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Hartmut von Sass (Hg.)

PerspektivismusNeue Beiträge aus der Erkenntnistheorie,Hermeneutik und Ethik

Meiner

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Hartmut von SassPerspektiven auf die Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Standortgebundenheit. Zum epistemischenPerspektivismus

Markus WildNietzsches Perspektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Niko StrobachRealität und Metaphorik der Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Holm TetensDie Wahrheit ist nicht relativ, aber die Welt ist aspektisch . . . 77

II. So – und anders verstehen. HermeneutischerPerspektivismus

David WebermanHermeneutischer Perspektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Andreas MauzEins, zwei, viele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Johanna BreidenbachDas Gebet als Perspektivenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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III. Konflikte und Dilemmata. Perspektivismus ausethischer Sicht

Véronique ZanettiMoralische Dilemmata, schmutzige Hände und Kompromisse 185

Anton LeistWertepluralismus als offenes Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Christine AbbtMit anderen Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Dieter ThomäPerspektivismus und politische Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Angaben zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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Vorwort

Die hier versammelten Beiträge gehen auf eine dreiteilige Ver-anstaltungsreihe zum Perspektivismus zurück, die im akade-

mischen Jahr 2016/17 am Zürcher Ludwik-Fleck-Zentrum für Wis-senschaftsphilosophie stattgefunden hat. Der Aufbau des Bandesspiegelt den Aufbau dieser Reihe, die zunächst erkenntnistheoreti-schen Fragen, sodann hermeneutischen Problemen und schließlichmoralphilosophischen Themen gewidmet gewesen war. Diese un-terschiedlichen Perspektiven auf die Perspektive in drei Abschnittenzu behandeln schließt selbstverständlich weder aus, dass es weitere,hier oft nur angedeutete Perspektiven auf das Thema gibt, noch dassjene divergenten Zugänge nicht zahlreiche Allianzen miteinandereingingen.

Ich freue mich, dass alle Vortragenden ihre Texte im Lichte der ge-meinsamen Diskussion noch einmal betrachtet haben, sodass dervorliegende Band nicht nur eine Sammlung isolierter Beiträge ge-blieben ist, sondern von den gemeinsamen Gesprächen wirklichprofitieren konnte. Mein Dank geht vor allem an Marcel Simon-Gadhof vom Felix Meiner Verlag für sein Interesse an diesem kleinenProjekt und für die sehr gute Zusammenarbeit.

Zürich, im Herbst 2018 Hartmut von Sass

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Hartmut von Sass

Perspektiven auf die PerspektiveEine Einleitung

Warming up: Alles eine Frage der Perspektive?

Man wird diese Frage wohl bejahen müssen, solange man in denSprachspielen des Optischen verbleibt – sei es im Blick (sic!) auf diealltägliche Wahrnehmung, sei es in der Betrachtung von Gemäldenoder gar in deren Hervorbringung. »Keine Perspektive« (mehr) zuhaben, deutet nicht nur auf das Schwinden der Hoffnung im ge-wöhnlichen Leben, sondern auch auf die Ratlosigkeit, wie jener Zu-stand denn überwunden werden könnte; aber selbst das bleibt per-spektivisch.Unddie Perspektive zu leugnen,wennmanalsMaler oderKunstliebhaber (oder beides zugleich) vor einem Bild steht, verrietenur die fehlende Einsicht (sic!) in die eigene Standortgebundenheit,ob nun in einer Zentralperspektive oder mit anderen Modi perspek-tivischer Darstellung.

Schon an dieser kleinen Skizze aus zwei exemplarischen Feldern,Alltag undKunst, sieht (sic!) man, wie sehr unsere Sprache von jenenoptischen Wendungen durchzogen ist: Blick, Einsicht, Sehen. Undmit ihnen ist die Perspektive schon immer mitgesetzt, sei es als Formder Ermöglichung, überhaupt etwas zu erkennen, sei es im Bedauerndarüber, aus dem perspektivischen Rahmen nicht herauszukommen,um in ein Jenseits der Gebundenheit an jenen unsichtbaren Begleiterzu gelangen: the view from nowhere! Aber auch das bleibt ja eine –utopische – Perspektive.

Nun haben diese optischen Wendungen auch in ganz andere Be-reiche Eingang gefunden, sodass sie unsere epistemischen Einstel-lungen, unsere Weisen des Verstehens, aber auch die Vielfalt unserermoralischen Urteile zu artikulieren helfen. Während das perspekti-vische Element im Erkennen noch nahe an der alltäglichen Rede vonder Allgegenwart der Perspektive bzw. dem künstlerischen Interesse

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oder Ausdruck verbleibt,1 entfernen wir uns von diesemHintergrundspätestens, wenn es um hermeneutische und moralische Perspekti-ven geht. Hier wird der metaphorische Charakter jener optischenSprachspiele deutlich, sowohl ihr Mehrwert, aber auch ihre Limitie-rungen; denn offenbar ist imErkennen, Verstehen undHandelnnichtalles eine Frage der Perspektive. Die optischen Metaphern führen ihrEigenleben, das vieles sichtbarwerden lässt, was erklärt, warumwir sieüberhaupt verwenden; das aber auch Verwirrungen stiften kann,wodurch nur noch einmal deutlicher wird, dass es sich eben ummetaphorische Übertragungen, nicht um »reine Beschreibungen«handelt.

Nun soll es im vorliegenden Band genau um jenes perspektivischeElement in Bezug auf epistemische, hermeneutische und moralischsignifikante Kontexte und Arrangements gehen. Wie steht es um dasTrio von Standort, Gegenstand und Horizont? – eine Dreifaltigkeit,die durch die Perspektive zusammengehalten wird, sofern jemandüber eine Perspektive auf etwas in einem konkreten Kontext verfügt.Wie kommen unterschiedliche Perspektiven des Verstehens von et-was zustande und wie verhalten sie sich zueinander? – eine Frage, dieerst durch die Erfahrung, etwas so und zuweilen auch anders verste-hen zu können oder gar zu müssen, akut wird. Und wie verarbeitenwir die divergenten, zuweilen inkompatiblen Normen, Urteile undEmpfindungen hinsichtlich moralischer Herausforderungen? – einProblem, das insbesondere bei moralischen Dilemmata virulent wird.In allen drei Kontexten – Erkennen, Verstehen und Handeln – tau-chen Perspektiven auf; für ihre Beschreibung bedienen wir uns op-tischer Metaphern inklusive der ›Perspektive‹; und in jedem dieserBereiche berühren wir zugleich die Grenzen des Metaphorischen,indem auch die Perspektiven etwas Nicht-Perspektivisches freilegenwerden. Also, alles eine Frage der Perspektive? Das mag oft und auchfür diese Frage selbst zutreffen – und doch lautet die Antwort: nein!

1 Vgl. Hans Blumenberg, »Die Metaphorik der ›mächtigen‹ Wahrheit«, in:ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, 14–22.

10 Hartmut von Sass

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Eine exemplarische Szene

Dass nicht alles eine Frage der Perspektive ist, heißt zugleich, dassgenau dies oftmals der Fall ist. Hier eine kleine Szene, die deutlichmacht, von welchen Szenarien ein Perspektivismus seinen Ausgangnimmt. Stellen wir uns drei Personen vor, die vor einem Gemälde ineiner Galerie stehen. Die erste Person sei eine Vertreterin von Sot-heby’s, die den Wert des Bildes abzuschätzen versucht. Die zweitePerson sei eine Kunstliebhaberin, die sich am Gemälde erfreut. Undschließlich gibt es eine Chemikerin, die vor dem Bild steht und es aufsein Material und dessen stoffliche Zusammensetzung prüft. DreiPersonen – ein Gegenstand; und drei Weisen, sich auf diesen zubeziehen: monetär, ästhetisch und chemisch.

Das Gemälde lässt diese Perspektiven auf sich zu; metaphorischkönnteman auch sagen: Es entbindet sie oder setzt sie aus sich herausund frei. Diese und mögliche weitere Perspektiven reichern unserWissen über das Gemälde und unsere Einstellungen zu ihm an, ohnedurch Addition zu einer ›vollständigen‹ Beschreibung führen zumüssen. Zudem sind die drei skizzierten Zugänge nicht nur mitein-ander vereinbar und enthalten keinerlei Spannungen zueinander,sondern sie sind auch aufeinander irreduzibel. Aus der monetärenBewertung des Bildes ergibt sich nicht dessen ästhetischer Wert undschon gar keine chemische Auskunft. Diese materiale Dimensionwiederum terminiert nichts Materielles und schon gar nichts Ästhe-tisches – usw.2

Jenes Szenario kann man weiter ausbauen bzw. man kann ihmnoch zusätzlicheWendungen geben. So ließe sich eine weitere Persondenken, die für Sotheby’s Konkurrenz arbeitet und zu einem ganzanderen Ergebnis kommt als die Kollegin aus London. Auch hierdürfte von zwei Perspektiven die Rede sein, allerdings sind sie geradeauf Grund derselbenHinsicht, demMonetären, unvereinbar, weil nureine der beidenMarklerinnen recht haben kann.Darüber hinaus ließe

2 Allerdings muss man eine Einschränkung vornehmen: Zwar ist es richtig,dass die drei Perspektiven aufeinander irreduzibel sind, aber das heißt nicht, dasssie in jedem Fall voneinander ganz unabhängig bleiben. So kann etwa die Ver-wendung von Gold den Wert des Bildes erheblich steigern, sodass die chemischeZusammensetzung durchaus die Vertreterin von Sotheby’s interessieren dürfte.

Perspektiven auf die Perspektive 11

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sich ein quasi-naturalistisches Manöver vortragen, das analog zurReduktion aller Beschreibungen auf naturalistische, ggf. gar physi-kalistische Sätze alle ästhetischen Wertungen auf chemische Faktenoder geldwerte Leistungen zurückführen wollte. Darin läge der zwaraus meiner Sicht unplausible, aber immerhin denkbare Versuch, dieIrreduzibilität der Perspektiven doch noch aufzulösen, indem sie aufeine grundlegende Deskription zurückgeführt werden.3 Und zuletztließe sich das Szenario in einem ganz anderen Punkt abwandeln,sodass unsere drei Freundinnen, die Vertreterin von Sotheby’s, dieKunstliebhaberin und die Chemikerin in Wahrheit nicht drei Indi-viduen sind, sondern ein und dieselbe Person. Nichts spricht imvorliegenden Fall gegenmultiple Karrieren und ganz unterschiedlicheInteressensgebiete.

Mit Szenen wie dieser lässt sich die Vielfalt der Perspektiven undihr Bezug zueinander zwar erläutern.Die Frage stellt sich aber nun, obBeispiele wie das vorliegende zu einer eigenständigen Position – ei-nem Perspektivismus – fortgeschrieben werden könnten.4

Perspektive und Perspektivismus

Eine Perspektive zu haben, ist eines; sich ihrer bewusst zu sein, einanderes. Erst in diesem zweiten Fall kann von einer lebensweltlichenund zuweilen gar theoretischen Einstellung gesprochen werden.5Vondieser doppelten Perspektive, der faktischen und der reflektierten, istnoch einmal die Lehre von der Perspektive zu unterscheiden. Zwar ist

3 Zur vorsichtigen Kritik derartiger Reduktionen siehe Holm Tetens, »Dergemäßigte Naturalismus der Wissenschaften«, in: Naturalismus. PhilosophischeBeiträge, hrsg. von Geert Keil und Herbert Schnädelbach, Frankfurt a.M. 2000,273–288.

4 Einen Ansatz dazu bietet die ›Philosophie der Orientierung‹, wie sie imAnschluss an Kant und Nietzsche von Werner Stegmaier vorgelegt worden ist;siehe »›Was heißt: Sich imDenken orientieren‹: ZurMöglichkeit philosophischerWeltorientierung nach Kant«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17:1(1992), 1–16; ders., Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, bes.Kap. 6.

5 Siehe zur Perspektive als Methode und als Einstellung Paul Feyerabend,Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1986, 349.

12 Hartmut von Sass

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die Rede vom Perspektivismus nicht ungebräuchlich, hat aber nurzögerlich Eingang in den Begriffshaushalt der (gegenwärtigen) Phi-losophie gefunden und ist letztlich ein marginales Etikett geblieben.6

Dies lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen sind Pro-bleme, die im Perspektivismus als einem theoretischen Lehrstückverhandelt werden, in einem anderen, weitaus prominenteren Ismusbeheimatet, dem Realismus. Fragen der Standortgebundenheit, dersprachlichen und kulturellen Hintergründe von Sichtweisen, Über-zeugungen oder propositionalen Einstellungen, aber auch der gene-rellen Relativität unseres Wirklichkeitbezugs tragen nun einmal dasrealistische Label oder seine entsprechenden Gegenbesetzungen wieNicht-, Anti- oder Quasi-Realismus. Insofern ist der Perspektivismusals Bezeichnung für eine eigenständige Position entweder verdrängtoder in einen größeren thematischen Zusammenhang als dessenImplikation oder Subprojekt integriert worden.7 Zum anderen magdieMarginalisierungdes PerspektivismusderNähe zu relativistischenPositionen geschuldet sein, sodass ungute Konnotationen wie Belie-bigkeit oder der Mangel an ernsthaftem Realitätssinn eben jene Po-sition diskreditierten.

Diese zweite Erwägung ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Be-kanntlich hat sich Friedrich Nietzsche als einer der wenigen desPerspektivismus als Label bedient und in seinerGenealogie der Moralein entsprechendes Programm lanciert:

»Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Er-kennen‹; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommenlassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sacheeinzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sa-che, unsre ›Objektivität‹ sein.DenWillen aber überhaupt eliminiren, die

6 Beispiele für die wenigen Ausnahmen: Friedrich Kaulbach, Philosophie desPerspektivismus: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Tü-bingen 1990; Volker Gerhardt und Norbert Herold (Hrsg.), Perspektiven desPerspektivismus, Würzburg 1992; Ronald N. Giere, Scientific perspectivism, Chi-cago 2006.

7 Allerdings gibt es auch terminologische Kreuzungen wie ›perspektivischerRealismus‹. Dies ist ein gegenwärtiges Forschungsprojekt an der Universität inEdinburgh: Perspectival Realism: Science, Knowledge, and Truth From a HumanVantage Point ; siehe deren Homepage: http://www.perspectivalrealism.org.

Perspektiven auf die Perspektive 13

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Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies ver-möchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castriren? (…)«8

Die hier behauptete Exklusivität perspektivischen Sehens und Er-kennens ist häufig als anti-realistisches Manifest verstanden worden,wobei diese Lesart mit Verweis auf Nietzsches Absage an einen halt-baren Begriff derWahrheit – die eben nur ein »bewegliches Heer vonMetaphern« sei9 – gestützt wird. Es mag bei der Reserve gegenüberdem Perspektivismus als einer philosophischen Selbstbeschreibungeine Rolle gespielt haben, einer Allianz mit Nietzsches (angeblicher?)Laissez-faire-Haltung aus dem Weg zu gehen.10

So ist es nicht überraschend, dass eine positive Rezeption Nietz-sches als dem Philosophen des Perspektivismus stetsmit einer Absagean überzogene Relativismen einhergeht. Im Anschluss an Nietzscheund Michel Foucault (und deren Begriff der Genealogie) hält etwaRaymond Geuss fest, dass beide Autoren Wissen und Erkenntnisnicht als System verstünden, sondern als ein »Gesichtsfeld desMenschen«11. Geuss fährt fort:

»Die natürliche Epistemologie, die sichmit der Genealogie verbindet, isteine FormdesPerspektivismus.Dieser Perspektivismus ist keine Spielartdes Relativismus (…). Der Perspektivismus ist die Auffassung, dass sichdie Geschichte unserer Gegenwart unendlich rückläufig erstreckt, dasssich aber das uns mögliche geistige Erfassen dieser Vergangenheitschließlich auf dieselbe Weise verliert.«12

8 Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral III 12, in: Kritische Studienaus-gabe, hrsg. von Giorgio Colli undMazzino Montinari, München/New York 1999,Band 5, 364.

9 »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in: Kritische Stu-dienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/NewYork 1999, Band 1, 873–890, 880.

10 Ob dies hingegen eine alternativlose Sicht der Dinge ist, bleibt eine andereFrage; siehe dazu die Beiträge von Markus Wild und Niko Strobach in diesemBand.

11 RaymondGeuss,Privatheit. EineGenealogie.Aus demEnglischen vonKarinWördemann, Berlin 2013, 27.

12 Ebd., 27 und 28.

14 Hartmut von Sass

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Geuss verdeutlicht hier, dass das Perspektivische ein synchrones unddiachrones Element enthält: Nicht nur unterschiedliche Positionenzum gleichen Zeitpunkt sind genuin perspektivisch, sondern durchdie Zeit hinweg, gleichsam ›genealogisch‹, kann eine Perspektive voneiner anderen als weiteres Element der »Geschichte unserer Gegen-wart«13 abgelöst werden. Gerade diese Steigerung des Perspektivi-schen unterstreicht jedoch für Geuss, dass eben jene Perspektiven inKontexte eingebettet sind, die die befürchtete Beliebigkeit dementie-ren: Über eine Perspektive zu verfügen im Wissen um deren Alter-nativen (synchron) bzw. deren Veränderbarkeit (diachron) mussgerade nicht heißen, in dem Nietzsche zugeschriebenen Sinn Relati-vist zu sein.14

Dann aber ist der Perspektivismus als ein eigenständiges Lehrstückkeine Neuauflage eines überzogenen Relativismus, sondern Ausdruckeines kontextsensiblen Relationismus (oder einfacher: Kontextualis-mus). Und Positionen, die die Einbindung unserer Sichtweisen,Überzeugungen undpropositionalenEinstellungen in lebensweltlicheZusammenhänge und deren Genese hervorheben, erfreuen sich im-mer noch einer gewissen Konjunktur – trotz der programmatischenRenaissance realistischer Positionen.15 So mag folglich die Rede vomPerspektivismus eine Marginalie geblieben sein, während die Redevon Perspektiven eineWeise ist, demAusdruck zu verleihen, wasmanals ein »postmetaphysisches Denken« (J. Habermas) auszeichnenkönnte.16 Insofern Kernbegriffe wie Wahrheit, (absolute) Tatsachen,Objektivität, Vernunft oder Rationalität ihrerseits eine Depotenzie-rung durchlaufen haben, mag die Suche nach Wendungen, die einen

13 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses(1975), Berlin 162016, 43.

14 Was hier als »natürliche Epistemologie« angesprochen ist, ähnelt dem, wasHans-Jörg Rheinberger als »historische Epistemologie« charakterisiert hat: Hans-Jörg Rheinberger,Historische Epistemologie. Zur Einführung, Hamburg 2007, bes.9f. und 131; ferner ders., Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte dermodernen Biologie, Frankfurt a.M. 2006, Teil I.

15 Vgl. nur den Entwurf eines »Neuen Realismus«; dazu Maurizio Ferraris,Manifest des neuen Realismus. Aus dem Italienischen übersetzt von Malte Os-terloh, Frankfurt a.M. 2014.

16 Dazu Jürgen Habermas, »Von den Weltbildern zur Lebenswelt«, in: ders.,Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, 19–53.

Perspektiven auf die Perspektive 15

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Vorbehalt ›nach‹ dem metaphysischen Zeitalter formulieren, umsowichtiger sein. Dies gilt auch dann, wenn man – gerade in einer Ärader ›fake news‹ – an der Wiedergewinnung realistischer Zutaten füreine zeitgenössische Epistemologie interessiert ist.17 In dieser Zwi-schenstellung zwischen relationalen und realistischen Anliegen weistder Perspektivismus Familienähnlichkeitenmit so divergenten und insich noch einmal weitverzweigten Positionen wie der Phänomeno-logie, der Hermeneutik und bestimmten Spielarten der Sprachphi-losophie auf.

Was ist eine Perspektive? Sechs Zutaten

Diese Verwandtschaft macht sich bemerkbar, wenn man das grund-sätzliche Anliegen einer perspektivistischen Position zu umschreibenversucht. Dabei sind folgende sechs Elemente hervorzuheben:– Perspektiven ›gibt‹ es nicht, ohne dass es einen Träger gibt, derüber eine Perspektive verfügt; sie kommennicht als solche und d.h.ontologisch autark in der Welt vor, sondern ihr Status hängt we-sentlich daran, dass sie durch ein Subjekt (oder ein Kollektiv) in dieWelt gebracht werden; dies ist das subjektive Element.

– Perspektiven sind dabei stets Perspektiven für jemanden und vonjemandem. Sowie das Dual von rechts und linksmit einem Subjekt›in die Welt‹ oder ›zur Welt‹ kommt, verhält es sich auch mit derStandortgebundenheit der Perspektive; dies ist das indexikalischeElement.

– Erkennen,Verstehen undHandeln sind anPerspektiven und an einSubjekt als ihr Träger gebunden. Als indexikalische Muster bildendiese Perspektiven Ordnungen, die durch den jeweiligen Standortaufgespannt werden. Der subjektive Träger steht zugleich für dielokale, sprachliche und kulturelle Verortung der Perspektive, dieihrerseits von den Medien des Erkennens, Verstehens und Han-delns, aber auch den Vorannahmen und Erwartungen als die bei-den Pole der Perspektive abhängig sind. Durch das Erkennen,Verstehen und Handeln, das sie strukturieren, mögen sich die

17 So z.B. Hubert Dreyfus und Charles Taylor, Die Wiedergewinnung desRealismus. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2016, bes. Kap. 8.

16 Hartmut von Sass

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Perspektiven selbst verändern, verschieben oder stabilisieren; diesist das dynamische Element.

– Neben dem subjektiv-indexikalischenMoment gibt es jedoch aucheinen Gegenpol, der mit der Beschaffenheit des betrachteten Ge-genstandes zu tun hat. Dabei geht es nicht allein darum, unter-schiedliche Perspektiven zuzulassen, sondern darum, dem in Redestehenden Gegenstand näher zu kommen, indem man ihn ausunterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Der Gegenstand selbstverlangte dann danach, multi-perspektivisch behandelt zu werden;dies ist das objektive Element.

– Die Redeweise von einer Perspektive ist nur dann sinnvoll, wenn esAlternativen gibt; das ist ein analytisches Urteil und liegt damit imBegriff der Perspektive selbst. Oder knapp summiert: Wo es einePerspektive auf x gibt, lässt xmindestens eineweitere zu; dies ist daspluralistische Element.

– Dabei verpflichtet sich der Perspektivismus gerade nicht auf dieThese, alles sei perspektivisch strukturiert (s.o.). Zwar trifft dies imskizzierten Sinn allermeist zu; doch gibt es Fälle im Erkennen,Verstehen und Handeln, in denen das perspektivische Elementdadurch suspendiert ist, dass es aus Gründen der Evidenz, Ein-deutigkeit oder gar moralischen Erwägungen keine Alternativengibt bzw. geben darf; dies ist das konditionale Element des Per-spektivismus.

Der Perspektivismus als philosophisches Lehrstück kann demnachwie folgt zusammengefasst werden: Erkennen, Verstehen und Han-deln sind zumeist perspektivisch strukturiert, indem Perspektivenbestehend aus Vorannahmen, Medien und Erwartungen ein indexi-kales Muster aufspannen, das sich im Akt des Erkennens, Verstehensund Handelns verändern kann. Obgleich Perspektiven von einemTräger abhängen, kann es dabei der Gegenstand selbst erfordern,multi-perspektivisch betrachtet, verstanden oder bewertet zu werden.Der Perspektivismus endet dort, wo eine Perspektive exklusiv wirdund Alternativen ausschließt.

Perspektiven auf die Perspektive 17

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Plurale Perspektiven und ihr Ursprung

Wo es eine Perspektive gibt, gibt es mindestens mehr als eine. Hatman eine Perspektive auf einen Gegenstand, stellt sich sogleich eineandere Perspektive ein, sobaldman den Standpunkt ändert und einenanderen Blickwinkel einnimmt (epistemisch). Wenn man einen Textals Dokument seiner Zeit versteht, schließt das nicht aus, ihn auchunter anderen Gesichtspunkten, etwa sprachlichen oder narrativen,zu betrachten (hermeneutisch). Und bewertet man das Verhalten vonjemandem in einer moralisch signifikanten Situation, lassen sichoftmals ganz unterschiedliche Positionen dazu vertreten (ethisch)18.Der Plural der Perspektiven stellt sich folglich in allen drei hier be-trachteten Feldern ein.

Der Grund, warum es zu dieser Pluralität kommen kann, geht aufwiederum drei Quellen der Mehrdeutigkeit zurück. Gehen wir dazuvon der einfachen – d.h. genau genommen: vereinfachten – her-meneutischen Formel aus, die besagt: Jemand versteht etwas als etwasdurch etwas. Der Jemand, von dem hier die Rede ist, bildet die ersteQuelle derAmbiguität, denn stets ist etwas für jemanden gegeben, unddiese Für-Struktur ist nur das Etikett für die jeweiligen Prägungen,Werte undPräferenzen einer Person, die in dasVerständnis von etwaseinfließen. Insofern diese Prägungen, Werte und Präferenzen ihrer-seits nicht eindeutig sind, kann das für eine Person Gegebene unter-schiedlich erscheinen, d.h. erkannt, verstanden und bewertet werden.

Hinzu tritt die Durch-Struktur des Erkennens, Verstehens bzw.Bewertens, weil jene propositionalen Zustände medial, insbesonderesprachlich vermittelt sind. Legen wir ein anderes Vokabular an denGegenstand, zumeist in Abhängigkeit von anderen Zielen des Er-kennens, Verstehens bzw. Bewertens, kann sich zugleich das Erken-nen, Verstehen bzw. Bewerten des Gegenstandes verschieben.19 Man

18 Mit ›ethisch‹ meine ich hier lediglich die (theoretische) Bewertung einermoralisch aufgeladenen Situation und des entsprechenden Verhaltens in ihr; zueiner anderen Differenz zwischen Ethik und Moral (analog zur Unterscheidungvon öffentlich und privat) siehe Beate Rössler,DerWert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001, 163.

19 Vgl. Josef Kopperschmidt, »Vergleich und Vergleichen aus rhetorischerSicht«, in: Andreas Mauz/Hartmut von Sass (Hrsg.), Hermeneutik des Vergleichs.

18 Hartmut von Sass

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denke noch einmal an unsere drei Begleiterinnen, die in der Gemäl-degalerie stehen.

Die wichtigste der drei Pluralisierungsquellen steckt allerdings inder Als-Struktur des Verstehens. Dahinter liegt eine im Detail kom-plexe Quelle der Mehrdeutigkeit, die dafür sorgt, dass uns etwas zu-meist nicht direkt gegeben ist oder als evident und alternativlos er-scheint, sondern sich durch das Als eine Varianz im Erkennen,Verstehen und Bewerten aufspannt.20 In unserem Zusammenhangkommt es vor allem darauf an, dass dieses Als über einen subjektivenund objektiven Pol verfügt. Wie wir bereits gesehen haben, kann dasAls vom betrachtenden, verstehenden oder bewertenden Subjekt (alsIndividuum oder Kollektiv) aus verstanden, d.h. auf dessen lokale,kulturelle, auch moralische Standortgebundenheit zurückgeführtwerden: Etwas wird als etwas von jemandem (mit dessem Vorver-ständnis, Vorurteilen oder auch nur Urteilen, Erwartungen, Zwe-cken) erkannt, verstanden, bewertet. Es gibt aber zugleich ein ob-jektives Pendant, welches auf die Pluralität im Erkennen, Verstehenund Bewerten der Gegenstände selbst zurückführt. Geht die subjek-tive Lesart von der Zugangsart zum Objekt aus, beinhaltet die ob-jektive Version eine ontologische Aussage über den Gegenstand, eineThese über die ›Plastizität des Seins (oder: der Phänomene)‹, welchejene Vielzahl von Zugangsweisen zulässt, freigibt oder gar erfordert,um richtig erkannt, verstanden oder bewertet zu werden.21 Es lägedann nicht (allein) an der Kontextualität unseresGegenstandsbezugs,auchnicht an denMitteln,mit denen dieser realisiertwird, sondern anden Dingen selbst, so und auch anders erkannt, verstanden und be-wertet werden zu können. Und dies bleibt zuletzt keine deskriptiveThese über die ontologische Mehrdeutigkeit der Gegenstände, son-dern wandelt sich in einen Imperativ, ihnen dadurch gerecht zuwerden, dass man diese Mehrdeutigkeit zu erfassen versucht: durch

Strukturen, Anwendungen undGrenzen komparativer Verfahren,Würzburg 2011,223–242, bes. 241.

20 Grundlegend zum hermeneutischen Als: Martin Heidegger, Sein und Zeit(1927), Tübingen 182001, § 32: »Verstehen und Auslegen«; ferner AndreasGraeser, »Das hermeneutische ›als‹. Heidegger über Verstehen und Auslegung«,in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47:4 (1993), 559–572.

21 Darauf macht bes. Dieter Thomä in seinem Beitrag aufmerksam.

Perspektiven auf die Perspektive 19

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Standortänderung, durch andereVokabulare, probehalber veränderteKontexte, ein anderes Arsenal an Methoden.22

Doch der dreifach kodierte Pluralismus der Perspektiven – dieFür-, Durch- und Als-Struktur – setzt zugleich etwas Nicht-Per-spektivisches voraus, d.h. Elemente im epistemischen, hermeneuti-schen oder moralischen Arrangement, die faktisch oder zumindestheuristisch feststehen. Analog zu dem, was Wittgenstein über denZweifel und die Bezweifelbarkeit gesagt hat, die etwas Nicht-Zwei-felhaftes voraussetze, geht auch das Perspektivische mit seinemKontrapunkt einher.23 Ähnlich wie in einem Experiment kann mannicht alle Variablen gleichzeitig austauschen, um zu sehen, welcheAuswirkung eine bestimmte Änderung in der Versuchsanordnunghat. Ebenso ist es erforderlich und zumindest hilfreich für das Er-kennen, Verstehen und Bewerten, nicht simultan die Für-, Durch-und Als-Struktur zu ändern, um ausmachen zu können, was es genauwar, das in der Verschiebung des perspektivischen Arrangements –Standort, Hintergrundannahmen, Zwecke, usw. – zur Änderung derPerspektive geführt oder beigetragen hat.

Diese Einschränkung verbleibt aber im Hermeneutischen. Gibt esauch etwas Ontologisches, das sich trotz aller perspektivischen Ele-mente dem Perspektivischen entzieht? Im einen Fall, dem herme-neutischen, ist im perspektivischen So-oder-anders-Verstehen etwasNicht-Perspektivisches durch den Verstehensvorgang mitgesetzt. Imanderen Fall, dem ontologischen, wird eine stärkere These vertreten,wonach es etwas ›jenseits der Perspektive‹ gebe, auf das sich einePerspektive bezieht.24 Die bekannteste Version dieser ontologischenThese ist Kants Ding-an-sich. Die Frage stellt sich, ob es andere,vorsichtigere Formen jenes ontologischen Interesses am Nicht-Per-

22 Der viel diskutierte und ebenso oft kritisierte ›Anarchismus‹ in der Wis-senschaftstheorie Paul Feyerabends meint, denke ich, genau dies: diesen ontolo-gisch bedingten Pluralismus durch einen methodischen einzufangen zu versu-chen, indemman sich gerade nicht auf einen singulärenZugang festlegt; dazu PaulFeyerabend,Wider den Methodenzwang, vor allem 31f.

23 Siehe Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, in: Werkausgabe Band 8,Frankfurt a.M. 61994, u.a. § 115: Zweifel setze bereits Gewissheit voraus.

24 Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einfüh-rung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler,Frankfurt a.M. (2010) 42014, 251.

20 Hartmut von Sass

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spektivischen gibt, schließlich haben wir es jeweils mit Perspektivenzu tun, die sich auf etwas beziehen. Wie also steht es um die Aus-sichten eines ›realistischen Perspektivismus‹?25

Passion der Perspektive: Lob und Leid

Die Feststellung, Elemente des Perspektivischen seien unhintergeh-bar, ist kaum originell, sondern ein Ausdruck unserer alltäglichen,aber auch wissenschaftlichen Lebenswelt. Die Frage ist also nichtprimär, ob wir in Perspektiven leben (dazu siehe Abschnitt 6), son-dern auf welche Weise wir mit der Faktizität des Perspektivischenumgehen. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ›Passion‹ fängt die bei-den grundlegenden Optionen ein: Leidenschaft und Leid, Lob odergar eine epistemischeKränkung.Denn einerseits kanndiePerspektiveals eine quasi transzendentale Bedingung dafür angesehen werden,dass wir überhaupt etwas erkennen, verstehen und bewerten können– und nicht vielmehr nichts. Andererseits mag von ihr genau dasgesagt werden, was der frühe Wittgenstein einst für die Sprachefesthielt: Sie sei ein »Käfig«, aus demwir nicht entrinnen werden.26 Indieser Situation könnten auch wir sein, indem wir in Perspektivenleben. Es ergibt sich folglich ein Dual aus Ermöglichung durch Per-spektiven und der Einschränkung durch sie.

Das Lob auf die Perspektive kann wiederum ganz unterschiedlichausfallen, etwas verhaltener oder aber überaus offensiv oder gar alsMotivation zum Engagement. Im ersten Fall haben wir es mit einerBestandsaufnahme zu tun: Aus der besagten Faktizität des Perspek-tivischen, etwa in der wissenschaftlichen Arbeit, ergibt sich für einigeAutor(inn)en der Imperativ, verschiedene Perspektiven auf einenGegenstand im Sinne der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit diesemObjekt gegenüber durchzuspielen. Noch einmal sei hier an Feyer-abends methodischen Anarchismus erinnert, der trotz dieses un-

25 ZudieserFrage – undzurKritik (derKritik) des sog.Korrelationismus – derBeitrag von David Lauer.

26 Ludwig Wittgenstein, »Vortag über Ethik« (1930), in: ders., Vortrag überEthik und andere kleine Schriften, hrsg. und übersetzt von Joachim Schulte,Frankfurt a.M. 1989, 9–19, 19.

Perspektiven auf die Perspektive 21

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glücklichen Labels genau jene Haltung der produktiven Annahmepluraler Perspektiven als Ausdruck wissenschaftlicher Ernsthaftigkeitbezeichnet. Sodann haben wir es mit einem invitativenGestus zu tun,der zur Übernahme anderer, auch fremder Perspektiven einlädt, umdie eigene Perspektive herauszufordern, zu korrigieren, zu erweitern.RortysAufruf, das eigene Leben immerwieder neuenBeschreibungenauszusetzen, um somit den Möglichkeitssinn und die auch moralischimprägnierte Vorstellungskraft zu testen und zu expandieren, gehörtin dieses Register.27 Und schließlich ist eine performative Lesart aus-zumachen, die das Deskriptive faktischer Perspektivismen, aber auchdie Einladung zur Selbsterweiterung hinter sich lässt und in ein En-gagement für eine Perspektive eintritt. Nicht die Wertschätzung desPluralen steht hier im Zentrum, sondern in (mit Rorty: ironischer)Kenntnis der Alternativen geht es gerade darum, für eine Perspektivezu kämpfen und somit Teil ihres – oft moralischen, mehr noch po-litischen – Ereignisses zu werden, was seinerseits bereits ein Elementdes Ereignisses selbst sein solle: Das Ereignis und das Engagement fürdieses Ereignisses gehörten damit unbedingt zusammen.28

Auf der anderen Seite stehen Positionen, die den »Käfig« des nurPerspektivischen bedauern – oder gar an ihm leiden. Desorientie-rung, das Nichtaushalten bloßer Perspektiven ohne Gesamtschau, dieUngeduld mit der Pluralität divergenter Perspektiven mögen Hal-tungen sein, die sich aus dieser Reserve speisen. Doch auch dieseVersion muss nicht in der Feststellung des Unabänderbaren verblei-ben – und so ist es gar nicht überraschend, dass vor allem in letzterZeit epistemologische Programme lanciert worden sind, die die ›guteNachricht‹ enthalten, wir könnten zumindest partiell aus dem »Kä-fig« heraustreten. Der spekulative Realismus von Quentin Meillass-

27 Siehe Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt vonChrista Krüger, Frankfurt a.M. 1992, bes. 31; ders., »Der Roman als Mittel zurErlösung aus der Selbstbezogenheit«, in: Joachim Küpper und Christoph Menke(Hrsg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, 49–66; dazuauch Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Pro-blem (1998), Frankfurt a.M. 2007, 126–146; kritisch zur Perspektivenübernahmeoder -erweiterung als angeblicher ›Wert an sich‹ Christine Abbt in ihrem Beitrag.

