches Staatstheater Karlsruhe · 6 Als Faust von Gretchens Schicksal hört, macht er...

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FAUST

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    FAUST

  • WERD ICH ZUM AUGENBLICKE SAGEN:VERWEILE DOCH! DU BIST SO SCHON!DANN MAGST DU MICH IN FESSELN SCHLAGEN,DANN WILL ICH GERN ZUGRUNDE GEHN!

  • Faust JANNEK PETRIMephistopheles HEISAM ABBASMargarete KIM SCHNITZERMarthe Schwerdtlein LISA SCHLEGELValentin LUIS QUINTANAWagner / Gretchens Mutter SVEN DANIEL BHLERDer Herr / Die Hexe / Lieschen MEIK VAN SEVEREN Faust 2-6 / Erdgeist / Brger / Gesellen in ENSEMBLE Auerbachs Keller / Meerkatzen / Hexen in Walpurgisnacht

    Regie MICHAEL TALKEBhne BARBARA STEINERKostme INGE MEDERTMusik JOHANNES MITTLLicht CHRISTOPH PSCHKODramaturgie ROLAND MARZINOWSKITheaterpdagogik BENEDICT KMPF

    FAUSTDer Tragdie erster Teil von Johann Wolfgang Goethe

    PREMIERE 28.9.17 KLEINES HAUSAuffhrungsdauer 2 Stunden, keine Pause

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    Regieassistenz SARAH STEINFELDER Bhnenbildassistenz ANNE HORNY Kostmas-sistenz ADLE LAVILLAUROY Soufflage HANS-PETER SCHENCK Inspizienz JULIKA VAN DEN BUSCH Regiehospitanz SANDER LYBEER, PAULINA ROSALIE MLLER Bhnenbild-hospitanz LEILA HASSAN POUR ALMANI

    Technische Direktion HARALD FASSLRINNER, RALF HASLINGER Bhne Kleines Haus HENDRIK BRGGEMANN, MORITZ HAUPTVOGEL, EDGAR LUGMAIR Leiter der Be-leuchtungsabteilung STEFAN WOINKE Leiter der Tonabteilung STEFAN RAEBEL Ton JAN FUCHS, DIETER SCHMIDT Leiterin der Requisite MEGAN ROLLER Requisite CLEMENS WIDMANN Werkstttenleiter GUIDO SCHNEITZ Konstrukteur EDUARD MOSER Malsaal-vorstand GIUSEPPE VIVA Leiter der Theaterplastiker LADISLAUS ZABAN Schreinerei ROUVEN BITSCH Schlosserei MARIO WEIMAR Polster- und Dekoabteilung UTE WIEN-BERG Kostmdirektorin CHRISTINE HALLER Gewandmeister/in Herren PETRA ANNETTE SCHREIBER, ROBERT HARTER Gewandmeisterinnen Damen TATJANA GRAF, KARIN WRNER, ANNETTE GROPP Waffenmeister MICHAEL PAOLONE, HARALD HEUSINGER Schuhmacherei THOMAS MAHLER, VALENTIN KAUFMANN, NICOLE EYSSELE Modi-sterei DIANA FERRARA, JEANETTE HARDY Chefmaskenbildner RAIMUND OSTERTAG Maske RENATE SCHNER, LILLA SLOMKA-SEEBER, HATAY YALCIN, KATHLEEN HEHNE

    Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Auffhrungen durch jede Art elektronischer Gerte strikt untersagt sind.

    SCHLGST DU ERST DIESE WELT ZU TRUMMERN,DIE ANDRE MAG DARNACH ENTSTEHN

  • 3Heisam Abbas, Jannek Petri

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    Alles beginnt mit einer Beschwrung: Schwankende Gestalten nhern sich, die aus Dust und Nebel aufsteigen. Diese Trger von Ideen wollen zu neuem Leben erweckt werden. Auf der Bhne werden sie zu Wirklichkeiten.

    Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heiem Bemhn. Faust verzweifelt an der Einsicht, dass ihm die Wissenschaften keine letzte Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Daseins geben knnen. Er leidet unter der Begrenzt-heit des menschlichen Erkenntnisverm-gens. In seiner Studierkammer versucht er, den Erdgeist zu beschwren. Aber dieser weist ihn zurck. Sein Famulus Wagner tritt ein und beginnt mit Faust ein Gesprch ber Gelehrsamkeit. Frustriert von der Begegnung mit dem Geist und angewidert vom Disput mit Wagner erwgt Faust, sein

    Leiden durch Selbstmord zu beenden. Glo-ckengelut, das den Ostermorgen ankn-digt, hlt ihn von diesem Schritt ab.

    Vor den Toren der Stadt machen Faust und Wagner einen Osterspaziergang. Faust erinnert sich daran, wie er mit seinem Va-ter Pestkranken helfen wollte und oftmals mehr Schaden als Heil anrichtete. Faust bekennt sich zu seiner inneren Zerissen-heit: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Die eine ist ganz mit der Welt und dem Leben verbunden, die andere sehnt sich fort vom irdischen Dasein.

    Ein schwarzer Pudel folgt Faust und Wag-ner. Als Faust in seiner Stube die Bibel ins Deutsche bersetzen will, wird aus dem Hund Mephistopheles und stellt sich vor: Ich bin der Geist, der stets verneint!" Er bietet Faust seine Dienste im Diesseits an. Dafr soll dieser ihm nach dem Tod

    ZUM INHALT

    DES

    KERNPUDELS

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    gehren. Faust ist an diesem Pakt nicht interessiert, er verweist auf seine Qualen, die sich aus der irdischen Existenz erge-ben. Mephisto glaubt, Faust mit sinnlichem Genuss zufriedenstellen zu knnen. Faust wei, dass sein Streben, das aus seiner Doppelnatur entspringt, nicht allein durch Sinnlichkeit berwunden werden kann. Deshalb bietet er Mephisto eine Wette, dass es diesem nie gelingen werde, ihn durch Genuss zu betrgen. Faust glaubt, der Teufel knne ihn zwar von seinem Leiden ablenken, aber niemals heilen. Die Wette wird mit Blut besiegelt.

    Die erste Station seiner Reise fhrt nach Leipzig, in Auerbachs Keller, wo Mephisto Faust das lustige Treiben zeigen will. Aber dieser erste Versuch, Faust an die Freuden der Welt heranzufhren, misslingt. Faust fhlt sich von den derben Spen der Trun-kenbolde abgestoen.

    In einer Hexenkche wird Faust ein Zaubertrank verabreicht, der den alten Gelehrten in einen jungen Mann verwan-delt. Mephisto prophezeit, dass Faust bald Helenen in jedem Weibe sehen wird.

    Als Faust Margarete erblickt, entflammt sein Begehren fr das junge Mdchen. Aber sie weist ihn zurck.

    Margarete findet ein Kstchen mit Schmuck in ihrem Zimmer, das Mephisto besorgt hat. Sie sehnt sich danach, den Mann, der sie auf der Strae ansprach, wiederzusehen.

    Da Margaretes Mutter den Schmuck dem Pfarrer bergeben hat, beschafft Mephisto ein neues Geschmeide. Margarete zeigt dieses ihrer Nachbarin Marthe Schwerdt-lein und bittet um Rat. Mephisto sucht

    die verlassene Frau auf und erfindet eine Geschichte vom Tod ihres Ehemannes. Er nennt Faust als Zeuge fr seine Angaben und kann so ein Treffen mit den beiden Frauen arrangieren.

    Im Garten von Frau Schwerdtlein kommen sich Faust und Gretchen nher. Es gelingt ihm, die Liebe der jungen Frau zu gewin-nen. Marthe versucht whrenddessen, Mephisto auf sich aufmerksam zu machen. Doch er missversteht sie absichtlich und widersetzt sich ihrem Werben.

    In einer Hhle richtet Faust ein Dankgebet an den Erdgeist, der ihm das Gefhl des Einklangs mit der Natur schenkt. Doch er muss sich eingestehen, dass sein Liebes-erlebnis mit Gretchen seine Sehnsucht nach Begierde nicht zu stillen vermag. Er sprt, dass er dem Mdchen nur Unglck bringen kann, ist aber nicht bereit, daraus Konsequenzen zu ziehen.

    In Marthes Garten fragt Gretchen Faust nach seinem Verhltnis zur Religion. Zugleich gesteht sie ihm, dass sie sich in Anwesenheit seines Begleiters unbehag-lich fhlt. Um ungestrt die Nacht mit ihr verbringen zu knnen, berreicht er ihr einen angeblichen Schlaftrunk fr ihre Mutter, der aber Gift enthlt.