28 So Slavoj Zizek,DieTücke des Subjekts.Aus demEnglischen vonEvaGilmer,Andreas Hofbauer, Hans Hildebrandt und Anne von der Heiden, Frankfurt a.M.2010, bes. 185.

22 Hartmut von Sass

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oux, der aus der Kontingenz von allem gerade dessen Notwendigkeitohne Vermittlung schließt,29 gehört genauso in dieses Vorhaben wiedie bereits erwähnten neuen Realismen, die die Rede von »absolutenTatsachen« oder dem »Kontakt mit der Wirklichkeit« ohne Media-tion rehabilitieren möchten.30 Der Perspektivismus könnte demnachteilweise suspendiert sein, der »Käfig« bliebe nicht die einzige Exis-tenzform.

Die sich hier abzeichnende Pluralität im Umgang mit der Vielfaltder Perspektiven findet selbstverständlich nicht im luftleeren Raumstatt. Die Frage der Bejahung des Perspektivischen fordert sogleich dieFrage heraus, um welche Perspektiven – epistemische, hermeneuti-sche, moralische – es denn gehen soll. Diese Kontextualisierung isthäufig mit einer weiteren verbunden, nämlich mit einer gleichsamzeitdiagnostischen Perspektivierung. Dann aber geht es weniger umperspektiven-affine oder -averse Bereiche des Erkennens, Verstehensund Handelns, sondern um zeitbedingte Konjunkturen des Per-spektivischen, einer generellenOffenheit für Pluralitäten etwa und dieEinsicht, von alternativen Lesarten umgeben zu sein, die anzuerken-nen, nicht stets auszuschließen sind. Wir haben ja nicht nur Per-spektiven, indem wir in ihnen leben, sondern wir können Perspekti-ven anderer auchübernehmen, genauwiewir das einstmit der eigenengetan haben.31

Hier schließt sich ein ganzes Arsenal von Fragen an, die denkonkreten Umgang mit der Perspektive und ihrem notwendigenPlural betreffen. Und dieses Arsenal entzieht sich zumeist dem Rasterklarer Zuordnungen undMuster. Die irenischen Formen reichen vonder Toleranz für andere, insbesondere inkompatible Perspektiven

29 Vgl. Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwen-digkeit der Kontingenz. Aus dem Französischen von Roland Frommel, Zürich/Berlin 22014. So heißt es dort etwa: »Es ist notwendig, dass es etwas gibt und nichtvielmehr nichts, weil es notwendigerweise kontingent ist, dass es etwas gibt undnichtirgendetwas anderes.DieNotwendigkeit derKontingenzdes Seiendenerzwingt dienotwendige Existenz des kontingent Seienden.« (105; Herv. im Orig.).

30 Siehe Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relati-vismus und Konstruktivismus.Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. Miteinem Nachwort von Markus Gabriel, Berlin 2013.

31 Zum Element des Diagnostischen siehe auch den Beitrag von Anton Leist.

Perspektiven auf die Perspektive 23

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über mögliche Perspektivenwechsel32 und Konversionen hin zu Per-spektivenübernahmen im Sinne intellektueller oder emotionalerEmpathie.33Dynamischere Formen hingegen sehenAmplifizierungendes Perspektivischen vor (wie Rortys Invitativ, unterschiedlicheNarrative der Selbstbeschreibung auszuprobieren, s. o.) oder setzenauf den Kontrapunkt, um Perspektiven zusammenzuführen, zu›verschmelzen‹ oder das ›nur‹ Perspektivische abzutragen und somitim Zuge einer (phänomenologischen) Reduktion zu einem objekti-ven Kern zu gelangen.34 Doch oftmals geht es nicht einfach um diekognitive (Un)Möglichkeit, eine Perspektive einzunehmen, sonderndarum, dass man darunter womöglich leidet, einer bestimmten Per-spektive verlustig zu gehen, die einem einmal wichtig gewesen war:Was bleibt, wenn diese eine Perspektive keine lebensweltliche Optionoder nur noch eine ›tote‹35 ist? Eine Passion anderer Art haben wirschon gestreift, als es darum ging, dass der Plural der Perspektivenmühevoll ist, entweder weil – wie beim Aspekte-Sehen36 – die Per-spektiven zu oszillieren beginnen oder weil es sich schwierig gestaltet,divergente, vielleicht gar inkompatible Perspektiven zusammenzu-halten, jene, die von unterschiedlichen Diskutanden vertreten wer-den, aber auch jene, die man in sich selbst hat (man denke nochmalsan unsere drei Begleiterinnen in der Galerie). Obgleich hier die›Perspektive‹ unterschiedliche semantische Allianzen eingeht und

32 ZumWechsel der Perspektive auch Niko Strohbach und Johanna Breiden-bach in ihren sehr unterschiedlich akzentuierten Beiträgen.

33 Häufig wird die empathische Perspektivenübernahme auch mit dem Kon-zept der Anerkennung verbunden; dazu Axel Honneth, Kampf um Anerkennung.Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort,Frankfurt a.M. 1994, bes. 312.

34 Verschmelzung und Reduktion sind bewusst nahe an Gadamer undHusserlformuliert; siehe Hans-GeorgGadamer,Wahrheit undMethode. Grundzüge einerphilosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, 311 und 346f. bzw. EdmundHusserl,Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1906/07), hrsg. vonPaulJanssen [Text nach Hua II], Hamburg 1986, 4 und 44.

35 Zur Differenz zwischen toten und lebendigen Optionen klassisch WilliamJames, »Der Wille zum Glauben« (1897), in: Pragmatismus. Ausgewählte Texte,hrsg. Ekkehard Martens, Stuttgart 2002, 128–160, 129 u.ö.

36 Zum (religiösen) Sehen von Aspekten siehe Nehama K. Verbin, »Religiousbeliefs and aspect seeing«, in: Religious Studies 36:1 (2000), 1–23; dazu auch dieUnterscheidung zwischen Perspektivismus und Aspektivismus im Abschnitt 6.

24 Hartmut von Sass

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›Standpunkt‹, ›Meinung‹, ›Ansicht‹, ›Erwartung‹ und anderes be-zeichnen kann, stellt sich zugleich die Frage, ob die Perspektiven sobeweglich sind, wie sie oft scheinen, d.h. ob sie sich stets im Bereichdes Optionalen aufhalten und als Perspektiven prinzipiell wählbarsind. Eben jene Optionalität im Perspektivischen wird uns gleich zudessen Grenzen führen (dazu näher im Abschnitt 7).

Kampf der Perspektiven

Ob Lob oder Leid – es bleibt dabei, dass die Vielfalt der Perspektiveneine der Wirklichkeiten bildet, in denen wir leben. Und damit stelltsich neben der Frage, wiewirmit dieser Pluralität umgehen, die davonja nicht vollkommen unabhängige Frage, wie sich diese Perspektiven(und ggf. ihre Wahrheitsansprüche) zueinander verhalten. Dazuseien folgende Fälle unterschieden:(i) Wir können unterschiedliche Blickwinkel auf einen Gegenstand,

etwa ein Gebäude, einnehmen. Die Pluralität der Perspektivenwird die Betrachtung des Hauses und ggf. unsere Erkenntnis an-reichern, da es sich um eine Hinsicht der Betrachtung handelt,nämlich die Beantwortung der Frage, wie dieses Haus konkretaussieht.

(ii) In dem schon in Abschnitt 1 vorgestellten Fall des Gemäldeswirkt die Instanz der Perspektive hingegen etwas anders, weilnun eine Pluralität der Hinsicht – eine monetäre, ästhetischeund chemische – hinzutritt. Nicht um verschiedene epistemi-sche Blickwinkel der Betrachtung, sondern umunterschiedlicheKontexte des Erkennens, Verstehens und Bewertens geht es.

(iii) Nehmen wir nun einen ganz anderen Fall hinzu: Es ist einklassischer Topos der Wissenschaftstheorie, dass unterschied-liche Theorien zu ›denselben‹ Daten passen und dass dieselbeTheorie auch mit divergenten Datensätzen vereinbar ist. DiesesPhänomen wird die epistemische Un(ter)determiniertheit vonTheorien genannt und kann auf verschiedene Gründe, etwa dieTheoriebeladenheit der Daten, zurückgeführt werden.37

37 Dazu Paul Feyerabend, Probleme des Empirismus I. Aus dem Englischenübersetzt von Volker Böhnigk und Reiner Noske, Stuttgart 2002, 64–68.

Perspektiven auf die Perspektive 25

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(iv) Und noch ein anderer Fall : Hier trifft ein religiöser Fundamen-talist mit einem buchstäblichen Verständnis des biblischenSchöpfungsberichts auf einen Astrophysiker, der ein ganz an-deres Bild von der Entstehung der Erde und des Universumsvortragen wird.

(v) Und schließlich ziehen wir noch ein weiteres, ganz anderesSzenario hinzu, ein moralisch signifikantes. Jemand bringt ab-sichtlich fünf Menschen um, weil er begründet davon ausgeht,dass nur so eine große Menge anderer Menschen gerettet wer-den kann.

Diese fünf Fälle sollen nun kurz betrachtet werden, und zwar lediglichmit Blick auf das Problem der Vereinbarkeit der jeweils geschildertenPerspektiven. In dieserHinsicht ist (i) ganz unspektakulär, da hier dieAnreicherung der Beobachtung durch Perspektivenwechsel positivkonnotiert ist. Die Perspektivenvielfalt wirkt kumulativ. Fall (ii) istdavon verschieden, weil die Hinsichten der Betrachtung divergieren;diese Divergenz sorgt zugleich dafür, dass sich keine Inkompatibilitäteinstellen kann bei gleichzeitiger Irreduzibilität jener Perspektiven.Genau dies verhält sich in (iii) anders, denn eine Theorie T1 mag mitdemDaten-Set D kompatibel sein, wobei dies für eine andere TheorieT2 auch gilt. Dann aber folgt für viele Wissenschaftstheoretiker(in-nen), dass T1 und T2 eine wesentliche Unvereinbarkeit aufweisenmüssen.38 Dies gilt in einem nochmals verschärften Sinn für den Fall(iv). Während sich T1 und T2 als Produkte einer in ihren Rationali-tätsstandards einigermaßen ähnlichen Praxis verstanden werdenkönnen,39 wird die Physik (als T1) nicht nur die Falschheit der ex-planatorisch verstandenen Religion (als T2) behaupten, sondern dengesamten Sinn von T2 bestreiten und entsprechend als Konfusion(ohne dieMöglichkeit, überhaupt richtig oder falsch sein zu können)

38 Das Problem der Inkommensurabilität ist bekanntlich vor allem mit PaulFeyerabend und Thomas S. Kuhn verbunden; zu deren Sicht (imVergleich) sieheEric Oberheim und Paul Hoyningen-Huene, »The Incommensurability ofScientific Theories«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2016), Edward N.Zalta (ed.): https://plato.stanford.edu/archives/win2016/entries/incommensura-bility/.

39 Dem würde Feyerabend widersprechen; siehe Wissenschaft als Kunst,Frankfurt a.M. 1984, 101f.

26 Hartmut von Sass

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abweisen.40EinewiederumandereKluft tut sich im letztenFall (v) auf.Hier haben wir es allerdings nicht mit der Kollision von Perspektivenzu tun, die auf unterschiedlicheTräger verteilt wären, sondernder sichanbahnende – und in bekannten Szenarien wie dem trolley-dilemmaoder Sophie’s choice verarbeiteten –Perspektiven-Clash gewinnt seineDringlichkeit gerade dadurch, dass jemand gezwungen ist, sich zuentscheiden. Die Optionen sind unvereinbar miteinander, zumal einagnostischer Ausweg unmöglich ist. Die Folge ist, dass die Prämisse,wonach ein Sollen auch ein Können implizieren, durch die Unver-einbarkeit derOptionenunterminiertwird. ImGegensatz zumbloßenKonflikt ist das Dilemma eine Anordnung, die die Entscheidungaufzwingt, aber beide Optionen mit moralischer Schuld verbindet –und mit Gefühlen des Bedauerns, der Reue oder gar der Verzweif-lung.41

Die Fälle (i) bis (v) konfrontieren uns also mit einem Spektrumvon Möglichkeiten, die plurale Perspektiven zueinander aufweisenkönnen: Kumulation zugunsten einer Hinsicht (i), Anreicherungdurch mehrere, aber vereinbare Hinsichten (ii), theoretisch gut be-gründete Inkommensurabilitäten (iii), weltbildhafte Unvereinbar-keiten bis hin zur Verneinung der Sinnhaftigkeit einer anderen Per-spektive (iv) und Dilemmata mit unhintergehbarer Schuld (v).

Diese fünf Fälle – ihrerseits lediglich eine klassifizierende Per-spektive auf Perspektiven – lassen sich nochmals auf zwei grundle-

40 Selbstverständlich sollte man Religion so – also explanatorisch oder quasi-naturwissenschaftlich – nicht verstehen. Dann öffnet sich der Raum für dieprinzipielle Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaften; genau diesdeutet sich bereits bei Ludwig Wittgenstein an, der gewohnt kryptisch, aber ganztreffend festhält: »Angenommen, jemand glaubt an das Jüngste Gericht, ich da-gegen nicht. Bedeutet das, daß ich das Gegenteil glaube, gerade, daß es so etwasnicht geben wird? Ich würde sagen: »Ganz und gar nicht, oder nicht in jedem Fall[…]. Wenn jemand sagte: ›Wittgenstein, glaubst du das?‹ würde ich sagen:›Nein‹. – ›Widersprichst du dem Mann?‹ Ich würde sagen: ›Nein‹.« (»Vorle-sungen über den religiösen Glauben«, in: ders., Vorlesungen und Gespräche überÄsthetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Zusammengestellt und heraus-gegeben aus Notizen von Y. Smythies, R. Rhees und J. Taylor von Cyril Barrett,deutsche Übers. von Ralf Funke, Düsseldorf/Bonn 1994, 77–101, 77).

41 Dabei stellt sich die Frage, ob das Dilemma intrinsisch ist oder auch vonPerspektiven abhängig sein kann und erst so zustande kommt; für die ersteOptionvotiert Véronique Zanetti in ihrem Beitrag; siehe auch den Text von Anton Leist.

Perspektiven auf die Perspektive 27

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gende Versionen des Perspektivismus zurückführen, einen starkenund einen schwächeren. Man könnte sich dafür einsetzen, das Etikettdes Perspektivismus allein für Fälle zu reservieren, die uns tatsächlichmit unvereinbaren Perspektiven konfrontieren (also die Exemplare(iii) bis (v)). Der obige Satz zumPlural der Perspektivenmüsste dannspezifiziert werden: Wo es eine Perspektive gibt, gibt es mindestenszwei miteinander unvereinbare Perspektiven. Die Inkommensurabi-lität würde folglich zu einem wesentlichen Merkmal des Perspekti-vismus promoviert werden, und zwar im Namen eines wirklichenPluralismus und in Abweisung eines latenten Monismus, welchervereinbare Perspektiven mit einschließen möchte.42 Eben diese letzteWendung bezieht sich bereits auf einen schwachen Perspektivismus,der so gar nicht mehr genannt zu werden verdiene (so wiederum D.Weberman); vielmehr könne diese Position als Aspektivismusbezeichnet werden, der nur oberflächlich als plural erscheine undfaktisch einem Monismus das Wort rede, sofern alle aspektischenPerspektiven letztlich miteinander vereinbar seien und wahrhafteKonflikte zwischen ihnen gar nicht erst aufkommen könnten.43

Der ›kierkegaardsche‹Weg: Zur Negationdes Perspektivischen

Wenn man ein Phänomen x fassen möchte, kann man ganz schlichtfragen, was x sei, d.h. was die wesentlichen Eigenschaften sind, die xauszeichnen. So geht bekanntlich Sokrates vor, der die Frage nach derWahrheit oder Gerechtigkeit stellt und durch (pseudo-)dialogischentrial-and-error jenen Konzepten und dem durch sie Bezeichneten aufdie Spur kommt. Wenn nun vom »kierkegaardschen Weg« gespro-chen wird, ist ein anderer Zugang im Visier, denn nun wird nicht

42 Diese Position vertritt vor allem David Weberman in seinem Beitrag; sieheauch den Text von Holm Tetens.

43 Das Problem der Inkommensurabilität wird zumeist mit Blick auf unver-einbare Paradigmata oder Begriffsschemata diskutiert und dort an die Frage derÜbersetzbarkeit gekoppelt; siehe Donald Davidson, »On the Very Idea of aConceptual Scheme« (1974), in: ders., Inquiries into Truth and Interpretation,Oxford 1984, 183–198. Der Aspektivismus enthielte demnach die These, alleAspekte (oder: alle ›schwachen‹ Perspektiven) seien ineinander übersetzbar.

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direkt nach x gefragt, sondern x wird umkreist, indem Modi derInfragestellung von x nachgegangen wird. Es wird entsprechend dieWahrheit oderGerechtigkeit zumThema, indemmanderErosionderWahrheit und denUngerechtigkeiten nachgeht. Der Bruch, die Krise,das abrupte Endedes Erfragten steht demnach imMittelpunkt, geradenicht dessen Erfüllung, Erfolg oder gar Vollendung. Kierkegaard ist indiesem Sinn an der Negativität von x interessiert, um sich auf diesemWege umso intensiver x anzunähern.

Wir haben bislang, gut sokratisch, nach dem Zuschnitt des Per-spektivischen gefragt. Und gegen Ende soll es nun um die Grenzen,Brüche und Abbrüche des Perspektivischen gehen. Nicht alles – sowurde bereits zu Beginn festgestellt – ist eine Frage der Perspektive.Doch wo genau verlaufen jene Demarkationen? Auch hier mag eshilfreich sein, unterschiedliche Fälle zu differenzieren. Schauen wiruns zunächst folgende Sätze an:(1) Vor mir steht eine große Tasse mit Kaffee.(2) Mein Name ist Hartmut von Sass.(3) Mein rechtes Knie tut weh.(4) Die Innenwinkelsumme eines Dreiecks beträgt 180 Grad.Die vier Sätze gehören in den Bereich der epistemischen Sicherheit,die sich zur Evidenz steigert bzw. zu dem, was Wittgenstein ›Ge-wißheit‹ genannt hat. Leugnete ich, dass vor mir gerade eine TasseKaffee stünde, wäre das kein korrigierbarer Fehler, sondern »the firstsign of madness«44 (1). Genauso verhält es sich mit meinem Namen,wobei nichts Logisches gegen die Verneinung von (2) spricht, son-dern seine lebensweltliche Einbindung. Doch die faktische Sicherheitvon (2) steht der logischen Stabilität in nichts nach. Analog verhält essich mit dem phänomenologisch ganz anders gelagerten Satz (3). DieTatsache des Schmerzes lässt keine Deutung zu, sondern diese Er-fahrung weist eine unmittelbare Evidenz auf, die nicht zu leugnen ist.Einen noch einmal davon verschiedenen Fall bildet (4), wo es ummathematische Sätze geht. Im Rahmen der Euklidischen Geometrieist (4) im besten Sinne indiskutabel.

44 SoDewi Z. Phillips,RecoveringReligiousConcepts. Closing EpistemicDivides,Basingstoke/London 2000, Kap. 3: »Epistemic Practices: the Retreat from Reali-ty«, 36.

Perspektiven auf die Perspektive 29

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Die kontextgebundene Unabweisbarkeit von (1), die lebenswelt-liche Verflochtenheit von (2), die in (3) ausgedrückte Aufdringlich-keit des Leidens sowie die mathematische Evidenz von (4) sind Fälle,mit denen ein umfassender Perspektivismus (oder Aspektivismus)Mühe haben wird. Man darf wohl strenger formulieren, dass (1) bis(4) exemplarisch die Grenzen des Perspektivischen sichtbar machen,weil sich hier in ganz bestimmterWeise Fragen der Perspektive nichtnur nicht stellen, sondern eben dies zu tun, geradezu seltsam er-scheinen müsste.

Neben diesen Grenzen des Perspektivischen und damit auch desPerspektivismus als Lehrstück stellt sich zudem das Selbstanwen-dungsproblem. Dieses ist aus der Debatte um einen umfassendenRelativismus bekannt, der sich selbst untergräbt, wenn alles relativsein soll, weil er selbst in den Anwendungsbereich der These gehört.Entsprechendes gelte für den Perspektivismus:Wenn tatsächlich alleseine Frage der Perspektive wäre, träfe dies auch für eben diesen Satzzu. Allerdings tut sich ein wesentlicher Unterschied zwischen beidenSzenarien auf: Während sich der Relativismus in der Anwendung aufsich selbst widerlegt, weil ein Widerspruch zwischen der (absoluten)Geltung der Relativismus-These und der zugleich vertretenen relati-ven Validität der Behauptung entsteht, wird der Perspektivismus nurpartiell angegriffen, sofern es Fälle geben kann, in denen es eine Frageder Perspektive ist, ob man es mit einem Fall der Perspektivenplu-ralität zu tun hat – auch dies könnte eine Perspektive sein.

An andere Grenzen des Perspektivismus stoßen wir, wenn wirnoch einmal auf die Unterscheidung zwischen ›toten‹ und ›leben-digen‹Optionen vonWilliam James zurückkommen, s. o. Was diesesBegriffspaar markiert, ist keine rein logische Differenz, sondern eineDifferenz in unseren meist nonkognitiven, mithin emotiven undevaluativen Einstellungen zu diesen Optionen. Logisch betrachtet istes, so das James’sche Beispiel, sehr wohl möglich, als Christ oderAtheist plötzlich zum Islam überzutreten.45 Die Frage bleibt jedochbestehen, ob dies eine lebensweltliche Option bildet, die wir bereitwären zu ziehen, die also zu dem gehört, was wir uns für uns selbstvorstellen können. Dies ist für vieleMenschen nicht der Fall; Religion

45 Siehe William James, »Der Wille zum Glauben«, 129.

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insgesamt mag zunehmend als ›tote‹ Option wahrgenommen wer-den.Daher kommendie Perspektiven auch hier an ihr Ende, und zwarin einem bestimmten Sinn: Auf abstrakter Ebene begleiten sie unserLeben innerhalb pluraler Gesellschaften, ohne dass wir sie für unsselbst anzunehmen bereit wären. Die formale Optionalität der Per-spektiven ist viel weiter als das persönlich kodierte Spektrum vonOptionen, die Option in einem bestimmten Leben sein können.

Mit einer etwas anderen Situation haben wir es zu tun, wenn es umdie Pragmatik des Entscheidens geht. Stellen wir uns eine Person vor,die einen anderen Menschen im Wasser sieht und davon ausgehenmuss, dass der andere ohne ihre Hilfe ertrinken wird. Epistemischstellen sich hier unterschiedliche Perspektiven ein, aber mit Blick aufdie konkrete Situation kann man sich das perspektivische Abwägengerade nicht leisten. Oder: Täte man es, gliche dies auch einer Ent-scheidung, weshalb sich ein »agnostic stance« nicht einnehmenlässt.46 Das Zögern als Ausweis, gar Quelle menschlicher Nachdenk-lichkeit muss hier gerade zugunsten einer ganz anderen Tugendsuspendiert werden, wenn Verantwortung übernommen und Todbzw. Schuld abgewendet werden soll.47

Und ein letzter Fall sei genannt: Perspektiven und die mit ihneneinhergehende Vielfalt führen häufig zu Deutungskämpfen. DerPerspektivismus ist nur die epistemologische Variante einer grund-legend liberal-offenen Haltung, die die Vielstimmigkeit jener Sicht-weise nicht unterdrückt, sondern aufrechterhält, schützt, vielleicht garzelebriert. Perspektiven können aber zugleich Ausdruck von Macht-verhältnissen sein, wenn sich asymmetrische Beziehungen zwischeneinem herrschenden Diskurs und ›Störenfrieden‹ einstellen. Dasmachtvolle Monopol einer Perspektive erweist sich dann oftmalsdarin, dass die eigene Perspektivenhaftigkeit dementiert wird, indemalle Alternativen ausgeschaltet werden. Perspektivenverdrängungaber nutzt ex negativo jenen obigen Satz, nach dem eine Perspektiveandere Perspektiven schon immer mitsetzt. Wird diese Implikation

46 Vgl. Sven Rosenkranz, The Agnostic Stance, Paderborn 2007.47 ZumZögern (nicht Zaudern) in Bezug auf die Nachdenklichkeit siehe Hans

Blumenberg, »Nachdenklichkeit«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dich-tung, Heidelberg 1980, 57–61; ferner Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich/Berlin (2007) 22014, bes. 17 und 48.

Perspektiven auf die Perspektive 31

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ausgeschlossen, vereinheitlicht sich derDiskurs – scheinbar – auf nurnoch eine singuläre Perspektive, wodurch das Perspektivische an seinEnde kommt.48

Der kierkegaardsche Umweg bringt uns also an fünf verschiedeneLimitierungen der Perspektive und des Perspektivismus. Dazu zählenSätze, die ›Gewissheiten‹ oder Evidenzen ausdrücken, sodann dasSelbstanwendungsszenario, Konstellationen, in denen die Optionali-tät verschiedener Perspektiven abstrakt bleibt, schließlich Situationen,in denen sich die Abwägung von Optionen verbietet, und endlich diemachtpolitische Suspension anderer Perspektiven im Modus derMonopolisierung der eigenen. In all diesen Fällen wird nicht gefragt,was eine Perspektive ist, sondern man begibt sich post-sokratisch anjene Orte, an denen sich das Perspektivische gar nicht erst einstellt, esin interne Schwierigkeiten gerät, dorthin, wo logische Optionen nurleere Perspektiven simulieren, wo man von der Geduld mit diver-genten Sichtweisen Abstand nehmen muss oder wo faktische Per-spektiven verkürzt, abgedrängt und isoliert werden. Dabei muss essich gar nicht um einen ›Umweg‹ handeln, sondern womöglich umeinen noch direkteren Zugang, für den Sören Kierkegaard paradig-matisch stehen könnte.

Coda: Zeitalter der Perspektive

Der Perspektivismus ist nicht ausschließlich, aber doch primär eineepistemologische Position. Nimmt man die vielfältigen Versucheernst, die Erkenntnislehre zu historisieren,49müsste dies folglich auchauf den Perspektivismus als Lehrstück angewendet werden. SeinVokabular, seine Struktur und Anliegen und auch die Schlussfolge-rungen, die sich aus ihm ziehen lassen, werden dann als kontingenteGeschöpfe eines Denkstils sichtbar, der sich rekurrent entwickelteund wiederum abgelöst werden wird, wenn sich die intellektuellen,politischen und gesellschaftlichen Parameter verschieben.

48 Auf diese diskurstheoretische Dimension macht Dieter Thomä unter demLabel »Perspektivismus 3.0« in seinem Text für diesen Band aufmerksam.

49 Dazu bes. Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, u.a. 13 und56; ders., Historische Epistemologie, 45 und 110.

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So liegt die Erwägung nicht fern, dass der Perspektivismus nichtnur Ausdruck einer pluralitätsaffinen Zeit sei, sondern gleichsammitgeholfen habe, diese in Worte zu fassen und gedanklich auf denPunkt zu bringen. Und es könnte ebenso nahe liegen, den Perspek-tivismus als Inbegriff oder Zutat einer bestimmten Epoche oder Ärazuzuordnen, etwa der Moderne oder ihrer postmodernen Erbin. So-fern deren Ende zumindest diskutabel erscheint, wären zugleich dieGrenzen des Perspektivismus auch in dieser Hinsicht zu betrachten.

Tendenzen der lebensweltlich erzwungenen Uniformierung, etwader Ökonomisierung vieler sozialer Subsysteme oder einer globalwerdenden Digitalisierung unserer Gesellschaften, müssten ihre Of-fenheit für die An- und Übernahme anderer, auch fremder Perspek-tiven erst noch erweisen.50 Und so erscheint der Perspektivismuszuletzt eben doch nicht als bloßes Lehrstück der Epistemologie,sondern als ein Narrativ der Offenheit, Toleranz, Anerkennung undEmpathie, gerade indem der eigene Standort mitgedacht wird. Hierinliegt die eminent politische Dimension eines Perspektivismus, dernicht im Abstrakten stecken bleiben will, sondern zu dessen Selbst-verständnis gehört, engagiert zu sein.

50 Siehe Martin Burckhardt/Dirk Höfer, Alles oder nichts. Ein Pandämoniumdigitaler Weltvernichtung, Berlin 2015: Im Zeitalter globaler Vervielfältigung inder digitalen Welt lebten wir nicht mehr perspektivisch, sondern immersiv, d.h.weniger alternativen-offen, als vielmehr in eine Alternative sich vertiefend; ebd.,95.

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I.

Standortgebundenheit.

Zum epistemischen Perspektivismus

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Markus Wild

Nietzsches Perspektivismus

»Man erwäge, ob Jemand einen guten Willenzur Erkenntniss der moralischen Dinge hat,der von vornherein durch den Glauben an

die Unbegreiflichkeit dieser Dinge sich beseligt fühlt!Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben,

an Magie und Geistererscheinungen unddie metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt!«

(Nietzsche, Morgenröthe § 142)

Friedrich Nietzsches sogenannter Perspektivismus wird häufig alszentraler Bestandteil seiner Philosophie betrachtet. Dabei wird derPerspektivismus vorwiegend als eine epistemologische, d.h. Er-kenntnis, Wissen undWahrheit betreffende These angesehen. Dieserdie Diskussion dominierenden epistemologischen Deutung des Per-spektivismus bei Nietzsche soll eine psychobiologische Deutungentgegengesetzt werden.1 Für Nietzsche, so möchte ich zeigen, sindnicht die Erkenntnis oder gar die Wahrheit perspektivisch, vielmehrgibt es perspektivische Bewertungen, Bewegungen und Repräsenta-tionen, die Lebewesen für das Erkennen nutzbar machen.2

1 Für die biologische Deutung des Perspektivismus vgl. insbes. Ken Gemes,»Life’s Perspective«, ders. und John Richardson (Hrsg.), The Oxford Handbook ofNietzsche, Oxford 2013, 553–575. Meine Sicht auf Nietzsche ist u.a. stark durchGemes’ Arbeiten geprägt. Gemes spricht jedoch von einer »psychobiologischenDeutung«, weil er vor allem auchNietzsches Lehre des psychologischenTypenmiteinbeziehen möchte.

2 Ich bedanke mich bei Matthieu Queloz (Basel), ohne dessen Arbeiten zuNietzsche und ohne dessen wichtige Hinweise dieser Gedanke, den ich im letztenAbschnitt dieses Beitrags ausführen werde, viel weniger klar geworden wäre.

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1. Sehen als vieldeutiges Paradigma für EDP3

Eine häufig angeführte Stelle zur Unterstützung der EDP findet sichim zwölften Aphorismus der dritten Abhandlung von Zur Genealogieder Moral (1887): »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur einperspektivisches ›Erkennen‹.«4 Nimmt man diese Passage beimWort, so argumentiert Nietzsche in etwa folgendermaßen: Sehen istdas korrekteModell für Erkennen; alles Sehen ist perspektivisch; allesErkennen ist perspektivisch. Der Ausdruck ›sehen‹ ist freilich zwei-deutig, weil man ihn sowohl transitiv als auch intransitiv benutzenkann. So kann man einfach feststellen, dass man in der Lage ist zusehen, auch wenn es stockdunkel und nichts sichtbar ist; demge-genüber kann man auch darauf hinweisen, dass man etwas sieht.Gemeint ist offenbar der transitive Gebrauch von Sehen, das reineVermögen des Sehens – der intransitiveGebrauch – scheint an dieserStelle (noch) nicht relevant zu sein. Deshalb lautet das Argument fürden Perspektivismus wie folgt:(1) Sehen ist das korrekte Modell für Erkennen.(2) Alles Sehen von Etwas ist perspektivisch.(3) Alles Erkennen von Etwas ist perspektivisch.Offensichtlich wird das Sehen als das passende Paradigma für dasErkennen vorgeschlagen.

Dem ersten Schritt könnte man entgegenhalten, dass mit diesemParadigma ein traditionelles Beobachtermodell der Erkenntnis fort-gesetzt und gegenüber einem eher pragmatischen Handlungsmodellbevorzugt wird. Der Pragmatismus etwa fordert eine Ablösung der»Zuschauertheorie« der Erkenntnis durch eine an der Praxis ausge-richtete Auffassung.5 Die Bevorzugung des Sehsinns führe zu einem

3 Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden die epistemologische Deu-tung des Perspektivismus als EDP und die biologische Deutung des Perspekti-vismus als BDP abkürzen.

4 KSA 5, 365. AlleWerke Nietzsches werdenmit demKürzel KSA, der Angabedes Bandes und der Seitenzahl zitiert nach: Friedrich Nietzsche, SämtlicheWerke.Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,München/Berlin/New York 1988.

5 Vgl. John Dewey, Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Ver-hältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt a.M. 1998.

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falschen Modell der Erkenntnis als akkurates Abbilden der Realität.6

Nietzsche fordert ebenfalls eine Ablösung von der statischen Zu-schauertheorie und ist gegenüber der Idee des Repräsentationalismusin der Erkenntnistheorie ausgesprochen kritisch. Aus diesem Grundscheint es fraglich, Nietzsche ein solches Paradigma der Erkenntnis zuunterstellen.

Der zweite Schritt enthält ebenfalls eine Zweideutigkeit, weil so-wohl das Subjekt als auch dasObjekt perspektivierende Eigenschaftenhaben können. Einerseits können Subjekte im Fall des Sehens überunterschiedliche Sinnesorgane verfügen, unterschiedliche Stand-punkte einnehmen oder in unterschiedlicher psychischer Verfassungsein. Dies alles beeinflusst die Perspektive auf einObjekt. Andererseitskönnen sich Objekte der visuellen Wahrnehmung durch Formen,Farben, Schattenwürfe, Belichtung, Relation zu anderen Gegenstän-den usw. unterscheiden, was seitens der Wahrnehmungsobjekte zuUnterschieden in perspektivischen Eigenschaften führt. Die Wahr-nehmung einer grell beleuchteten Straße unterscheidet sich auf derSubjektseite beispielsweise danach, ob ein Betrachter unter demEinfluss schwer halluzinogener Drogen steht oder nicht. Nehmenzwei Personen in normaler Verfassung entweder eine ruhende Kugeloder eine flatternde Fledermaus wahr, ergeben sich unterschiedlicheperspektivierende Effekte auf der Objektseite.

Darüber hinaus – und dieser Aspekt wird im Hinblick auf BDPvon besonderer Bedeutung sein – können sich Subjekte undStandpunkte individuell und artspezifisch stark unterscheiden. Hierein fiktionales und drastisches Beispiel. M. Night Shyamalans Sci-ence-Fiction-FilmAfter Earth (2013) zeigt eineMenschheit, die sichnach der Zerstörung der Erde auf dem Planeten Nova Prime eineneue Lebensgrundlage erschaffen hat. Allerdings ist Nova Primenicht besonders lebensfreundlich, insbesondere die Ursas machenden Menschen zu schaffen. Ursas sind große, sechsbeinige, ech-senartige, furchterregende Raubtiere, die in der Lage sind,Menschenwahrzunehmen, indem sie die biochemische und physiologischeSignatur der menschlichen Angst aufspüren, ansonsten verfügt einUrsa über keine ausgeprägten sensorischen Systeme. Nachdem der

6 Dazu Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philoso-phie, Frankfurt a.M. 1981.

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Ranger Cypher Raige (Will Smith) die Technik entdeckt hat, dieAngst vor den Ursas vollständig zu unterdrücken, werden Ranger indieser Technik des »Ghosting« ausgebildet. Das »Ghosting« machtMenschen gleichsam unsichtbar für Ursas. Offenbar unterscheidetsich die Perspektive derUrsas grundsätzlich von der Perspektive vonMenschen und zwar aufgrund der Tatsache, dass es sich um zweivöllig verschiedene biologische Arten handelt und dass Exemplarebeider Arten über sehr unterschiedliche Sinnessysteme verfügen.