    Am Brunnen erfhrt Gretchen von Lies-chen, welche chtung einer jungen Frau droht, die vor der Ehe schwanger wird.

    Gretchens Bruder Valentin hat von dem Fehltritt seiner Schwester gehrt und will vor dem Haus ihrem Liebhaber auflauern. Mit einem Spottlied kommentiert Mephis-to Gretchens Lage. Es kommt zu einem Kampf, den Faust durch Mephistos Hilfe fr sich entscheiden kann. Valentin ist td-

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    Als Faust von Gretchens Schicksal hrt, macht er Mephisto Vorwrfe und verlangt, sie zu retten. Gretchen hat ein Kind zur Welt gebracht und es gettet. Nun sitzt sie im Kerker und wartet als Mrderin ihrer Mutter und ihres Kindes auf die Hinrich-tung.

    Faust dringt in Gretchens Zelle ein, um sie zu befreien. Aber sie weist ihn ab.

    lich verwundet worden und verflucht seine Schwester. Die Mrder knnen fliehen.

    Zur Ablenkung fhrt Mephisto Faust zur Walpurgisnacht. Whrend des Aufstiegs zum Brocken begegnen ihnen dmonische Gestalten. Oben auf dem Gipfel gehen die Hexen zgellos ihrer Sexualitt nach. Mitten im wilden Treiben ereilt Faust eine Vision vom bsen Ende Margaretes.

    WAS BIN ICH DENN, WENN ES NICHT MOGLICH IST,DER MENSCHHEIT KRONE ZU ERRINGEN

  • 7Heisam Abbas, Kim Schnitzer

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    Die Faust-Dichtung kann ohne Zweifel als Goethes Lebenswerk verstanden werden. Begonnen im Ancien Rgime ereigneten sich whrend der langen Schreibphase beider Teile die Franzsische Revolution, die Napoleonischen Kriege, der Wiener Kongress und die Restaurationszeit. Da-neben fanden groe soziale und konomi-sche Umwlzungen statt beim bergang von einer agrarisch geprgten Gesell-schaft in das Industriezeitalter. Diese gesellschaftspolitischen Umbrche sind in die vielschichtige Thematik eingegangen und machen ihre Komplexitt aus.

    Zu Beginn ist Faust ein von der scho-lastischen Wissenschaft enttuschter Gelehrter, am Ende des zweiten Teils ein kapitalistischer Grounternehmer. Die Goetheforschung fasst deshalb den Gegenstand des Gesamtdramas unter der Formel einer Phnomenologie der Moder-ne zusammen.

    Um diesen universellen Topos zu entfalten, bedient sich Goethe innerhalb seines Per-sonaltableaus einer Vielzahl von Figuren und Gestalten aus Mythen, Sagen, christli-cher Lehre und Volksaberglauben.

    Diese Heterogenitt dient dem Versuch, einer geistigen Durchdringung des Weltganzen. Das Drama entfaltet nahezu enzyklopdisch die letzten Weltgeheim-nisse: ber das Wesen der Schpfung, den Sinn des Bsen und den Stellenwert des Menschen. Goethe hat seine persnlichen Weltanschauungen in Form einer poeti-schen Weissagung formuliert.

    Welcher Gattung entspricht also dieses Menschen- und Weltenspiel? Goethes Bezeichnung nach handelt es sich um eine Tragdie. Und tragisch kann Fausts gesamte irdische Existenz verstanden werden: die Verzweiflung zu Beginn und spter das Getriebensein an der Seite Me-

    ZUM STCK

    Kim Schnitzer, Luis Quintana, Meik van Severen

    SCHALLUNDRAUCH

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    phistos. Faust handelt subjektiv aufrichtig, wenn auch verblendet. Mit dem Untergang Gretchens und ihrer Familie ldt er Schuld auf sich. Goethe hat es so ausgedrckt: Es ist nichts trauriger anzusehen als das unvermittelte Streben ins Unbedingte in dieser durchaus bedingten Welt.

    In einer solchen Welt muss Mephisto nicht als Antagonist fungieren, sondern kann als die andere Seite, die andere Seele Fausts verstanden werden.

    Und trotz des philosophischen Aussagege-halts sind auch komische Elemente in die Dichtung eingeflochten, von eloquentem Sprachwitz ber satirische Tne bis gro-bem Humor, von lustspielhaften Einlagen ber farcenhafte Narreteien bis zu derben Grotesken. Szenen wie Auerbachs Kel-ler, Hexenkche und Walpurgisnacht seien an dieser Stelle genannt.

    Bereits in der Grundkonstellation Faust und Mephisto wird Tragik mit Komik unauflsbar verbunden: Dem pathetischen und potenziell tragischen (Anti)-Helden wird ein schalkhafter Antipode zur Seite gestellt. Damit hat Goethe die Mglichkeit geschaffen, die sich in metaphysische H-hen aufschraubenden Gedankengnge mit Spott, Hohn oder Ironie zu kommentieren und damit in Frage zu stellen.

    Schon kurz nach Goethes Tod wurde Faust zu einem populren Lesestoff. Eine Popularisierung des Stckes erfolgte nicht zuletzt dadurch, dass es zur Schullektre bestimmt wurde, was eine gewisse Stan-dardisierung der Interpretation mit sich brachte. Das Ringen nach Erkenntnis und Glck und die auf diesem Weg aufgelade-ne Schuld, die wiederum durch die Tat, in Form von sittlichem Handeln, berwunden

    werden kann, wurden als Grundgedanken des Stckes formuliert. Kurz: Der Schran-kenlosigkeit des Strebens wird die Selbst-beschrnkung entgegengesetzt.

    Mit dem Entstehen der modernen Arbeits-welt wurde in der Figur Faust zunehmend das Ideal des strebenden, ttigen Men-schen gesehen. Damit ging eine Wort-schpfung einher, die alles Streben nach Erkenntnis, gepaart mit unermdlicher Aktivitt, als faustisch titulierte. Eine populre literarische Figur, die vor allem durch diesen Wesenszug charakterisiert wurde, konnte leicht in nationale Indienst-nahme geraten. So wurde Goethes Figur lange vor dem Nationalsozialismus zum Inbegriff deutschen Wesens und deut-schen Glcksbegehrens stilisiert.

    Heute schliet der Begriff des Fausti-schen negative Bedeutungskomponenten wie Unbegrenztheit, Malosigkeit und Nihilismus mit ein. Nach Kolonialismus und zwei Weltkriegen, angesichts von Umwelt-zerstrung und einer Weltwirtschaft, die Ungleichheit schafft, hat der Glaube an die Segnungen des Fortschritts tiefe Risse bekommen.

    Lange Zeit galt Faust als reines Lese- und Illustrationsdrama. Selbst der Autor und Direktor des Weimarer Hoftheaters Goe-the hegte Zweifel an der Bhnenfhigkeit seines Stckes. Seine Bemhungen in den Jahren 1810 bis 1812, den Stoff zur Auffh-rung zu bringen, zerschlugen sich, nicht nur wegen bhnentechnischer Schwie-rigkeiten, sondern auch durch personelle Querelen.

    Die Studierzimmer-Szenen wurden 1819 im Schloss Monbijou in Berlin vor einer kleinen Hofgesellschaft dargeboten. Zehn

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    Jahre darauf, am 19. Januar 1829 hob sich der Vorhang zur Premiere fr den ersten Teil am Braunschweiger Hoftheater. In der Inszenierung von August Klingemann fiel fast alles dem Strich zum Opfer, was die Vielschichtigkeit, die Ironie und den Spielcharakter des Werkes ausmacht. Ganz im Sinne des Illusionstheaters sollten die Gestalten Faust und Gretchen als glaubwrdige, identifizierbare Figuren erscheinen. Die Ausstattung orientierte sich an Malereien von Faustmotiven, die zu dieser Zeit hohen Absatz fanden und zu

    einer weitverbreiteten Ikonografie einzel-ner Szenen beitrugen.

    Die Urauffhrung brach den Bann: Zahl-reiche Theater nahmen in demselben Jahr Goethes 80. Geburtstag zum Anlass, seinen Faust auf die Bhne zu bringen. Der Premiere in Weimar, die einen Tag nach seinem Geburtstag stattfand, blieb der Dichter fern , aus Groll ber die vielen gestrichenen Textstellen, die der weltli-chen und kirchlichen Zensur zum Opfer fielen?