Schließlich wirft auch der dritte Schritt – gleichsam die Konklusiondes Arguments – einige Fragen auf. Meint Nietzsche mit »Es giebt…nur ein perspektivisches ›Erkennen‹« alle möglichen Formen der Er-kenntnis oder nur die menschlichen Formen der Erkenntnis? Denkbarist dieMöglichkeit einer göttlichen und absoluten Form der Erkenntnis,die wesentlich nicht perspektivisch wäre. Folglich kann Nietzsche nichtalle möglichen Formen der Erkenntnis meinen. Eine Beschränkung aufdie menschliche Erkenntnis erscheint willkürlich. Wenn wir davonausgehen, dass Ursas in der Lage sind, Menschen an den Wirkungenihrer Angst zu erkennen, und Fledermäuse Insekten mittels Echoloka-tion, so scheint es auch andere biologische Grundlagen für Erkenntnissezu geben.Aber selbstwennwir annehmen, dassNietzsche allein über diemenschlichen Formen der Erkenntnis spricht, bleibt die Frage offen, obdas Argument sich wirklich auf alle menschlichen Erkenntnisformenund nicht nur auf empirische Erkenntnisse bezieht. Es fällt einem zu-mindest schwer, mithilfe des Paradigmas des Sehens zu verstehen, in-wiefern die Erkenntnis, die sich im Satz des Pythagoras ausdrückt,perspektivisch sein sollte.

Nach dem Gesagten könnte die Konklusion nun beispielsweise soverstanden werden: Alle empirischen Erkenntnisse vonMenschen sindmit Blick auf die Beschaffenheit der individuellen Subjekte perspekti-visch. Dies wäre eine schwache Variante der EDP, weil sie beispielsweiselediglich auf denUnterschied hinausläuft, dass grüne und roteDinge füreinen normalsichtigen Menschen anders aussehen als für einen far-benblinden Menschen. Die Konklusion könnte jedoch auch wie folgtverstandenwerden:Alle Erkenntnisse vonLebewesengleichwelcherArtsind mit Blick auf die Beschaffenheit sowohl der Subjekte als auch derObjekte perspektivisch. Dies ist eine weit dramatischere These, die be-reits in die Richtung der BDP zeigt. Für Ursas werden Menschen auf-

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grundder biologischenVerfassung ihrer Spezies auf ganzundgar andereWeise vorgestellt als beispielsweise für Hunde.

2. Die Formulierung der EDP

Trotz der aufgeführten offenen Fragen und der unterschiedlichenOptionen, die Konklusion des Arguments zu verstehen, haben eineganze Reihe von Interpretinnen und Interpreten Nietzsches Äuße-rungen eine starke epistemologische Lesart zuteilwerden lassen. Ar-thur Danto gibt Nietzsches Perspektivismus folgende Formulierung:»The doctrine that there are no facts, but only interpretations wastermed Perspectivism.«7 In vergleichbarer Weise formuliert 30 Jahrespäter Peter Poellner: »[Nietzsche] declares that ›there are only in-terpretations‹, none of which can be said to be objectively better or tobe more ›fitting‹ than any other, since it is not coherent to supposethat there is anything for any interpretation to fit to in the requiredway.«8

Danto, Poeller und viele andere verstehen Nietzsches Perspekti-vismus als eine Form von Interpretationismus.9 In einer schwachenLesart läuft ein Interpretationismus entweder auf einen Fallibilismus,dem zufolge Interpretationen stets falsch sein können, oder auf einenlokalen Interpretationismus hinaus, dem zufolge in gewissen Berei-chen Erkenntnisse möglich sind (etwa in den Bereichen der Physikoder der Geometrie), während in anderen Bereichen nur Interpre-tationen zu haben sind (etwa in den Bereichen der Moral oder derKunst). Demgegenüber behauptet die starke Lesart, dass es keineWahrheit, sondern nur Interpretationen geben kann. Anders gesagt,gibt es allein ›falsche‹ Interpretationen, aber niemals ›wahre‹ Inter-pretationen, denn Letztere wären nichts anderes als Tatsachen

7 Arthur Danto, Nietzsche as Philosopher [1965], New York 2005, 58.8 Peter Poellner, Nietzsche and Metaphysics, Oxford 1995, 282.9 Vgl. Alexander Nehamas,Nietzsche. Life as Literature, Cambridge, MA 1985,

66: »[Perspectivism means] that every view is an interpretation.« Allgemein zumInterpretationismus im Anschluss an Nietzsche vgl. Günter Abel, Interpretati-onswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus,Frankfurt a.M. 1993.

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(Danto) bzw. Übereinstimmungen mit einer objektivenWirklichkeit(Poellner). Nietzsches Perspektivismus läuft in seiner allgemeinstenForm gemäß der EDP auf folgende These hinaus:P Es gibt keine Tatsachen/keine Wahrheiten, nur Interpretatio-

nen.Jede Perspektive ist nur eine (falsche) Interpretation und jede Inter-pretation ist nur eine (subjektive) Perspektive. Als exegetische Be-gründung fürP kann eine Stelle ausNietzschesNachlass aus dem Jahr1886 angeführt werden: »[N]ein, gerade Thatsachen giebt es nicht,nur Interpretationen.«10

3. Drei grundsätzliche Probleme mit der EDP

Aus P folgt, dass P selbst keine Tatsache zum Ausdruck bringt,Ausdruck einer subjektiven Interpretation ist und aus einer Vielzahlmöglicher epistemischer Perspektiven für falsch gehalten wird (undsogar aus jeder Perspektive falsch sein muss, wenn gilt, dass es keineWahrheit gibt). Diese Folgen sind nichts anderes als einAusdruck dessattsam bekannten Problems der Selbstanwendung des Perspektivis-mus, wie er auch aus den Diskussionen um den erkenntnistheoreti-schen Relativismus bekannt ist. Wenn jede Erkenntnis relativ zu ei-nem Standpunkt wahr ist, dann ist die Erkenntnis, dass jedeErkenntnis relativ zu einem Standpunkt wahr ist, entweder nur relativzu einem Standpunkt wahr (warum sollte man diesen Standpunktaber einnehmen?) oder sie ist nicht relativ zu einemStandpunktwahr,sondern für alle Standpunkte absolut wahr, was aber der These deserkenntnistheoretischen Relativismus widerspricht.11 Ebenso gilt fürden Perspektivismus: Wenn es keine Tatsachen, sondern nur Inter-pretationen gibt, dann ist der Satz, dass es nur Interpretationen, aberkeine Tatsachen gibt, entweder selbst eine Interpretation (warumsollte man diese Perspektive aber einnehmen?) oder er ist Ausdruckeiner Tatsache über alle Interpretationen und deshalb eine absoluteTatsache über Interpretationen, was aber der These P des Perspekti-

10 KSA 12, 315.11 Vgl. dazu Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen

Relativismus und Konstruktivismus, Berlin 2013.

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vismus widerspricht.12 In beiden Fällen erscheint der Relativismusbzw. der Perspektivismus entweder als willkürlich oder als selbstwi-dersprüchlich. Dabei muss man betonen, dass dies im Falle des Per-spektivismus zutrifft, wenn man die EDP vertritt, wie es in P der Fallist.13

P als Ausdruck der EDP führt zu zahlreichen Spannungen in derAnwendung aufNietzsche.Wie bereits gesagt, ist dieAnwendung vonP auf die Erkenntnistheorie Nietzsches problematisch, weil sie bes-tenfalls zu einer willkürlichen These und schlechtestenfalls in denSelbstwiderspruch führt. Nietzsche jedenfalls möchte mit seinenSchriften zu verstehen geben, dass seine epistemologische Perspektiveklarerweise besser ist als jene von Platon oder Schopenhauer. Eben-falls betontNietzsche für dieWissenschaftstheorie, dass es schlechtereund bessere wissenschaftlicheMethoden gibt. So gibt es in NietzschesAugen beispielsweise grundlegende Fehler, die man als Historikerinoder als Philologin begehen kann und dieman vermeiden sollte. Auchaus wissenschaftstheoretischer Sicht scheint P keine angemesseneDeutung des Perspektivismus zu sein. In seiner Kunstphilosophie istoffensichtlich nicht jede Formkünstlerischen Schaffens nurAusdruckeiner Perspektive, weil einige Formen der Kunst zweifellos instinkt-sicherer, körperlicher, tiefer und amoralischer sind als andere undinsofern bessere Formen der Kunst. Und schließlich möchte Nietz-sche im Hinblick auf unterschiedliche Moralsysteme durchaus dieThese aufstellen, dass es Moralsysteme gibt, die eine falsche Per-spektive auf das Leben einnehmen, andere Moralsysteme demge-genüber weniger schädlich, besser und gesünder sind und zweifelloseine angemessenere Perspektive einzunehmen im Stande sind.Kurzum, alle Positionen zurErkenntnistheorie,Wissenschaftstheorie,Kunstphilosophie undMoralphilosophie, die sich bei Nietzschemehroder minder stark ausgearbeitet finden, drücken eine substanzielle

12 Vgl. dazu mit Blick auf Nietzsche Bernard Reginster, »The Paradox of Per-spectivism«, in:Philosophy andPhenomenological Research 62:1 (2001), 217–233.

13 Für eine etwas andere Lesart der EDP bei Nietzsche vgl. James Conant,Perfektionismus und Perspektivismus, Konstanz 2013. Eine differenzierteDeutungdes Relativismus bei Nietzsche, die insbesondere die Stellung des Lebensbegriffsbei Nietzsche ernst nimmt, findet sich bei Johannes Steizinger, »RelativisticConcepts of Truth and Knowledge? Nietzsche’s Perspectivism Reconsidered«(Ms. in Begutachtung).

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Wertung aus, ohne dassP diesenWertungen irgendwelche normativeSubstanz verleihen könnte.

Die EDP führt also zu normativen Spannungen in NietzschesDenken, normative Spannungen, die man auch im post-Nietzschea-nischen Denken, im Denken von Philosophinnen und Philosophenfinden kann, die an Nietzsches Denken im Sinne der EDP anschlie-ßen. So bemerkte beispielsweise – um nur ein Beispiel unter vielen zunennen – Nancy Fraser über Michel Foucaults Analyse der Macht:»Foucault adopts a concept of power which permits him no con-demnation of any objectionable features of modernity.«14 Der Begriffder Macht bezeichnet bei Foucault ein dynamisches Kräfteverhältnisin der Moderne, der im Unterschied zu der von ihm kritisierten Re-pressionstheorie der Macht keinerlei normative Aussagen überMachtverhältnisse als Machtverhältnisse zulässt. In vergleichbarerWeise kann Nietzsche dafür kritisiert werden, dass sein Perspekti-vismus eigentlich keine normativen Aussagen über Wissen, Wissen-schaft, Kunst oder Moral erlaubt, obschon Nietzsche auf vielfältigeWeise solche normativen Aussagen vorlegt und obwohl es interessantwäre, sichmit diesen normativen Aussagen eingehend zu befassen. Esist wichtig zu sehen, dass diese Kritik anNietzsche jedoch nur zutrifft,wenn man die EDP vertritt und den Perspektivismus in eben dieserDeutung für ein grundsätzliches Prinzip seines Denkens hält.

Um den drei Problemen der Willkür, der Selbstwidersprüchlich-keit und der normativen Spannungen zu entkommen, die sich aus derEDP bei Nietzsche ergeben, können grundsätzlich fünf Lösungswegebeschritten werden.

4. Fünf Lösungen für die Probleme mit der EDP

Man beharrt auf P, weist aber das Problem der Selbstwidersprüch-lichkeit mit der Annahme zurück, dass P nicht auf P zutrifft und

14 Nancy Fraser, Unruly Practices. Power, Discourse, and Gender in Contem-porary Social Theory, Minneapolis 1989, 286. Dieser Vorwurf wurde Foucaultgegenüber auch von Jürgen Habermas, Axel Honneth, Hubert Dreyfus, AlasdairMacIntyre oder Ian Hacking geäußert.

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ebenfalls nicht auf P unterstützende Aussagen bei Nietzsche. DieseLösung ist offenkundig willkürlich und ad hoc.

Vielleicht zielt Nietzsche mit P tatsächlich auf ein selbstreferenzi-elles Paradoxon, vergleichbar den antiken Skeptikern oder Pyrrho-nikern, welche ihre Aussagen, obwohl sie dauernd behaupten, keineAussagen zu machen, nur als Mittel auf dem Weg zur Urteilsenthal-tung verstanden. Anders als die antiken Skeptiker, deren erklärtes Zieldie Erlangung der Seelenruhe war, findet sich bei Nietzsche keinvergleichbares Ziel, das die Akzeptanz eines solchen selbstreferenzi-ellen Paradoxons zumindest scheinbar rechtfertigen würde. Darüberhinaus verschärft diese Lösung das Problem der normativen Span-nung, weil sie auf keine Weise die normativen Ansprüche vonNietzsches Aussagen einholen kann.

Man schwächt P dahingehend ab, dass Nietzsche mit P lediglicheine subjektive Ansicht zum Ausdruck bringt und sämtliche norma-tiven Wertungen nur Ausdruck seiner subjektiven und idiosynkrati-schen Einstellungen sind. Allerdings wäre diese Lösung, der zufolgeNietzsche tatsächlich nur seine subjektiven Ansichten ohne Wahr-heitsanspruch äußern würde (wie dies etwa bei gewissen fiktionalenoder literarischen Texten der Fall ist), eine ad-hominem-Lösung,denn sie würde Anspruch und Geltung von Nietzsches Denken aufsubjektive Vorlieben auch seitens der Leserinnen und Leser reduzie-ren. Obwohl solche Lesarten vonNietzsche sicherweit verbreitet sind,wird die ad-hominem-Lösung nicht den normativen Ansprüchengerecht, die Nietzsche gegenüber Erkenntnis, Wissenschaft, Kunstund Moral erhebt.

Mit der vierten Lösung möchte ich mich etwas ausführlicher be-fassen. Sie versucht, den Perspektivismus von den oben genanntenProblemen zu befreien, indem sie auf P als Deutung des Perspekti-vismus verzichtet, aber dennoch eineEDPbeiNietzsche beibehält. EinBeispiel dafür findet sich in der wichtigen Arbeit von MaudemarieClark über Wahrheit bei Nietzsche:

»Perspectivism amounts to the claim that we cannot and need not justifyour beliefs by paring them down to a set of unquestionable beliefs allrational beingsmust share. Thismeans that all justification is contextual,

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dependent on other beliefs held unchallengeable for the moment, butthemselves capable of only a similarly contextual justification.«15

Laut Clark ist der Perspektivismus eine epistemologische These, dieeine kohärentistisch-kontextualistische Theorie der Rechtfertigungvon Überzeugungen gegenüber einer Korrespondenztheorie derWahrheit und einer fundamentalistischenTheorie derRechtfertigungvonÜberzeugungen verteidigt. Clark geht vomBegriff der Erkenntnisund des Wissens als wahrer, gerechtfertigter Überzeugung aus. Per-spektivismus bedeutet nun negativ, dass Überzeugungen über dieWelt nicht imHinblick auf grundlegende und von allen erkennendenWesen geteilten, selbst nicht zu rechtfertigenden Rechtfertiger (wieetwa die Sinneswahrnehmung oder rationale Intuitionen) zu recht-fertigen sind und dass ihre Wahrheit nicht als Übereinstimmung mitder Wirklichkeit aufgefasst werden darf. Positiv bedeutet Perspekti-vismus, dass die Wahrheit einer Überzeugung von der Übereinstim-mung mit anderen Überzeugungen abhängt und dass eine Überzeu-gung in einem bestimmten Kontext gerechtfertigt wird, in welchemdie Wahrheit der rechtfertigenden Überzeugungen selbst nicht zurDebatte steht. In Clarks EDP läuft der Perspektivismus somit auf einekohärentistisch-kontextualistische Theorie der Rechtfertigung vonÜberzeugungen und eine Zurückweisung der Korrespondenztheorieder Wahrheit und des erkenntnistheoretischen Fundamentalismushinaus.

Clark legt (m.E. mit überzeugenden Argumenten) dar, dass Nietz-sche insbesondere in seinen späten Werken eine Auffassung vonWahrheit vertritt, der zufolge sie durch das richtige Vorgehen in denempirischen Wissenschaften zu erreichen sei. Diese Auffassung vonWahrheit ist Clark zufolge nichts anderes als Nietzsches Perspektivis-mus. Allerdings wird in Clarks Deutung der Ausdruck ›Perspektivis-mus‹ zu einem eher uninformativen Platzhalter für einen schwachenRechtfertigungsholismus. Dieser Rechtfertigungsholismus ist schwach,weil die Rechtfertigung von Überzeugungen von anderen Überzeu-gungen zwar abhängt, aber ebennicht nur von anderenÜberzeugungen.Selbst ein Fundamentalist und Korrespondenztheoretiker könnte ohne

15 Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy, Cambridge 1990,130.

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Weiteres zugeben, dass die Rechtfertigung einer Überzeugung in zahl-reichen Fällen auch von anderen Überzeugungen abhängt. Eine weitausstärkere These würde besagen, dass nichts zur Rechtfertigung einerÜberzeugung dient außer einer anderen Überzeugung. Es ist schwer zuerkennen, worin der Perspektivismus in der Position bestehen sollte, dieClark Nietzsche zuschreibt.

Die fünfte Lösung schließlich tritt einen Schritt zurück und stelltdie EDPüberhaupt in Frage. Vielleicht ist Nietzsches Perspektivismusgar keine epistemologische These, sondern eine psychobiologischeThese? Dieser Lösung steht jedoch der Umstand im Weg, dass inNietzsches Werken und Texten die Rede vom Perspektivismus oft-mals in denKontext der Thematisierung von »Erkenntnis«, »Wissen«oder »Wahrheit« fällt.

5. Nietzsche und die BDP

Bevor ich mich der fünften Lösung und damit der BDP zuwende,möchte ich exemplarisch auf eine wichtige Stelle eingehen, die für dieEDP und für P angeführt werden kann. Wie bereits gesagt, kann P –Es gibt keine Tatsachen/keine Wahrheiten, nur Interpretationen –durch eine einschlägige Stelle aus Nietzsches Nachlass aus dem Jahr1886 gestützt werden: »[N]ein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nurInterpretationen.« Es lohnt sich jedoch, diesen Satz im Kontext seinerVerwendung zu betrachten.

»Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ›esgiebt nur Thatsachen‹, würde ich sagen: nein, geradeThatsachen giebt esnicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ›an sich‹ fest-stellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ›Es ist allessubjektiv‹ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das ›Subjekt‹ ist nichtsGegebenes, sondern etwasHinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.– Istes zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zusetzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt dasWort›Erkenntniß‹ Sinnhat, ist dieWelt erkennbar: aber sie ist anders deutbar,sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne: ›Perspekti-vismus‹. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebeund deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder

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hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben auf-zwingen möchte.«16

Sieben Beobachtungen können gemacht werden, wennman den Satz,der P belegen soll, in seinen Verwendungskontext zurückversetzt.Erstens äußert Nietzsche diesen Satz gleichsam konjunktivisch ineiner Auseinandersetzung mit den Positivisten und nicht alsGrundsatz seines Denkens. Zweitens wehrt er sich gegen eine sub-jektive Auslegung des Satzes. Drittens gesteht er zu, dass die Welterkennbar ist. Viertes wird der Ausdruck ›Perspektivismus‹ nicht aufdie Erkenntnis der Welt angewandt, sondern auf die Deutung derWelt. Fünftens verweist Nietzsche auf die Urheber der Deutung derWelt, nämlich (unsere) Bedürfnisse und Triebe. Sechstens wird diefür denPerspektivismus relevante Perspektive nicht den erkennendenoder kognitiven Vermögen zugeschrieben, sondern den konativenVermögen, den Bedürfnissen und Trieben. Schließlich deutet Nietz-sche an, dass die Perspektiven das Resultat des Für und Wider derBedürfnisse und Triebe sind, dass eine Perspektive die Norm ist, dieein Trieb in der Deutung der erkannten oder zu erkennenden Weltden anderen Trieben auferlegt. Mir scheint, dass diese Passage nichtfür eine EDP spricht, sie verweist vielmehr auf eine BDP, wie ich sienun skizzieren möchte.17

Der fünften Lösung zufolge ist der Perspektivismus bei Nietzschenicht primär eine epistemische These, sondern vielmehr eine These

16 KSA 12, 315.17 Es gibt weitere Passagen bei Nietzsche, die gegen EDP sprechen. So sprechen

gegen P – Es gibt keine Tatsachen/keine Wahrheiten, nur Interpretationen –zahlreiche Stellen, in denen Nietzsche positiv von Wahrheiten spricht. Hier sindzwei Stellen aus dem Spätwerk. Zur Genealogie derMoral, 1. Abhandlung § 1: »…sowünsche ich vonHerzen,…dass diese Forscher… sich dazu erzogenhaben, derWahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern, jeder Wahrheit, sogar der schlichten,herben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischenWahrheit…Denn esgiebt solche Wahrheiten.« (KSA 5, 258) Der Anti-Christ, § 50: »Man hat jedenSchritt breit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast Alles dagegen preis-geben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zumLeben hängt. Es bedarf Grösse der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist derhärteste Dienst.—Was heisst denn rechtschaffen sein in geistigen Dingen? Dassman streng gegen sein Herz ist, dass man die »schönen Gefühle« verachtet, dassman sich aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht!« (KSA 6, 230).

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über die Beschaffenheit des organischen Lebens überhaupt. Dies er-klärt, warum es sich um eine BDP handelt.

Anhand der eben diskutierten Passage aus dem Nachlass undinsbesondere aufgrund der letzten drei daran angestellten Beobach-tungen können wir feststellen, dass Nietzsche Perspektivität als einAusdruck von Trieben, Bedürfnissen, Affekten usw. versteht.18 (Ob-schon es zwischen diesen Begriffen bei Nietzsche Unterschiede gibt,werde ich der Einfachheit halber im Folgenden überwiegend vonTrieben sprechen.) Nietzsche zufolge hat jeder Trieb eine eigenePerspektive auf die Welt bzw. Interpretation der Welt und strebtdanach, diese zum Ausdruck zu bringen, häufig auf Kosten andererTriebe. Darin besteht für Nietzsche organisches Leben. Zu dieserdeskriptivenKomponente des organischen Lebens tritt einenormativeKomponente hinzu, die sich inNietzsches Schriften häufig und in sehrunterschiedlichen Zusammenhängen Ausdruck verschafft. Es sollennämlich in einem Lebewesen so viele Triebe wie möglich kohärentzum Ausdruck kommen können. Darin besteht für Nietzsche dieGesundheit von Lebewesen und insbesondere die Gesundheit vonLebewesen, wie wir es sind.19 Diese beiden Komponenten zusam-mengenommen ergeben eine substanziellePerspektive des Lebens, dieauch die normativen Aussagen Nietzsches im Hinblick auf Erkennt-nis, Wissenschaft, Kunst und Moral verständlich machen können.

Zunächst müssen wir uns aber der Frage zuwenden, warum dieBDP überhaupt eine plausible Option für Nietzsche sein soll. EinigeTextpassagen weisen eindeutig darauf hin, dass Nietzsche bei derFrage des Perspektivismus nicht nur nicht in erster Linie an unserekognitiven Vermögen denkt, sondern an unsere konativen Vermögen(Bedürfnisse, Triebe, Affekte usw.), und dass er nicht allein an unsere

18 Für eine systematische, meta-ethische Sicht auf die grundlegende Rolle, dieAffekte in Nietzsches Theorie der Wertschätzungen und allgemeiner der Moralspielen, vgl. Michael Forster, »Nietzsche on Morality as a ›Sign Language of theAffects‹«, in: Inquiry 60:1–2 (2017), 165–188.

19 ZumBegriff von Einheit undGesundheit als Integration der Triebe vgl. PaulKatsafanas, »The Concept of Unified Agency in Nietzsche, Plato, and Schiller«, in:Journal of theHistory of Philosophy 49:1 (2011), 87–113 undAndrewHuddleston,»Nietzsche on the Health of the Soul«, in: Inquiry 60:1–2 (2017), 135–164. Vgl.auch die Hinweise in Fussnote 27.

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konativen Vermögen denkt, sondern an konative und kognitive Ver-mögen von Lebewesen überhaupt.

So bemerkt Nietzsche in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse(1886): »Es hiess allerdings dieWahrheit auf den Kopf stellen und dasPerspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen,so vomGeiste und vomGuten zu reden, wie Plato gethan hat [Plato’sErfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich]…«20 Im selbenWerk heißt es im zweiten Hauptstück (§ 34): »Man gestehe sich dochso viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grundeperspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten…«21 Nietzschebeschreibt an diesen Stellen das Perspektivische als Grundbedingungdes Lebens, denn ohne perspektivische Schätzungen bestünde keinLeben. Diese enge Verbindung zwischen Perspektivismus und Lebenkorrespondiert auf passendeWeisemit der Passage aus demNachlass,die ich oben diskutiert habe.

Wenn wir beim Leben und bei den Trieben an einzelne Organis-men einer bestimmten Art denken (und weniger an die Interaktionzwischen unterschiedlichen Organismen derselben Art oder ver-schiedener Arten und noch weniger an einen abstrakten Begriff desLebens unabhängig von einem lebendigen Organismus), so ergebensich einige zentrale Aspekte der BDP. Erstens ist der PerspektivismuseinGrundvollzug allen organischen Lebens (biologischesVerständnisdes Perspektivismus), zweitens handelt es sich bei den interpretie-renden Instanzen um Triebe (konatives Verständnis des Perspekti-vismus), drittens bedeutet das Einnehmen einer Perspektive eineAusdeutung von etwas Vorgefundenem sowie ein Herrwerden(überwältigen, unterordnen, beherrschen) davon (aktives Verständ-nis des Perspektivismus), schließlich betont Nietzsche an zahlreichenStellen, dass es keine interpretierende Instanz hinter den Trieben gibt(subjektkritisches Verständnis des Perspektivismus).

Diese vier Punkte zusammengenommen stehen generell in einemstarken Gegensatz zu EDP (vgl. Abschnitt 2) und insbesondere ineinem strikten Gegensatz zum Paradigma der visuellen Wahrneh-mung für das Erkennen (vgl. Abschnitt 1). Der dem Paradigma desSehens entnommene Begriff des epistemologischen Perspektivismus

20 KSA 5, 12.21 Ebd., 53.

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setzt ein erkennendes Subjekt voraus, ist keineAktivität, sondern folgtdem Zuschauermodell der Erkenntnis, beruht primär auf kognitivenVermögen und nicht auf konativen Vermögen und er scheint alleinauf menschliche Subjekte, nicht aber auf lebendige Organismenüberhaupt anwendbar zu sein. Die EDP verfällt einem von Nietzscheimmer wieder gegeißelten Vorurteil von Wissenschaft und Philoso-phie, nämlich der Überintellektualisierung.

6. Ein einfaches Beispiel für die BDP: die Erdkröte

Betrachtenwir an einemkonkretenund relativ einfachenBeispiel, wases mit der BDP auf sich hat. Die Erdkröte (Bufo bufo) ernährt sichweitgehend von Würmern, Schnecken, Asseln und anderen sich aufdem Erdboden fortbewegenden länglichen Tieren. Ausschlaggebendsind dabei Form, Lage und vor allemBewegungsart und -richtung derBeutetiere.22 Das Auge und visuelle System der Kröte (Organ) siehtunter bestimmten externen Bedingungen einen Wurm und deutetdiesen Wurm unter bestimmten internen Bedingungen (Trieb) alsBeute, d.h. als Anlass zum Zuschnappen (Aktion). Die Erdkrötedeutet ein bestimmtes Reizmuster (länglich, horizontal, wurmartigeBewegung) als Beute. Nietzsche zufolge darf man dies so auslegen,dass die Triebe die Nervenreize interpretieren, wenn er im § 119 derMorgenröthe sagt, »dass unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichtsAnderes thun, als die Nervenreize interpretiren und nach ihrem Be-dürfnisse deren ›Ursachen‹ ansetzen?«23 Freilich würde man derKröte etwas zu wenig zumuten, wenn man sagen würde, dass sie nurein Reizmuster deutet, sie schnappt ja nach der Ursache des Reiz-muster (nach dem Wurm), nicht nach dem Reizmuster selbst (etwanachderEinwirkung auf ihrerNetzhaut).Offenbar ist dieKröte in der

22 Vgl. zu den Details die grundlegenden neuro-ethologischen Arbeiten vonJörg-Peter Ewert, zusammengefasst in: »Neuroethology of releasing mechanisms:prey-catching in toads«, in: Behavioral Brain Science 10 (1987), 337–405; fernerseinen Beitrag »Motions perception shapes the visual world of amphibians« inFrederick R. Prete (ed.),Complex worlds from simple nervous systems, Cambridge,MA 2004, 117–160.

23 KSA 3, 113.

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Lage,Objekte zu erkennen und sie an bestimmtenOrten imRaumumsie herum zu lokalisieren. Hingegen würde man der Kröte zu vielzumuten, wenn man meinen würde, dass sie ein bestimmtes Objektausdrücklich als Beute deutet. Vielmehr ist ihre Deutung des Wurmsals Beute eine bestimmte Weise des Verhaltens oder der Interaktionmit der Welt; die Kröte interpretiert den Wurm nicht explizit alsBeute, sondern behandelt ihn als Beute.

Wie jeder lebendige Organismus ist eine Kröte eine organisierte,dynamische Ansammlung von Trieben, die etwas in ihrer Umwelt(Wurm) als schnappbar interpretieren (Beute). Das ist die Perspek-tive der Kröte, wenn der Trieb nach Beute (und der Reflex des Zu-schnappens) regiert. Nehmenwir nun an, dieKröte realisiert, dass derWurm zu weit weg ist oder sich hinter einem zu engen Spalt bewegt(Organ), dann muss sie ihre Position verändern (Aktion), um zu-schnappen zu können (Trieb). Nehmen wir hingegen an, dass dieKröte satt sei, dann überwiegt das Bedürfnis nach Ruhe (Trieb 1) denReflex des Zuschnappens (Trieb 2). Schließlich können wir anneh-men, dass neben dem Wurm ein großer Schatten auftaucht, dannüberwiegt der Fluchtimpuls (Trieb 3) den Reflex des Zuschnappens(Trieb 2) und führt zu einem anderen Verhalten (Aktion). Wirkönnen sagen, dass sich die Perspektive einer einzelnen Kröte je nachSituation ändert. Letztlich bleibt die einzelne Kröte jedoch an diePerspektivederKröte alsArt gebunden.DieKrötenperspektive auf dieWelt besteht aus der Gesamtheit der Interpretationsmöglichkeiten,die ihre Trieborganisation zulässt (biologisches und konatives Ver-ständnis des Perspektivismus). Im Gegensatz zur EDP wäre es falschzu sagen, dass es keine Tatsachen gibt. Wenn das visuelle System derKröte zuverlässig arbeitet, dann befindet sich vor ihr in der Welt einlängliches und horizontal würmelndes Etwas (ein Faktum), das sie alsBeute interpretiert (ein Interpretandum) und sich einverleibt (einAkt). Dabei ist kein bewusstes Subjekt nötig, das diese Deutung desFaktums für eine Aktion vor dem Verhalten vornehmen würde,sondern die Kröte zeigt in ihrem Verhalten, dass sie den Wurm alsBeute behandelt (aktives und subjektkritisches Verständnis des Per-spektivismus).

Zu dieser deskriptivenKomponente desKrötenverhaltens tritt einenormativeKomponente hinzu.Nicht nur geht es derKröte darum, einbestimmtes Etwas als Beute durch ihr Verhalten zu deuten, es muss

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auch eine Abstimmung mit anderen Trieben erfolgen. Erst wenn ineinemLebewesen so viele Triebewiemöglich kohärent zumAusdruckkommen, handelt es sich um ein gesundes und funktionstüchtigesLebewesen. Würde bei einer Kröte der Beuteinstinkt stets über dieSättigung oder den Fluchtinstinkt herrschen, könnte man kaum voneiner gesunden und funktionstüchtigen Kröte sprechen. Ebenso we-nig, wenn das visuelle System der Kröte die potenzielle Beute stetsfalsch lokalisieren würde.

7. Perspektiven als unterschiedliche Artender Trieborganisation

Je komplexer eine Lebensform ist, desto stärker kann die Trieborga-nisation innerhalb einer Art variieren.24 Vermutlich gibt es innerhalbder Erdkröten keine einschneidenden Varianten in der Trieborgani-sation, aber bei höheren und insbesondere soziallebenden Lebewesenist dies durchaus denkbar, nicht nur beim Menschen, sondern auchbei Ratten, Raben oder Rhesusäffchen. Vermutlich gibt es also un-terschiedliche Arten der Trieborganisation bei Menschen undNietzsche zufolge fördern einige Arten der Trieborganisationen dasLeben (Gesundheit), andere hingegen beschränken das Leben(Krankheit). Wiederum finden wir eine deskriptive und eine nor-mative Komponente in diesen Varianten. Die unterschiedlichen Ar-tenderTrieborganisation könnenbeiNietzsche vielleicht auf folgendeArt und Weise dargestellt werden. Sie definieren unterschiedlicheTypen von Lebewesen und insbesondere von Personen.25

24 Ich denke, dass meine Skizze der Trieborganisationen bei Nietzsche mit demfolgenden Vorschlag vereinbar ist: Mattia Riccardi, »Virtuous Homunculi: Nietzscheon the Order of Drives«, in: Inquiry 61:1 (2018), 21–41. Insbesondere weist Riccardierfolgreich die Kritik zurück, dass Nietzsches Idee der Trieborganisation ein Ho-munculus-Fehlschluss unterläuft.

25 Vereinfacht gesagt konstituiert sich ein Typus bei Nietzsche wie folgt: JedePerson verfügt über eine bestimmte psycho-physiologische Konstitution, die sie alsbestimmten Personen-Typ definiert und Fakten, die den Typus einer Person defi-nieren, sind entweder physiologische Gegebenheiten oder die psychologische Affekt-und Triebstruktur der Person. Eine »Typenlehre der Moral« fordert Nietzsche inJenseits von Gut und Böse, 5. Hauptstück, § 186: »Man sollte, in aller Strenge, sich

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1. Wildheit undRohheit der Triebe (situative Trieborganisation beizahlreichen Tieren wie der Erdkröte);

2. Unterordnung unter einen dominanten Trieb (positive Askesebeim wissenschaftlichen Geist mit dem Willen zur Wahrheit;negative Askese mit Willen zum Nichts);

3. Kampf konfligierender Triebe (bei Nietzsche die drei verruchtenDs: Dekadenz, Degeneration, Demokratie);

4. Integration konfligierender Triebe (höherer Mensch und Über-mensch).

Wichtig ist dabei, dass der Wille zur Wahrheit bzw. der Trieb zurErkenntnis ein (menschlicher) Trieb unter anderen Trieben ist. Es istkeineswegs ausgemacht, dass dieser Trieb der dominante Trieb seinmuss. Zwar entspricht dies der historisch wirkmächtigen und vor-herrschenden Deutung des Menschen beispielsweise durch die Phi-losophie, dochNietzsche zufolge handelt es sich hierbei um eine nichtzu rechtfertigende Wesensbestimmung des Menschen und insbe-sondere umdenAusdruck derHerrschaft eines bestimmten Typs vonTrieborganisation, nämlich den Herrschaftsanspruch des wissen-schaftlichen Geistes und des Willens zur Wahrheit.

Das Ideal der Integration konfligierender Triebe als normativ-na-türlich legitimesZiel der Trieborganisation findet sich in der folgendenPassage aus Nietzsches Nachlass besonders deutlich ausgedrückt:

»Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle gegensätzli-cher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesisist er der Herr der Erde. Moralen sind der Ausdruck lokal beschränk-ter Rangordnungen in dieser vielfachenWelt der Triebe [ein dominanterTrieb]: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zu Grunde

eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Rechthat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenord-nung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede,welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, – und, vielleicht, Versuche, diewiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation an-schaulich zu machen, – als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral.« (KSA 5,105f.); vgl. Brian Leiter and Joshua Knobe, »The Case for Nietzschean Moral Psy-chology«, in: Neil Sinhababu and Brian Leiter (eds.),Nietzsche andMorality, Oxford2008, 92–103; fernerMark Alfano, »An enchanting abundance of types: Nietzsche’smodest unity of virtue thesis«, in: Journal of Value Inquiry 49:4 (2015), 417–433.

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geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, alsImpuls, der den Reiz für die Thätigkeit desHaupttriebes abgiebt [positiveAskese]. Der höchsteMenschwürde die größteVielheit der Triebe haben,und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In derThat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mäch-tig gegen einander treibenden Instinkte (z.B. Shakespeare [z.B.Goethe]),aber gebändigt.«26

Der höhereMensch wäre der seltene Typus, dem es gelingt, eine großeMenge konfligierender Triebe in einem System zu vereinigen, dasmöglichst vielen davon Ausdruck zu verschaffen vermag. Der Über-mensch ist nichts anderes als die Projektion dieses Typus in die Zu-kunft als natürliche Norm der menschlichen Entwicklung.27

Das einzig normativ legitime Ziel, das sich aus Nietzsches Per-spektivismus ergibt, besteht nicht in der Dominanz eines bestimmtenTriebs (der zum Wesen des Menschen erklärt wird), sondern in derIntegration zahlreicher konfligierender Triebe und dem gleichbe-rechtigten kohärenten Ausdruck möglichst vieler Triebe – wieNietzsche sagt: »mächtig gegen einander treibende Instinkte …, abergebändigt.« Dieses normative Ziel der Trieborganisation ist deshalbdas einzig legitime Ziel, weil es sich um eine Anforderung an Lebe-wesen als solche handelt. Es handelt sich um eine Norm aus der Per-spektive des Lebens. Die unterschiedlichen Arten der Trieborganisa-tion konstituieren nicht nur unterschiedliche Typen, sondern auchunterschiedliche Perspektiven. Diese Perspektiven werden durch diepsychobiologische Organisation einer Art von Lebewesen (bei einfa-chen Lebewesen) bzw. bei einer Gruppe von Angehörigen (einemTypus) einer Art von Lebewesen (bei komplexen Lebewesen) kon-stituiert.

26 KSA 11, 289.27 Vgl. John Richardson, Nietzsche’s System, Oxford 1996, 69. Ebenfalls Simon

May, Nietzsche’s Ethics and His War on Morality, Oxford 1999, 29: »Sublimation…can therefore be so life-enhancing because it enables us to harness creative ends drives… whose violence might otherwise annihilate or paralyse us, and, moreover, to ac-commodate a great variety of opposing drives… whose coexistence might otherwisebe impossible.… Thus, it is only through sublimation hat Nietzsche’s highest man –theonewhocanharness and integrate themaximumnumberandvariety ofdrives – ispossible.«

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8. Das Beispiel der christlichen Moral

Nietzsche ist bekannt für seine überraschendenÜbergängeund für dieÜbertragung biologischer und physiologischer Vorgänge auf geistigeund kulturelle Prozesse. So behauptet Nietzsche in der zweiten Ab-handlung (§ 12) seiner Genealoge der Moral,

»dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-werden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden einNeu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ›Sinn‹und ›Zweck‹ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werdenmuss. Wennman dieNützlichkeit von irgend welchem physiologischenOrgan (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte,eines politischen Brauchs, einer Form in denKünsten oder im religiösenCultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts inBetreff seiner Entstehung begriffen.«28

Der Sprung besteht offensichtlich in der Gleichsetzung von Fragender Nützlichkeit und Entstehung eines physiologischen Organs (wieetwa des visuellen Systems der Erdkröte) mit Fragen der Nützlichkeitund Entstehung von rechtlichen Einrichtungen, gesellschaftlichenMoralstandards, politischen Prozessen oder künstlerischen und reli-giösen Formen. Allerdings darf dieser Sprung aus der Perspektive derBDP nicht allzu sehr überraschen – ganz abgesehen davon, dasszeitgenössische Forschungsprogramme und Theorien der kulturellenEvolution zur Verfügung stehen.29

Wiewir gesehen haben, interpretiert die Erdkröte denWurmnichtexplizit als Beute, sondern behandelt ihn als Beute. Sie tut dies auf-grund der Ausbildung eines bestimmten ›physiologischen Organs‹(nämlich dem visuellen System der Kröte). Auf durchaus vergleich-

28 KSA 5, 313.29 Vgl. Richard Boyd, Peter Richerson, Culture and the evolutionary process,

Chicago 1985; Peter Richerson und Richard Boyd, Not by Genes Alone: HowCulture Transformed Human Evolution, Chicago 2005; Alex Mesoudi, AndrewWhiten, Kevin N. Laland, »Towards a unified Science of cultural evolution«, in:Behavioral and Brain Sciences 29:4 (2006), 329–383; Alex Mesoudi, Culturalevolution, Chicago 2011; Kim Sterelny, The evolved apprentice. How evolutionmade humans unique, Cambridge, MA 2012; Kevin N. Laland, Darwin’s unfi-nished symphony. How culture made the human mind, Princeton 2016.

56 Markus Wild

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bare Weise interpretiert Nietzsche zufolge die christliche Moral dasLebennicht explizit alswertlos, sondernbehandelt es alswertlos.Dazuhat das Christentum – so Nietzsches Auffassung im Anti-Christ(§ 51) – einen alles beherrschenden, reaktiven Trieb entwickelt:

»Das Christenthum hat die rancune der Kranken auf dem Grunde, denInstinkt gegen die Gesunden, gegen die Gesundheit gerichtet. AllesWohlgerathene, Stolze, Übermüthige, die Schönheit vor Allem thut ihmin Ohren und Augen weh. Nochmals erinnre ich an das unschätzbareWort des Paulus. ›Was schwach ist vor derWelt, was thöricht ist vor derWelt, das Unedle und Verachtete vor der Welt hat Gott erwählet.‹«30

Die Beschaffenheit eines Typus erklärt aufgrund seiner Trieborgani-sation seine Wertschätzungen (Deutungen) und entsprechend seineHandlungen, denn bestimmte Typen bringen Wertschätzungenebenso hervor, wie es bestimmte biologische Arten tun. Allerdingsfinden sich diese Wertschätzungen nur bei bestimmten Typen, nichtaber anderen Typen, denn ein Typus (eine Form der Trieborganisa-tion) stellt eine Perspektive auf dieWelt dar, aus der bestimmteDingeauf bestimmte Art und Weise mit Sinn ausgestattet, gedeutet, inter-pretiert und gewertschätzt werden. Nun sind Nietzsche zufolge abernicht alle Werte für alle Typen gleichermaßen gut (gesund), d.h.Werte sind relational zum Typ. Erst wenn sich eine bestimmte Per-spektive und somit eine bestimmte Form der Interpretation undWertschätzung gegen die natürliche Norm der Gesundheit als Inte-gration konfligierender Triebe richtet und wenn sie insbesondereAusdruck einer Desintegration der Trieborganisation darstellt, darfund (in Nietzsches Augen) muss ein normatives Urteil erfolgen.

Dies erklärt, warum vor dem Hintergrund seines (biologischen)Perspektivismus Nietzsche sich normative Bewertungen bestimmterArten der Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Kunstphiloso-phie und Moralphilosophie erlauben kann. Diese substanziellenWertungen können vor dem Hintergrund der BDP verständlich ge-macht und ohne normative Spannungen verstanden werden, was aufdie EDP nicht zutrifft (vgl. Abschnitt 2).

30 KSA 6, 232.

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Zusammenfassend kann man sagen, dass Nietzsche mit der BDPeiner bestimmten Auffassung des Menschen entgegentritt, nämlichder Auffassung, dass sich der Mensch als vernünftiges Tier auf kate-goriale Art undWeise von anderen Lebewesen unterscheidet. Mit derBDP tritt Nietzsche der Deutung des Menschen als relationales Tierentgegen und versucht, ihn stattdessen als wertschätzendes undwertschöpfendes Tier aufzufassen.

9. Noch einmal: perspektivisches Sehen

Am Anfang dieses Beitrags habe ich auf den Satz »Es giebt nur einperspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹«31 alsAusdruck des Sehens als Paradigma für die EDP hingewiesen. Wirhaben an einem anderen Beispiel bereits gesehen, dass es nützlich seinkann, einen Satz in seinen Verwendungskontext zurückzuversetzen.Das sollten wir auch in diesem Fall versuchen. Die entsprechendePassage in der drittenAbhandlung (§ 12) inZurGenealogie derMorallautet:

»Seienwir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solcheresoluten Umkehrungen der Perspektiven […]. ›Objektivität‹. Letzterenicht als interesselose Anschauung verstanden (als welche ein Unbegriffund Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider inderGewalt zu habenund aus- und einzuhängen: so dassman sich geradedie Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationenfür die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. […] Es giebt nur einperspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und jemehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehrAugen, verschiedne Augen wir für uns für dieselbe Sachen einzusetzenwissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsere›Objektivität‹ sein.«32

Im Hinblick auf diese Schlüsselstelle ist die EDP bei Nietzsche of-fensichtlich verfehlt. Nicht die Erkenntnis ist perspektivisch, sonderndieAffekte undOrgane von Lebewesen sind es.Dies bedeutet, dass die

31 KSA 5, 365.32 Ebd.

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ganzeOrganisation eines Lebewesens eine Perspektive auf dieObjekteder Umwelt und der Welt entwirft. Es gibt perspektivische Bewer-tungen, Bewegungen und Repräsentationen relativ zu bestimmtenObjekten, wie wir an den Beispielen der Ursa und der Erdkrötengesehen haben. Daraus folgt nicht, dass die Erkenntnis selbst per-spektivisch wäre, sondern dass die Erkenntnis perspektivische Be-wertungen, Bewegungen und Repräsentationen von Lebewesen rela-tiv zu ihrer Art involviert und dass diese Bewertungen, BewegungenundRepräsentationen, welche für das Erkennen und die Erkenntnisseverwendet und nutzbar gemacht werdenmüssen, perspektivisch sind.Es gilt unterschiedliche Perspektiven für die Erkenntnis nutzbar zumachen. Erkenntnis wird dabei als intrasubjektiver Prozess (im Fallevon Bufo bufo) oder als intersubjektiver Prozess (im Falle von Homosapiens) verstanden, in welchem unterschiedliche Ansichten einerSache, unterschiedliche Affekte über eine Sache, unterschiedlicheDeutungen einer Sache zu einemmöglichst vollständigen Begriff ebendieser Sache beitragen.Objektivität geht dabei nicht verloren, sondernwird im Gegenteil durch ein intersubjektives, geregeltes Verfahrenzuallererst hergestellt. In Nietzsches Augen – und darin stimme ichmit Clarks Deutung überein – ist objektive Wahrheit durch dasrichtige Vorgehen in den empirischen Wissenschaften zu erreichen.Gerade der Kontext des Satzes »Es giebt nur ein perspektivischesSehen …« macht deutlich, dass die EDP bei Nietzsche verfehlt seinmuss. Er zeigt freilich nicht, dass die BDP korrekt ist, aber sie gewinntmithilfe dieser Passage weiter an Plausibilität.

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Niko Strobach

Realität und Metaphorik der Perspektive

»Sie meinen«, fragte Lukas, »Sie werden gar nicht wirklichkleiner, wenn Sie näher kommen? Und Sie sind auch nicht

wirklich so riesengroß, wenn Sie weit entfernt sind, sondern essieht nur so aus?« »Sehr richtig«, antwortete Herr Tur Tur.

»Deshalb sagte ich, ich bin ein Scheinriese. Genauso wie mandie anderen Menschen Scheinzwerge nennen könnte, weil sie javon weitem wie Zwerge aussehen, obwohl sie es gar nicht sind.«

»Das ist wirklich sehr interessant«, murmelte Lukas undpaffte nachdenklich ein paar kunstvolle Rauchringe.1

1. Einleitung

Seit langer Zeit haben Philosophen das Bild der Perspektive gebrauchtund den Perspektivwechsel als Grundfigur des Philosophierens geübt.Wer dem nachgeht, dem stellt sich das Problem: Wie lässt sich derGebrauch der Metapher der Perspektive kontrolliert verfolgen? Es istnicht garantiert, dass dies gelingt.2 Eine einfache These soll sich dafürals hilfreich erweisen: Die verständliche Rede von Perspektiven setztden Realismus voraus.

Diese These soll im folgenden Beitrag an einigen Beispielen ver-ständlich werden. Es geht nicht darum, linear aus gewissen Prämissenzu argumentieren, sondern darum, einen Gedanken so zu entfalten,dass er plausibel erscheinen mag. Die wenigen herausgegriffenenBeispiele ließen sich durch viele weitere ergänzen. Einige der Beispieleim Folgenden sind negativ. Man muss dem ersten Anschein zumTrotz bei genauerer Betrachtung feststellen: Es kommt zu keinerverständlichen Rede von Perspektiven. Eines ist positiv.

1 Michael Ende (1960), Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart1960, 131; meine Kursivierungen.

2 Vgl. für einen umfangreichen und lehrreichen Versuch, der meiner Ansichtnach an dieser Aufgabe scheitert: Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspek-tivismus, Tübingen 1990.

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Die genannte These wird vielleicht Widerspruch provozieren:Wird nicht der Realismus durch die Einsicht in die Perspektivitätgeradezuwiderlegt?Wie sich zeigenwird: nein. Geht es überhaupt an,von dem Realismus zu sprechen? Hoffentlich. Sicher gibt es da viel zudifferenzieren. Als kleinen gemeinsamen Nenner für alle Arten vonRealismus habe ich an anderem Ort vorgeschlagen: »Es gibt eineWirklichkeit, die darin, wie sie ist, davon, ob undwie sie erkannt wird,sehr weitgehend unabhängig ist.«3 Das ließe sich in vielerlei Hinsichtausführen.4Hier genügt es als Fingerzeig. Vielleicht lässt sichmitHilfeeiner fachsprachlichen Unterscheidung verdeutlichen, was gemeintist: Dem Interpretatum nach der Interpretation ist ein Interpretan-dum vorgängig.

Zur Gliederung: Es geht zunächst (2.) kurz allgemein um Meta-phern. Dann (3.) sollen einige Binsenwahrheiten über Perspektivenfestgehalten sein. Sie könnten zugleich Bestandteile einer implizitenDefinition desWortes »Perspektive« in seiner Grundbedeutung sein.Damit soll umrissen werden, wovon sich eine Verwendung desWortes »Perspektive« nicht zuweit entfernen kann, wenn sie denn alsmetaphorische Verwendung soll gelten können; man kann auch sa-gen: wenn sie überhaupt noch etwas mit Perspektiven selbst nur imübertragenen Sinne desWortes zu tunhaben soll. ImAnschluss sollenzur Verdeutlichung einige Fälle präsentiert werden: zunächst (4.)Leibniz und Russell als Autoren, die nur scheinbar von Perspektivenreden; dann (5.) Nietzsche. Es wird sich herausstellen: Nietzschebenutzt im Gegensatz zu Leibniz das Wort »Perspektive« erfolgreichmetaphorisch. Denn Nietzsche ist Realist.5

3 Niko Strobach, »Wirklichkeit im Widerstand. Vertritt Ludwik Fleck zum Rea-lismus 1946 noch dasselbe wie 1935 und 1929?«, in: Johannes Fehr und Reiner Egloff(Hg.), Vérité, Widerstand, Development: At Work with/Arbeiten mit/Travailler avecLudwikFleck, CollegiumHelveticumHeft 12 (2011),Zürich, 99–118, 99.ZumBegriffdes Realismus: Marcus Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt, Frankfurt a.M.2003; Christoph Halbig und Christian Suhm (Hg.), Was ist wirklich? – Neuere Bei-träge zu Realismusdebatten in der Philosophie, Frankfurt a.M. 2004. Vgl. ferner dieEinleitung zu: David Papineau, The Philosophy of Science, Oxford 1996.

4 Vgl. Niko Strobach, »Wirklichkeit«, 99, 115, Anm. 5.5 Markus Wild nimmt in seinem Beitrag im vorliegenden Band deutlich mehr

Textmaterial von Nietzsche in den Blick. Beide Beiträge kommen nach meinemEindruck zu Nietzsche in ihrer Grundtendenz überein.

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2. Metaphern

Die Theorie der Metapher ist ein interessantes, kompliziertes, um-strittenes Gebiet. Wie also an Metaphern herangehen? Um derleichteren Darstellung willen sei im Folgenden erstens vorausgesetzt,dass man die Grundbedeutung und übertragene Bedeutungen einesWortes ziemlich gut unterscheiden kann. Nicht jeder Theoretiker derMetapher würde dem zustimmen. So ist zum Beispiel Donald Da-vidson – kurz gesagt – der bedenkenswerten Ansicht, dass einWort,wenn es metaphorisch gebraucht wird, nichts anderes bedeutet alsüblich und dass der metaphorische Gebrauch eines Wort typischer-weise zu einem erkennbar falschen Satz führt, dessenÄußerung uns inein offenes Spiel des Verstehens dessen verwickelt, worauf sie auf-merksam machen soll.6 Auch im Sinne dieser Metapherntheorie, diekeine übertragene Bedeutung (aber doch so etwas wie den Stan-dardfall des Gebrauchs eines Wortes) kennt, ließe sich formulieren,was mir im Zusammenhang mit Metaphern als wichtig erscheint.

Zweitens sei vorausgesetzt, dass es tote Metaphern gibt. Sie ver-anlassen uns nicht mehr zum fürMetaphern typischen Umgang.Wirmüssen erst darauf aufmerksam werden, dass sie das wohl einmalgetan haben. Sie sind nur noch gängige Münze im Sprachspiel. ToteMetaphern sind selbst keine Metaphern. Tote Menschen sind auchkeine Menschen, ausgetrocknete Seen keine Seen und Exfreundekeine Freunde.

Das Wort »Perspektive« oder seine Homophone werden in phi-losophischen Texten oft gebraucht, und oft auch theoretisierendeAbleitungen davon wie »Perspektivität« und »Perspektivismus«. Inseiner Einführung zum vorliegenden Band unterscheidet Hartmutvon Sass sinngemäß die folgenden Verwendungsfälle des Wortes»Perspektive«:

6 Donald Davidson, »What Metaphors Mean«, in: Critical Inquiry 5:1 (1978),31–47.Weitere Texte zur Theorie derMetapher sind versammelt in: AndrewOrtony(ed.), Metaphor and Thought, Cambridge (1979) 21993. Meiner Ansicht nach be-sonders lesenswert neben Davidson: Max Black, »Metaphor«, Proceedings of theAristotelian Society 55 (1954), 273–294; John Searle, »Metaphor« (1978), in:AndrewOrtony (ed.),Metaphor, 92–123; SamGlucksberg andBoazKeysar, »Howmetaphorswork« (1993), in: ibid., 401–424.

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– A hat auf dasselbe Bild eine andere Perspektive als B, weil A und Bvon verschiedenen Standpunkten aus darauf blicken.«

– A hat auf dasselbe Bild eine andere Perspektive als B, weil A eineinfacher Kunstliebhaber ist, B ein auf Farben spezialisierter Che-miker.«

– A hat auf ein moralisches Dilemma wie zum Beispiel einen derTrolley Cases7 eine andere Perspektive als B, weil etwa A Kantianerist und B Konsequenzialist.«

Die Beispiele zeigen – einigeDetails, auf die von Sass zu Recht abhebt,einmal beiseite –: Man kann das Wort »Perspektive« in mehr oderweniger großer Distanz zu seinem Ursprung verwenden und dabeiverständlich bleiben. Zweifellos kannman (wie bemerkt: provisorischausgedrückt) das Wort »Perspektive« in seiner ursprünglichen, aberauch vielerlei übertragenen Bedeutungen verwenden, metaphorischalso.

Es kommt jedoch vor, dass die Entfernung so groß ist, dass man garnicht mehr von übertragener Bedeutung sprechen kann, sondern dasWort »Perspektive« als toteMetapher fungiert. Vielleicht ist das sogarschon in den Beispielen (2) und (3) so. Daran ist an sich nichtsSchlimmes. Guy Deutscher plädiert beeindruckend für die Ansicht,dass die meisten Wörter tote Metaphern sind.8 Wer das Wort »Per-spektive« im Sinne einer toten Metapher verwendet, der spricht nichtmehr von etwas, das einer Perspektive im ursprünglichen Sinne desWortes insoweit ähnelt, dass es sich dabei noch umeine Perspektive imübertragenen Sinne handelt. Schlimm ist das nur, wenn zugleich(absichtlich oder versehentlich) der Eindruck erwecktwird, es sei dochso. Dann wird die Metapher überdehnt. Das führt zu philosophischerVerwirrung.

Was hat dieseÜberlegungmit Realismus zu tun?DerVersuch einermetaphorischen Verwendung des Wortes »Perspektive« scheitert ge-rade dann, wenn der in der ursprünglichen Bedeutung desWortes tief

7 Grundversion: Hans Welzel, »Zum Notstandsproblem«, in: Zeitschrift für diegesamte Strafrechtswissenschaft 63 (1951), 47–56: 51. Wichtige Variante (fat man):Judith Thomson, »Killing, Letting Die, and the Trolley Problem«, in: The Monist 59(1976), 204–217.

8 Guy Deutscher, The Unfolding of Language, London 2005, 115–143.

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verwurzelte Gegenstandsbezug im intendierten Anwendungsbereichdes Wortes, auf das es übertragen wird, kein Pendant hat.

3. Binsenwahrheiten

Die folgenden Binsenwahrheiten sind ganz konkret gemeint, nahe amersten Beispielsatz im vorigenAbschnitt. Übertragungsmöglichkeitenfunken einem schnell dazwischen, so sehr sind wir an Perspektiv-metaphorik gewöhnt, so metaphorisch produktiv ist das Faktum derPerspektivität. Aber es geht vorerst nur um die Grundebene:1. Wesen mit Augen haben Perspektiven. DieWelt präsentiert sich

ihnen als Wesen, die Standpunkte in ihr und Blickwinkel in siehaben.

2. Wovon man die eine Seite sieht, davon ist einem die andereverborgen.

3. Was weit von einem weg ist, sieht kleiner aus als das, was nah aneinem dran ist.

4. Was für den einen in der einen Weise verzerrt aussieht, sieht fürden anderen auf andere Weise verzerrt aus.

5. Dennoch kann ich mir ganz gut vorstellen, wie das, was für michso aussieht, für den anderen aussieht.

6. Ich kann mir sogar vorstellen, wie ich für den anderen aussehe.Aufmich, der eine Perspektive hat, ist eine Perspektivemöglich –und das kann ich begreifen.

7. Ich kann später dieselbe Perspektive einnehmen, die zuvor einanderer eingenommen hat.

8. Eine Perspektive ist immer eine Perspektive eines zumindestansatzweise bewussten Wesens auf etwas.

Man kann an diesen Binsenwahrheiten vieles beobachten und un-terscheiden. In manchen der Sätze kommt das Wort »Perspektive«vor, nicht in allen. Aber alle handeln von Perspektive und Perspek-tivität, weisen hin auf Strukturelemente einer Situation, in der einblickendes Wesen eine Perspektive hat.

Manche enthalten das Wort »ich«, manche nicht. Binsenwahr-heit 2 gilt für intransparenteGegenstände – in unsererUmgebungderNormalfall. Binsenwahrheit 3 hängt von der Ausbreitung von Licht-strahlen ab und von der Retina als Projektionsfläche. Die muss ein

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Wesen mit Perspektive haben. Die Rede von mehreren Perspektivenauf etwas (etwa in 5., 7. und 8., etwas indirekter auch in 2. und 3.) setztdasselbe Objekt für mehrere Subjekte voraus.

Mehr noch: Die Rede von perspektivischer Verzerrung für deneinen und den anderen setzt nicht nur den Blick des einen wie desanderen auf dasselbeObjekt voraus, sondern sogar dessen erkennbareobjektive Beschaffenheit. Denn die Rede von Verzerrung bedarf einesobjektiven Maßstabs. Inwiefern man im Kontext der Grundbedeu-tung des Wortes »Perspektive« davon sprechen kann, ist leicht er-klärt:

»[S]i, prenant l’œil d’un homme fraîchement mort, ou, au défaut, celuid’un bœuf […] vous coupez […] les trois peaux qui l’enveloppent […]l’ayant recouverte […] de la coquille d’un œuf […] vous y verrez, nonpeut-être sans admiration et plaisir, une peinture, qui représentera fortnaïvement en perspective tous les objets qui seront au dehors […S]esparties […] sont apetissées et raccourcies les unes plus, les autres moins,à raison de la diverse distance et situation des choses qu’elles représen-tent, quasi en même façon que dans un tableau de perspective.«9

Messbar gleich lange Strecken in derWirklichkeit werden nicht durchgleich lange Strecken imNetzhautbild repräsentiert – sondern weiterentfernte durch kürzere – und auch messbar gleiche Winkel amObjekt nicht unbedingt durch gleiche Winkel im Netzhautbild. Si-cherlich stützt Binsenwahrheit 4 nicht die These, dass »alles subjektivist« – was auch immer das genau bedeuten soll. Das durch die Bin-senwahrheiten angezeigte Parádeigma, mit dem man jemandem dieGrundbedeutung des Wortes »Perspektive« beibringen könnte, istdurch und durch realistisch. Binsenwahrheit 8 bringt das am allge-meinsten zum Ausdruck.

Zweifellos gibt es erfolgreiche metaphorische Verwendungen desWortes »Perspektive«: So liegt etwa eine Übertragung auf die Ethik,welche besonders die Binsenwahrheiten 5 – 7 berücksichtigt, sehrnahe. Gerade deshalb empfiehlt sich Disziplin in der metaphorischen

9 René Descartes, La Dioptrique (1637), in: Charles Adam et Paul Tannery(Hgg.),Œuvres de Descartes, Paris: Vrin 1897–1911, Band VI, 79–228, 115f.

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Rede. Nicht jede Positionalität10 ist selbstverständlich Perspektivität.Auch mag man daran zweifeln, ob etwa die Denkstile bei LudwikFleck11 in irgendeinem Sinne Perspektiven sind. Dass Fleck Perspek-tivist ist, kann man nicht voraussetzen, sondern es ist nachzuweisen,und dabei wäre zu klären, in welchem Sinne genau er es ist, falls er esist.

4. Vermeintliche Rede von Perspektiven

4.1 Leibniz

Jede Monade, so ein Hauptgedanke in Leibniz’Monadologie, enthältdie vollständige Information auch über den Zustand aller anderen.Das führt in § 57 zu einer berühmten Passage mit vermeintlicherPerspektiven-Metaphorik:12

»Et, commeunemême ville regardée de différents côtés paraît tout autre,et est comme multipliée perspectivement; il arrive de même, que par lamultitude infinie des substances simples, il y a commeautant dedifferensunivers qui ne sont pourtant les perspectives d’un seul selon les differenspoints de veue de chaque Monade.«

Die zeitgenössische Übersetzung des Jenaer Juristen Heinrich Köhler(1685 – 1737) lautet:13

»Und gleichwie eine einzige Stadt / wann sie aus verschiedenen Ge-genden angesehen wird / ganz anders erscheinet / und gleichsam aufperspectivische Art verändert und vervielfältiget wird; so geschiehet es

10 Vgl. Niko Strobach, Alternativen in der Raumzeit, Berlin 2007; ders., FrankDietrich, JohannesMüller-Salo, Reinold Schmücker (Hgg.), Zeit – eine normativeRessource?, Frankfurt a.M. 2018, 15–30.

11 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tat-sache, Basel 1935.

12 Die Schreibweise folgt: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schrif-ten I, Kleine Schriften zur Metaphysik, frz./dt., Frankfurt a.M. 1965.

13 Köhlers 1720 unter dem Titel »Lehrsätze über die Monadologie« erschie-nene Übersetzung ist zugänglich in einer von Dietmar Till herausgegebenenzweisprachige Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996.

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auch / daß durch die unendliche Menge der einfachen Substanzengleichsam eben so viele verschiedene Welt-Gebäude zu sein scheinen,welche dochnur so viele perspectivischeAbrisse einer einzigenWelt sind/ wornach sie von einer jedweden Monade aus verschiedenen Ständenund Gegenden betrachtet und abgeschildert wird.«

Sehen wir uns zunächst die Ausgangssituation sehr genau an. Die vonverschiedenen Blickpunkten aus abgebildete eine Stadt wird nichttatsächlich vervielfältigt, sondern nur gleichsam.Was soll das heißen?Wohl nur so viel: Es existieren von ihrmehrere Repräsentationen, diesich so stark voneinander unterscheiden, dass man zunächst meinenkann, es seien so viele Städte abgebildet worden, wie man Abbil-dungen vor sich hat. Doch nach einer Weile merkt man durch denVergleich der Elemente der Repräsentationen: Sie unterscheiden sichgenau deshalb so voneinander, wie sie dies tun, weil sie Repräsenta-tionen einer einzigen Stadt von jeweils verschiedenen Standpunktenaus sind. Die Unterschiede der Repräsentationen untereinander las-sen zweierlei erkennen:(1) Jede von ihnen ist eine Repräsentation der Stadt von einem

gewissen Blickpunkt aus, und zum Teil ist sie genau deshalb so,wie sie ist.

(2) Jede von ihnen ist eine Repräsentation der Stadt von einemgewissen Blickpunkt aus, und zum Teil ist sie genau deshalb so,wie sie ist.

Was für eine Übertragung nimmt Leibniz vor? Es existieren mehrereRepräsentationen der Welt (pro Monade eine), die sich so starkvoneinander unterscheiden, dassman zunächstmeinen kann, es seienso vieleWelten repräsentiert, wie esRepräsentationen gibt.Dochnacheiner Weile merkt man durch den Vergleich der Elemente der Re-präsentationen: Sie unterscheiden sich genau deshalb so voneinander,wie sie dies tun, weil sie verschiedene Repräsentationen einer einzigenWelt in verschiedenen Monaden sind. Die Unterschiede der Reprä-sentationen untereinander lassen zweierlei erkennen:(1) Jede von ihnen ist eine Repräsentation der Welt relativ auf eine

gewisse Repräsentationsgelegenheit, und zum Teil ist sie genaudeshalb so, wie sie ist.

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(2) Jede von ihnen ist eine Repräsentation der Welt relativ auf einegewisse Repräsentationsgelegenheit, und zum Teil ist sie genaudeshalb so, wie sie ist.

So weit, so gut. Aber ist hier von Perspektiven die Rede? Und, falls ja,inwiefern? Was gerade mit dem ungelenken Wort »Repräsentati-onsgelegenheit« angesprochen wurde, nennt Leibniz »point de vue«.Zweifellos ist das nicht wörtlich gemeint, sondern es ist ein meta-phorischer Gebrauch der Wendung »point de vue« beabsichtigt.Monaden haben ja bekanntlich keine Fenster.14 Aber gerade deshalbkannman sich fragen: Ist hier wirklich ein metaphorischer Gebrauchder Wendung »point de vue« gelungen? Eine ganz entsprechendeFrage kannman sich zumWort »perspectives« stellen.Manwürde es,wenn man den Latinismus zu vermeiden suchte, an dieser Stelle wohlam besten mit »Anblicke« übersetzen. Dagegen spricht: Die Reprä-sentationen, um die es Leibniz geht, sind keine Wirkungen. JedeMonade ist allen anderen, und damit dem Rest der Welt, kausalentrückt. Köhler hebt in seiner Übersetzung ausgerechnet das hervor,was für Leibniz problematisch ist: die kausale Konnotation derWörter, die er metaphorisch verwenden will. Köhler lässt Licht-strahlen fallen und Schattenrisse entstehen und verdirbt Leibniz da-mit lehrreich die Pointe. Schließlich fragt sich: Ähnelt das aus nichtsals sich einander repräsentierenden Monaden bestehende Leib-niz’sche Universum eigentlich hinreichend der Stadt, dass man sagenkann, dies sei es, worauf eine Perspektive gehe? Es scheint mir nichtso. Vielmehr meine ich: Leibniz selbst schreibt von nichts, das einerPerspektive imwörtlichen Sinne noch hinreichend ähnlich ist, um imübertragenen Sinne des Wortes »Perspektive« eine Perspektive zusein. Leibniz beschreibt nicht Perspektiven, die immer eine echteKausalgeschichte haben, sondern nur pseudoperspektivische Dar-bietung. Was Leibniz im Rahmen der von ihm angenommenen Ko-ordination der Monaden durch Gott konsequent beschreibt, sindSimulationen von Perspektiven. Diese weisen freilich als gelungeneSimulationen Eigenschaften auf, die auch Perspektiven – oder Per-spektiven relevant ähnliche Entitäten – typischerweise haben.

14 Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 7.

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4.2 Russell

An einer zentralen Stelle der dritten Vorlesung vonOur Knowledge ofthe External World von 191415 greift Bertrand Russell den Leib-niz’schenGedankengangauf.Dabei geht es ihmnicht umetwas, das erdurch den metaphorischen Gebrauch von Perspektiven-Vokabularverdeutlichen will, sondern schlicht um das perspektivische Sehenselbst. Denn er unternimmt eine Analyse dessen, was wir als per-spektivisches Sehen zu bezeichnen gewohnt sind (man muss es sogewunden sagen, um der Absicht Russells gerecht zu werden):

»A table viewed fromoneplace presents a different appearance from thatwhich it presents from another place. This is the language of commonsense, but this language already assumes that there is a real table ofwhichwe see the appearances. Let us try to state what is known […] when wehave freed our minds from the assumption of permanent ›things‹ withchanging appearances.«16

Von dem thing zu reden, so Russell, heißt: von einer Menge vonzusammenpassenden sensible objects (in seinem Sinne, also ungefährvon Sinnesdaten) zu reden. Das Ding, von dem da die Rede ist, istdenn auch nur die Summe aller zusammenpassenden aspects. Aspectsworauf? Auf es? Nein:

»[A]n aspect of a ›thing‹ is a member of the system of aspects which isthe ›thing‹ at that moment.«17

Aspects sind Komplexe von sensible objects, die sich ähneln können.Zum Beispiel wird eine perspective vom aspect eines kupfern-bräun-lichen Kreises fast ganz ausgefüllt, eine andere halb, eine andere nochweniger. Alle diese Perspektiven ähneln sich, indem sie aspects ent-halten, die offensichtlich in einer Relation derÄhnlichkeit zueinanderstehen. Sie sind trivialerweise aspects desselben, mit dem Wort»Penny-Münze« bezeichneten Dings im Sinne von Russells Vor-schlag, denn dieses Ding ist nichts anderes als eine Menge sich äh-

15 Bertrand Russell, Our Knowledge of the External World, London 1993.16 Ebd., 84.17 Ebd., 96.

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nelnder aspects. In einem weiteren Schritt definiert Russell den Orteines Dings im dreidimensionalen physikalischen Raum. Der Ort desPennystücks im Raum ist selbst ein Element der Menge der perspec-tives. Es ist diejenige perspective, auf die hin die Reihe der perspectivesmit den kupferbraunen Kreisen hin konvergiert (und die Reihe derperspectivesmit kupferbraunen Ellipsen; und die der perspectivesmitkupferbraunen Streifen etc.). Nach welchem Kriterium werden dieperspectives geordnet, so dass sich eine konvergierende Reihe ergibt?Danach, wie viel ein Penny-Stück-aspect darin ausfüllt:

»[T]hose in which it looked larger were to be considered as nearer to thepenny.«18

Dass Dinge aus der Ferne kleinere aspects haben als aus der Nähe, istdemnach eine triviale Folge der auf der Menge der perspectives defi-nierten Entfernungsrelation. Denn Orte sind ja perspectives. Dasdurch die Gesetze der projektiven Geometrie zu erklären, wäre fürRussell zirkulär.

Man sieht: Russell verwendet zwar das Wort »perspective«. Abervon Perspektiven ist hier nicht die Rede – ebenso wenig wie beiLeibniz. Russell glaubt, Verzerrungen ohne ein Verzerrtes haben zukönnen. Aber das ist unmöglich.

5. Gelungene Perspektiven-Rede: Nietzsche

In der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral19 findetNietzsche die Art von Lebensverneinung, die er »asketisches Ideal«nennt, auch in einer bestimmten Art von Wissenschaft. Er siehtvoraus,20 dass man ihm (sinngemäß) entgegnen wird: »Über Chris-tentum und Schopenhauers Metaphysik ist man doch schon längsthinweg. Die Zukunft gehört der Wissenschaft mit ihrer nüchternen

18 Ebd., 98.19 Enthalten in: Nietzsche, Friedrich (1980), Sämtliche Werke, Kritische Stu-

dienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mün-chen/New York [= KSA], Band 5.