    NACH GOLDE DRANGT,AM GOLDE HNGTDOCH ALLES

  • 12 Luis Quintana, Sven Daniel Bhler, Jannek Petri, Meik van Severen, Kim Schnitzer, Lisa Schlegel

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    Der Faust ist nicht das einzige Werk Goe-thes, dessen Entstehung sich ber viele Jahre hinzog. Obwohl manche Dichtungen in einem genialen Schwung gelangen, hat Goethe an anderen jahrzehntelang nicht nur fortgearbeitet, sondern geradezu laboriert. In die Pflicht genommen von sei-nen Aufgaben als Staatsmann in Weimar, beschftigt mit neu sich aufdrngenden dichterischen Plnen, abgelenkt von natur-wissenschaftlichen und anderen Studien, hat er sich fr die Vollendung der Iphigenie ein Jahrzehnt Zeit gelassen, fr Wilhelm Meisters Lehrjahre zwei Jahrzehnte, fr den Faust I sogar mehr als drei Jahrzehnte, von 1773 bis 1806. Und noch einmal ber drei Jahrzehnte, vom ersten Ansatz zum Helena-Akt im Jahre 1800 bis zum Ab-schluss des Werkes im Jahre 1831, sollte sich die Vollendung des Faust II erstrecken. Eine so lange Entstehungsgeschichte lsst sich in ihrer Bedeutung fr das Werk erst ermessen aus dem Erfahrungszuwachs und dem lebensgeschichtlichen Wandel

    des Autors, aus dem historischen Umbruch im Zeitalter der Franzsischen Revolution, nicht zuletzt aus dem literarischen Szenen-wechsel vom Sturm und Drang ber die Klassik zur Romantik.

    Fr den Faust I zeichnen sich drei Werk-phasen und zugleich Hauptschaffenspha-sen ab. Die erste fhrt in den siebziger Jahren auf den Urfaust hin; die zweite, wohl wesentlich in die spten achtziger Jahre gehrende, erreicht den Textbe-stand, den Goethe 1790 unter dem Titel Faust. Ein Fragment verffentlichte; in der dritten, 1797 bis 1806, gelang der Abschluss des Faust I, der 1808 als Buch erschien.

    Als Goethe im Herbst 1775 nach Weimar kam, brachte er die Textpartien mit, die meistens Urfaust, manchmal auch frhe Fassung genannt werden, weil eine noch frhere, nicht erhaltene Ur-Fassung denkbar ist. Goethes originale Handschrift

    ZUR ENTSTEHUNG

    FRAGMENT UNDVOLLENDUNG

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    von dieser frhen Fassung ist nicht ber-liefert. Ihre Kenntnis verdanken wir dem Weimarer Hoffrulein Luise von Gchhau-sen, die von Goethes Vorlesen aus dem Faust so beeindruckt war, dass sie sich die Handschrift auslieh und abschrieb. Im Jahre 1887 entdeckte sie Erich Schmidt in ihrem Nachlass und gab sie als Urfaust heraus. Die erste Nachricht von Goethes Arbeit am Faust berhaupt stammt aus dem Sommer 1773.

    Der Urfaust enthlt schon beide Kerne des Dramas: Die Gelehrten- und die Gret-chenhandlung. Allerdings fehlen in der Gelehrtenhandlung noch die Schlusspartie der Szene Nacht" mit dem gewaltigen, im Todeswunsch gipfelnden Monolog und dem anschlieenden Ostergesang, sowie der groe Komplex, der zum Pakt mit Mephisto hinfhrt und die Szene Vor dem Tor" samt den beiden Studierzimmer-Szenen umfasst. Mephisto ist im Urfaust pltzlich da, ohne dass sein Erscheinen motiviert wre. Die Gretchenhandlung ist bereits geschlossener als die voraus-gehende Partie, denn alle wesentlichen Handlungselemente sind schon da, so dass es vom dramaturgischen Standpunkt aus kaum Lcken gibt. Die spter hinzu-gefgten Szenen Wald und Hhle" und Walpurgisnacht" vertiefen das Gesche-hen: Wald und Hhle" in die Sphre der Selbstreflexion, die Walpurgisnacht" in die Triebsphre hinein.

    Von Ende 1786 an lassen Goethes ue-rungen ber mehrere Jahre hin erkennen, dass er die Arbeit am Faust fortzufhren beabsichtigte, aber bald resignierte er und beschloss, das Werk in einer vorlufigen, unvollendeten Fassung herauszugeben. Diese erschien im Jahr 1790 unter dem Titel Faust. Ein Fragment.

    Der Abschluss der endgltigen Fassung des Faust l lsst sich in Goethes Tagebuch verfolgen. Am 13. April 1806 notiert er: Schluss von Fausts 1. Teil, am 25. April: Faust letztes Arrangement zum Druck. Der Schaffensprozess, der zu diesem Ende hinfhrte, ist nicht in allen Stationen genau zu rekonstruieren. Fr manche der neu hinzugekommenen Szenen sind uerun-gen berliefert, die eine relativ exakte Datierung erlauben, fr andere lsst sich die Entstehungszeit nur ungefhr ange-ben oder sogar nur vermuten. Nachdem Schiller am 29. November 1794 um ber-sendung der noch nicht im Fragment von 1790 gedruckten Bruchstcke des Faust-Dramas gebeten hatte, antwortete Goethe am 2. Dezember 1794: Vom Faust kann ich jetzt nichts mitteilen. Ich wage nicht, das Paket aufzuschnren, das ihn gefangen hlt. Ich knnte nicht abschreiben, ohne auszuarbeiten, und dazu fhle ich mir keinen Mut. Kann mich knftig etwas dazu vermgen, so ist es gewiss Ihre Teilnah-me. Erst im Jahre 1797 kam wieder Be-wegung in das Unternehmen. Zueignung an Faust heit es im Tagebuch am 24. Juni 1797, zwei Tage zuvor im Brief an Schiller: so habe ich mich entschlossen, an meinen Faust zu gehen. Im April 1798 vermeldet das Tagebuch immer wieder die Beschf-tigung mit Faust. Zwar berichtete Goethe in einem Brief an Schiller vom 5. Mai 1798: meinen Faust habe ich um ein gutes weitergebracht, doch ging die Arbeit nur schleppend und mit groen Unterbrechun-gen voran. Die Bemerkung in dem Brief an Schiller vom 16. April 1800: Der Teufel, den ich beschwre, gebrdet sich sehr wunder-lich, weist auf die beginnende Ausarbei-tung der zentralen Studierzimmer-Szenen, in denen sich Faust mit Mephisto verbindet. Schiller aber, der wie bei Wilhelm Meisters Lehrjahren durch seine ermunternde und

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    drngende Anteilnahme auch die Weiter-arbeit am Faust frderte, uerte sich in einem Brief an Cotta vom 10. Dezember 1801 skeptisch, indem er Goethes Schwie-rigkeiten charakterisierte:

    Sie fragen mich nach Goethen und seinen Arbeiten. Er ist zu wenig Herr ber seine Stimmung; seine Schwerflligkeit macht ihn unschlssig; und ber den vielen Liebhaber-Beschftigungen, die er sich mit wissenschaftlichen Dingen macht, zer-streut er sich zu sehr. Beinahe verzweifle ich daran, dass er seinen Faust noch vollenden wird.

    Da der dreifache Vorspann, die Zueig-nung, das Vorspiel auf dem Theater und

    der Prolog im Himmel, bereits zwischen 1797 und 1800 entstanden war, muss das Hauptproblem die Ausfllung der wie Goethe in seinem Brief an Schiller vom 3. April 1801 formulierte groen Lcke gewesen sein. Fr die Datierung der Wal-purgisnacht fehlen sichere Anhaltspunk-te sie drfte in dem Zeitraum zwischen 1797 und 1805 entstanden sein. Alle uerungen zusammengenommen, ergibt sich, dass Goethe die groe Lcke mit der Schlusspartie der Szene Nacht, der anschlieenden Szene Vor dem Tor und den beiden Studierzimmer-Szenen in immer neuen Anlufen zwischen Frhjahr 1800 und Frhjahr 1806 schloss.

    von Jochen Schmidt

    EIN BLICK VON DIR, EIN WORT MEHR UNTERHALTALS ALLE WEISHEIT DIESER WELT

  • 17Jannek Petri, Lisa Schlegel

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    Goethe beschftigte sich sein ganzes Le-ben mit dem Fauststoff. Auf Phasen groer Produktivitt folgten Schreiblockaden und lange Perioden, in denen die Arbeit zum Erliegen kam. Das krftezehrende Hin und Her war nicht zuletzt der engen Verknp-fung von Lebens- und Werkgeschichte geschuldet. Oftmals brachte Goethe nicht die fr ein planvolles Vorgehen geforderte Distanz auf, denn immer wieder fgte er seinem Text neue Erlebnisse und Einsich-ten hinzu. Dieses eng mit der Biografie verwobene Schreibverfahren hinderte ihn, eine Gesamtkonzeption zu bestimmen, geschweige denn, daran festzuhalten.