20 Friedrich Nietzsche, Genealogie, III 23, in: KSA 5, 396.

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und vom Subjektiven freien Beschreibung«. Nietzsches Reaktion istsinngemäß: ”Umso schlimmer!” Wenn die Wissenschaft in diesemSinn objektiv sein will, dann schreibt sie ja die Distanzierung vomlebendigen Subjekt aus Fleisch und Blut bloß fort.21 Soll das heißen,Wissenschaft überhaupt gehört nach Nietzsches Meinung auf denMüllhaufen der Geschichte und man soll das Beschreiben aufgeben?Ganz im Gegenteil. Nietzsche hat einen eingehenden Vorschlag füreine andereMethodik, und zwar denVorschlag einer perspektivischenWissenschaft. Die versucht nicht etwa, das interpretierende Subjektauszublenden. Dennoch überwindet sie, zwar nicht die Perspektiveüberhaupt (das geht nicht), aber doch die einzelne Perspektive – diesaber nicht durch Abstraktion, sondern durch Addition. Erstaunli-cherweise ist diese Art der Beschreibung irgendwie auch wiedernüchtern. Nietzsche hat gerade dafür argumentiert, dass KantsKonzeption des Dinges an sich, das wir nicht als Ding an sich er-kennen können, Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Masochis-mus ist, der sich in dem Satz ausdrücken lässt:

»[E]s giebt ein Reich der Wahrheit und des Seins, aber gerade die Ver-nunft ist davon ausgeschlossen!«22

Nietzsche hält das zwar für völlig verkehrt, aber doch für lehrreich:

»Seienwir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solcheresolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Wertungen[…]: dergestalt einmal anders sehn, anders-sehn-wollen ist keine kleineZucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen »Objek-tivität«, – letztere nicht als »interesselose Anschauung« verstanden (alswelche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen,sein Für undWider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen:so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und derAffekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss.Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besservor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein »reines, willen-loses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss« angesetzt hat,hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe

21 Genealogie, III 24–25, in: KSA 5, 398–405.22 Genealogie, III 12, in: KSA 5, 364.

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wie »reine Vernunft«, »absolute Geistigkeit«, »Erkenntniss an sich«: –hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedachtwerden kann, einAuge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei demdie aktiven und interpretierendenKräfte unterbunden sein sollen, fehlensollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-sehen wird, hier wird alsoimmer einWidersinn undUnbegriff vonAuge verlangt. Es giebt nur einperspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«; und jemehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehrAugen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wis-sen, umso vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Ob-jektivität« sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affektesammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie?hiesse das nicht den Intellekt castriren?«23

Was steht da genau?Zunächst: Jeder hat zu jederZeit eine Perspektive(ein Auge hat eine Richtung – es richtet sich aus). Eine Perspektive istdabei etwas sehr Umfassendes: individuell, kulturell, vielleicht bio-logisch geprägt und biologisch zweckgerichtet, emotional (das Wort»Perspektive« soll hier zweifellos metaphorisch gebraucht werden).Wenn das alles in die konkrete »Anschauung« mit einfließt, so ist dieWendung »interesselose Anschauung« eine contradictio in adiecto,etwa in einer Liga mit »coole Doppelhaushälfte« oder »elegantesSUV«. Das ist Kritik an Schopenhauers Konzeption der reinen Vor-stellung (deutlicher noch in »reines, willenloses, schmerzfreies«),auch an Kants Ästhetik. In demselben Sinn selbstwidersprüchlichsind die Ausdrücke »reine Vernunft«, »absolute Geistigkeit« (derGeist kann nicht vom Interesse seines Körpers gelöst werden, dessenWerkzeug er ist – wie es im Zarathustra steht),24 »Erkenntniss ansich« (da Erkenntnis immer durch und für den Erkennenden ist).

Doch bei dieser Feststellung bleibt es nicht. Das Ziel ist nicht, an-zuerkennen, dass »jeder seine eigene Perspektive hat, aus der er nichtraus kann« oder Ähnliches. Ganz im Gegenteil: Das Ziel ist Er-kenntnis durch einenGeist, der in bestimmtemSinne frei ist. Jeder hat

23 Ebd.24 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Teil I : »Von den Verächtern

desLeibes«, in: KSA4, 39: »Werkzeug deines Leibes ist auchdeine kleineVernunft,mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deinergrossen Vernunft.«

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zu jederZeit eine Perspektive.Aber erweiß imbestenFall auch, dass ersie wechseln kann. Damit kann er seine Souveränität unter Beweisstellen (übrigens hängt er nicht die Perspektiven ein und aus, sonderndas Für und Wider). Er ist nicht einer einzigen Perspektive unter-worfen, von der er nicht loskommt.25 Er spielt geradezu damit, dass erzwar immer eine Perspektive haben muss, aber nicht immer dieselbe.WasNietzsche dabeschreibt, ist ein ernüchterndes, ernsthaft-heiteres,sozusagen griechisches (soll man sagen: apollinisches?) Spiel. Es istnicht das Spiel des Dandys, dem es mit nichts ernst ist.26

Was, schließlich, ist das Ziel des ernsten Spiels? »Objektivität« – inAnführungsstrichen. Sie zeigen an, dass dasWort »Objektivität« hiernicht mehr in seiner alten, sondern in einer neuen Bedeutung ge-brauchtwird.Man sieht das ander ungewöhnlichenWendung »unsre›Objektivität‹«, die gegen die logische Grammatik desWorts in seineraltenBedeutung strebt.Aber darumgeht es ja gerade. Trotzdem ist dieneue Objektivität in Anführungsstrichen das Ziel. Sie soll dereinsterreicht werden (»einstmalige ›Objektivität‹« – »einstmalig« ist hierzukunftsgerichtet). Der Intellekt soll auf die Sache gerichtet sein undsich ihrmöglichst vielfältig aussetzen. Das ist dann »Objektivität« desIntellekts. Hier ist, anders als bei Leibniz, wirklich von Sehen (bzw.dem Sehen hinreichend Ähnlichem) die Rede, aber von selbst-be-wusstem Sehen:

»je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehrAugen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wis-sen, umso vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Ob-jektivität« sein.«27

DieUnterstreichungen zeigen denRealismusNietzsches. Freilich liegtder folgende Einwand nahe:

25 An dieser Stelle weicht meine Interpretation vom Beitrag von Wild imvorliegenden Band ab. Wild sieht hier nicht intra-, sondern intersubjektive Va-rianz von Perspektiven angesprochen.

26 Ich danke Michael Großheim (Rostock), der mich im Gespräch auf diesenPunkt aufmerksam gemacht hat, indem er es gerade anders sieht.

27 Friedrich Nietzsche, Genealogie III 12, in: KSA 5, 365.

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»Dieser Satz steht doch nach dem Satz, in dem es heißt, dass das Sehenerst durch die Interpretation ein Etwas-Sehen wird. In diesem Satz wirddoch zunächst behauptet, dass jedes ›etwas‹ nur eine interessengeleiteteKonstruktion ist. Danach kann freilich über die Sache, als Konstruiertes,gesprochen werden.«

Daswäre zwar ein textliches Argument, aber keines, das überzeugt. Esist hier nicht davon die Rede, dass eine Sache erzeugt wird. Die Per-spektiven, von denen Nietzsche hier schreibt, variieren bereits übervon Perspektive zu Perspektive konstante und wiedererkennbareSachen.

Schließlich: Eswürdewenig Sinnmachen, anKantsDing an sich zukritisieren, dass man von ihm ausgeschlossen ist, wenn nicht imGegenmodell das Ding, und zwar es selbst, gesehen würde, indem esinterpretiert wird. Dieses Gegenmodell vertritt Nietzsche. So lässt sichvon Perspektiven sprechen.

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Holm Tetens

Die Wahrheit ist nicht relativ, aber die Weltist aspektischÜber die Vereinbarkeit von Realismus und Perspektivismus

Erkennen wir, erkennen wir insbesondere in den Wissenschaften dieWelt so, wie sie wirklich ist, oder habenwir es bei aller vermeintlichenWirklichkeitserkenntnis nur mit Konstruktionen zu tun, die niemalsmit der Wirklichkeit an sich abgeglichen werden können und sichsogar untereinander widersprechen? Man verrät kein Geheimnis,wenn man daran erinnert, dass diese Frage eine Grundfrage derPhilosophie ist, genauer die Grundfrage der Erkenntnis- und derWissenschaftstheorie.

ImAlltag und auch imForschungsalltag derWissenschaften gehenwir wie selbstverständlich und völlig selbstvergessen davon aus, dasswir dieWelt so erkennen,wie sie an und für sich ist. Dabei glaubenwirdie Welt durch zwei miteinander verschränkte und aneinander ge-koppelte geistige Tätigkeiten zu erkennen, durch Wahrnehmungeneinerseits und durch mehr oder weniger raffinierte Schlussfolgerun-gen aus den Wahrnehmungen andererseits.

Ich habe eben behauptet, dass wir im Alltag und auch in der all-täglichen Forschungspraxis der Wissenschaften selbstvergessen un-terstellen, aus dem Zusammenspiel von Wahrnehmungen undtheoretischen Schlussfolgerungen dieWelt so zu erkennen, wie sie ist.Wir sagen auch gerne: Sie so zu erkennen,wie sie objektiv ist, nichtwiesie dem einen oder anderen von uns subjektiv erscheint. Warumbetone ich im Zusammenhang mit dem Objektivitätsanspruch un-serer Welterkenntnis so stark die Selbstvergessenheit? Nun, weil indem Augenblick, wo wir nicht mehr vergessen, sondern in unserwaches Selbstbewusstsein heben, dass ja wir es sind, die die Weltobjektiv zu erkennen glauben, jeder naive Objektivitätsanspruch fürunsere Überzeugungen von der Welt unwiderruflich zunichtegemacht ist. Wie wir es auch drehen und wenden, wir können nichtmehr davon absehen, dass wir der Welt stets nur begegnen über dieInhalte unserer Wahrnehmungen und unserer theoretischen

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Schlussfolgerungen. Doch aus unseren subjektivenWahrnehmungenund theoretischen Schlussfolgerungen könnenwir niemals aussteigenund einen Standpunkt einnehmen, von dem aus wir die Inhalte un-serer Wahrnehmungen und unserer Gedanken vergleichen könntenmit der Welt, wie sie ist, wird sie nicht von einem von uns geradewahrgenommen oder bedacht.

Sobald wir uns in dieser Weise unserer Rolle als Ich-Subjekte be-wusst werden und damit der Tatsache, dass jeder von uns erkennendan diese besondere Struktur eines Ich-Subjekts gefesselt bleibt, meldetsich immer wieder der Verdacht, wie würden die Welt keineswegs soerkennen, wie sie objektiv an und für sich ist, sondern nur, wie sie unssubjektiv erscheint.

Jedenfalls sind wir aufgrund der eigentümlichen Struktur einesIch-Subjekts, das jeder von uns ist, dazu verurteilt, den Inhalt einerWahrnehmung oder theoretischen Schlussfolgerung statt mit derWirklichkeit selbst, nur mit den Inhalten anderer Wahrnehmungenund Schlussfolgerungen zu vergleichen.

Vor diesem generellen und ganz grundsätzlichen Strukturhinter-grund unserer Rolle als Ich-Subjekte in der Welt hat nicht zuletzt dieErkenntnis- undWissenschaftstheorie das Ihre dazu beigetragen, denVerdacht weiter zu nähren, es sei mit dem Objektivitätsanspruch fürunsere Erkenntnisse viel schlechter bestellt, als wir uns das in derRegel eingestehen. Stichwortartig werde ich einige der fundamentalenEinsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in diesem Zu-sammenhang kurz in Erinnerung rufen.

Wahrnehmungen an sich und alleine lassen uns gar nichts von derWelt erkennen. Wahrnehmungen sind nur dann ein konstitutiverBestandteil eines Erkenntnisprozesses, wenn wir innerhalb einesSystems von Begriffen, theoretischen Prinzipien und Fragestellungenbeschreiben, was wir wahrnehmen. Wahrnehmungen und die theo-retische Beschreibung oder Interpretation des Wahrgenommenenlassen sich überhaupt niemals voneinander trennen. Wie Kant schonwusste: Wahrnehmungen ohne Begriffe sind in der Tat blind. Undwie Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker – Kant

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weiter- und zu Ende denkend1 – inzwischen wissen: Beobachtungensind in hohem Maße theoriebeladen.

Aber die Theoriebeladenheit der Wahrnehmungen hat eine Kon-sequenz, der man sich schwerlich wird entziehen können. Wahr-nehmungen können niemals den Rahmen von Begriffen und Prin-zipien eindeutig festlegen, der für ihre theoretische Interpretation undBeschreibung vonnöten ist. Wahrnehmungen lassen sich daherprinzipiell mit verschiedenen theoretischen Interpretationsrahmenverknüpfen. Und das kann man auch so ausdrücken: Die theoreti-schen Interpretationsrahmen und im Gefolge davon überhaupt un-sere Theorien sind stets durch die Daten, die die Wahrnehmungenliefern, unterbestimmt. Auch dies, die empirische Unterbestimmtheitunserer Theorien, ist schon länger eine wichtige Einsicht und ein oftbehandeltes Problem der Wissenschaftstheorie.

Wenn wir nun all das berücksichtigen, die Unmöglichkeit, unsereWahrnehmungen und Schlüsse mit der Wirklichkeit an sich zu ver-gleichen, sondern nur die Möglichkeit, Wahrnehmungs- und Ge-dankeninhalte mit anderenWahrnehmungs- und Gedankeninhaltenabzugleichen, die Theoriebeladenheit unserer Wahrnehmungen, dieUnterbestimmtheit der unverzichtbaren theoretischen Interpretati-onsrahmen durch die Wahrnehmungen oder, anders formuliert, dieVerträglichkeit unserer Wahrnehmungen mit ganz verschiedenentheoretischen Interpretationsrahmen, wiemüssen wir dann sorgfältigunser Erkennen der Welt formulieren? Naiv selbstvergessen wäre es,unsereWirklichkeitserkenntnis in Sätzen der schlichten Form »In derWelt ist p der Fall« zu artikulieren. Sorgfältig und selbstreflexivmüssen wir eigentlich so formulieren:

Wenn wir die theoretischen Rahmenannahmen R über grund-legende Eigenschaften der Welt und dazu passende methodo-logische Regeln zugrunde legen, somachenwir Beobachtungen,die wir theoretisch in Gestalt von Beobachtungsaussagen B in-terpretieren müssen, die ihrerseits die Behauptung, dass p derFall ist, verifizieren/bestätigen bzw. falsifizieren.

1 Zum Beispiel Ludwik Fleck; vgl. dazu Hartmut von Sass, »For Your EyesOnly. Transcendental Pragmatism in Ludwik Fleck«, in: Transversal: Interna-tional Journal for the Historiography of Science 1 (2016), 84–91.

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Betrachtenwir diesen komplexenWenn-dann-Satz einenAugenblickgenauer. Es ist ein Satz auf der Metastufe. Er handelt nicht direkt vonder Welt. Vielmehr ist es ein Satz über Sätze über die Wirklichkeitoder etwas genauer: Es ist ein Satz über logische und begrifflicheBeziehungen zwischen Sätzen über die Wirklichkeit.

Wir dürfen mithin behaupten: Bei all unseren Bemühungen umErkenntnis und Wissen dürfen wir nie vergessen, dass wir als selbst-reflexive Ich-Subjekte und als Teil der Wirklichkeit es sind, die dieWirklichkeit beschreiben und erkennen wollen. Machen wir unserenicht eliminierbare Rolle im Erkenntnisprozess explizit, dann sindwahrheitsfähige Beschreibungen der Wirklichkeit stets auf der Me-tastufe angesiedelt. Es sind Beschreibungen von Beziehungen, in de-nen nicht direkt die Dinge in der Welt, sondern Sätze über die Dingein der Welt logisch und begrifflich zueinander stehen.

Kurt Hübner drückt diese wichtige Konsequenz aus fundamenta-len Einsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie so aus:

»Wenn die und die Festsetzungen, Postulate, Theorien (dies alles sindmetatheoretische Bezeichnungen) – dann die und die Basissätze, Fal-sifikationen, Verifikationen (und auch dies sind metatheoretischeAusdrücke). Oder anders formuliert: Wenn wir die und die Sätze haben– die nichts über die Natur aussagen –, dann folgen empirisch die unddie anderen Sätzen – die gleichfalls nichts über die Natur aussagen. Nurin diesen metatheoretischen Wenn-Dann-Beziehungen zeigen sichempirische Tatsachen; nicht aber stellt der Inhalt der Sätze selbst einenempirischen Sachverhalt in irgendeinerWeise dar:Nicht in der Theorie,sondern erst in der Metatheorie erscheint die Realität.«2

Nicht in der Theorie, sondern erst in der Metatheorie erscheint dieRealität. Nicht in derTheorie, will sagen: nicht in Sätzender einfachenForm »p ist der Fall« beschreiben wir die Realität, sehr wohl aber inmetatheoretischen Sätzen der komplexen Form: Wenn wir dietheoretischen Rahmenannahmen R wählen, machen wir Beobach-tungen, die wir theoretisch in Gestalt von Beobachtungsaussagen B

2 Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg im Br./Mün-chen 1978, 71 (im Original kursiv). Mir scheinen die zitierten Sätze Hübners zudenwichtigsten undklügsten Sätzen zu gehören, die seit langem inderPhilosophieüber die wissenschaftliche Welterkenntnis formuliert worden sind.

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interpretieren müssen, die ihrerseits die Behauptung, dass p der Fallist, verifizieren/bestätigen bzw. falsifizieren.

Nun aber das Wichtigste an Hübners These: Er behauptet, dasswir es mit dem auf der Metastufe Beschriebenen gleichwohl mit derobjektiven Wirklichkeit zu tun haben. Wir erkennen eine objektiveEigenschaft der Wirklichkeit, wenn wir erfahren, dass sich unterbestimmten theoretischen Rahmenannahmen die und die Beob-achtungen einstellen, die ihrerseits die und die Behauptungen überdie Welt bestätigen oder widerlegen, und dass sich unter anderenRahmenbedingungen Beobachtungen anders darstellen, sodass sieauch andere Behauptungen über die Wirklichkeit bestätigen oderwiderlegen. In diesem Sinne machen wir Erfahrungen mit dem Er-fahrungmachen.Und nur indem wir auf der Metastufe Erfahrungenmit dem Erfahrungmachen machen, erfahren wir etwas Objektivesvon der Wirklichkeit, denn, so formuliert es Kurt Hübner, »dieWirklichkeit hat einen aspektischen Charakter«3. Das soll heißen:Unter verschiedenen theoretischen Rahmenannahmen erscheintuns die Wirklichkeit in charakteristischer Weise unterschiedlichund gerade darin, gerade in ihremAspektcharakter erfahrenwir eineobjektive Eigenschaft der Wirklichkeit.

Gleichwohl, Hübners Überlegungen haben noch eine andereKonsequenz. Stehen nicht verschiedene theoretische Rahmenan-nahmen, unter denen wir die Wirklichkeit unterschiedlich erfahren,völlig gleichberechtigt nebeneinander? Hübner selbst spricht von freigewählten Festsetzungen. Daran ist offensichtlich richtig, dass wirjedenfalls nicht anhand von Beobachtungen zwischen zwei ver-schiedenen Rahmenannahmen unterscheiden können. Zwei solcherRahmenannahmen bestehen ihrerseits aus verschiedenen Sätzen, ei-nerseits aus Annahmen über fundamentale Eigenschaften undStrukturen der Welt, andererseits aus dazu passenden methodologi-schenRegeln.Da eine solche Rahmenannahme unter anderem jeweilserst festlegt, was als bestätigende oder widerlegende Beobachtung fürwelche Sätze zu gelten hat, lässt sich eine solche Rahmenannahmenicht empirisch widerlegen.

3 Kurt Hübner, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen2001, 6.

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Wirkönnendas auch so ausdrücken:Wir interpretieren alle unsereErfahrungen, also das Zusammenspiel von Beobachtungen undSchlussfolgerungen aus ihnen ausschließlich im Lichte bestimmterRahmenannahmenR. Insofern dürfenwir auch von transzendentalenRahmenannahmen reden, »transzendental«, weil es – kantisch ge-sprochen – um »Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung« geht.Hübner nennt die transzendentalen Rahmenannahmen auch ein»Apriori« vonWirklichkeitserfahrung, weil sie für bestimmteWeisender Erfahrung notwendig und durch diese Erfahrung nicht zu wi-derlegen sind. Außerdem spricht Hübner selbst in anderen Textenvon verschiedenen fundamentalen »Ontologien«. Das ist in demSinne richtig, als die apriorischen Erfahrungsrahmen immer auchAnnahmen über grundlegende Strukturen der Welt enthalten.

Wir haben uns jetzt zu fragen: Kann man nicht an jeder Rah-menannahme, jederOntologieR, komme,was dawolle, festhalten? Ja,das ist möglich. Quine hat uns gesagt, wie das möglich ist, wenn erschreibt:

»Jede beliebige Aussage kann als wahr aufrechterhalten werden, was daauch kommen mag, wenn wir anderweitig in dem System [gemeint istdas System unserer inferenziell miteinander verknüpften Aussagen, H.T.] ausreichend drastische Änderungen vornehmen.«4

WasQuine hier sagt, lässt sich in eine fundamentale Regel übersetzen,wiewir imLichte einer bestimmten theoretischenRahmenannahmeRunsere Erfahrungen interpretieren, sodass wir immer an dieser Rah-menannahme festhalten können, komme, was da wolle. Die Regelwollen wir im Folgenden »Quine’sche Regel« nennen. Sie verlangt,angesichts von Widersprüchen den Modus tollens von den Rah-menannahmen R abzuwenden. Seien E1 und E2 zwei Sätze über die

4 Willard Van Orman Quine, »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders., Voneinem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays. Aus dem Ame-rikanischen übersetzt von Peter Bosch. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1979, 27–50;das Zitat findet sich auf S. 47. Nachmeiner Einschätzung ist dieser Satz vonQuinenach demoben zitierten Satz vonHübner der zweitwichtigste Satz der Erkenntnis-und Wissenschaftstheorie.

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Welt und folge aus E1 zusammen mit R logisch-begrifflich E2. DieQuine’sche Regel fordert dann:– Falls ich E2 für offenkundig falsch halte, verwerfe ich den Satz E1

und nicht R.– Falls ich zusätzlich, also neben Nicht-E2 auch den Satz E1 für of-fenkundig wahr halte, modifiziere ich die Begriffe in E1 und E2 so,dass zwar weiterhin die Sätze E1 und Nicht-E2 als wahre Be-schreibungen entsprechender Erfahrungen gelten dürfen, aber ausR und E1 nicht mehr logisch-begrifflich E2 folgt.5

Wendet man diese Regel nur konsequent an, resultiert daraus all-mählich ein inferenziell vernetztes Begriffssystem, das bei der Be-schreibung unserer Beobachtungen immer besser zum Erfahrungs-rahmen R passt und ihm immer besser Rechnung trägt.

Gleichwohl können wir verschiedene theoretische Rahmenan-nahmen zur Ermöglichung von Erfahrungen derWelt wählen und anihnen festhalten. Keine Beobachtung kann uns bestimmte Rahmen-annahmen zur Ermöglichung von Welterfahrung aufzwingen. Keinedieser Rahmenannahmen ist in dem Sinne notwendig, dass unsereBeobachtungen nicht auch immer in einem anderen theoretischenRahmen interpretiert werden können. In diesem Sinne darf man mitHübner einen transzendentalen Rahmen für die Wirklichkeitser-schließung »kontingent« nennen.

Aus dieser Kontingenz zieht Hübner eine radikale Konsequenz. Erformuliert ein »Toleranzprinzip«:

5 Hinter der Quine’schen Regel steht ein fundamentaler logisch-semantischerTatbestand. Man kann die Bedeutung eines Begriffs (Prädikator, genereller Ter-minus) B auf zwei Weisen festlegen: Man verweist erstens auf prototypischeGegenstände, die unter den Begriff B fallen (paradigmatische Beispiele für B-Gegenstände), oder auf prototypische Gegenstände, die nicht unter den Begriff Bfallen (paradigmatische Gegenbeispiele für B-Gegenstände); man legt zweitensinferenzielle Beziehungen des Begriffs B zu anderen Begriffen fest, sodass be-stimmte Sätze, in denenderBegriff B zusammenmit anderenBegriffen vorkommt,als begrifflich (analytisch) wahr gelten. Ein Beispiel: Im Westen geht die Sonneunter (paradigmatischer Anwendungsfall des Begriffs »Westen«); liegt ein Ort Xwestlich von Y, so liegt Y östlich von X (begrifflich wahrer Satz, der materialeSchlüsse erlaubt wie etwa von »Hannover liegt westlich von Berlin« zu »Berlinliegt östlich von Hannover«).

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»In der Hinsicht, dass alle Ontologien kontingent sind und keine einenotwendige Geltung hat, ist keine irgendeiner anderen vorzuziehen.«6

Das Toleranzprinzip dürfen wir auch so formulieren: Jede theoreti-sche Rahmenannahme zur Ermöglichung von Erfahrung ist kontin-gent, dawir auch andere Rahmenannahmen zugrunde legen könnten,und deshalb ist keine dieser Rahmenannahmen irgendeiner anderenvorzuziehen.

Für Hübner ist dieses Toleranzprinzip zentral. Denn es ist dieerkenntnistheoretische Voraussetzung und Rechtfertigung für dasThema, das im Mittelpunkt seines gesamten Philosophierens steht.Hübner hat umfangreiche Studien zurmythischen und zur christlich-theistischen Wirklichkeitserfahrung vorgelegt. Er wendet auf beidesein Toleranzprinzip an und behauptet: Die mythische und auch diechristlich-theistische Wirklichkeitsauffassung seien völlig gleichbe-rechtigtmit der heute vorherrschendenwissenschaftlichenWeltsicht;die wissenschaftliche Wirklichkeitsauffassung sei dem Mythos unddem Wirklichkeitsverständnis des Christentums nicht überlegen,habe beide nicht widerlegt und könne auch beide niemals widerlegen.

Ist das Kind nun doch in den Brunnen gefallen? Ist am Ende beiHübner genau die These herausgekommen, die Realisten so fürchtenund strikt ablehnen, nämlich dass wir nicht die Wirklichkeit an sicherkennen, sondern nur erkennen, wie dieWirklichkeit uns erscheint?Hat jeder von uns nur seine subjektive Wahrheit, je nach dem, wie esihm beliebt, seine Beobachtungen theoretisch zu interpretieren?Habenwir es also insgesamtmit einemWahrheitsrelativismus zu tun,der nur notdürftig terminologisch als »Toleranz« kaschiert wird?

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieses allgemeine Tole-ranzprinzip falsch ist. In der Philosophie ist eine Klasse von Argu-menten beliebt, die man als Selbstanwendungsargumente bezeichnenkann. Ein ganz einfaches Beispiel: Angenommen, ein Philosoph be-hauptet, dass alle Sätze eine Eigenschaft F besitzen.Da die Feststellung»Alle Sätze besitzen die Eigenschaft F« selber ein sinnvoller und alswahr behaupteter Satz ist, sollte auch er die Eigenschaft F besitzen,sonst ist das ein gravierender Einwand gegen die These, alle Sätze

6 Kurt Hübner, Glaube und Denken, 5.

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besäßen die Eigenschaft F. Besitzt der Satz »Alle Sätze besitzen dieEigenschaft F« nicht die Eigenschaft F, bringt der Vollzug der Be-hauptung, dass alle Sätze die Eigenschaft F besitzen, selber einenGegenstand hervor, der die Behauptung gleich falsch werden lässt.Letztlich vergleichbar dem Fall, wo jemand zu einer Person sagt: »Siewerdenniemals erleben, dass ich auchnur ein einzigesWortmit ihnenrede!«. Indem die Person das behauptet, macht sie den Inhalt derBehauptung bereits falsch. Philosophen nennen so etwas einen per-formativen Widerspruch. Durch den praktischen Vollzug (Perfor-mation) einer Behauptung wird die Behauptung gerade widerlegt.

Solche Argumente sind immer wieder gegen skeptische undwahrheitsrelativistische Thesen vorgebracht worden. Der Satz »Esgibt keineWahrheit« ist selber ein Satz, der entwederwahr ist und sichdamit stantepede performativ widerlegt oder nicht wahr ist, und dannmuss man ihn auch nicht weiter ernstnehmen.7

Wie steht es in dieserHinsichtmitHübners Satz »DieWirklichkeitist aspektisch«? Hübner hält diesen Satz für wahr. Aber wir sollten dieSelbstanwendbarkeit dieses Satzes testen. Ergibt sich der aspektischeCharakter der Wirklichkeit selber nur aspektisch? Steht es nur unterbestimmten apriorischen Rahmenannahmen mit den Erfahrungenim Einklang, dass sich Erfahrungen nur in Abhängigkeit von einemapriorischen Rahmen machen lassen und es unterschiedliche aprio-rische Rahmen gibt, um Erfahrungen zu ermöglichen?

Ist der aspektische Charakter der Wirklichkeit eine objektive Ei-genschaft der Wirklichkeit, genauso, wie es Hübner formuliert, dann

7 Man muss sich unbedingt klar machen, dass die Behauptung, dass wir Er-fahrungen, also das Zusammenspiel von Beobachtungen und Schlussfolgerungenaus ihnen als Erkenntnis der empirischen Welt nur unter bestimmten Rahmen-annahmen machen können, wirklich auch nur für die sogenannte empirischeWelterkenntnis gilt, genausowie behauptet. EmpirischeWelterkenntnis ist auf derMetastufe angesiedelt. Daraus folgt nicht, dass alle Erkenntnis von Rahmenan-nahmen abhängig ist. Für erkenntnistheoretische oder logische Sätze auf derMetastufe gilt das in der Regel auch gar nicht, etwa gilt es nicht für die Feststel-lungen, dass wir unsere Sätze nicht direkt mit der Wirklichkeit vergleichen kön-nen, dass ein Satz und seine Negation nicht zugleich wahr sein können, dass einSatz, dessen Äußerung seinen Inhalt sofort falsch werden lässt, nicht wahr seinkann. Insofern muss das den oben stehenden Überlegungen zugrunde liegendePrinzip der Selbstanwendung nicht seinerseits als eine bloß aspektische Einsichtreflektiert oder gar relativiert werden.

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verfehlen die Wirklichkeit diejenigen apriorischen Rahmenannah-men, die es nicht erlauben, den aspektischen Charakter der Wirk-lichkeit zu erkennen und zu beschreiben. Dann wären keineswegs alle»Ontologien« gleichberechtigt.

Oder der aspektische Charakter der Wirklichkeit ist selber etwas,was wir nur aspektisch unter bestimmten apriorischen Rahmenan-nahmen erfahren können. Dann sollte Hübner nicht einfach be-haupten, die Wirklichkeit sei aspektisch. Er sollte dann auch konse-quent sein und mindestens eine der verschiedenen apriorischenRahmenannahmen ausdrücklich nennen, unter denen sich allein einaspektische Charakter der Wirklichkeit ergibt. Daraus folgt jedochimmer noch nicht dieGleichberechtigung aller »Ontologien«. Es folgterst einmal nur dieMöglichkeit, zwischen solchenRahmenannahmenzu unterscheiden, innerhalb derer die Wirklichkeit als aspektisch er-fahrbar wird, und solchen, die diese Erfahrung nicht zulassen. Undwiederum könnte es sinnvoll und vernünftig sein, genau diesen Un-terschied zum Kriterium zu erheben, welche Ontologien ernsthaft inFrage kommen und welche nicht. Scheiden für jemanden allerdingsvon vornherein solche apriorischen Rahmenannahmen aus, die dieWirklichkeit als aspektisch beschreiben, so glaubt der Betreffendenicht an den aspektischen Charakter der Wirklichkeit. Also kannHübner eine solche Haltung nicht kohärent einnehmen, ohne inWahrheit von seiner These vom aspektischen Charakter der Wirk-lichkeit abzurücken. Jemand, der vom aspektischen Charakter der füruns erfahrbaren empirischen Wirklichkeit überzeugt ist, sollte alsokonsequenterweise auch alle Ontologien verwerfen, die nicht erlau-ben, den aspektischenCharakter der für uns erfahrbaren empirischenWirklichkeit zu erkennen und zu beschreiben. Wiederum erweisensich – entgegen Hübners Toleranzprinzip – nicht alle Ontologien alsgleichberechtigt.

Aus Hübners Thesen über Erfahrung als Metaerfahrung und denaspektischen Charakter der Wirklichkeit folgt also nicht nur nichtdeduktiv zwingend sein Toleranzprinzip, sondern angesichts derbeiden Thesen ist es nur konsequent, nicht alle »Ontologien« alsgleichberechtigt zu betrachten, sondern diejenigen zu verwerfen, dieden aspektischen Charakter der Wirklichkeit direkt oder indirektausschließen.

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Wann lässt uns ein apriorischer Erfahrungsrahmen den Aspekt-charakter der Wirklichkeit nicht erfahren? Betrachten wir einenapriorischen Erfahrungsrahmen R, der uns unter anderem erfahrenlässt, dass p der Fall ist. Es gilt zunächst, die besondere Perspektivitätdieser Erfahrung sichtbar und explizit zu machen. Das geschiehtdurch eine Einsicht, die folgendermaßen zu formulieren ist : Dass pder Fall ist, wird nur dann durch einschlägig interpretierte Beobach-tungen hinreichend gestützt, falls man den apriorischen Rahmen Rzugrunde legt; unter den und den anderen und ebenfalls möglichenRahmenannahmen erfährt man nicht, dass p der Fall ist, oder manerfährt sogar, dass nicht-p der Fall ist. Es kann sich nun Folgendesherausstellen: Indem die Perspektivität bestimmter Erfahrungenunter anderem durch die Konfrontation mit anderen Perspektivenexplizit gemachtwird, ist esMenschen auf einmal nichtmehr imErnstmöglich, am apriorischen Erfahrungsrahmen R weiterhin festzuhal-ten. Der apriorische Erfahrungsrahmen R wird eingetauscht gegeneinen anderen Erfahrungsrahmen, der im Spiel war, um R als einebesondere und keineswegs notwendige und zwangsläufige Perspek-tive unter anderen Perspektiven zu identifizieren.

Genau das ist mit dem antiken griechisch-römischen Götterglau-ben geschehen. Er sah sich konfrontiert mit drei alternativen Per-spektiven, nämlich der alternativen Perspektive der klassischen grie-chischenPhilosophie, dannmit dermonotheistischenPerspektive desChristentums und schließlich mit der Perspektive der neuzeitlich-modernen Wissenschaften. Diese Konfrontation mit alternativenPerspektiven hat unabweisbar kenntlich gemacht, dass dermythischeWeltzugang sich eben eines bestimmten Erfahrungsrahmens ver-dankt, der aber keineswegs ohne Alternative dasteht. Und dieseEinsicht in die begrenzte Perspektivität hat der mythische griechisch-römische Götterglaube am Ende nicht überlebt.

Warum das so ist, kann man schnell einsehen. Man kann nichtkohärent die Welt der sinnlichen Erscheinungen als ein Durch-wirktsein von göttlichen Wesen erleben und zugleich wissen undeingestehen, dass die Götter nur das Apriori eines besonderenWeltzugangs sind, dem Alternativen zur Seite stehen. Stellen wir unsjemanden vor, der sagt: »Ganz gewiss, alles in derWelt ist vonGötterndurchwirkt und wir, die Sterblichen, sind nichts ohne sie; aber na-türlich: die Annahme von Göttern ist nur das Apriori unseres spe-

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zifischen Weltzugangs, Philosophen, Christen und Wissenschaftlerhaben jeweils andereWeltzugänge und in denen ist vonGöttern keineRede mehr. Trotzdem sind sie mit meiner Sicht einer Welt vollerGötter gleichberechtigt.« Wer so etwas ernsthaft sagt, steht längstnicht mehr auf dem Boden der mythischen Weltauffassung. Er hataufgehört, noch ernsthaft an Götter zu glauben und echte mythischeErfahrungen zu machen.

Dass ein Zugang zur Wirklichkeit seine Perspektivität ausschließtund nicht erkennen lässt, ist eine Schwäche und ein Defizit. Umge-kehrt ist es eine Stärke und ein Fortschritt, wenn ein Zugang zurWirklichkeit problemlos seine eigene Perspektivität und die Tatsachevon Alternativen einräumen, erkennen und erklären kann, ohnedeshalb inkohärent oder unplausibel zu werden.