    Zu Weihnachten 1753 bekam der Vierjh-rige ein Puppentheater von seiner Gro-mutter geschenkt. Da Faust-Requisiten zu jener Zeit zur Grundausstattung solcher Spielbhnen fr Kinder gehrten, kann man davon ausgehen, dass Goethe auf diese Weise mit der Sage von dem Teufels-bndner vertraut gemacht wurde.

    Die Quellen der Gelehrtentragdie reichen zurck in Goethes erste Hochschulsemes-

    ter, die er ab 1765 in Leipzig absolvierte. Die dort gesammelte Erfahrung mit dem universitren Betrieb fand Niederschlag in der Schlerszene, in der Mephisto eine satirische Studienberatung abhlt. Auch Leipzigs berhmtem Weinlokal Auerbachs Keller setzte der schreibende Jurastudent ein literarisches Denkmal.

    Ein Blutsturz zwang Goethe 1768 zur Rck-kehr nach Frankfurt in sein Elternhaus. Unter der Obhut von Dr. Metz, einem An-hnger des Paracelsus, lernte er whrend seiner langen Rekonvaleszenz die Schrif-ten des Renaissance-Gelehrten kennen. Zeitgleich bte er sich in alchimistischen Experimenten, die allerdings erfolglos blieben. Unter dem Einfluss hermetischer Schriften nahm Goethe Anregungen fr ein Teufelsbild auf, wie es in Faust konzipiert ist. Demnach ist das Bse ein notwendiger Teil des Guten.

    1770 ging Goethe nach Straburg, um dort sein Studium abzuschlieen. Durch die Begegnung mit Johann Gottfried Herder lernte er das ideelle Programm des Sturm

    ZUM AUTOR

    INSPIRATIONUNDBLOCKADEN

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    und Drang kennen. Goethe zeigte sich empfnglich fr die Naturemphase, den Schpfungswillen und die Geniebegeis-terung dieser literarischen Strmung. Sie beeinflusste mageblich seine sprachliche Ausdrucksweise. Der Eingangsmonolog zu Beginn des Stckes gibt ein Zeugnis davon.

    Ein Jahr spter kehrte der zum Licentiat der Rechte Examinierte in seine Heimat-stadt zurck, um sich auf den Beruf des Anwalts vorzubereiten. Dort wurde seit dem Sptsommer 1771 unter groem Inte-resse der ffentlichkeit ein Prozess gegen Susanna Margaretha Brandt wegen Kinds-mordes gefhrt. Die 26-jhrige Dienstmagd war von einem durchreisenden hollndi-schen Handwerkergesellen geschwngert worden und hatte aus Angst vor Repres-sion die Niederkunft verheimlicht und das Neugeborene anschlieend gettet. Im Januar 1772 wurde das Urteil vollstreckt: Susanna Margaretha Brandt wurde ffentlich enthauptet. Goethe kannte die Prozessakten, sein Onkel Johann Jost Textor wirkte bei den Verhren mit.

    Neben diesem erschtternden Schicksal enthlt das Gretchen aus der Faust-Dich-tung allerdings auch Zge einer Geliebten aus Goethes Straburger Zeit: Friederike Brion, eine Pfarrerstochter aus Sesen-heim. Die junge Frau drfte die freigeisti-gen Reden des Studenten mit den gleichen gemischten Gefhlen aufgenommen haben wie das Gretchen im Faust die panthe-istischen Errterungen auf ihre Frage nach der Religion. Goethe, evangelisch aufgezogen, wendete sich whrend seiner Krankheitsphase dem Pietismus zu, lste sich aber in Straburg endgltig von dieser protestantisch-frmmlerischen Str-mung. Zu dieser Zeit las er die Schriften

    des Philosophen Baruch de Spinoza und lernte dessen bibel- bzw. religionskritische Haltung kennen. Auch dessen Vorstellung, dass das Gttliche im Aufbau und in der Struktur des Universums zu finden sei und sich in der Natur offenbare, beeinflusste Goethe zu dieser Zeit.

    Sein zu Lebzeiten berhmtestes Werk, Die Leiden des jungen Werthers, schrieb Goethe innerhalb von nur vier Wochen. Der Anfang 1774 entstandene Briefroman machte ihn schlagartig in ganz Europa bekannt. Darin verarbeitete er seine unglckliche Liebe zu Charlotte Buff. Kennengelernt hatte er sie whrend eines Praktikums am Reichskammergericht in Wetzlar.

    1775 folgte Goethe dem Ruf des Herzogs Karl August nach Weimar, um dort seine Fhigkeiten in verschiedenen administra-tiven Aufgaben unter Beweis zu stellen. Durch seine Pflichten als Legationsrat fand er wenig Zeit fr sein literarisches Schaffen, die Arbeit am Faust kam zum Stillstand. Dennoch sind zu jener Zeit Ein-drcke und Erlebnisse nachweisbar, die wenn auch teilweise erst sehr viel spter in das Drama eingeflossen sind. Einsame Ausflge in den Thringer Wald drften die Szene Wald und Hhle inspi-riert haben. Im Dezember 1777 machte sich Goethe in den Harz auf, um den schneebe-deckten Brocken erstmals zu besteigen. Aber die knstlerische Durststrecke hielt an, und um ihr entgegenzuwirken, sah er nur eine Mglichkeit: sich dem Wei-marer Hof zu entziehen und Abstand zu gewinnen. Er trat eine Bildungsreise nach Italien an. Die Jahre von 1786 bis 1788 verbrachte er in Rom, wo er sich neue Impulse fr sein literarisches Schaffen erhoffte. Der Plan erfllte sich teilweise:

    BLOCKADEN

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    Die Dramen Iphigenie und Egmont konnte er abschlieen, den Faust brachte er um einige Szenen erweitert unfertig wieder zurck nach Weimar. Allmhlich fand Goethe sich mit dem Gedanken ab, sein Stck als Fragment zu verffentlichen. Das in dieser Form und unter diesem Titel 1790 publizierte Stck war ein geschftli-ches Desaster, auch wenn die Aufnahme einer kleinen interessierten Leserschaft beraus positiv ausfiel und Goethe von allen Seiten zur Vollendung seines Werkes ermutigt wurde. Vor allem Schiller konnte Goethe zum kontinuierlichen Weiterarbei-ten motivieren. Als dieser 1805 starb und Goethe in eine tiefe Krise strzte, vern-derte sich die politische Growetterlage. Napoleons Truppen hatten die europ-ischen Monarchien berrannt. Im Jahr darauf unterlag Preuen und mit ihm das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach in

    der Schlacht bei Jena und Auerstdt dem franzsischen Heer.

    Es war das Jahr, in dem Goethe die Arbeit am Faust beendete. Franzsische Soldaten drangen im Oktober 1806 plndernd und brandschatzend in die Residenzstadt ein. Der Dichter geriet in Lebensgefahr, als er seinen Besitz verteidigen wollte. Nach die-sem Schock lie sich Goethe wenige Tage spter mit seiner langjhrigen Lebensge-fhrtin Christiane Vulpius trauen.

    Der abgeschlossene Faust I erschien 1808 im Rahmen einer dreizehnbndigen Werkausgabe unter dem Titel Faust. Eine Tragdie. Zu dieser Zeit arbeitete Goethe schon lngst an einem neuen Projekt, das lange Zeit nicht ber 265 Verse hinauskam und an dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1832 schreiben sollte: Faust II.

    NUN SIND WIR SCHON WIEDER AN DER GRENZE UNSRES WITZES, DA, WO EUCH MENSCHEN DER SINN UBERSCHNAPPT

  • 21Ensemble

  • 22 Heisam Abbas, Jannek Petri, Kim Schnitzer

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    Goethes Faust-Drama behandelt einen deutschen Stoff, der aus dem 16. Jahr-hundert stammt. Im Jahre 1587 ist er zum ersten Male literarisch hervorgetreten in dem Volksbuch, das der Frankfurter Verleger Spie herausgab. Es enthlt die Geschichte eines Mannes, der einen Bund mit dem Teufel macht; das ist ein mittelalterliches Motiv, das auch in den Geschichten von Simon Magus, Theophilus usw. vorkommt. Aber zu dem Teufelsbund-Motiv kommt hier etwas hinzu, was keine dieser anderen Sagen enthlt, etwas, was den Geist des 16. Jahrhunderts atmet und frher nicht mglich gewesen wre. Der Mann, der hier den Bund mit dem Teufel macht, hat sich frgenommen, die Elementa zu spekulieren. Es heit: Dem trachtet er Tag und Nacht nach, nhme an sich Adlerflgel, wollte alle Grund am Himmel und Erden erforschen ...

    Nicht also Gier nach Reichtum und Lebensgenuss treibt ihn, sondern Drang nach Erkenntnis. Und weil dieser Drang auf keinem anderen Wege zur Erfllung fhrt, verschreibt er sich dem, der ihm

    verspricht, seine Fragen zu beantworten. Wie kommt diese Problematik in das Volks-buch? Der engstirnig-unbeholfene Ver-fasser hatte sie nicht aus sich selbst. Er hatte sie aus einer geistigen Strmung, die durch das Jahrhundert zog, tief beunruhi-gend fr alle schwerflligen Geister (und auch fr ihn selbst); es ist der Erkennt-niswille des neuzeitlichen Menschen, der dem Diesseits neuen Wert verleiht. In Deutschland hatte er seine strkste Aus-prgung gefunden in Paracelsus.

    Die paracelsische Sehnsucht nach Er-kenntnis ist religis. Wenn man erkennt, wie der Gang der Gestirne geordnet ist, wie im Kosmos alles mit allem zusammen-hngt, wie der Mensch hineingefgt ist in die Gesetze des Lebens heit das nicht, Gottes Gedanken nachdenken? Paracel-sus anerkannte die christliche Lehre als Licht der Gnade, aber daneben sah er ein Licht der Natur, eine zweite Offenba-rung Gottes, die wir mit Sinnen und Geist im Anschauen der Welt zu erfassen fhig sind. Das war den an alte dogmatische Geistesbahnen gewohnten Kpfen seiner

    ZUM FAUST-STOFF

    MAGIE UNDWISSENSCHAFT

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    Zeit unheimlich. Sie hielten dieses umstr-zende Denken, das durch das Diesseits ins Ungemessene strebte, fr Irrlehre, fr teuflisch. Man dichtete Paracelsus an, er habe einen Teufel bei sich; er wurde zur Sagengestalt. Und in der Sage verschmolz dann das Erkenntnisstreben, das ihn und seine Schler belebte, mit einer anderen Gestalt, die ebenfalls zur Sage wurde: Johann Faust.

    Der geschichtliche Faust, von dem nur we-nige Lebenszeugnisse erhalten sind, war ein herumreisender Halbgelehrter, der sich mit marktschreierischem Zauberwesen und geschickten Horoskopen durchs Leben brachte. Er war im Anfang des 16. Jahr-hunderts lebend ein Zeitgenosse des Paracelsus, und nach seinem Tode wurde von ihm berichtet, er sei in Leipzig auf ei-nem Fass aus dem Wirtshaus geritten und habe in Erfurt den Studenten die Gestalten Homers leibhaftig vorgefhrt. Diese anek-dotischen Geschichten vermischten sich nun weil er den Zeitgenossen ebenfalls unbegreiflich, unheimlich war mit dem, was man von Paracelsus sprach. Und der paracelsische Geist hatte die Zukunft.

    Dass der Teufelsbndler bse sei, ist nach altem Glauben selbstverstndlich. Aber blickt man nicht nur auf den Pakt, sondern auf seine Ursachen, so ergibt sich die Frage: Diese Sehnsucht, sich zu erfllen im Begreifen der Welt ist sie denn bse? Hier liegt das tief Beunruhigende des Stoffes. Aber er fand keine geme dich-terische Gestaltung, bis Goethe ihn ergriff, denn zu meistern war er nur als Seelenbild des Suchenden, und solche psychologi-sche Dichtung schuf erst Goethe und seine Zeit. Die Dichtung des 16. und 17. Jahr-hunderts war sachgebundener, objektiver, sie blieb bei Anekdoten und Lebenslauf

    und Berichten ber naturphilosophische Spekulationen. Denkerisch wurde damals die Frage nach dem Wert des Erkennt-nisstrebens immer wieder gestellt. Ficino, Paracelsus, Bruno, Kepler, Leibniz sie alle wollten erkennen. Dass sie vom Kos-mos sprachen, war Geist der Renaissance, des Barock. Vom eigenen Innern zu spre-chen, war Geist der Goethezeit. Darum konnte erst jetzt der Fauststoff dichterisch gemeistert werden.

    Das Faustbuch von 1587 ist das Werk eines engherzigen protestantischen Sitteneiferers. Ohne Darstellungskunst vermischt es anekdotisch-schwankhafte Zge (z. B. zaubert Faust einem Adeligen ein Geweih auf den Kopf) mit salbadernden Ermahnungen, aber dazwischen klingt das Pansophische immer wieder durch: Faust wird Weltmensch, hilfreicher Arzt, sein Abfall von Gott wird verglichen mit dem der Titanen und der luziferischen Engel; er verbindet sich dem Geiste Mephosto-philes, um die Elementa zu spekulieren, und befragt diesen nach Hlle und Himmel, dem Lauf der Gestirne und nach astrolo-gischen Zusammenhngen. Als er einem feindlichen Adligen begegnet, zaubert er eine ganze Kriegsschar herbei und besiegt ihn mit dieser. Er kommt an den Hof des Kaisers und lsst auf dessen Wunsch antike Gestalten erscheinen, das gleiche tut er vor Studenten: er zeigt ihnen die griechische Helena. Spter erbittet er diese von Mephostophiles fr sich selbst und lebt mit ihr zusammen; sie haben einen Sohn, und dieses Kind erzhlt Faust viele zuknftige Dinge. Am Ende wird Faust von Reue geplagt. Seinem Famulus Wagener vermacht er Bcher und Vermgen. Der Teufel holt ihn, und zugleich verschwinden Helena und ihr Sohn. Diese Motive bilde-ten fortan den Kern der Faust-Volksbcher.

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    ins Schwankhafte hinein beibehalten.

    Marlowes Werk drang im 17. Jahrhundert nach Deutschland. Es gehrte zum Reper-toire der Wanderbhnen. Viele Auffh-rungen sind uns bezeugt. Das Faustdrama wurde zum Marionettenspiel, und dadurch wuchsen die Bhnenmglichkeiten der Geisterszenen und gaben zu deren Ausge-staltung Anlass. In dieser Form hat Goethe das Werk in seiner Jugend gesehen. In Dichtung und Wahrheit sagt er: Die bedeutende Puppenspielfabel ... klang und summte gar vieltnig in mir wider ...

    Gleichwie das Wesen der Neuzeit sich in Deutschland im 16. Jahrhundert anbahnte, im 18. durchsetzte, wurde die Faustsage im 16. Jahrhundert geschaffen und im 18. dichterisch durchdrungen. Dieser religi-s bewegte, erkenntnishungrige, durch die Mittel der weltlichen Wissenschaft strebende Mensch wre dem Mittelalter unfasslich gewesen. Er ist eine Schpfung der Neuzeit, entstanden aus dem geistigen Bereich eines Ficino, Paracelsus, Bruno und Kepler, zeitlich also zwischen 1480 und 1630, rumlich zwischen Florenz, Wittenberg und London.