Genau diese Vorzüge weist der wissenschaftliche Zugang zurWirklichkeit auf. Denn erstens kann die These vom Aspektcharakterder Wirklichkeit innerhalb der Wissenschaften und der Philosophieformuliert werden. Zweitens sind es die Geistes- und Kulturwissen-schaften, die uns erlauben, etwa die antiken Mythen als einen be-sonderen, spezifischenWeltzugang zu identifizieren und zu verstehenund zu erklären, warum es Menschen möglich ist, die mythischePerspektive einzunehmen, und zwar so einzunehmen, dass zunächstder Gedanke an Alternativen gar nicht aufgekommen ist. In diesemSinne ist der wissenschaftliche Weltzugang dem mythischen Zugangdes antiken griechisch-römischen Götterglaubens eindeutig überle-gen. Auch Hübner kann nur deshalb seine metatheoretische Kon-zeption der Erfahrung und seine These vom Aspektcharakter derWirklichkeit überhaupt formulieren, weil er fest auf dem Boden derWissenschaften und der Philosophie steht und von deren selbstre-flexiver Überlegenheit gegenüber dem Mythos kognitiv lebt. Alles,was Hübner über den Mythos weiß, weiß er aus der geistes- undkulturwissenschaftlichen Erforschung des griechischen und römi-schen Götterglaubens.

Nachdem man erkannt hat, dass die Wirklichkeit einen aspekti-schen Charakter hat, wäre es merkwürdig, wollte man einem Welt-zugang das Wort reden, in welchem das Wissen um den Aspekt-charakter der Wirklichkeit wieder verlorenginge und unartikuliertbleiben müsste. Schließlich begreifen wir mit der These vom aspek-tischen Charakter der Wirklichkeit etwas so Wichtiges an der be-

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sonderen Stellung desMenschen imGanzen derWirklichkeit, dass esein kolossaler Rückschritt wäre, ginge dieses Wissen über uns selbstwieder verloren. Nach dieser Einsicht kommt der griechisch-römi-sche Götterglaube als Rahmen, über den sich uns die Wirklichkeiterschließen könnte, einfach nicht mehr in Frage. Der griechisch-rö-mische Götterglaube ist endgültig tot.8

Umso unverständlicher ist, dass Hübner ausdrücklich ein zweitesToleranzprinzip behauptet für solche apriorischen Erfahrungsrah-men, die es nicht erlauben undüberstehen, sichmetatheoretisch selbstzu reflektieren, zu explizieren und mit Alternativen zu konfrontieren.Er nennt solche Wirklichkeitsauffassungen nichtontologisch odernicht von einer Ontologie abhängig. Diese Formulierung ist schonmerkwürdig. Wirklichkeitsauffassungen sind immer von Rahmen-annahmen abhängig, das ist ja gerade der Clou von Hübners Über-legungen. EineWirklichkeitsauffassung kann höchstens in demSinne»nichtontologisch« sein, dass sie sich so präsentiert und vielleichtsogar präsentierenmuss, dass sie ihren apriorischen Rahmennicht alssolchen expliziert und kenntlich macht. Wie auch immer, Hübnerformuliert jedenfalls:

»Nichtontologische oder von keiner Ontologie abhängige Wirklich-keitsauffassungen mit ihren besonderen (numinosen) Erfahrungenlassen sich wegen dieser Wirklichkeitsauffassungen ontologisch nichtwiderlegen, sie seien in deren Außenbetrachtung begriffswissenschaft-lich in eine Ontologie transformierbar oder nicht.«9

DiesesToleranzprinzip folgt nicht nur nicht aus demAspektcharakterder Wirklichkeit. Es widerspricht sogar der These vom Aspektcha-rakter der Wirklichkeit.

Nein, es bleibt wirklich nur die These vonHübner, dass wirmit derobjektiven Wirklichkeit immer erst auf der Metastufe konfrontiertsind. Diese These ist nicht durch die beiden Toleranzprinzipien vonHübner zu ergänzen. Sie muss vielmehr ergänzt werden durch die

8 Wir können hier leider nicht der interessanten Frage nachgehen, ob im Ge-gensatz zum mythischen Götterglauben der christliche Monotheismus seinenaspektischen Charakter ausdrücklich einräumen kann. Meine These wäre, dasssich die Frage in der Tat mit Ja beantworten lässt.

9 Kurt Hübner, Glaube und Denken, 7.

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Einsicht: Als apriorische Erfahrungsrahmen scheiden die aus, dienicht verträglich sindmit ihrermetatheoretischen Selbstreflexion undSelbstartikulation. Solche apriorischen Erfahrungsrahmen sind nichtin der Lage, uns die Wirklichkeit, die aspektisch ist, angemessen undvollständig zu erschließen.

Auch wenn jede Erkenntnis im Sinne von Hübner aspektisch ist,bleiben sehr wichtige Intuitionen und Prinzipien der Realisten ge-wahrt, wenn auch nicht alle.10 Zunächst einmal: Ein zentrales Prinzipder Realisten ist der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: EinSatz und seine logische Negation können nicht zugleich wahr sein.Das Prinzip gilt selbstverständlich auch für Aussagen auf der Meta-stufe. Es liegt ja sogar der Quine’schen Regel wesentlich zugrunde,denn die Regel ergibt nur Sinn, wenn logisch-begriffliche Wider-sprüche zu beseitigen sind.

Außerdem haben die Realisten die Intuition, dass wir als wahr-nehmende und schlussfolgernde Wesen mit etwas konfrontiert sind,das nicht einfach nur unser willkürliches kognitives Konstrukt ist unddas wir uns deshalb nicht so zurechtlegen können, wie wir es gernehätten. Insbesondere drängen sich uns bestimmte Wahrnehmungenauch gegen unseren Willen und gegen unsere Erwartungen undHoffnungen auf, denen wir dann bei der Beschreibung der Wirk-lichkeit gerecht werden müssen.

Auch diese Intuition lässt sich wahren, aber natürlich nicht so, wieder naive, selbstvergessene Realist sie formuliert. Auch sie muss aufdieMetastufe gehoben werden. Dann bleibt aber richtig, dass sich unsein bestimmter Zusammenhang zwischen apriorischen Erfahrungs-rahmen, Beobachtungen und durch Beobachtungen gestützte oderwiderlegte Aussagen aufdrängt. DenWiderstand der Realität erlebenwir auf der Metastufe als unerwartete und ärgerliche logische Wi-dersprüche innerhalb dessen,waswir bis dahin glaubten.Undbei dem

10 Ein ontologischer Realismus, wonach es eine von unseren geistigen Aktenunabhängige Wirklichkeit gibt, bleibt, wie die nachfolgenden Überlegungen ge-nauer zeigen, im Perspektivismus vollständig gewahrt. Insofern der ontologischeRealismus sich mit einem erkenntnistheoretischen Realismus verbindet, dass wirdie Welt auch so erkennen, wie sie unabhängig von uns existiert, müssen amRealismusAbstriche gemacht werden, die alle darauf hinauslaufen, den Realismusnicht erkenntnistheoretisch naiv zu vertreten, sondern im Einklang mit wichtigenEinsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

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Versuch, diese Widersprüche zu beseitigen, bewähren sich verschie-dene apriorische Erfahrungsrahmen unterschiedlich gut. Bei man-chen apriorischen Erfahrungsrahmen müssen wir erleben: Kaum istein Widerspruch im Rahmen des betreffenden apriorischen Erfah-rungsrahmens aus der Welt geschafft, werden an anderer Stelle inunserem Netz von Überzeugungen unerwartete und ärgerliche neueWidersprüche erzeugt und sichtbar, auf die zu reagieren wir danngenötigt sind. Hingegen nimmt bei anderen apriorischen Rahmen-annahmen der Zwang, Widersprüche in unseren Überzeugungenbeseitigen zu müssen, tendenziell immer stärker ab. Immer seltenermüssenwir dieQuine’sche Regel anwenden. Aber diesenUnterschiedzwischen apriorischen Rahmenannahmen können wir nicht a priorideduzieren, vielmehr müssen wir in Erfahrung bringen, was sichlängerfristig ergibt, wenn wir unsere Begriffe und Behauptungen überdie Welt nach Maßgabe des einen oder des anderen apriorischenErfahrungsrahmens bilden und organisieren.

Und noch etwas haben wir gesehen: Nicht jeder apriorische Er-fahrungsrahmen überlebt den Versuch, ihn als spezifische Zugangs-weise zur Wirklichkeit (als spezifische Wirklichkeitsauffassung)durch Konfrontation mit alternativen apriorischen Erfahrungsrah-men kenntlich zu machen. Auch das ist eine Metaerfahrung, die wirnicht a priori vorwegnehmen können, sondern die wir nur dadurchgewinnen können, dass wir mit verschiedenen apriorischen Erfah-rungsrahmen auch tatsächlich Erfahrungen auf der Metastufe zumachen versuchen. Hübner hat schon recht: Nicht in Sätzen auf derObjektstufe, sondern in wahren Sätzen auf derMetastufe erfahrenwiretwas von der empirischen Welt, die unabhängig von unseren geis-tigen Akten, uns auf sie zu beziehen, existiert. Perspektivismus undRealismus schließen sich nicht aus. Sie sind bestens miteinandervereinbar. Perspektivismus ist ein Realismus, der nicht erkenntnis-theoretisch naiv daherkommt, sondern sich auf der Höhe wichtigerEinsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie befindet.

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II.

So – und anders verstehen.

Hermeneutischer Perspektivismus

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David Weberman

Hermeneutischer PerspektivismusWarum er durchaus Raum für wahrheitsbezogeneKriterien lässt

Im ersten Teil möchte ich eine Konzeption des hermeneutischenPerspektivismus (HP) entwickeln, die sich vor allem von NietzschesPerspektivismus abhebt. Im zweiten Teil befasse ich mich dann mitzwei wichtigen Einwänden gegen einen solchen Perspektivismus.Zunächst mit der Behauptung, dass der HP die Möglichkeit wahr-heitsbezogener Kriterien verbaut, die es uns gestatten würden, etwasals falsch zu bezeichnen. Der zweite Einwand betrifft das von mir sogenannte ›KombinatorischeDilemma‹, vor das sich derHP angeblichgestellt sieht, da er entweder in einenAbsolutismus zurückfällt, weil erzulässt, dass sich die Perspektiven zu einem einzigen Gesamtbildkombinieren, oder aber in Widersprüchlichkeit landet (wider-sprüchliche Wissensansprüche als wahr gelten lässt, was gegen denSatz vom ausgeschlossenen Widerspruch verstoßen würde). Gegendiese beiden Einwände möchte ich den HP verteidigen.

I. Die drei Typen des Perspektivismus

Der Perspektivismus ist eine Art Pluralismus, da er unterstellt, dassverschiedene Perspektiven eine Pluralität von Weisen der Welter-fassung erlauben und dass sich jegliche Welterfassung stets auf dieeine oder andere Weise perspektivisch vollzieht. Man kann dem Er-fassen durch Perspektiven also unmöglich entkommen, und eineletztendlich privilegierte Perspektive gibt es nicht. Die Gegenpositionzu diesem Standpunkt wäre ein Monismus oder Absolutismus. Sieunterstellt, dass es einen bestimmten privilegierten Blick auf die Weltoder sogar eine nicht-perspektivische Form der Welterfassung gibt,die man auch als ›standortlosen Blick‹ bezeichnen könnte, der dieWelt genau so erfasst, wie sie wirklich ist. Diese Form des Absolu-tismus oder des Monismus behauptet nicht etwa, dass wir über einen

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derartigen ›standortlosen Blick‹ bereits verfügen, vielmehr wird le-diglich unterstellt, dass ein solcher Blick prinzipiell möglich und füruns annäherungsweise erreichbar ist.

Im Folgenden möchte ich zwischen drei Typen des Perspektivis-mus differenzieren. Man könnte diese Typen etwa danach unter-scheiden, wie sie den Begriff der Perspektive deuten beziehungsweisewie sie die Unentrinnbarkeit von Perspektiven begründen. Auf dieseFragenwerde ich späternoch zurückkommen.Doch zunächstmöchteich die verschiedenen Typen danach klassifizieren, ob sie Kriterienanbieten, um die verschiedenen Weisen der Welterfassung zu be-werten, und für den Fall, dass sie das tun, ist die Frage zu stellen, vonwoher diese Kriterien kommen.

Der erste Typ, ein anarchischer oder Alles-ist-möglich-Perspekti-vismus, ist der extremste von allen. Er behauptet, dass es überhauptkein Kriterium dafür gibt, warum irgendeine Welterfassung gegen-über irgendeiner anderen den Vorzug verdienen könnte. Ihm zufolgesind alle diese Erfassungsweisen gleichberechtigt, weil es für jede vonihnen stets eine mögliche Perspektive gibt, die sie legitimiert, und eszwischen den Perspektiven selbst keinerlei gerechtfertigte Präferen-zen gibt. Vermutlich gibt es keinen ernstzunehmenden Philosophen,der diese Auffassung wirklich vertritt, trotzdem verdient sie es, hiererwähnt zu werden, und sei es auch nur, um einen bestimmtenKontrast zu verdeutlichen.

Der zweite Typ macht geltend, dass das Fehlen epistemischerKriterien, die es uns gestatten würden zu sagen, welcheWelterfassungdie Dinge richtig beziehungsweise falsch wiedergibt, uns nicht daranhindern sollte, einigen Welterfassungen – auf der Basis nicht-epis-temischer Kriterien wie etwa der Nützlichkeit – gegenüber anderenden Vorzug zu geben. Wenn Nietzsche beispielsweise sagt, dass eskeine Tatsachen, sondern nur Interpretationen gibt,1 und anschlie-ßend der einen Interpretation gegenüber einer anderen den Vorzuggibt, weil die erste lebensbejahender ist als die zweite, habenwir esmitder zweiten Variante des Perspektivismus zu tun. Dieser Typus hatzwar keine Kriterien, Richtigkeit zu bestimmen, wohl aber um Prä-ferenzen geltend zu machen. Wobei man kein Nietzscheaner zu sein

1 Siehe Friedrich Nietzsche, Nachlass, in: KSA, hrsg. Giorgio Colli und Maz-zino Montinari, Berlin/New York 1999, Band 12, 315.

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braucht, um diesem zweiten Typ etwas abzugewinnen. So wäre hieretwa ein religiöser Pluralismus zu verorten, der beispielsweise be-hauptet: 1) Es gibt eine Pluralität wechselseitig unvereinbarer reli-giöser Glaubenssysteme; 2) Es ist nicht möglich zu sagen, dass einesodermehrere davon richtig, andere hingegen falsch sind; 3) Es ist abermöglich und durchaus rational, auf der Basis nicht-epistemischer undüberdies nicht-Nietzscheanischer Kriterien eines davon gegenüberdenübrigen zu bevorzugen, etwaweil eine bestimmteReligion zufälligmeine Tradition ist und mir deshalb besonders bedeutungsvoll er-scheint. Dieser zweite Typ des Perspektivismus besitzt einen beson-deren Wert vielleicht gerade in der religiösen Sphäre, wo Wahr-heitsansprüche nicht verifizierbar sind und die religiöse Toleranzdazu dient, uns ein Leben inwechselseitigemRespekt zu ermöglichen.

Der dritte Perspektivismus-Typ zeichnet sich dadurch aus, dass ernicht bereit ist, auf epistemische Kriterien zu verzichten. Selbst wennes einen nicht-perspektivischen Blick auf die Welt oder eine privile-gierte Perspektive nicht gibt, so die Auffassung seiner Protagonisten,gibt es gleichwohl Kriterien zur Bestimmung derWahrheit, die es unserlauben zu sagen, wann etwas stimmt und wann nicht. Es mag zwareine Vielzahl von Wahrheiten geben, doch folgt daraus durchausnicht, dass alles (oder nichts) wahr ist. Diese dritte Form des Per-spektivismus ist sogar mit einer kritischen Haltung gegenüber ge-wissen Perspektiven selbst vereinbar, wobei die Möglichkeit dieserkritischen Haltung eine intensivere Auseinandersetzung mit demKonzept der Perspektive erfordert. Der hermeneutische Perspekti-vismus in der Tradition Heideggers und Gadamers gehört zu diesemPerspektivismus der dritten Art.

II. Eingrenzung des hermeneutischen Perspektivismus

Der hermeneutische Perspektivismus lässt aber nicht nur epistemi-sche Kriterien zu.Um seine Besonderheit aufzuzeigen,möchte ich ihnhier Nietzsches und damit dem berühmtesten Perspektivismusüberhaupt gegenüberstellen.

1. Nietzsche sagt: »Es gibt vielerlei Augen […] und folglich gibt esvielerlei ›Wahrheiten‹, und folglich gibt es keine Wahrheit.« Undweiter: »›[…] es gibt nur Tatsachen‹, [ ich] würde sagen, nein, gerade

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Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«.2 Diese Ausführungenzeigen, dass Nietzsche den dritten Perspektivismus-Typ nicht gut-heißt. Aber seine Behauptung, dass es nur »Interpretationen« gibt,bringt noch etwas anderes zutage. Denn für Nietzsche schließen sich»Interpretation« und »Wahrheit« wechselseitig aus. Interpretation istdas, was uns bleibt, weil sich die Wahrheit im üblichen Wortsinnunserem Zugriff entzieht. Für die Hermeneutik dagegen schließensich die beiden Begriffe nicht aus. Für die Hermeneutik ist jedeWelterfassung Interpretation, dabei sind einige dieser interpretativenZugriffe jedoch wahr (andere nicht). Tatsächlich ist Wahrheit aushermeneutischer Sicht nur möglich, weil wir schon durch das Inter-pretieren sinnhafte Referenzeinheiten konstruiert haben.

2. Mit der Idee der Interpretation geht aber noch ein zweiter Punkteinher. Was genau bringen Perspektiven eigentlich zum Vorschein?Nietzsche verweist hier in Übereinstimmung mit der traditionellenPhilosophie, aber auch mit der heutigen analytischen Philosophie aufdie Wissensansprüche, das heißt auf Ansprüche in Gestalt einespropositionalen Wissens. Unter Rückgriff auf das von Heidegger inSein undZeit vertreteneArgument, dassVerstehenund Interpretationgrundlegender sind als propositionale Erkenntnisse, sind Proposi-tionen für die Hermeneutik bloß die Spitze des Eisbergs. Noch fun-damentaler ist jedoch ein holistisches System von Grundannahmen,das es uns erlaubt, den Dingen eine bestimmte theoretische undpraktische Bedeutung zu geben, wobei diese Sinn-Konstruktion nichtunbedingt propositional oder bewusst oder explizit zu sein braucht.Bevor wir beispielsweise zu demWissensanspruch gelangen, dass »xdiese oder jene Eigenschaften« besitzt, müssen wir zuerst einmal dasKonzept x selbst schaffen, indem wir die Dinge auf eine bestimmteWeise so konstruieren, dass x als Referenzgröße verfügbar wird. Ausdiesem Grund habe ich gesagt, dass es sich beim Perspektivismus umeine Theorie über unsere Form des Welterfassens handelt, wobei dasWelterfassen nicht nur unsere Wissensansprüche umfasst, sondernebenfalls unsere grundlegenden nicht-propositionalen Interpretatio-nen dessen, was da draußen vor sich geht.

2 Ebd., 218.

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3. Womit wir beim nächsten Punkt wären: Falls es richtig ist, dassunser Welterfassen das Bedingte ist, dann ist die Perspektive dasje-nige, das bedingt. Doch was genau ist eine Perspektive oder andersausgedrückt, was macht den Unterschied zwischen verschiedenenPerspektiven eigentlich aus? Im Bereich der visuellenWahrnehmunghängen solche Differenzen der Perspektive mit dem Standort desBetrachters zusammen, das heißtmit unserer Position imRaum (undhier kommt es nur auf den Blickwinkel, nicht auf die Entfernung an).Für Nietzsches Zwecke ist dieses Verständnis der Perspektive freilichzu begrenzt, weil er sich zu allen möglichen Wissensansprüchen äu-ßern möchte, nicht nur zu jenen, die das Aussehen der Dinge be-treffen. Das gleiche gilt für die Hermeneutik. Wir müssen also zu-nächst mehr darüber in Erfahrung bringen, was es mit denPerspektiven auf sich hat, woher sie kommen und was konstitutiv fürsie ist.

Für Nietzsche ist unsere Perspektive nicht das Ergebnis einer be-wussten Wahl, sondern vielmehr das Produkt unserer inneren psy-chobiologischen Dynamik. So schreibt er an einer Stelle: »Wer legtaus? Unsere Affekte«3. Oder vielleicht sollte man auch sagen, dass esbei Nietzsche vor allem umunsere Begierden, Affekte und Triebe undum unsere aktive bzw. reaktive Orientierung im Hinblick auf dieErhaltung und Steigerung von Macht geht. Das mag eine bisweilensehr hilfreiche explanatorische Strategie sein. Sie scheint mir aller-dings der Fragestellung in ihrem ganzen Umfang unangemessen zusein. Erstens lässt diese Definition so viele andere Möglichkeiten au-ßer Acht. Und zweitens fehlt es ihr an Tiefe, da durchaus denkbar ist,dass unsere biopsychologische Konstitution sich zu einem kleinerenoder größeren Teil durch etwas anderes erklären lässt, etwas Funda-mentaleres, beispielsweise unsere historischen und kulturellen Ge-gebenheiten. Nietzsches eigenen genealogischen Erklärungsversuchescheinen diese Auffassung sogar zu bestätigen.

Die Hermeneutik räumt den Determinanten perspektivischerDifferenzen breiten Raum ein und berücksichtigt dabei das ganzeSpektrum der zahlreichen Aspekte historischer Verortung. DasFundament dieser Betrachtungsweise hat Heidegger in Sein und Zeit

3 Friedrich Nietzsche, Nachlass, in: KSA 12, 140.

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gelegt. Dabei geht es zunächst einmal um die Vorstruktur des Ver-stehens.4 Wie wir die Dinge auffassen, ist stets in einer solchen vor-gegebenen Struktur begründet. Dieser vorstrukturliche Hintergrundvariiert je nach Zeit und Ort. Er besteht aus Vorgriff (d.h. etwa einemBegriffsschema), Vorsicht (einer Art der Wahrnehmung) und ins-besondere aus Vorhabe (unserer Geformtheit durch die Lebenspraxisund durch Ziele). Das – alle drei Komponenten – macht uns zu dem,der wir sind, und gibt uns (im Heidegger’schen Verständnis desWortes) unsereWelt oder einenBedeutsamkeitszusammenhang, kraftdessen die Dinge für uns sind, wie sie nun mal sind. Erst vor diesemHintergrund interpretierenwir dieDinge undnehmen sie alsdies undnicht jenes. Und erst dank dieses interpretativen Die-Dinge-als-et-was-Nehmen verfügen wir über die notwendigen Bausteine, umüberhaupt Aussagen (Propositionen) zu machen und Wissensan-sprüche zu erheben. Die Perspektive und das, was »perspektivisch«erscheint, haben drei Ebenen: i) den vorstrukturlichen Hintergrund;ii) das deutende Als-etwas-Nehmen der Dinge als dies oder jenes undiii) die Wissensansprüche. Wobei wiederum die Formen der Welt-erfassung je nach historischer Verortung variieren. Gadamer gehtexpliziter als Heidegger darauf ein, wie es zu Veränderungen in derhistorischen Hintergrund-Verortung kommen kann und wie dieseauch die Welterfassung verändern können. Dabei muss es sich beisolchen Veränderungen der historischen Verortung nicht einmal umgedankliche Erschütterungen handeln. So kommt es etwa infolgebestimmter Modifikationen und Entwicklungsprozesse der Spracheund der Tradition, durch Ereignisse oder neue Zeithorizonte etc. zuschrittweisen Veränderungen. Diese Veränderungen generieren neueFragen und neue Beziehungen zwischen den Dingen dort draußenund zwischen jenen Dingen und unseren Überzeugungen, Wertenund Einstellungen. Gadamer bezeichnet jene Dinge, die unsereWeltwahrnehmung formen, als Vorurteile.5 Aus meiner Sicht istdieser Terminus unglücklich gewählt und missverständlich. Denn erlässt nicht nur an unhaltbare Vorurteile (etwa gegen Gruppen vonMenschen) denken, sondern unterstellt, dass dieser Hintergrund sichin Gestalt von Urteilen präsentiert, das heißt in Form mehr oder

4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, 150.5 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Tübingen 1990, Band 1, 281ff.

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weniger expliziter propositionaler Glaubenssätze. Heidegger dagegenbehauptete, dass es sich bei diesem Hintergrund nicht etwa um eineAnsammlung von Glaubenssätzen, sondern um etwas Tiefgründige-res, etwas weniger Explizites, etwas Sub-Propositionales handelt. Aneiner Stelle spricht Gadamer sehr viel treffender von »Voreinge-nommenheiten« statt von Vorurteilen.6 Und er zeigt uns, wie sichdiese Voreingenommenheiten zur Geltung bringen, und begründetihre Unvermeidbarkeit, ihre Produktivität und Legitimität.

In der vorstehenden Darstellung ging es darum, die prinzipiellenDivergenzen zwischen Hermeneutik und Nietzsches Perspektivismussichtbar zu machen. Ich möchte im Folgenden aber noch auf zweiweitere Punkte eingehen, die für jede perspektivistische Theoriewichtige Fragen aufwerfen.

4. Bis zu welchem Grad sind Perspektiven fixiert? Wie leichtkönnen sie sich verändern? Können wir eine Perspektive einfachwillentlich aufgeben, einnehmen oder transformieren? Um dieseFragen im Hinblick auf Nietzsches Theorie zu beantworten, müssenwir zuvor noch etwasmehr über die Konstanz unserer Biopsychologieundüber unsere Interventionsfähigkeit inErfahrung bringen.Was dieHermeneutik anbelangt, hängt dieAntwort vondenAspektenunsererhistorischen Verortung ab, mit denen man es gerade zu tun hat. EineZeitmaschine ist jedenfalls keine Option. Doch wie bereits erwähnt,kommt es in unserem Hintergrund immer wieder zu kleineren odergrößeren Veränderungen. Je nach dem Vorzeichen, unter dem mandie Dinge betrachtet, verändern sie sich mal wie von selbst, es kannaber auch willentliche Eingriffe geben, um sie zu verändern (etwawenn wir unseren Horizont erweitern, indem wir uns ganz gezieltneues Wissen aneignen).

5. Eine perspektivistische Theorie bedarf im Übrigen einerschlüssigen Argumentation gegen den Absolutismus und zugunstender Unentrinnbarkeit der Perspektive. Ich möchte Nietzsche gegen-über nicht unfair sein, aber mir scheint, dass er sich in seiner Argu-mentation hier auf die simple Tatsache stützt, dass wir lediglichKreaturen mit Affekten und Trieben sind: dass sich dieser Umstandnicht leugnen lässt, sondern alles strukturiert, was wir sehen, glauben

6 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Tübingen 1990, Band 2, 224.

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und bewerten.Wenn wir uns jedoch allein auf diese Tatsache stützen,so hat das eineKonsequenz, die denPerspektivismusmeinerMeinungnach schwächt. Diese Argumentation lässt nämlich die Möglichkeitoffen, dass wir immerhin unser Bestes tun könnten, um unsere Vor-urteile abzuschütteln – wenn auch vielleicht nur mit begrenztemErfolg – und einen gewissen Grad an Objektivität zu erreichen. Da-gegen ist das Argument, das die Hermeneutik gegen den Absolutis-mus ins Feld führt, deutlich belastbarer. Heidegger wie Gadamerbetonen nämlich beide, dass die Existenz einer im Hintergrund ste-henden Vorstruktur unsere Erfassungsweisen nicht nur strukturiert,sondern sie überhaupt erst ermöglicht.Wir können unsere Vorurteilenicht abschütteln, um zu ergründen, wie die Objekte wirklich sind,weil es solche ›Objekte‹ ohne die konstitutive Rolle des Hintergrun-des überhaupt nicht gibt.Warum verhält sich dies so? Nicht etwa weiles dort draußen überhaupt keine Welt gäbe (denn die Hermeneutikbefürwortet weder einen Idealismus, der die Existenz einer unab-hängigen Realität leugnet, noch sollte sie dies tun), sondern weil dieWelt dort draußen stumm, undifferenziert und unstrukturiert ist. Siehat keine Konturen, bleibt unerkennbar, solange sie nicht in ihrenwechselseitigen Bezügen gesehen wird, und diese wechselseitigenBezüge wiederum sind von einem Schema der Sinnstiftung abhängig,das wir selbst mitbringen müssen. Dieses Schema ist aber, anders alsbei Kant, stets historisch kontingent und partikular. Diese Argu-mentation bedarf noch einer weiteren Explikation, aber sie bildetgewissermaßen das Herzstück des hermeneutischen Projekts.

Was den hermeneutischen Perspektivismus auszeichnet, ist alsoder Umstand, dass er eine Pluralität von Weisen der Welterfassungund eine Pluralität von Wissensansprüchen zulässt, was auf die un-terschiedlichen Situierungen in der Geschichte und die divergieren-den Hintergrundbedingungen zurückzuführen ist, die von divergie-renden Situierungen bestimmt sind. Dies alles ist der Interpretationunterworfen (in dem Sinne, dass dabei etwas für etwas genommenwird), trotzdem erlaubt dieser Hintergrund eine epistemische Be-wertung, die zwischen wahr und falsch unterscheidet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der hermeneuti-sche von Nietzsches Perspektivismus durch sein Verständnis vonWahrheit, durch seine Erklärung der Verschiedenheit der Perspekti-

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ven und durch die Gründe unterscheidet, die er für die Verteidigungdes Perspektivismus geltend macht.

III. Die Suche nach Wahrheitskriterien

Wenden wir uns nun wieder der Frage nach den epistemischen Kri-terien zu: Woher kommen sie? Nietzsche ist offenbar zu der Ein-schätzung gelangt, dass mit dem Pluralismus automatisch der Verlustepistemischer Kriterien einhergeht. Und die Hermeneutik deszwanzigsten Jahrhunderts ist mit der Frage nicht ins Reine gekom-men. Obwohl Heidegger und Gadamer am Konzept der Wahrheitfesthalten möchten, haben sie für das Wahrheitsproblem keine Lö-sung anzubieten. So sagt etwa Heideggers Theorie der Wahrheit alsErschlossenheit oder Unverborgenheit nichts darüber aus, wann undaus welchen Gründen man eine solche Erschlossenheit als falsch be-zeichnen könnte, wie Tugendhat gezeigt (und Heidegger schließlicheingeräumt) hat. Gadamer beschäftigt sich ebenfalls mit dem Themaund verweist auf die Notwendigkeit, wahr und falsch auseinander-zuhalten, gibt uns aber kaum einen Fingerzeig, wie dies zu bewerk-stelligen wäre. An einer Stelle sagt er, dass die Zeit selbst darüberentscheidet, was einer kritischen Überprüfung standhält und wasnicht. Aber das ist eine unangemessene Antwort. Erstens wissen wirunter diesen Umständen zu keinem Zeitpunkt, was wahr ist, weil dieZukunft unser Urteil umstoßen könnte. Schlimmer noch:Wir wissennicht, was es für etwas bedeutet, wahr oder falsch zu sein, da wirunsere bisherige Vorstellung, der zufolge es sich bei derWahrheit umdie je eine zutreffende Beschreibung eines Sachverhalts handelt, ein-fach aufgegeben haben, ohne sie durch ein anderes Konzept zu er-setzen. Eine wichtige Kritik an der Hermeneutik lautet, dass sie allesim Ungefähren belässt. Und diese Kritik bedarf einer überzeugendenAntwort, wenn die Hermeneutik überleben will. Wir können nichtalles im Ungefähren belassen. Vielmehr sollten wir imstande sein zusagen, dass die Erde keine Scheibe und dass Trumps falsche Be-hauptungen falsch sind.

Warum herrscht eigentlich die Auffassung, dass man dem Per-spektivismus (ja, sogar jedem derartigen Pluralismus) nun auch nochdas – wie es scheint – unüberwindliche Problem des epistemischen

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Relativismus aufbürden muss? Der Gedanke dahinter ist etwa: DerRelativismus sagt, dass es nicht den einenWeg gibt, dieWelt richtig zuerfassen, weil die Welt auf keine bestimmte Weise ist (vielmehr lässtsie sich auf unterschiedliche Weisen sinnvoll deuten). So könnenunterschiedliche Lesarten durch unterschiedliche, in sich jeweilsstimmige Hintergrundschemata beglaubigt sein. Dabei gibt es keineinziges Schema, das privilegiert wäre. Ein Gegner des Perspektivis-mus würde nun sagen, dass wir unter diesen Umständen keineMöglichkeit haben festzustellen, ob eine bestimmte Lesart richtig oderfalsch ist, weil es stets ein Hintergrundschema geben könnte, das dieRichtigkeit der betreffenden Auffassung bestätigt. Es gibt also nichtmehr das eine »So ist die Welt«, das uns als Maßstab für richtig oderfalsch dienen könnte. Außerdem scheint der Perspektivismus zuimplizieren, dass es hinsichtlich der Zulässigkeit sinnstiftenderSchemata keinerlei Einschränkungen mehr gibt.

Um besser zu verstehen, worum es hier geht, wollen wir uns an-schauen, wie die Kritiker der Hermeneutik ihren Einwand vortragen.Gadamer sagt, dass es den Gegenstand der Interpretation als solchengar nicht gibt, dass dieser vielmehr zum Teil erst durch den Akt derInterpretation konstituiert wird. Das heißt, dass es sich bei Hamletoder bei der US-Verfassung um etwas handelt, dessen Bedeutungnicht bereits ein für allemal fixiert ist. Der Literaturtheoretiker Eric D.Hirsch, ein früher Gadamer-Kritiker, ist dieser Ansicht so entgegen-getreten:

»Wenn eine Bedeutung ihre Identität verändern kann und dies tat-sächlich tut, so haben wir keine Normmehr, um zu beurteilen, ob wir esmit der wahren Bedeutung in veränderter Form oder mit einer ver-fälschten Bedeutung zu tun haben […] es gibt keine Möglichkeit[mehr], das echte Aschenputtel von ihren Stiefschwestern zu unter-scheiden. Es gibt keinen Glasschuh, den wir als Prüfstein verwendenkönnen, da der Originalschuh dem neuen Aschenputtel nicht mehrpassen wird.«7

Ganz ähnlich argumentiert auch Antonin Scalia, ehedem Richter amUSSupremeCourt, nicht gegenGadamer, aber gegen denPluralismus

7 Eric D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven, CT 1967, 46.

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generell, und behauptet, dass »eine sichwandelndeVerfassung sich soverändert, wie die Mehrheit es wünscht«.8 Der Gedanke dahinter istder folgende: Wenn das Objekt, das wir erfassen, nicht eindeutig undvollkommen fixiert ist, dann habenwir auch kein Richtmaßmehr, dasuns sagt, wie man die Welt richtig oder falsch erfassen kann.

Aber diese gängige Kritik des Perspektivismus unterliegt einerTäuschung. Sie geht davon aus, dass ein Ding total unwandelbar seinmuss, damit es sich immer wieder als ein und dasselbe identifizierenlässt und falsche Behauptungen über seine Eigenschaften abzuweisenvermag. Daraus folgt jedoch nicht, dass ein sich wandelndes Objektüberhaupt keine Bestimmtheit besäße. So verändern sich etwa derKlang und die Lautstärke eines Pianos, je nachdem wo man in einemKonzertsaal platziert ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich, sofernman sich über die Randbedingungen einig ist, kein Standard oderkeine Norm angeben ließe, die es erlaubt, den Klang oder die Laut-stärke an einem Ort X zu beurteilen. Das Gleiche gilt auch für unsereAkte der Welterfassung.

Der hermeneutische Perspektivismus verfügt nämlich über Krite-rien, die es gestatten, zwischen richtigen und falschen Auffassungenzu unterscheiden. Diese Kriterien leiten sich aus den im Hintergrundwirksamen sinnstiftenden Schemata her, die das, was sich wahrhaftigüber etwas aussagen lässt, bis zu einem gewissen Grade einschränken.Ist ein solches Schema erst einmal etabliert, überprüfen wir den jegegebenen Wissensanspruch auf dieselbe Weise, wie ein Non-Per-spektivist dies tunwürde, indemwir ihn an derWelt überprüfen, aberjetzt wie sie sich aus dieser Perspektive zeigt.Mit anderenWorten:DieWahrheit ist nichts Einzigartiges, sondern vielmehr »kovariant«. Dasheißt, die Wahrheit einer Behauptung kovariiert mit der Perspektivebeziehungsweise mit dem sinnstiftenden Schema. Ist eine solchePerspektive oder ein solches Schema einmal installiert, lassen sichBehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen und er-langen eine positionale Objektivität (Amartya Sen), d.h. eine positi-onsabhängige intersubjektive Verifizierbarkeit.