    Hlt man Goethes Drama mit den lteren Stoffquellen zusammen, so ist man immer wieder erstaunt, wie sehr es in Bereiche fhrt, von denen jene Werke noch nicht das Geringste ahnen lassen. Aber nicht weniger erstaunlich ist, wie in dieser gro-en neuen Symbolwelt die Einzelmotive immer noch bis in Kleinigkeiten hinein auf jene Quellen zurckgehen und wie Goethe an ihnen mit einer Treue festhlt, die den groen Sinn und die bildhafte Kraft der alten Volksfabel liebevoll anerkennt.

    von Erich Trunz

    1599 arbeitete ein Schwabe, Georg Rudolf Widmann, es um, breit und philistrs. 1674 tat der Nrnberger Arzt Nikolaus Pfitzer das gleiche, stoffreicher, aber immer noch lehrhaft-eng. Auch dieses Buch hatte Erfolg, bis dann 1725 wiederum eine neue Fassung kam. Der Verfasser nennt sich einen Christlich Meinenden. Er lsst die barockbreiten Moralpredigten fort und be-schrnkt sich auf die Hauptzge der alten Geschichte. Der Geist heit jetzt Mephis-topheles. Ein kleines Motiv, das erstmalig bei Pfitzer, 1674, stand, wird auch von ihm nicht bergangen: Er verliebte sich auch in eine schne, doch arme Magd, welche bei einem Krmer in seiner Nachbarschaft diente.

    Dieses Bchlein wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder aufgelegt. Goethe hat es wohl frh kennengelernt. Es berlieferte ihm viele Motive der Faust-Fabel, aber von dem strmischen Gelehr-tengeiste, der in dem Buch von 1587 noch lebte, war in dieser Fassung kaum mehr etwas briggeblieben. Den lernte Goethe besser aus der zweiten Art der berliefe-rung kennen: dem Puppenspiel.

    Das deutsche Faustbuch von 1587 war rasch nach England gedrungen, wo der geniale junge Dramatiker Christopher Marlowe den Stoff ergriff. Sein Faust hat die Unerschrockenheit und Diesseitigkeit Shakespearescher Bsewichter: Die Geis-ter sollen ihm wunderbare Kriegsmaschi-nen liefern und die schnste aller Frauen. Er ist grenzenlos im Ergreifen des Lebens, als Magier will er ein irdischer Gott sein, und was danach kommt, kmmert ihn nicht. So hat Marlowe den Titanismus des Stoffes strker als alle seine Zeitgenossen entwickelt und hat zugleich die Motive des Volksbuchs zuweilen fast allzu sehr, bis

    Luis Quintana, Kim Schnitzer

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  • 28 Sven Daniel Bhler, Jannek Petri, Kim Schitzer

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    Schauspieldramaturg Roland Marzinow-ski im Gesprch mit Regisseur Michael Talke.

    Roland Marzinowski Goethes Faust ist der deutsche Klassiker schlechthin und hierzulande von den Spielplnen der Bhnen nicht wegzudenken. Du hast dich als Regisseur mit vielen groen Stoffen der Theatertradition beschftigt, der Faust fehlte bisher. Was waren deine ersten Ge-danken, als dir das STAATSTHEATER das Angebot zur Faust-Inszenierung machte?

    Michael Talke Mein erster Gedanke war: Ich sag das mal ab. Das ist so ein hochkomplexer Text, muss ich den jetzt machen? (lacht) Aber dann beschftigt man sich genauer mit diesem Stck und stt auf viele faszinierende und interes-sante Fragen, denen man gerne in einer Regiearbeit nachgehen mchte. Dabei war mir wichtig, Faust I aus der Gesamtpers-pektive zu verstehen. Fr mich sind beide Teile eng miteinander verklammert. Ohne

    die Lektre des zweiten Teils htte ich kein Ziel vor Augen gehabt. Ich brauche den Gesamtbogen, der mit dem gescheiter-ten Idealisten, der an die Grenzen seiner Erkenntnisfhigkeit gestoen ist, beginnt und mit dem aktiven Grounternehmer und Manager endet. Die Fragen, die ihn am Anfang qulen, bergeht er am Ende mit rastloser Ttigkeit. Mich interessiert der Werdegang von jemandem, der am Anfang zweifelt und der spter skrupellos seine Ziele durchsetzt, wie zum Beispiel den Bau des groen Staudammes, bei dem viele Menschen sterben. Aus dieser Perspektive scheint Faust im ersten Teil mit Mephisto ein Erziehungsprogramm zu durchlaufen, das ihn zu einem Menschen macht, der spter in der Lage ist, solche monstrsen Taten zu begehen. Und die Gretchenhandlung kann man dann wie einen Prozess lesen, in dem Faust lernt, sich gegen seine Gefhle, u. a. gegen die romantische Liebe zu behaupten. Und dieses Abtten von Mitgefhl, bzw. die Be-herrschung von Gefhlen, wird ihm fr sein

    ZUR INSZENIERUNG

    PATHOSGROTESKEUND

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    weiteres Leben sehr hilfreich sein. Er be-kennt sich zu seinem Ego und negiert ein menschliches Miteinander. Denn gerade das zeichnet ihn ja zu Beginn aus, wenn er davon erzhlt, wie er versuchte, Kranken zu helfen und Gutes zu bewirken.

    R. M. Die Gretchenhandlung ist eine Stati-on dieser Selbstermchtigung mit fatalen Folgen fr die junge Frau. Wie kommt man aus der Falle, Gretchen nur als Opfer von mnnlicher Begierde zu begreifen?

    M. T. Faust ist kein Text von heute, auch wenn viele Fragen, die dort aufgeworfen werden, gegenwrtig und allgemeingltig anmuten. Man merkt jedem Satz an, dass er vor ber 200 Jahren geschrieben wur-de. Der Reiz in der Auseinandersetzung besteht darin, dass er in eine Spannung mit unserer Gegenwart gert. Interessant ist die historische Differenz, nicht die Behauptung, das Stck als heutig auszu-geben. Es geht um diese Pole. Was war damals und was ist heute daraus gewor-den. Gretchen erscheint erstmal als eine rein auf den Opferstatus reduzierte Figur, und das ist fr uns heute natrlich proble-matisch, weil sie so gar kein positives Rol-lenmodell liefert. Sie ist ganz Gefhl und Unschuld und extrem stark einem fr uns inzwischen obsolet gewordenen Frauen-ideal des 18. Jahrhunderts verhaftet. Ich vermisse einen eigenen Standpunkt, eine eigene Meinung und Widerstandskraft. Unsere Suche war also, in dieser Figur Anstze von Selbstbewusstsein einer jungen Frau von heute zu finden und diese unbedingt zu strken. Gibt es diese ber-haupt? Negiert man z. B. in der Kerkersze-ne die Tatsache, dass sie verrckt ist, so rechnet sie doch sehr klar und deutlich mit dem Mann ab, der sie so bel getuscht hat. Diese Kraft galt es zu finden und ber

    die Goethesche Anlage der Figur hinaus zu verstrken. Uns ging es um beides, das Frauenbild Goethes erst einmal auf die Bhne zu bringen und dann die Figur Stck fr Stck daraus zu entlassen. Dabei hilft das Kostmbild natrlich enorm. Friedrich Wilhelm Murnaus Faust-Stummfilm von 1926 beispielsweise liefert ein geradezu archetypisches Gretchenbild. Camilla Horn mit ihren Zpfen und dem Opferblick sieht aus, wie sich unser kulturelles Gedchtnis Goethes Gretchen vorstellt. Man kann mit diesem Bild starten, aber im Probenpro-zess und in der Auffhrung spter muss man sie dann natrlich aus dieser Festle-gung befreien. Es geht um ein Wechsel-spiel zwischen literarischer Vorlage und unserer heutigen Betrachtung der Figur.

    R. M. Deine Inszenierung zitiert immer wieder Elemente, die an den deutschen Stummfilm des Expressionismus erinnern. Was interessiert dich an dieser sthetik und wie setzt du sie fr die Bhne um?

    M. T. Schon allein durch die Sprache sprt man, dass es sich bei Faust um einen lngst vergangenen Text von Goethe han-delt. Und das reizt mich, mich auch thea-traler Mittel zu bedienen, die ganz offen-sichtlich aus einer anderen Zeit stammen. Ich meine Zitate, die eine Differenz dazu aufzeigen, wie wir heute blicherweise Theater machen. Der expressionistische Stummfilm zeigt sehr anschaulich, wie fr-her Theater gespielt wurde, und berstei-gert dieses noch. Denn das aufkeimende Kino holte sich vom Theater die Anregun-gen, um seinen Figuren, wenn auch ohne Sprache, Ausdruck verleihen zu knnen. Im Theater standen die Schauspieler zu dieser Zeit mit groen Gesten und viel Pathos an der Rampe und schleuderten ih-ren Text in den Zuschauerraum. Wenn ich

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    heute auf diese Mittel zurckgreife, dann wegen der Reibung, die sich zwangslufig einstellt. Jeder im Zuschauerraum sprt sofort das Zitat, so fremd ist uns dieser Darstellungsstil geworden. Und doch ist es wunderbar, die Sprache Goethes in dieser Fremdheit wahrzunehmen. Sie ist einfach besser zu verstehen, als wenn wir uns darum bemhen, sie wie die eines realisti-schen Stckes unserer Tage zu behandeln. Apropos Realismus: Goethes Faust ist kein realistischer Text. Auf der Handlungsebe-ne finden irrsinnige Dinge statt: Geister treten auf, ein Pudel verwandelt sich in eine Menschengestalt, aus einem alten wird ein junger Mann, Engel fliegen durch die Lfte, der Teufel erscheint, Hexen ... Das sind theatrale Vorgnge, die man nicht realistisch wie im Tatort darstellen kann. Da hat man als Regisseur eigentlich nur zwei Mglichkeiten: Entweder man zieht sich auf die Sprache zurck und lsst das unglaubwrdige Geschehen nur durch die sprachliche Beschreibung im Kopf des Zuschauers entstehen oder man findet eine bersetzung, die es als das zeigt, was es ist: Theater. Und das habe ich mit der sthetik des Stummfilmes oder sagen wir besser mit Hilfe einer expressiven theatralen bersteigerung versucht. Ein weiteres Element ist die Bhnenmusik, die Johannes Mittl auf den Proben am Klavier entwickelt hat und die ganz bewusst die Charakteristik und Klanglichkeit von Stummfilm-Begleitmusik aufnimmt.

    R. M. Zu Beginn des Stckes verteilst du Fausts Texte auf mehrere Schauspie-ler. Was ist der Grund fr das chorische Prinzip?

    M. T. Beim Lesen der Gelehrtenhand-lung, die sich vom Rest des Stckes stark unterscheidet, hatte ich den Eindruck,

    dass es sich um einen inneren Monolog handelt. Erlebt Faust das Beschriebene tatschlich real oder ist er so von der Welt abgewandt, dass er alles nur in seiner Vor-stellung erlebt? Ein Fiebertraum? Ebenso auffllig ist, dass alle Figuren, die in der Gelehrtenhandlung auftauchen, wenig Eigenleben haben und vor allem dazu dienen, die Hauptfigur zu charakterisie-ren. Von daher liegt die Vorstellung nahe, dass alles nur im Kopf stattfindet, wo ein Gedanke den anderen jagt. Auch Mephisto kann wie eine Abspaltung der Faustschen Seele verstanden werden. Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Lange vor Freud schreibt Goethe eine psychoana-lytische Studie eines getriebenen, eines manischen Menschen, der mit sich selbst im Dialog steht.

    R. M. In diesem Kontext ist auch interes-sant, dass du die Zueignung zu Stckbe-ginn sprechen lsst ...

    M. T. Stimmt. Das dreht die Frage nach dem inneren Monolog in der Gelehrten-handlung noch um eine Spirale weiter. Wer spricht eigentlich in der Zueignung? Ist das Faust, der am Ende seines Lebens sein Leben vorbeiziehen lsst? Hat der Schrift-steller Goethe sich selber in das Stck ein-geschrieben? Das Werk beginnt also mit dem Wechselspiel von Urheberschaften.

    R. M. Das Bhnenbild von Barbara Steiner besteht hauptschlich aus einem berdi-mensionierten Detail aus einem Bild von Roy Lichtenstein. Wir sehen in ein Gesicht einer blonden jungen Frau, in deren Augen sich Trnen bilden.

    M. T. Vom Modell der Opferheroine aus dem 18. Jahrhundert, das literatur-geschichtlich bis ins 20. Jahrhundert

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    hineinreicht, haben wir ja schon gespro-chen. Das junge Mdchen mit blonden Zpfen, das sexuell begehrt wird und deswegen sterben muss, fliet geradezu ikonografisch in Lichtensteins Gemlde ein. Das Bild, im Stil eines gedruckten Comics gemalt, versucht die industrielle und damit kommerzielle Produktion der Comics zu kopieren und spielt, wie Pop Art berhaupt, mit der Entwertung von Kunst und Aura in der Massenkultur. In diesem Kontext erscheint Goethes Gretchen wie ein Stereotyp, das uns immer noch prgt, aber keine Kraft mehr hat, da es seelenlos geworden ist wie eine Werbebotschaft. Eigentlich ist das Bhnenbild nicht viel mehr als eine markierte Spielflche. Es verweigert Illusion. Letztendlich nimmt das Bhnenbild damit das Modellhafte des Stckes auf: Die Figuren im Faust erklren den Zuschauern ja immer ganz deutlich, was in ihnen vorgeht, was sie denken und wo sie sich gerade befinden. Man fragt sich: Ist der Faust denn wirklich ein Stck oder ist er nicht eher philosophi-scher Essay mit verteilten Rollen?

    R. M. Die Kostme von Inge Medert erinnern in ihrer Silhouette eher an die Goethezeit. Sie scheinen wie im Kontrast zur sthetik des Lichtenstein-Gemldes zu stehen.

    M. T. Ja, die Zeitebenen flieen ineinan-der, wie schon bei Goethe. Goethe selbst schreibt ein Stck ber das 18. Jahrhun-dert, aber lsst es im spten Mittelalter spielen. Wir fgen eine weitere Zeitebene nmlich unsere hinzu. Die Zeit aus der wir das Stck lesen und erleben. Die Kos-tme spielen erstmal wie schon gesagt mit Bildern, die wir von den Figuren in uns tragen. Der alte Mann in der Studierstube: langes, weies Haar. Bart. Gotthnlich.

    Das unschuldige blonde Mdchen: Zpfe. Die rothaarige Kupplerin. Diese Verklei-dung mag zu Beginn etwas holzschnittar-tig und grob wirken, vielleicht denkt sogar der eine oder andere Zuschauer an die Puppenspiel-Herkunft des Stoffes. Aber nach und nach lst sich die Schminke auf, die Percken sitzen nicht mehr richtig und es wird immer unwichtiger, welches Kostm die Schauspieler eigentlich tragen. Hinter der brckelnden Fassade wird der Mensch sicht- und erkennbar. Er kann sich nicht mehr hinter uerlich-keiten verstecken. Aber noch ein anderer Gedanke ist mir wichtig: All die Mittel, die wir benutzen, vom Kostm, ber die Bh-ne, ber den expressiven Spielstil bis zur musikalischen Gestaltung, haben etwas Groteskes.

    R. M. Warum?

    M. T. Das, was dem Gretchen widerfhrt, hat groteske Zge. Die Art und Weise, wie Goethe die Gesellschaft beschreibt, vor allem, wenn Gretchens Martyrium losgeht, kann man nicht anders bezeichnen. Wie in einem Zerrspiegel wird bis zum Monst-rsen gemobbt, gemordet und gestorben. Ein Horrorfilm knnte sich diese Jung-frauenschndung nicht besser ausden-ken. Es wirkt ungeheuer bersteigert auf mich. Den Hhepunkt in diesem Reigen bilden die Walpurgisnacht und Gretchens Kerkerszene. Am Ende des Stckes liegen vier Leichen auf der Bhne. Neudeutsch spricht man heute viel vom weien alten Mann und meint damit die gegenwr-tige herrschende Machtelite. Weibliche Ausnahmen besttigen die Regel. Goethes Faust ist neben vielem anderen eine Er-zhlung ber diesen weien alten Mann. Man knnte sagen, das Stck erzhlt von der Entstehung dieser Spezies.

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    MICHAEL TALKE Regie

    Michael Talke, 1965 in Mainz geboren, studierte Geschichte, Neue Literatur und Theaterwissenschaft in Mnchen. Von 1992 bis 1996 war er Regieassistent an der Volksbhne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, wo er mit Frank Castorf, Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und Andreas Kriegenburg zusammenarbeitete. Seit 1996 arbeitet er als freier Regisseur fr Schauspiel und Oper. Engagements fhrten ihn an das Deutsche Theater Ber-lin, Theater Luzern, Schauspiel Hannover, Thalia Theater Hamburg, Schauspiel Kln, Schauspiel Dsseldorf, Staatstheater Saarbrcken, Theater Aachen, Deutsches Nationaltheater Weimar, Staatstheater Braunschweig, Schauspiel Leipzig und an das Theater Bremen. Seit 2010 hat er eine Gastprofessur am Mozarteum in Salzburg in der Abteilung Schauspiel und Regie. Mit Faust ist zum ersten Mal eine Regiearbeit von Michael Talke am STAATSTHEATER zu sehen.