Aber sind nun die Perspektiven oder die sinnstiftenden Schematairgendwelchen Einschränkungen unterworfen? Das ist eine kompli-

8 Antonin Scalia, A Matter of Interpretation, Princeton 1997, 46f.

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zierte Frage, die eine intensivere Auseinandersetzung mit der Per-spektive und dem Hintergrund-Schema (der Vor-Struktur des Ver-stehens, der konkreten Interpretation oder des Die-Dinge-als-so-oder-so-Nehmens) verlangt. Bevor wir uns mit der Frage der Be-wertung befassen, wollen wir uns noch dem Begriff der Perspektivevor allem in seinem hermeneutischen Verständnis zuwenden. Andieser Stelle ist es hilfreich, die Hermeneutik, vor allem in ihrer vonGadamer vertretenen Version, mit anderen Theorien zu vergleichen,die man als Kontext-Relativismus (»framework relativism«) be-zeichnen könnte. Mit demWort Kontext-Relativismus bezeichne ichTheorien, denen zufolge Wissensansprüche sich stets auf einenHintergrund-Kontext oder Rahmen beziehen und mit diesem not-wendig kovariant sind. Diese Rahmenbedingungen werden von denPhilosophen unterschiedlich gedeutet: etwa als Begriffsschemata, alsSprachspiele, als wissenschaftliche Paradigmen oder sogar als histo-risch/-kulturelle Glaubenssysteme. Dabei ist den meisten dieserDeutungsschemata gemeinsam, dass sie theoretisch und nicht prak-tisch sind (Wittgensteins Sprachspiele sind hier vielleicht eine Aus-nahme). Sie haben mit unseren Glaubenssätzen zu tun, unseren Be-griffen und ontologischen Vorausnahmen. Wie wir für dieHermeneutik gesehen haben, werden diese Hintergründe durch un-sere uns selbst nicht bewussten Verhaltensweisen und Ziele, unsereLebensweise konstituiert. Aber es gibt noch einen weiteren Unter-schied, der von Belang ist. Diese anderen »framework«-Theorienbetrachten das, was die Wahrheit relativiert, als ein ziemlich mäch-tiges System (z.B. als wissenschaftliches Paradigma oder als Be-griffsschema), das kleinere Veränderungen nicht so ohne weiteres zuintegrieren vermag. Für die Hermeneutik dagegen stellen sich diesinnstiftenden Schemata ganz anders dar (was bei Gadamer vieldeutlicher zutage tritt als bei Heidegger).

Gadamer geht es nicht primär darumzu erklären, wiewir dieNaturverstehen, sondern vielmehr um unser Verständnis kultureller Arte-fakte, etwa der Kunst, der Literatur, der Philosophie, aber auch his-torischer Ereignisse und kultureller Praktiken. Er behauptet, dass wirsie zwar je nach unserem historischen Standort unterschiedlich ver-stehen, dass diese Differenz aber nichts darüber aussagt, ob wir etwasrichtig oder falsch verstehen. So liest etwa ein Leser des 21. Jahr-hunderts Shakespeare oder die US-Verfassung anders als jemand, der

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um 1800 herum lebte. Warum ist das so? Nun ja, weil unsere Per-spektiven nicht mehr dieselben sind. Aber was macht nun die Per-spektiven zu dem, was sie sind, was begründet den Unterschied zwi-schen ihnen? Diese Differenz muss jedenfalls nicht darin begründetliegen, dass etwa ein Begriffssystem oder ein theoretisches Paradigmadurch ein anderes ersetzt worden wäre. Vielmehr handelt es sich umvielfältigere und oft subtilere Veränderungen. Solche VeränderungenderPerspektive könnenmanchmal beträchtlich sein. So lesenwir etwadie US-Verfassung nach Abschaffung der Sklaverei und nach derVerurteilung des Systems der Rassentrennung anders als vorher.Derartige Veränderungen können aber auch wesentlich unscheinba-rer sein. Vielleicht lesen wir Shakespeare aber auch einfach deshalbanders, weil wir mit der Lyrik der Symbolisten vertraut sind oder weilwir uns mit einem zeitgenössischen Autor befasst haben. Eine her-meneutische Perspektive ist also etwas sehr fein Gewobenes. Wasfreilich nicht bedeutet, dass sie idiosynkratisch oder kapriziös oderbeliebig wäre. Sie gründet in realen Geschehnissen und verdankt sichnicht lediglich irgendwelchen persönlichen Entscheidungen oderVorlieben. Vielmehr wandelt sich eine solche Perspektive in demMaße, wie wir verschiedenen Dingen ausgesetzt sind und somit aufverschiedene Dinge zurückgreifen können, zu denen sich ein Objektin Beziehung setzen lässt. Das Thema des Perspektivismus in derHermeneutik ist komplex und vielschichtig. Unterschiede der Per-spektive können auf Differenzen zwischen dem zurückzuführen sein,was historisch unterschiedlich situierteWissende jeweils glauben undwie sie Dinge bewerten, sie können aber auch durch die jeweils do-minanten Konzeptualisierungen bedingt sein oder aber von solchenBeziehungen zwischen Objekten abhängen, die zu einem bestimmtenZeitpunkt gerade besonders deutlich sichtbar sind.

Die Frage der Bewertung ist allerdings nicht einfach zu beant-worten. Es kommt nämlich darauf an, was im Hintergrund geschiehtund wie dies die Auffassungen beeinflusst, zu denen man gelangt.Allerdings gibt es keinenGrund anzunehmen, dass dieArt undWeise,wie etwas vor einem bestimmten Hintergrund erfasst wird, grund-sätzlich ungreifbar ist und sich dem kritischen Diskurs entzieht.Dieses Thema gibt Anlass zu weiteren Überlegungen, für die hierallerdings kein Platz ist. Ich hoffe jedoch, dass klar geworden ist,

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warum es Grund zu der Annahme gibt, dass Hintergründe sich einerkritischen Überprüfung nicht einfach entziehen.

Kriterien ergeben sich also nicht aus der Wahl eines theoretischenRahmens, vielmehr muss sich eine Weise des Welterfassens ange-sichts einer bestimmten Position bewähren, die durch eine Sprache,eine Kultur, eine je vorliegende Anzahl verfügbarer Referenzgrößendefiniert ist, die ihrerseits gewisse Fragen, Interessen und möglicheDeskriptoren generieren. Um festzustellen, ob eine bestimmteShakespeare betreffende Behauptung richtig ist, genügt es auch nicht,die eigene Position zu konsultieren, vielmehr muss man auch denShakespeare-Text selbst konsultieren, um festzustellen, ob er wirklichso ist, wie man es behauptet, und das hängt von intrinsischen wieextrinsischen Eigenschaften ab, das heißt von Eigenschaften, die derText dank seiner Beziehungen zu Dingen hat, die ihm selbst externsind.

IV. Das Kombinatorische Dilemma

In einem Text, in dem er die Legitimität der perspektivischenWahrnehmung verteidigt, schreibt der analytische Philosoph DavidWiggins:

»Die Perspektive ist nicht eine Art von Illusion, Verzerrung, Täuschung.Alle unterschiedlichen Perspektiven einer einzigen Objekt-Anordnungsindmiteinander völlig konsistent. Angesichts einer bestimmtenAnzahlvonPerspektiven könnenwiruns – sofern sie richtigwiedergegeben sind– ein in sich geschlossenes Gesamtbild von der Erscheinungsform, derräumlichen Situation und der relativen Größenverhältnisse der so an-geordneten Objekte verschaffen.«9

Wiggins verweist auf die Vereinbarkeit oder Kombinierbarkeit vonPerspektiven und begrüßt sie ausdrücklich. Gleichwohl: Wenn mandenPerspektivismus als Pluralismus versteht, führt dies aber zu einemganz bestimmten Problem. Wenn sich Perspektiven nämlich zu ei-nem Gesamtbild dessen, was dort draußen der Fall ist, zusammen-

9 DavidWiggins, »Truth, Invention, and theMeaning of Life«, in: ders.,Needs,Values, Truth, Oxford 31998, 109.

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fügen lassen, so gelangt man zu einemMonismus oder Absolutismus,nicht zu einemPluralismus oder einem vollwertigen Perspektivismus.Einfacher ausgedrückt:Wir nehmen vielleicht unterschiedlicheDingean einem Gemälde wahr – mir fällt z.B. vor allem die Textur auf,Ihnen die Farben, er interessiert sich primär für den Symbolismus derDarstellung, sie für den Marktwert. Solange diese unterschiedlichenVersionen nicht miteinander in Konflikt geraten, lassen sie sich zueiner stimmigen Gesamtaussage über das Bild zusammenfassen. Al-lerdings würde das in diesem Fall nicht etwa auf einen Pluralismusoder auf einen Perspektivismus hinauslaufen, sondern lediglich aufdie harmlose Feststellung, dass wir alle bei ein und demselben Dingjeweils unterschiedliche Aspekte registrieren. Wenn dieser Perspek-tivismus aber dazu führt, dass wir zu unvereinbaren Wissensbe-hauptungen gelangen,wenn etwa der eine sagt: »DasGemälde ist totalrot«, ein anderer dagegen: »Das Gemälde ist total blau«, so verstoßenwir gegen den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Ich be-zeichne diese Situation als das Kombinatorische Dilemma: Entwederbefinden sich Perspektiven nicht miteinander in Konflikt, sodass derabsolute Monismus unberührt bleibt, oder aber sie widersprecheneinander, und wir haben gegen den Satz vom ausgeschlossenen Wi-derspruch verstoßen. Ist ein genuiner Pluralismus also nur unterVerzicht auf eines der Grundprinzipien der Logik zu haben?

Nun ja, ich möchte hier nicht den Satz vom ausgeschlossenenWiderspruch in Frage stellen, weil kaum etwas dafür spricht, dass wirbei Anwendung einer alternativen Logik überhaupt noch sinnvolleSätze zustande bringen würden. Ebenso wenig möchte ich allerdingsauf den Pluralismus verzichten. Deshalb will mir scheinen, dass wiraus diesemDilemma nur herauskommen, wenn wir uns eingehendermit demangeblichenKonflikt zwischen perspektivischenWahrheitenbefassen.

Man könnte nun behaupten, dass es zwischen perspektivischenWissensansprüchen keinen Konflikt gibt, weil a) solche Wissensan-sprüche inkommensurabel sind oder b) weil sie zwar kommensurabelsind, ihrWahrheitsgehalt sich aber nicht über mehrere Hintergründehinweg beurteilen lässt, sondern nur wenn man sich für einen be-stimmten Hintergrund entscheidet. In beiden Fällen ist weder einausgemachter Konflikt noch ein Dissens festzustellen. Es könnte sein,dass die Entscheidung für die eine oder andere der beiden Optionen

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von demEinsatz abhängt, umden es jeweils geht. In Fällen, woman es(wegen einer Differenz im interpretativen etwas-als-etwas nehmen)mit einem unterschiedlichen Vokabular der Referenzgrößen zu tunhat, kann zwischen den Wissensansprüchen durchaus eine Inkom-mensurabilität bestehen. Hier handelt es sich um einen Pluralismus,da zwei unterschiedliche Darstellungen der Welt präsentiert werden,wobei eswegen derVerwendung zweier unterschiedlicherVokabularenicht wirklich zu einemKonflikt kommt. In anderen Fällen kommt eszu keinem Konflikt, obwohl Kommensurabilität gegeben ist. WennSie zum Beispiel einen Stuhl aus einer bestimmten Perspektive bild-nerisch darstellen und ich dasselbe aus einer anderenWarte tue, dannhaben wir es mit zwei unterschiedlichen bildnerischen Darstellungenzu tun. Sie sind kommensurabel, zumindest kann man sie leichtmiteinander vergleichen, weil sie denselbenGegenstand abbilden undsich dazu derselben bildnerischenMittel bedienen. Trotzdem geratensie nichtmiteinander inKonflikt,weil dasErscheinungsbild des Stuhlsschlicht von dem Standpunkt abhängt, von dem aus er dargestellt ist.Wenn wir es mit Aussagen dieser Art zu tun haben, erweist sich das,was wie ein Dissens erscheint, als ganz und gar nicht widersprüchlich,da es so etwas wie eineWahrheit über Perspektiven hinweg nicht gibt,sondern nur innerhalb einer bestimmten Perspektive.

Der hermeneutische Perspektivismus kann also an dem Stand-punkt festhalten, dass es eine Pluralität von Möglichkeiten gibt, dieWelt zu erfassen oder zu beschreiben, ohne gegen den Satz vomausgeschlossenen Widerspruch zu verstoßen. Nun, das ist eine ein-fache Lösung des Kombinatorischen Dilemmas, die meiner Meinungnach außerdem in einer Reihe von Fällen korrekt und effizient ist,wenn auch nicht in allen. Mitunter kommt es zu einem genuinenDissens über Perspektiven hinweg. So können beispielsweise auf re-ligiösem Gebiet zwei verschiedene Religionen Gott und andere rele-vante Konzepte auf dieselbe Art definieren, jedoch bezüglich derAttribute Gottes uneins sein, konkreter ausgedrückt: hinsichtlich derFrage, ob Gott Jesus Christus die Rolle eines Erlösers des Menschenvon der Sünde zugewiesen hat. Den Standpunkt des Perspektivismusund des Pluralismus zu vertreten heißt nicht, sämtliche Dissense zueliminieren. Und wennman sich an Gadamer hält, gibt es tatsächlicheinen bestimmten Grund dafür, weshalb sich nicht sämtlich Dissenseso ohne weiteres abschaffen lassen. Wenn sich Wahrheitsansprüche

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nur imHinblick auf eine Hintergrund-Perspektive artikulieren lassenund nicht über mehrere Perspektiven hinweg einzulösen sind, dannbedeutet dies, dass es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit undkein Lernen von anderen Perspektiven geben kann. Es würde be-deuten, dass wir auf eine Perspektive oder – wie er auch sagt – einenHorizont beschränkt und von allen anderen Perspektiven oder Ho-rizonten und denWahrheiten, die sie zu bieten haben, abgeschnittensind. Oder in Wittgenstein’scher Manier ausgedrückt: Wenn Wahr-heiten, die zu unterschiedlichen Sprachspielen gehören, einandernicht widersprechen, weil Wahrheitsansprüche nur jeweils innerhalbeines Sprachspiels geltend gemacht werden können, und wennSprachspiele verschiedenen Regelsystemen unterliegen und deshalbhinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nicht vergleichbar sind, dannkönnenwir uns nichtmit Spielzügen auseinandersetzen, die nicht Teilunseres eigenen Spiels sind. Doch einer der wichtigsten Aspekte derHermeneutik ist der Umstand, dass Perspektiven und Horizonte sicherweitern, sich von innen wie von außen hinterfragen lassen und dassdiese Dialogfähigkeit entscheidend für die Frage ist, was es bedeutet:zu sein, wer oder was wir sind. Und wie ich bereits weiter oben gesagthabe: Bei Hintergrund-Differenzen kann es sich um kleine situativeDifferenzen handeln, die noch lange nicht je eine eigene Welt kon-stituieren.

Das alles erschwert natürlich die Bewertung der Beziehung zwi-schen Wissensansprüchen, die aus divergierenden Perspektiven undhistorischen Kontexten abgeleitet sind und sich zu widersprechenscheinen. Manchmal haben wir es dabei mit echter Unvereinbarkeit,mit einem echten Dissens zu tun, weil die Ausgangspunkte der De-batte inkommensurabel sind oder weil sich die Wissensansprücheaufgrund unterschiedlicher sinnstiftenderHintergrund-Schemata aufKollisionskurs befinden. Manchmal besteht aber auch ein genuinerDissens über Perspektiven hinweg oder aber es gibt zumindest Raumfür einen sinnvollenDialog. Und in solchen Situationen drängt sich inder Tat die Vermutung auf, dass es an der Sache irgendetwas gebenmuss, was den einen Anspruch als wahr, den anderen als falsch er-weist, oder wenn schon nicht als wahr oder falsch, so doch als ingewisser Hinsicht als mehr oder weniger angemessen. Es ist untersolchen Umständen und im Verlauf eines solchen Dialogs, dass die

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Hintergrund-Perspektiven selbst näher geprüft, verfeinert oder auchverworfen werden.

V. Schlussbemerkung

Der hermeneutische Perspektivismus unterscheidet sich von anderenpluralistischen Theorien, etwa Nietzsches Perspektivismus und di-versen Hintergrund-Relativismen in folgenden Punkten:1. Er möchte und kann, wie ich glaube, zwischen wahr und falsch

unterscheiden;2. Er glaubt, dass der Monismus falsch ist, und zwar weil sich die

unabhängig von uns existierende Welt nur mittels einer Per-spektive erfassen lässt, weil sie ohne Perspektiveweder einen Sinnnoch eine Struktur oder Artikuliertheit hat. Vor allem zeichnet ersich jedoch durch seine Vorstellung davon aus, was eine Per-spektive ist;

3. Sein Begriff der Perspektive ist sehr fein gewoben. Eine solchePerspektive umfasst große wie kleine Veränderungen und istweder ein geschlossenes Begriffssystem noch ein wissenschaftli-ches Paradigma.

Dieses zuletzt genannte Merkmal der Hermeneutik hat freilich einengewissen Nachteil, da es die Identifizierung des Ursprungs der epis-temischen Kriterien und die wahre Natur des Konflikts zwischenmehreren Perspektiven erschwert. Trotzdem glaube ich, dass dieHermeneutik einer zutreffendenBeschreibung unserer epistemischenLeistungen ziemlich nahekommt.

Und dennoch erfordert das Problem des Kombinatorischen Di-lemmas weitere Überlegungen. Mir scheint, dass die beste Strategiedarin besteht, unterschiedliche Typen des interpretativenKonflikts zudifferenzieren. Einige von ihnen erfordern, dass wir uns zwischeninterpretativen Wahrheiten entscheiden. Andere mögen das nichttun; stattdessen könnten sie nahelegen, dass unterschiedliche Hin-tergrundannahmen mit verschiedenen, miteinander inkompatiblenWahrheiten einhergehen; und dies wiederum erfordert keine Wahlzwischen Wahrheiten, sondern die Anerkennung, dass jene Annah-men im Hintergrund eine derart konstitutive Kraft innehaben.

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Andreas Mauz

Eins, zwei, vielePerspektivität und Multiperspektivität zwischenNarratologie und Hermeneutik

I. So und anders

Erzählt wird so und anders. Und dieses »so und anders« bezieht sichwesentlich auch auf die Perspektivität des Erzählens. Denn erzähltwird in dieser Hinsicht meist so und anders zugleich. Vor allem dasliterarische Erzählen zieht seinen Reiz aus der mehr oder wenigerintensiven und anspruchsvollen Koppelung verschiedener Perspek-tiven, verschiedener Weisen, gewisse Ereignisse relativ zu wahrneh-menden und wertenden Instanzen zu repräsentieren.

»Er erzählt weiter, die ganze Geschichte muss er ihr erzählen. Beichtenmuss er.Nicht nur dieMordnacht, nein, allesmuss er loswerden.Wie einreißender Strombricht es aus ihmheraus. Die Flut reißt ihnmit sich fort.Anna ist der rettende Ast, an ihn klammert er sich. Sie soll ihn retten vorden Fluten, retten vor demErtrinken. Von diesemZwang befreienwill ersich. Befreien von allen, was seit Jahren auf ihm liegt. Die Absolution sollsie ihm geben.

›Die Barbara, die war eine kräftige Frau, sie wehrte sich. Irgendwannkonnte sie sich meinem Griff entwinden.‹Warum und woher er plötzlich die Hacke hatte, er kann es nicht sagen,weiß auch nicht mehr, wann er das erste Mal damit zugeschlagen hat.Alles, was er sieht, ist die Barbara vor sich auf dem Boden liegend. Nichtmehr bewegt hat sie sich, nicht mehr gerührt.«1

Die prononcierte Perspektivität zumal des literarischen Erzählens(hier spricht in bestimmter Weise ein Erzähler, dort in bestimmterWeise innerhalb des Erzähltextes eine Figur) ist aber nicht nur Anlass

1 Andrea Maria Schenkel, Tannöd. Krimi, Hamburg 2006, 123.

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zum lustvollen oder auch lustlosen Lesen etwa eines Krimis. Sie gibtauch reichlichAnlass zu lustvoller oder auch lustloser Theoriebildung– im engeren Sinn zu erzähltheoretischen Modellen der Perspekti-vierung, aber auch im weiteren Sinn zu text- oder allgemein-herme-neutischen Erwägungen. Zwischen diesen beiden Theoriemilieussteht mein Beitrag – zwischen, aber nicht in der Mitte zwischen. DerAkzent liegt deutlich stärker auf der Narratologie. Mir liegt in ersterLinie daran, einige grundlegende Aspekte der diesbezüglichen Per-spektivismusdiskussion zu vermitteln, in Theorie und Praxis. EinSchwerpunkt wird dabei beim sogenannten »multiperspektivischenErzählen« liegen, da dieses die Frage nach einemnarratologischenwiehermeneutischen Perspektivenmanagement in besonders prägnanterWeise aufwirft.

II. Narratologie, narratologische Perspektivierung

Die allgemeine Narratologie stellt, typologisch betrachtet, eine for-male Interpretationstheorie dar. Formale Interpretationstheoriengeben dem Interpretationshandeln Verfahren an die Hand; sie in-struieren darüber, wie man vorgehen kann oder soll – in diesem Fallbei der primär beschreibenden Rekonstruktion2 von Praktiken desErzählens. Sie sagen aber nicht, welche Gegenstände mittels dieserVerfahren im Detail zu sichten sind und in höherstufigere Interpre-tationsgänge eingespielt werden können. Dafür braucht es, flankie-rend zu den formalen, materiale Interpretationstheorien; siekonkretisieren die formalen Vorgaben, indem sie etwa zur Auf-merksamkeit auf die Intentionen eines Urhebers, zur Fundierungbestimmter Eigenschaften in epochentypischen Optionen oder zurEröffnung einer optimalen ästhetischen Wertschätzung verpflichten.(So oder so wird gelten, dass die Wahl der Bedeutungskonzeptionbzw. des Interpretationsziels die Standards der Interpretation regu-liert.)3 Auch die Narratologie funktioniert, als formale Theorie, in

2 Diese Bestimmung wird, als vorläufige, am Ende des Beitrags noch einmal zudiskutieren sein.

3 Vgl. Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller, »Wissenschaftstheorie,Hermeneutik, Literaturwissenschaft. Anmerkungen zu einem unterbliebenen und

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Theorieverbünden; sie muss Verbindungen eingehen mit einer oderdiversen materialen Interpretationstheorie(n).4

Diese Formal-Material-Unterscheidung mit Blick auf die Narra-tologie zumachen, gleicht allerdings einem kleinen Bekenntnis. Dennder Theorietypus der Narratologie ist im Kontext des intensiven undnoch immer anhaltenden narrative turn der Jahrtausendwende ge-rade strittig.5 Und die Tendenz geht v.a. im Umfeld der neuerenKulturwissenschaften relativ klar in die gegenteilige Richtung: Dieklassische allgemeine Narratologie formalistisch-strukturalistischerPrägung sei zu erweitern zu umfassenden Interpretationstheorien, seies in gegenstandsbezogener Hinsicht (mehr und anderes Erzählma-terial) oder aufgabenbezogen (mehr und andere Interpretations-funktionen).6 Entsprechend ist der Singular »Narratologie« eherselten geworden und die Rede von den vielen »new narratologies« dieRegel. Ich gehöre also zur Fraktion, die diese Erweiterungsappelle eherskeptisch sieht, und erkenne die Stärke der Erzähltheorie gerade inihrer funktionalen Beschränkung bzw., korrespondierend, in pro-duktiven Theorieallianzen.7

Wenn meine Überlegungen zwischen Hermeneutik und Narra-tologie nicht in der Mitte zwischen diesen Felder liegen, sondern

Beiträge zu einem künftigen Dialog über die Methodologie des Verstehens«, in:Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58:2(1984), 177–237.

4 Ich möchte die Narratologie damit ausdrücklich nicht integrieren in dieüblichen Theorierevuen der Literaturwissenschaft (also an die Seite stellen vonDiskursanalyse, Systemtheorie, Gendertheorie, etc.).

5 Rückblickend auf diese Wende und mit prägnanten Ausblicken: MichaelScheffel, »Nach dem ›narrative turn‹: Handbucher und Lexika des 21. Jahrhun-derts«, in:DIEGESIS. Interdisziplinares E-Journal fur Erzahlforschung 1:1 (2012),43–55. Für die Breite der neueren Diskussion: Greta Olson (Hg.), Current trendsin narratology, Berlin 2011.

6 Vgl. für den gegenstandsbezogenen Typus etwa prominent: Martin Kreis-wirth, »Trusting the Tale: The Narrativist Turn in the Human Sciences«, in: NewLiterary History 23:3 (1992), 629–657. Zur theorietypologischen Situierung derNarratologie vgl. Tilman Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie. Eine Einführung,Stuttgart 2014, 33ff.

7 Wenn ich die Narratologie eben eine formale Theorie der Interpretationgenannt habe, so ist auch diese Rede nur eine vorläufige. Im Rahmen der her-meneutischen Erwägungen am Ende wird gerade die Frage zu stellen sein, ob bzw.in welchem Sinn die Narratologie zur Interpretation anleitet.

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näher bei der Narratologie, so hat dies nicht nur mit meiner aktivenEntscheidung zu tun; die Asymmetrie bildet zugleich den divergie-renden Status des Perspektivierungsproblems auf beiden Theoriefel-dern ab. Im Kontext hermeneutischer Entwürfe ist der fragliche Ge-genstand immer im Spiel, doch kommt er keineswegs durchgängigausdrücklich zur Sprache.8 Im Gegenzug gibt es keinen erzähltheo-retischen Entwurf, der nicht eher früher als später von der »Erzähl-perspektive«, vom »point of view« oder von »Fokalisierung« handelt.Dass der Aspekt der Perspektivierung ein konstitutives Element all-gemeiner Narratologien darstellt, zeigt sich gerade in der Pluralitätvon Entwürfen und Vokabularen.9 Trotz der Breite der Theoriedis-kussion scheint meine Aufgabe aber doch bewältigbar, weil der For-schungsstand einigermaßen klar ist. Zumindest im Kontext derdeutschsprachigenNarratologie gibt es einige Positionen, auf diemansich eigentlich nicht nicht beziehen kann. Mit diesen möchte ich imFolgenden denn auch arbeiten. Und da mir in diesem Fall kaumKritisches einfällt, ist dieDarstellung eben diese, affirmativ grundierteDarstellung und nicht permanent mitlaufende Kritik. – Die narrato-logische Theorie der Perspektivierung, die gegenwärtig einen allge-meinen Referenzpunkt bildet, ist die über viele Jahre und inmehrerenVersionen erarbeitete des Hamburger Slavisten Wolf Schmid (Ele-

8 Dass der Begriff, ungeachtet seines sachlichen Gewichts, nicht zum Kern-bestand des hermeneutischen Vokabulars gehört, zeigt ein Blick in die einschlä-gigen Handbücher und Companions, aber auch in Begriffsregister klassischerMonographien. Christian Berners Artikel »Perspective, Point de Vue« in L’in-terprétation. Un dictionnaire philosophique (ChristianBerner undDenis Thouard,Hg., Paris 2015, 325–329) ist eher die Ausnahme als die Regel.

9 Wichtige neuere Beiträge zur Sache: Natalia Igl und Sonja Zeman (Hg.),Perspectives on narrativity and narrative perspectivization, Amsterdam 2016;Marcus Hartner, Perspektivische Interaktion im Roman: Kognition, Rezeption,Interpretation, Berlin 2012; Martin Klepper, The Discovery of Point of View. Ob-servation and Narration in the American Novel 1790–1910, Heidelberg 2011;Peter Hühn et al. (Hg.), Point of View, Perspective, and Focalization. ModelingMediation inNarrative, Berlin 2009;Willie vanPeer undSeymourChatman (Hg.),New Perspectives on Narrative Perspective, Albany, NY 2001. Für einführendeÜberblicke: Burkhard Niederhoff, Art. »Perspective – Point of View«, in: PeterHühn et al. (Hg.), The living handbook of narratology, Hamburg; URL: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/perspective-–-point-view (25.04.2018); Man-fred Jahn, Art. »Focalization«, in: David Herman (Hg.), The Cambridge Com-panion to Narrative, Cambridge 2007, 94–108.

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mente der Narratologie, 2005, 3. erw. Auflage 2014).10Das andere undältere Modell – das gezielt ohne den Perspektive-Begriff auskommenwill (aber faktisch nicht tut) –, ist Gérard Genettes Theorie derdreifachen Fokalisierung (Discours du récit, 1972; Nouveau discoursdu récit, 1983)11.

III. Zwei Modelle erzählerischer Perspektivierung

1. Das Perspektivmodell Wolf Schmids

Ich beginne den tour d’horizon mit Schmid, mit seiner prägnantenBestimmung einer narratologisch verstandenen »Erzählperspektive«.Er fasst diese »als den von inneren wie äußeren Faktoren gebildetenKomplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen einesGeschehens« (128). – Drei Bemerkungen zur Auslegung dieser Be-stimmung:1. Sie schließt ein – schlicht, aber doch ausdrücklich zu machen –,

dass die erzählerischePerspektivierung kein fakultatives, sondernein notwendiges Element erzählerischer Repräsentation darstellt.Es begleitet jede Darstellung eines Geschehens, und ohne Per-spektive gibt es keine Geschichte.

2. Gleichfalls leicht nachvollziehbar, weil nicht narratologiespezi-fisch: Perspektivität ist ein Phänomen, das gleichermaßen innerewie äußere Faktoren einschließt. Man braucht keine aufwändigeAnalyse, um zu sehen, dass die äußerlichen Faktoren – dasDort-stehen und So-sehen – auch im alltäglichen Sprachgebrauch alsModell innerer Perspektivität fungieren.

3. Etwas weniger geläufig ist möglicherweise die systematischeUnterscheidung, die hier mit den Begriffen »Erfassen« und

10 Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin 22008. Schmids Ansatzfindet sich in Kurzfassung auch in Matías Martínez’ (Hg.) einschlägigem Hand-buch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, 138–145.

11 In deutscher Übersetzung in einem Band erschienen: Gérard Genette, DieErzählung, aus dem Franz. von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. vonJochen Vogt, München 21998. Zitatnachweise aus den Büchern von Schmid undGenette jeweils im Haupttext.

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»Darstellen« gemacht wird. Beides, das Erfassen und das Dar-stellen, ist zu unterscheiden, weil sie im konkreten Erzählvorgangmitunter eklatant auseinandertreten.12 Diese Inkongruenz ist fürdas fiktionale Erzählen gerade charakteristisch: Der Erzählererfasst seinen Möglichkeiten entsprechend; seine Darstellungorientiert sich – etwa in punkto Stilebene oder normativer Be-setzung – aber an der Wahrnehmung einer oder mehrerer Fi-guren.

Hintergrundproblem: Modelle narrativer Konstitution

Bevor nun Schmids Perspektivenmodell vorstellt werden kann, mussklar sein, in welchem narratologischen Hintergrundmodell es seinenOrt hat. Was zunächst in aller Kürze diskutiert sein will, ist seinModell »narrativer Konstitution«. Denn Erzähltheorien basierenausnahmslos auf solchen Modellen, auf Vorstellungen nämlich, wieein konkret gegebener Erzähltext13 idealtypisch als Ergebnis einerFolge von Transformationen aufgefasst werden kann. Diese Modelleversuchen, die Stufen zu erfassen, die implizit im Spiel sind, wenn wirals Leserinnen und Leser einen Text vor uns haben, der eine be-stimmte erzählte Welt zur Darstellung bringt: »Das Werk wird re-flexiv auf Stufen seiner Konstitution zurückgeführt, und diesenTransformationsstufen werden bestimmte narrative Verfahren zu-geordnet.« Wenn innerhalb dieser Modelle von »Folgen von Trans-formationen« und vom »Ergebnis« manifester Erzähltexte die Redeist, so impliziert dies unweigerlich die Vorstellung von Zeitlichkeitbzw. Prozessualität. Diese Zeitlichkeit ist aber strikt metaphorisch zuverstehen; die Modelle repräsentieren – wie Schmid formuliert –idealtypisch »die unzeitliche Genesis des Erzählwerks«. Er sprichtdaher auch von »idealgenetischen Modellen« (281).

12 Genettes Bedeutung für die Theoriebildung liegt gerade darin, die syste-matische Differenz der beiden Fragen Wer sieht? (Modus) und Wer spricht?(Stimme) eingeschärft zu haben. Vgl. Genette, Die Erzählung, 18ff.

13 Ich operiere hiermit dem erweiterten ›Text‹-Begriff, dermedienunabhängigüber schriftlich fixierte Texte hinaus auch mündliche und bildliche ›Texte‹ ein-schließt.

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Selbst wer sich nie näher mit Erzähltheorie befasst hat, ist mit demsimpelsten – also binären –Modell narrativer Konstitution vertraut.Was im russischen Formalismus der 1920er Jahre auf das Begriffspaar»Fabel« und »Sujet«, im französischen Strukturalismus der 1960er aufdas von »histoire« und »discours« und in der angloamerikanischenDiskussion der folgenden Jahrzehnte auf das von »story« und »dis-course« gebracht wird, ist uns – gewichtige Details vorbehalten – alsdas Was und Wie von Erzählungen unmittelbar einleuchtend. Er-zählungen lassen sich elementar rekonstruieren am Leitfaden derUnterscheidung der Geschichte, die erzählt wird, und der Art undWeise,wie sie erzählt wird. Die Erzählung ist ein Zusammenspiel vonErzähltem und Erzählen.Dabei haben wir (und das ist entscheidend)das Erzählte immer nur als Abstraktion aus dem Erzählen: Was ef-fektiv vorliegt, ist immer die Transformationsstufe des medial in-karnierten Diskurses, aus dem sich abstrahierend die medieninvari-ante Geschichte gewinnen lässt. Wir haben die Rotkäppchen-Geschichte nur in der Spezifik ihrer heterogenen erzählerischenRealisierungen. Wir haben etwa – um einen einschlägigen Aspekt zunennen – die natürliche Geschehensfolge, die ordo naturalis deshistorischen Ablaufs der Ereignisse, nur als Abstraktion aus der ordoartificialis.Und hier wird das zeitliche Frühere eben oft später erzählt.Man denke nur an das klassische Schema des Krimis: Die spätereErmittlungshandlung bringt allererst die frühere Verbrechenshand-lung ans Licht.

In der Theoriegeschichte wird diese Grunddifferenz bald weiterausdifferenziert in triadische Modelle14 und – so auch bei Schmid –quartäre. Die Vor- und Nachteile dieser konkurrierenden Entwürfeund Begrifflichkeiten sind hier im Einzelnen nicht von Interesse.Wichtig ist vor allem der Zusammenhang des Modells narrativerKonstitution mit unserem eigentlichen Thema, der narratologischenPerspektiventheorie.

Schmids Modell ist eher kleinteilig. Er schlägt vor, die vier Ebenendes Geschehens, der Geschichte, der Erzählung und schließlich derPräsentation der Erzählung zu unterscheiden und ihnen »idealgene-tisch« bestimmte Operationen zuzuordnen. Auf einen Blick:

14 Für eine Übersicht vgl. ebd., 251.

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Für das gegebene Thema sind dieseHintergrundmodelle wichtig, weilman sich klarmachen muss, auf welcher Ebene das Problem derPerspektivierung üblicherweise seinen Ort hat: Die Perspektivierungwird in den genannten Modellen generell ›spät‹ angesetzt, in denbinär angelegten also klar in der Sphäre des Diskurses. Nicht dieRotkäppchen-Geschichte hat Perspektive(n), sondern ihre konkreteRealisierung etwa durch einen »auktorialen Erzähler« oder, alterna-tiv, eben durch Rotkäppchen oder auch den Wolf. Diese ›Spätdatie-rung‹ der Perspektivierung kehrt auch in den komplexerenModellenwieder, und sie wird überdies tendenziell auch immer einer Trans-formationsstufe zugeordnet.

Dadurch aber wird behauptet – und gegen diese Behauptungrichtet sich Schmid –, dass es eine Geschichte »an sich« gebe, die vor

Abb. 1: Schmid, Elemente, 254.