    BARBARA STEINER Bhne

    Barbara Steiner absolvierte ihr Bhnen- und Kostmbildstudium am Mozarteum in Salzburg. Im Anschluss daran war sie von 1992 bis 1997 Bhnenbildassistentin an der Volksbhne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Seit 1997 arbeitet sie freischaffend an vielen Theaterhusern im deutschspra-chigen Raum. Ihre Engagements fhrten sie nach Berlin, Graz, Luzern, Wiesbaden, Hannover, Konstanz, Bremen, Kln, Ds-seldorf, Leipzig, Aachen und Zrich. Sie entwarf Bhnenbilder fr Inszenierungen von Georg Schmiedleitner, Karin Henkel, Jorinde Drse, Sebastian Baumgarten, Ren Pollesch und anderen. Mit Michael Talke verbindet sie eine 15-jhrige Zusam-menarbeit.

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    INGE MEDERT Kostm

    Inge Medert begann ihre Theaterlauf-bahn 1988 als Kostmassistentin am Staatstheater Darmstadt. Whrend ihrer Assistenz arbeitete sie dort bereits als Kostmbildnerin im Schauspiel und Ballett. Seit 1993 arbeitet sie als freie Kostmbild-nerin an verschiedenen Theaterhusern in Deutschland sowie in der Schweiz und sterreich. Mit der Regisseurin Dagmar Schlingmann verbindet sie seit 1994 eine intensive Zusammenarbeit. 2013 war die Oper Rigoletto in der Vlklinger Htte und Tosca in Saarbrcken als gemeinsame Ar-beit zu sehen. Mit dem Regisseur Michael Talke erarbeitete sie Kleiner Mann was nun? und Der goldene Drache in Saar-brcken sowie Der Barbier von Sevilla in Braunschweig.

    JOHANNES MITTL Musik

    Johannes Mittl, geboren 1984 in Starn-berg, arbeitete schon whrend seines Studiums an der Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst Stuttgart als Pianist, Klavierpdagoge und Chorleiter. Seine erste Theaterproduktion fhrte ihn 2011 an das STAATSTHEATER KARLSRUHE, wo er als Keyboarder in Du musst dein Leben ndern in der Regie von Patrick Wengenroth mitspielte. Es folgten weitere Produktionen am Stadttheater Heilbronn, am Stadttheater Ingolstadt, dem JES in Stuttgart und dem Theater und Orchester Heidelberg. Am STAATSTHEATER wirkte er darber hinaus in Dinner for one mit Songs sowie in Patrick Wengenroths Inszenierungen Mnnerphantasien und Angriff auf die Freiheit mit. Auerdem produzierte er mit Nikodemus Gollnau die Musik zur Urauffhrung von Irgendwann in der Nacht von Etel Adnan.

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    HEISAM ABBAS Mephisto 1986 in Karlsruhe geboren, studierte er von 2008 bis 2012 an der Hoch-schule fr Musik und Theater Rostock. Nach einem Erstengagement am Wuppertaler Schauspiel wechselte er ans Dsseldorfer Schauspielhaus, bevor er 2016 ans STAATSTHEATER kam. Zu sehen ist er als Lars Koch in Terror, St. Just in Dantons Tod und Dunois in Die Jungfrau von Orleans.

    JANNEK PETRI FaustNach dem Studium an der Hochschule fr Schauspielkunst Ernst Busch Berlin war er erstmals von 2002 bis 2006 in Karlsruhe engagiert. Danach arbeitete er u. a. in Zrich, Braunschweig und am Deutschen Theater Berlin. Seit 2014 ist er wieder festes Ensemblemitglied und spielt in Die Goldberg-Variationen und in Die Jungfrau von Orleans.

    KIM SCHNITZER Gretchen Kim Schnitzer schloss 2017 ihr Schauspielstudium an der Ernst Busch in Berlin ab. Sie war in mehreren Film- und Kinoproduktionen zu sehen. An der Volksbhne Berlin spielte sie in Sommergste und in Lear. Seit der Spielzeit 2017/18 ist Kim Schnitzer festes Ensemblemitglied des STAATSTHEATERS. Ihr Debt gab sie in der Studioproduktion Karnickel.

    SVEN DANIEL BHLER Wagner / Gretchens Mutter Nach seinem Schauspielstudium in Hannover sammelte er am Studio-theater Hannover und am Oldenburgischen Staatstheater erste Bhnenerfahrungen. Seit der Spielzeit 2015/16 ist er fest am STAATS-THEATER und momentan in Die Goldberg-Variationen, Antigone und Karnickel zu sehen, wo er auch die musikalische Leitung bernahm.

    LISA SCHLEGEL Marthe SchwerdtleinLisa Schlegel studierte Schauspiel in Wien und spielte dort am Burg-theater. Es folgten Engagements in Wilhelmshaven und Tbingen, bevor sie 2002 nach Karlsruhe kam. Hier ist sie zurzeit in Das Abschiedsdinner, Der Krppel von Inishmaan, Angriff auf die Freiheit und Karnickel zu sehen.

    LUIS QUINTANA Valentin Luis Quintana wurde 1988 in Berlin geboren und studierte nach einer handwerklichen Lehre Schauspiel an der Hochschule fr Musik und Theater in Rostock. Seit der Spielzeit 2014/15 ist er fest im Karlsruher Ensemble und spielt in Dantons Tod, Antigone und in Der goldne Topf die Hauptfigur Anselmus.

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    MEIK VAN SEVEREN Der Herr / Die Hexe / Lieschen1992 in Hannover geboren, studierte er Schauspiel an der Universitt der Knste Berlin. Whrend des Studiums spielte er in Potsdam und in Dres-den. Seit der Spielzeit 2016/17 ist Meik van Severen fest in Karlsruhe und in Die Goldberg-Variationen, Antigone, Die Jungfrau von Orleans und in der Titelrolle in Der Krppel von Inishmaan zu sehen.

    ROLAND MARZINOWSKI DramaturgieRoland Marzinowski studierte Publizistik, Kultur- und Theaterwissen-schaft in Leipzig und Berlin. Danach war er am Deutschen Theater Gt-tingen als Regieassistent engagiert. Ab 2009 arbeitete er als Dramaturg am Theater Augsburg und wechselte 2012 als Leitender Schauspieldra-maturg ans Mainfranken Theater Wrzburg. Seit der Spielzeit 2016/17 ist er am STAATSTHEATER.

    ES IST ZU TOLL, SOGAR FR MEINESGLEICHEN

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    BILDNACHWEISE

    UMSCHLAG Felix GrnschloSZENENFOTOS Felix GrnschloPORTRTS Ariel Oscar Greith, Felix Grnschlo, Falk von Traubenberg

    IMPRESSUM

    HERAUSGEBER STAATSTHEATER KARLSRUHE

    GENERALINTENDANT Peter Spuhler

    KAUFMNNISCHER DIREKTORJohannes Graf-Hauber

    VERWALTUNGSDIREKTOR Michael Obermeier

    SCHAUSPIELDIREKTOR Axel Preu

    CHEFDRAMATURGJan Linders

    REDAKTIONRoland Marzinowski

    KONZEPT DOUBLE STANDARDS BERLIN www.doublestandards.net

    GESTALTUNG Kristina Schwarz

    DRUCK medialogik GmbH, Karlsruhe

    BADISCHES STAATSTHEATER KARLSRUHE 2017/18Programmheft Nr. 400www.staatstheater.karlsruhe.de

    TEXTNACHWEISE

    Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen Werk Wirkung. Mnchen 2011.

    Erich Trunz (Hrsg.): Goethe. Werke, Kom-mentare und Register. Band 3 der Ham-burger Ausgabe. Mnchen 1999.

    Aus Grnden der besseren Lesbarkeit sind Krzungen im Text nicht kenntlich gemacht.

    Alle brigen Texte sind Originalbeitrge von Roland Marzinowski fr dieses Heft.

    HEINRICH! MIR GRAUTS VOR DIR.

  • Jannek Petri, Kim Schitzer

  • DER KLEINE GOTT DER WELT BLEIBT STETS VON GLEICHEM SCHLAG, UND IST SO WUNDERLICH ALS WIE AM ERSTEN TAG