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jeder Perspektivierung liege. Dass diese Auffassung problematisch ist,lässt sich anhand seines komplexen Transformationsmodells leichtplausibel machen: Vor der Geschichte muss man das amorphe Ge-schehen ansetzen, und »[j]egliche Auswahl von Geschehensmo-menten und ihren Eigenschaften, die ja allererst eine Geschichtekonstituiert, setzt immer schon eine Perspektive voraus.« (256) DieVorstellung einer un- oder vorperspektivischen Geschichte wird vonSchmid ausdrücklich negiert. Er postuliert entsprechend auch, dassdie Perspektivierung nicht als »einzelne Operation unter anderen«gefasst werden kann, sondern »als das Implikat aller Operationen«(ebd.) innerhalb der verschiedenen Transformationen.15

Erzählerrede und Figurenrede; Perspektiventräger

Um Schmids Perspektivmodell im engeren Sinn nachvollziehbar zumachen, muss kurz eine weitere basale Eigenschaft von Erzähltextenherausgestellt werden. Sie bauen sich, was ihre diskursive Oberflächebetrifft, grundsätzlich aus zwei ›Stimmen‹ auf: der Erzählerrede undder Figurenrede. Dieser grundlegende Sachverhalt wird terminolo-gisch unterschiedlich gefasst, bei Platon etwa durch das Begriffspaarvon »Mimesis« und »Diegesis« oder als »Showing« und »Telling« inder angloamerikanischen Erzähltheorie. Alle Elemente von Erzähl-texten lassen sich diesen beiden Grundformen zuordnen – »tertiumnon datur« (137) –, auch wenn sie in komplexer Weise interferierenkönnen. In ein und demselben Segment eines Erzähltextes kommenunter Umständen zwei »wahrnehmende, wertende und sprechendeInstanzen«16 zur Darstellung. Beim Hinweis auf die Dualität von Er-fassen und Darstellen wurde bereits deutlich: Auch in einer Erzäh-lerrede kann die Figur sehr präsent sein in Form von Interferenzen inder erzählerischen Repräsentation der Figurenrede bzw. mentalerProzesse. In beiden Fällen kann die Bearbeitungsleistung des Erzäh-lers geringer oder stärker sein: geringer, wenn die direkte Rede insSpiel kommt (wenn die Fiktion eines vorerzählerisch faktischen

15 Vgl. das Schema des »idealgenetischen Modells der Perspektive«, ebd., 279.16 Schmid, Art. »Perspektive«, 141.

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Wortlautes etabliert wird)17, stärker, wenn der Erzähler die Aussageoder Gedanken eines Protagonisten in eigener Diktion mehr oderweniger stark überformt. Die Unterscheidung von Erzählertext undFigurentext erlaubt es etwa auch wahrzunehmen, welche der beidenInstanzen in einer bestimmten Passage dominiert, ob ein Abschnittoder Kapitel oder ein integraler Text primär narratorial oder figuralbestimmt ist. Und der Gesichtspunkt narratorialer oder figuralerDominanz ist eben auch zentral für Schmids Perspektivenmodell imengeren Sinn.

Damit ist andeutungsweise bereits ein anderer Punkt aufgerufen:Die Rede von »Perspektive« bzw. »Perspektivierung« schließt not-wendigerweise einen Perspektiventräger ein, ein Subjekt, dessenPerspektive so oder anders verfasst ist. Die Theoriegeschichte dernarratologischen Perspektiventräger ist, kurz gesagt, eine Plurali-sierungsgeschichte. Es lässt sich eine Ausweitung der Zuschreibungvon Perspektivität beobachten: von der Beschränkung auf den Er-zähler zur Figur und schließlich auch zum Leser. In der neuerenDiskussion ist es daher (v. a. seit den Arbeiten von Vera und AnsgarNünning) üblich, von »Erzählerperspektive« und »Figurenper-spektive« zu sprechen und ihr mitunter komplexes Zusammenspielunter dem Begriff der Perspektivenstruktur zu fassen:

»Das Konzept der Perspektivenstruktur narrativer Texte trägt der Tat-sache Rechnung, daß das Ganzemehr ist als nur die Summe seiner Teile.Die Merkmale der Einzelperspektiven determinieren nicht die Eigen-schaften der übergeordneten strukturellen Organisation. Vielmehrentspricht die Perspektivenstruktur einem Netzwerk, das durch dieRelationen zwischen den Bestandteilen geschaffen wird.«18

Nünning/Nünning sehen die einzelnen Perspektiven also innerhalbeines Geflechts von Kongruenz- bzw. Divergenzverhältnissen, die

17 »Während sich die Erzählerrede erst im Erzählakt herstellt, werden die Rededer Figuren fingiert als vor dem Erzählakt existierend und in dessen Verlauflediglich wiedergegeben.« Schmid, Elemente, 154.

18 Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Multiperspektivität aus narratologi-scher Sicht. Erzähltheoretische Grundlagen und Kategorien zur Analyse derPerspektivenstruktur narrativer Texte«, in: dies. (Hg.), Multiperspektivisches Er-zählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Romandes 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier 2000, 39–78, 51.

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grundsätzlich stufenlos skalierbar sind, idealtypisch aber auf die dreiDifferenzverhältnisse des Additiven, Korrelativen oder Kontradikto-rischen gebracht werden können.19 – Damit sind schließlich dieVoraussetzungen gegeben, um Schmids Modell im engeren Sinn zupräsentieren.

Schmids Perspektivmodell

Schmids von Uspenskij20 inspirierter Entwurf benennt fünf Parame-ter, um die Erzählperspektive systematisch zu erschließen, und dieseentfalten nun eben detaillierter, was in der einleitend genanntenDefinition auf die Formel von »inneren und äußeren Faktoren« ge-bracht wird:1. die perzeptive Perspektive (»Wie und aus welcher epistemologi-

schen Position wird wahrgenommen?«);2. die ideologische Perspektive (»Wie und aus welcher Position wird

das Wahrgenommene moralisch, ethisch etc. bewertet?«);3. die räumliche Perspektive (»Aus welcher räumlichen Position

wird das Geschehen wahrgenommen?«);4. die zeitliche Perspektive (»Ist das ›Jetzt‹ an eine der Figuren ge-

bunden, oder drückt es eine autonome zeitliche Position derErzählinstanz aus?«);

5. die sprachliche Perspektive (»Wessen Sprache spricht der Er-zähler – die einer der Figuren oder seine eigene? Verstellt er sichwomöglich, oder drückt die Sprachverwendung z.B. ironischeDistanz aus?«).

Werden diese Parameter wahrnehmbar, so lässt sich immer aucherkennen, ob sie tendenziell figural oder narratorial bestimmt sind. Sieverweisen auf die Position(en) einer odermehrerer Figuren oder aberauf die der Erzählinstanz. Am Beispiel des fünften Aspekts dersprachlichen Perspektive illustriert: In Dostojevskijs Doppelgänger –

19 Vgl. ebd., 58 bzw. unten Abschnitt V.3.20 Vgl. Boris Andreevic Uspenskij, Poetik der Komposition: Struktur des

künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform, hrsg. und nach einerrev. Fassung des Orig. bearb. von Karl Eimermacher, aus dem Russ. übers. vonGeorg Mayer, Frankfurt a.M. 1975.

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einer heterodiegetischen Erzählung (d.h. einer Erzählung, die voneiner Instanz, die selbst nicht Teil der erzählten Welt ist, vorgetragenwird) – dominiert etwa die figurale Perspektive:

»Der Erzähler übernimmt […] fast durchgängig die Sprache seinesHelden […], auch dort, wo die perzeptive Perspektive gar nicht die derFigur ist […]. Der Erzähler reproduziert dann die Sprache seines Hel-den, nicht nur in der Lexik, in den feierlichen, pathetischen, manchmalarchaischen Benennungen, sondern auch in der Syntax, die einerseitsdurchsetzt ist mit kanzleisprachlichen Wendungen, geschraubtenPhrasen und pseudopoetischen Figuren, andererseits aber Sprachnotzeigt […].« (150)

Auf der Grundlage einer systematischen Analyse aller Parameterkann somit erschlossen werden, ob die Erzählperspektive einer be-stimmten Passage eher kompakt ist (d.h. dominant figural odernarratorial) oder eher distributiv (d.h. figurale und narratorialePerspektive konfligierenbezüglich eines Parameters odermehrerer).21

Im Fall von Tschechovs Student gilt etwa, dass ausschließlich dieideologische Perspektive auf die Figur verweist, die anderen Para-meter dagegen narratorial bestimmt sind (vgl. 151 f.). Die vorge-schlagene Heuristik – Schmid bedient sich konkret des Darstel-lungsmittels der Kreuztabelle – ist aber auch dann produktiv, wennsie versagt, wenn gewisse Felder leer bleiben, sei es, weil gewisse Pa-rameter nicht erkennbar sind (in kurzen Texten oder Abschnittensucht man etwa oft vergeblich Daten zur räumlichen und zeitlichenPosition), sei es, weil eine Neutralisierung der Opposition vorliegt(wenn also nicht entschieden werden kann, ob bestimmte Parameterauf die Figur oder auf den Erzähler zurückzurechnen sind).

Schmid macht aber auch einen Vorschlag, wo die Dimension derPerspektivierung innerhalb seines idealgenetischen Modells anzu-siedeln ist, welchenTransformationen die Perspektive auf denEbenen

21 Da Erzählungen generell auf demNeben- und Ineinander von Erzähler- undFigurentext basieren, kennt Schmid keine neutrale Perspektive, die in anderenEntwürfen (etwa auch bei Genette, s.u.) gerade eine entscheidende Rolle spielt.Eine gegebene theoretische Option ist dagegen die Neutralisierung von Erzähler-und Figurenperspektive (vgl. ebd., 152).

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der Konstitution korreliert.22 Das ist, wie gesagt, ein Kontrapunkt zuallen anderen einschlägigen Entwürfen, die »die Perspektive« einerTransformationsstufe zuordnen. Schmids Entwurf zeichnet sichschließlich aber auch dadurch aus, dass er die leichte AnwendbarkeitseinesModells nie aus den Augen verliert. Auf die hoch differenzierteEntfaltung seines heuristischen Modells, der aufwändigen mehrstu-figen Analyse, lässt er ein »vereinfachtes Verfahren« (153) folgen, dasinsbesondere auch bei kurzen Erzähltexten produktiv sein soll. Erschlägt vor, sich an drei fundamentalen Akten des Erzählens zu ori-entieren: der Auswahl, der Bewertung und der Benennung der Ge-schehensmomente – die Akte also, die den Parametern der Perzep-tion, Ideologie und der Sprache entsprechen. Sie, anhand derfolgenden Leitfragen zu erschließen, rücken damit auf in den Rangprimärer Parameter:23

1. Welche Instanz ist für die Auswahl der Geschehensmomenteverantwortlich, der Erzähler oder die Figur?

2. Wer ist in dem jeweiligen Abschnitt die bewertende Instanz?3. Wessen Sprache (Lexik, Syntax, Sprachfunktionen) prägt den

Ausschnitt? (153)24

An diesem Punkt kann nun der Wechsel zum älteren kanonischenModell erzählerischer Perspektivierung erfolgen: der Fokalisie-rungstheorie Gerard Genettes. Schmid war auf eine Ablösung dieserTheorie aus (vgl. 118 ff.). Da sie aber in plausibler Weise eigene Ak-zente setzt, gehört sie noch immer zumStandard, und in praxiwerdenoft beide Modelle nebeneinander genutzt.

Dass Schmid und Genette komplementäre Leistungen erbringen,kann man sich klarmachen, wenn man noch einmal fragt, was mansich von einer narratologischen Theorie der Perspektivierung über-haupt erhofft – nämlich Angebote zur Erschließung dessen, was einErzähler weiß, was er wissen kann und wie er diesesWissen bewertet.Das hoch differenzierte Modell Wolf Schmids sensibilisiert hier pri-mär für die qualitative, die ideologisch-wertende Position, die dasErzählen auszeichnet; es verweist auf die »Einstellung der Erzählin-

22 Vgl. ebd., 279.23 An diesen werde ich mich, wenn der Beispieltext in den Blick kommt, denn

auch in erster Linie orientieren.24 Schmid, Art. »Perspektive«, 141.

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stanz zum erzählten Geschehen«25. Genettes dreiteilige Theorie derFokalisierung ist dagegendazu geeignet, die epistemologischePositiondes Erzählers auch schlicht quantitativ zu erschließen, seine prinzi-piellenMöglichkeiten des Wahrnehmens und Wissens.

2. Genettes Fokalisierungstheorie26

Der Begriff der Fokalisierung bezeichnet die Möglichkeiten desWahrnehmens und Wissens, die einer Erzählinstanz eigen sind,mithin den Aspekt der so oder anders »gesteuerten Informations-aufnahme«27. In bewusster Absetzung von der älteren Forschung, diemit der anthropomorphen Metaphorik des »Sehens« operierte(»point of view«, »erzählerischer Blickpunkt«, etc.), soll die technischeRede von Fokalisierung der latenten Vermenschlichung der Er-zählinstanz zur Erzählperson vorbeugen. Denn diese verbindet sichregelmäßig mit dem Folgeproblem einer Vermischung des Wahr-nehmens mit der erzählerischen Repräsentation des Wahrgenom-menen. Beides fällt im (literarischen) Erzählen eben oft gerade nichtin einer Figur oder Instanz zusammen: Auchwenn eine Erzählinstanzgrundsätzlich wie eine bestimmte Figur wahrnimmt (Fokalisie-rungstyp der »Mitsicht«, s.u.), muss sie diese Wahrnehmung kei-

25 Silke Lahn und Jan-ChristophMeister, Einführung in die Erzähltextanalyse,Stuttgart 32016, 105.

26 Vgl.Genette, Erzählung, 132–149; 235–244. Es sei vorausgeschickt, dass diefolgende Darstellung der Position Genettes insofern von deren Rezeption mitbe-stimmt wird, als der Akzent auf dem Modell der dreifachen Fokalisierung liegt.Lässtman sich – wieTatjana JeschundMalte Stein es getanhaben – auf dieDetailsdes Entwurfs ein, auf die Unklarheiten, die sich der erwähnten eigentümlichenGenese von Genettes Theorie verdanken, so tun sich erhebliche konzeptionelleProbleme auf. Vgl. Tatjana Jesch und Malte Stein, »Perspectivization and Focali-zation: Two Concepts – One Meaning? An Attempt at Conceptual Differentia-tion«, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Point of View, 59–77. Für einen starken Er-weiterungsvorschlag vgl. etwa William Nelles, Frameworks: Narrative Levels andEmbedded Narrative, New York 1997. Nelles Überlegungen (ebd., 95f.) zielenproduktiv in Richtung einer verfeinerten Fokalisierungstypologie nach den Sin-nen: »ocularization« (Sehen), »auricularization« (Hören), »gustativization« (Ge-schmack), »olfactivization« (Geruch), »tactivilization« (Tasten).

27 Silke Lahn und Jan-Christoph Meister, Erzähltextanalyse, 105.

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neswegs so wie diese Figur artikulieren; sie kann explizit oder durchdie Wahl bestimmter sprachlicher Mittel auch eine Distanz in derBeurteilung des Wahrgenommenen zu erkennen geben.

Nach Genette lässt sich der Erzähler als Wahrnehmungsinstanzanhand von drei Fokalisierungstypen genauer beschreiben. Jederdieser Typen wird durch ein anderes quantitatives Verhältnis zwi-schen zwei Wahrnehmungspositionen und den ihnen entsprechen-den Wissensmengen bestimmt: eben dem Wissen des Erzählers unddem Wissen der erzählten Figuren, wobei sich freilich beide nur in-terpretativ aus dem Zusammenhang erschließen lassen.

Im Fall einer Nullfokalisierung scheinen die Wahrnehmungs- undWissensmöglichkeiten des Erzählers keinerlei Einschränkungen zuunterliegen; er wirkt vollständig unabhängig von der epistemologi-schen Position einer Figur innerhalb oder außerhalb der erzähltenWelt. Er verfügt über eine »Allsicht« und wird traditionell denn auchals »allwissender Erzähler« bezeichnet. Tvetan Todorovs Formel fürdiesen Fokalisierungstyp lautet schlicht: Erzähler > Figur.28 »EineTextpassage ist genau dann nullfokalisiert, wenn sich das Erzähltenicht einer klar identifizierbaren Perspektive verdankt.«29 Diese An-lage begegnet klassisch in unzähligen (heterodiegetischen) Erzäh-lungen und Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch inmythischen Erzählungen wie etwa den biblischen Schöpfungsbe-richten (Gen 1,1): »AmAnfang schufGottHimmel undErde.UnddieErde warwüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der GeistGottes schwebte auf dem Wasser.« Die Informationen, die hier ver-mittelt werden, übersteigen offensichtlich die gängigenmenschlichenWahrnehmungs- und Wissensoptionen.

ImFall der externen Fokalisierung sagt der Erzähler weniger, als dieFigur weiß. Er hat keine Einsicht in deren Psyche und ist somit aufVermutungen hinsichtlich ihrer Befindlichkeit und ihrer Motivatio-nen angewiesen. Dieser Fokalisierungstyp – auch als »Außensicht«oder »objektive Technik« bezeichnet – lässt sich auf die Formel Er-

28 Tzvetan Todorov, »Les catégories du récit littéraire«, in: Communications 8(1966), 125–151; dt.: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: HeinzBlumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln 1972,263–294.

29 Tilmann Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie, 230.

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zähler < Figur bringen. »Eine Textpassage ist genau dann externfokalisiert, wenn sie von Figuren handelt und keine direkten Infor-mationen über deren Mentales [= geistige Zustände, Einstellungen]enthält.«30 Diese Weise der Fokalisierung gleicht der Aufzeichnungeiner Kamera; es wird nur gesagt, was ›äußerlich‹ zu sehen ist. DieSignalformel des Typus gilt entsprechend das »scheint so und so…«.Ich verweise auch hier auf den einschlägigen Prototyp: HemingwaysThe Killers (1927):

»The door of Henry’s lunch-room opened and two men came in. Theysat down at the counter.›What’s yours?‹ George asked them.›I don’t know,‹ one of the men said. ›What do you want to eat, Al?‹›I don’t know,‹ said Al. ›I don’t know what I want to eat.‹Outside itwas getting dark. The street-light cameonoutside thewindow.The two men at the counter read the menu.«31

Dieser Typus kennt zwei klassische und insofern leicht nachvoll-ziehbare Funktionen: Die externe Fokalisierung hat – erstens – einen»dokumentarischenEffekt«, undda dasMentale der Figuren nicht zurDarstellung kommt, kann dieser Typus – zweitens – auch der»Verschleierung des Plots« dienen: »Falls wir nicht wissen, mit wel-chen Zielen und aus welchen Gründen eine Figur handelt, so fällt esuns schwer, das Verhalten einer Figur in erklärende Zusammenhängeeinzubetten, die den Plot konstituieren.«32

Von interner Fokalisierung ist schließlich danndie Rede, wenn eineErzählinstanz an die epistemologische Position einer Figur gebundenist. Der Erzähler kann in diesem Fall nicht mehr sagen, als die Figurweiß. Formelhaft lautet diese »Mitsicht« (die nach Genette wiederumin drei Subtypen zerfällt)33 entsprechend: Erzähler = Figur. »EineTextpassage ist genau dann intern fokalisiert, wenn das Erzählte aus

30 Ebd., 226.31 Ernest Hemingway, »The Killers«, in: The Complete Short Stories of Ernest

Hemingway, New York 1987, 215–222, 215.32 Tilmann Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie, 228.33 Vgl. Genette, Erzählung, 134–138.

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der Perspektive einer Figur präsentiert wird.«34 So beginnt Heming-ways For Whom the Bell Tolls (1943) etwa mit den folgenden Zeilen:

»He lay flat on the brown, pine-needled floor of the forest, his chin on hisfolded arms, and high overhead the wind blew in the tops of the pinetrees. The mountainside sloped gently where he lay; but below it wassteep and he could see the dark of the oiled road winding through thepass. There was a stream alongside the road and far down he saw a millbeside the stream and the falling water of the dam, white in the summersunlight.«35

Die interne Fokalisierung, die Übernahme der raum-zeitlichen Ko-ordinaten der Figur wird hier nicht nur durch ausdrückliche Wen-dungen wie »he could see« greifbar; sie zeigt sich auch in detailliertenWahrnehmungsdaten wie dem »von Kiefernnadeln bedeckten Bo-den« oder dem »Berghang«, der »sanft abfällt«. Eine einschlägigeFunktion der internen Fokalisierung ist entsprechend die der Figu-rencharakterisierung. Der Typus gibt substanzielle Einblicke in dieWahrnehmung und den psychischen Haushalt einer Figur, was Em-pathie erlaubt oder weckt.

Die exponierte Dreiertypologie lässt sich als solche freilich kaumdirekt auf das Erzählmaterial abbilden. Ein Erzähltext kann sich zwardurch einen einheitlichen Fokalisierungstyp auszeichnen; in vielenFällen begegnet aber eine »variable« bzw. »multiple« Fokalisierung36,d.h. eine Typusverschiebung zwischen verschiedenen narrativenEinheiten. In praxi operiert man oft innerhalb eines Dominanzmo-dells.

34 Tilmann Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie, 216.35 Ernest Hemingway, For Whom the Bell Tolls, New York 1943, 1.36 Die Differenz von »variabel« und »multipel« betrifft nach Genettes Vor-

schlag (Erzählung, 135) die Einheit des Gegenstandes: Er spricht von Variabilität,wenn die fokale Figur ersetzt wird (wie etwa in Madame Bovary), von multipeldagegen, wenn »ein und dasselbe Ereignis« geschildert wird, wie etwa im Brief-roman mit seinen verschiedenen SchreiberInnen.

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IV. Von der Perspektivität zur Multiperspektivität

Eine gleichsam natürliche Folgefrage, die sich an ein solches Theo-rietableau anschließen kann, ist die nach der Zahl so oder andersinvolvierter Perspektiven. Was in Frage steht, ist das Phänomen der(literarischen)Multiperspektivität. Als Leitfrage drängt sich hier auf:Wie viele sind eigentlich »Multi« – und inwiefern schlägt die jeweiligeZahl allenfalls zurück auf das Problem der Perspektivierung und ihrerAnalyse?

Denn man kann natürlich bestreiten, dass an dieser Stelle einnennenswerter Denkschritt gemacht werde. Dass Erzähltexte mehrals eine Perspektive zur Darstellung bringen, ist fraglos eher die Regelals die Ausnahme. Multiperspektivität kann, in einem schwachenSinn, als generelle Eigenschaft literarischer Erzähltexte zur Geltunggebracht werden (und wird es auch).37 Ein anderer und starkerSprachgebrauch – und diesem werde ich folgen – denkt bei »Mul-tiperspektivität« an etwas anderes, nämlich an einedeutlich radikalerePluralisierung bzw. Konstellierung von Perspektiven, an ein größeresMulti.

Dass die zweite als stark zu bezeichnende Auffassung die – inverschiedenen Varianten – eher vertretene ist, hat gute Gründe. DasProblem der ersten Auffassung ist ihre mangelnde Spezifik: Wennnahezu jede Erzählung multiperspektivisch ist, verliert der Terminusseine pragmatische Distinktionskraft innerhalb des literaturwissen-schaftlichen bzw. narratologischen Vokabulars; er bedeutet keinenUnterscheidungsgewinn. Die Tendenz geht daher dahin, den Begrifffür Fälle starker Multiperspektivität zu reservieren – für Erzähltexte,die in dieser oder jener Weise programmatisch mit einer hohenPluralität von Perspektiven arbeiten.38 Mit Hartner: Der Begriffsge-

37 Vgl. die neuere Literatur, v.a. Marcus Hartner, Art. »Multiperspectivity«, in:Peter Hühn et al. (eds.), the living handbook of narratology.Hamburg University,hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php?title=Multiperspectivity&oldid=1857(27.04.2018); Marcus Hartner, Perspektivische Interaktion im Roman ; CarolaSurkamp, Die Perspektivenstruktur narrativer Texte: Zu ihrer Theorie und Ge-schichte im englischen Roman zwischen Viktorianismus undModerne, Trier 2003;Vera Nünning und Ansgar Nünning (Hg.),Multiperspektivisches Erzählen.

38 Vgl. Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Von ›der‹ Erzählperspektive zurPerspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzep-

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brauch »has to be restricted to cases where points of view interact insalient and significant ways and thus create multiperspectivity, by, forinstance repeatedly portraying the same event from various differentangles«39.Wiehoch diesewerden kann, ist allerdings noch immer eineoffene Frage – in Gerold Späths Roman Commedia (1980) meldensich auf unter 400 Seiten etwa über 200 Figuren zuWort –, und offenist auch, wie im Fall von Hartners klassischem Gebrauch der Multi-perspektivität das Multi der Perspektiven mit der Einheit des »sameevent« vorzustellen ist.Wir begegnenhier, anders gesagt, literarischenVersionen der Phänomene und Konfliktlagen, die in der philoso-phischen Perspektivismus-Debatte die Agenda bestimmen, insbe-sondere einem Wahrnehmungsrelativismus und einer skeptischenPosition gegenüber Wissen und Realität.40

Der Reiz dieses Erzähltypus liegt auf der Hand: Perspektivenrei-bungen, wenn nicht -kollisionen sind nicht nur auf der Produkti-onsseite von Interesse, sie stimulieren auch das leserseitige Interesse.Eine beachtliche Reihe vonWerken, die unter diesem Label diskutiertwerden, gehört zum Kanon von Nationalliteraturen, wenn nicht zurWeltliteratur.41 Zur groben Strukturierung des Feldes des starkenmultiperspektivischen Erzählens bietet sich an, eine plausible Diffe-renz des Dramentheoretikers Manfred Pfister aufzunehmen. Er un-terscheidet die beiden Grundtypen der offenen und der geschlossenenMultiperspektivität, wobei die Explikation des literaturwissenschaft-lichen Begriffspaars noch einmal deutlich zeigt, wie nah die ange-deuteten philosophischen Problemlagen hier sind: GeschlosseneMultiperspektivität bezeichnet Darstellungsformen inkompatiblerPerspektiven, die trotz ihrer starkenHeterogenität integrierbar sind ineine kohärente Geschichte. Es gibt in der Stimmenvielfalt eine do-minante Stimme oder mehrere, die dafür sorgen, dass klar wird, »was

tualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität«, in: dies., Multiper-spektivisches Erzählen, 3–38, 19.

39 Marcus Hartner, Art. »Multiperspectivity«, 1.40 Vgl. die Beiträge von Holm Tetens und David Weberman in diesem Band.41 Mandenke nur anDe Laclos Les LiaisonsDangereuses (1782), JoycesUlysses

(1922), Faulkners As I Lay Dying (1930) oder Rushdies Satanic Verses (1988); fürein lyrisches Beispiel Eliots TheWaste Land (1922), für ein filmisches KorosawasRashomon (1955). Literaturwissenschaftliche Erwägungen zur Multi-perspektvivtät beziehen sich allerdings fast ausnahmslos auf die Erzählliteratur.

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der Fall ist«. Dieser Typus scheint daher, vereinfachend gesagt, einetraditionelle robuste Auffassung von Intersubjektivität, Wahrheit,Realität, Wissen etc. zu unterstützen. Die offene Multiperspektivitätzeichnet sich dagegen aus durch unversöhnliche und unversöhnbareDissonanzen und Widersprüche. Diese Anlage scheint im Gegenzugeine eskalierend pluralistische und darin wahrheitssubvertierendePosition zu unterstützen. Unabhängig von diesen beiden Typen er-fordert eine multiperspektivische Erzählanlage auf jeden Fall einebesonders intensive Mitarbeit der Leserin/des Lesers, in Iser’scherDiktion: einen offensivenUmgangmit den »Unbestimmtheits-« oder»Leerstellen«. Entsprechend wird auch die Klassifikation »offen« vs.»geschlossen« nicht immer einheitlich ausfallen.42

Denkt man nun nach über besonders signifikante Ausprägungenvon Multiperspektivität, so wird man wenigstens zwei ausmachen.Das multiperspektivische Erzählen kennt zwei interessante Grenz-werte, wobei sich beide nicht nur auf die Zahl, sondern auch auf dasSpektrum der involvierten Perspektiven beziehen. Denn die Zahl al-lein muss ja nicht zwingend starke Irritationen hervorrufen. Die Fi-guren inCommedia könnten auch, gleichgeschaltet, in immer gleicherWeise die immer gleichen Wahrnehmungen artikulieren. Die Leit-frage Wie viele sind Multi? erweist sich demnach als nicht hinrei-chend; der numerischeAspektmussmit dem – wie ich sagenwürde –spektralen gekoppelt werden.43

Der eineGrenzwert ist, normativ formuliert, die zu kleineDifferenzder Versionen, d.h. das Ausbleiben nennenswerter Perspektivenrei-bung. Der zweite Grenzwert ist die zu großeDifferenz der Versionen,die zu einer Perspektivenreibung führt, die die Perspektiven als Per-spektiven auf einen Gegenstand oder Handlungszusammenhang ge-rade zerreiben. BeideGrenzwerte sind von Interesse, weil sie – weil zuintegriert bzw. nicht integrierbar – potenziell zur Umstellung desRezeptionsmodus führen. Sie geben starken Anlass, über die Funk-tionsweise des Regelfalls nachzudenken: Die Aufmerksamkeit wirdsich tendenziell verschieben von der Erfassung der perspektivischen

42 Wobei sich diese Differenz natürlich korrelieren lässt mit einer größerenZahl textdeskriptiver Oppositionen.

43 Vera undAnsgarNünning sprechenhier vonder »StreuungdesAngebots anPerspektiven« (»Multiperspektivität aus narratologischer Sicht«, 52).

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Vermittlung dieser bestimmten Geschichte auf die perspektivischeVermittlungsleistung von Geschichten an sich.Welche Perspektivie-rungenund – genauer –Perspektivenstrukturen sind es eigentlich, dieuns eine ›normale‹, eine perspektivisch unauffällige Rezeption er-lauben? Man kann in diesem Fall wohl von einer epistemologischenMultiperspektivität sprechen, weil sie die Aufmerksamkeit mitunterforciert – nämlich durch »synthesestörende Strategien«44 – auf dieerkenntnismäßigen Implikationen des Erzählens lenkt.

Dass sich diese Multiperspektivität, jenseits der genannten Diffe-renzen, erzählpraktisch sehr verschieden gestaltet, ist in aller Kürzeder Bestimmung zu entnehmen, die Vera und Ansgar Nünning zurSache vorgelegt haben:

»Multiperspektivisches Erzählen liegt in solchen narrativen Texten vor,in denen das auf der Figurenebene dargestellte oder erzahlte Geschehendadurch facettenartig in mehrere Versionen oder Sichtweisen aufge-fachert wird, dass sie mindestens eines der folgenden drei Merkmale[…] aufweisen: (1.) Erzahlungen, in denen es zwei oder mehrereErzahlinstanzen auf der extradiegetischen und/oder der intradiegeti-schen Erzahlebene gibt, die dasselbe Geschehen jeweils von ihremStandpunkt aus in unterschiedlicherWeise schildern; (2.) Erzahlungen,in denen dasselbe Geschehen alternierend oder nacheinander aus derSicht bzw. dem Blickwinkel von zwei oder mehreren Fokalisierungsin-stanzen bzw. Reflektorfiguren wiedergegeben wird; (3.) Erzahlungenmit einer montage- bzw. collagenhaften Erzahlstruktur, bei der perso-nale Perspektivierungen desselben Geschehens aus der Sicht unter-schiedlicher Erzahl- und/oder Fokalisierungsinstanzen durch andereTextsorten erganzt oder ersetzt werden.«45

44 Vgl. Gaby Allrath, »Multiperspektivisches Erzählen und synthesestörendeStrategien im englischen Frauenroman des 19. Jahrhunderts aus der Sicht einerfeministischen Literaturwissenschaft: Subversive Variationen des single pointperspektive systems bei Jane Austen, Emily Brontë und George Eliot«, in: VeraNünning und Ansgar Nünning (Hg.), Multiperspektivisches Erzählen, 175–198,v.a. 182.

45 Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Von ›der‹ Erzählperspektive zurPerspektivenstruktur narrativer Texte«, 18.

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V. Zum Beispiel: Andrea Maria Schenkel, Tannöd (2006)

1. Die Tannöd-Akten

Andrea Maria Schenkels Roman Tannöd46 vermittelt eine düstereInzest- und Mordgeschichte aus der oberpfälzischen Provinz; inAufnahme eines historischen Krimifalls wird erzählt vom »Mord-dorf« (5) in Tannöd. Die Familie Danner – Vater, Mutter, Tochter,zwei Kinder und eine Magd – lebt auf einem Einödhof, und sie allewerden durch Schlägemit einer Spitzhacke grausam ausgelöscht.Wasdem schmalen Buch Aufmerksamkeit verschafft hat, ist allerdingsweniger das Erzählte (die Geschichte), die ja auch eher stereotyp ist,als das Erzählen (der Diskurs), die Eigenart ihrer narrativen Ver-mittlung: Die Autorin verzichtet auf die krimipoetologisch einschlä-gige Figur des Ermittlers, durch dessen meist chronologisch reprä-sentierte Investigationsarbeit das Verbrechen geklärt und der Täterüberführtwird. Andie Stelle der ermittlerzentriertenErzählbewegung– und damit zugleich auch an die Stelle des Indizienparadigmas unddie spannungstechnisch entscheidenden red herrings – tritt einemultiperspektivische Repräsentation der Zusammenhänge rund umdas Verbrechen. Der Roman ist aufgebaut aus 43 mehr oder minderkurzen Abschnitten, die verschiedensten Textsorten angehören. Dererste Abschnitt begründet im Ich-Diskurs die Recherchesituation; ersorgt imModus einer Halbrahmung für die raumzeitliche Verortungder Ereignisse:

»Den ersten Sommer nach Kriegsende verbrachte ich bei entferntenVerwandten auf dem Land. In jenen Wochen erschien mir dieses Dorfals eine Insel des Friedens. Einer der letzten heil gebliebenen Orte nach

46 AndreaMaria Schenkel,Tannöd (Zitatnachweise aus demRoman jeweils imHaupttext). Ich nutze hier Material, das in einem anderen Fragezusammenhangerarbeitet wurde. Vgl. Andreas Mauz, »De profundis. Erzählanalytische undtheologische Beobachtungen zum Kriminalroman als Klageliteratur (Ani,Schenkel) », in: Alfred Bodenheimer und Jan-Heiner Tück (Hg.),Klage, Bitte, Lob.Formen religiöser Rede in der Gegenwartsliteratur, Ostfildern 2014, 182–210. Derstärkste textanalytische Beitrag, dem ich viel verdanke, stammt von JoachimLinder († 2012): Tannöd: Autopsie (Rohschnitte) (2008); er war zugänglich aufLinders vorzüglichem Krimi-Blog.

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demgroßen Sturm, denwir soeben überstanden hatten. Jahre später, dasLeben hatte sich wieder normalisiert und jener Sommer war nur nocheine glückliche Erinnerung, las ich von eben jenem Dorf in der Zeitung.Mein Dorf war zum ›Morddorf‹ geworden und die Tat ließ mir keineRuhe mehr. Mit gemischten Gefühlen bin ich in das Dorf gefahren. Die,die ich dort traf, wollten mir von dem Verbrechen erzählen. Reden miteinemFremden und dochVertrauten. Einemder nicht blieb, der zuhörteund wieder gehen würde.« (5)

Ein Ich – männlich oder weiblich –, das sich imDorf aufhält, wird alsChronist installiert, der über alles (andere) Material verfügt: überZitate, Protokolle von Interviews47 und Erzählsequenzen. In dieseroder jenerGestalt erhalten die LesendenEinblick in dieEreignisse unddamit die Möglichkeit, aus den Quellen den Geschehensverlauf zuerschließen. Durch diese Anlage nähert sich der Text strukturell ei-nem ominösen justiz- oder auch allgemein verwaltungstechnischenFormat an: der Aktensammlung. Das Buch gleicht von Ferne einemnachlässig sortierten Konvolut, dessen einzelne Blätter in mehr oderminder engem Bezug zum Tannöd-Fall stehen; man kann daher,ohne die strukturelle Analogie forcieren zu wollen, von den Tannöd-Akten sprechen. Ohne chronologische Ordnung finden sich hier eineZeugenaussage (von Nachbarn des Hofes oder von Amtsträgern wiedem Postboten oder Pfarrer)48, da ein Zeitungsartikel (vgl. 103 ff.),aber eben auch einige konventionell heterodiegetisch erzählte Passa-gen49. Und in einer solchen wird dem Leser schließlich, im letztenAbschnitt, auch der Täter präsentiert (vgl. 121– 125).

47 Dass die Zeugenaussagen in Interviews entstanden, erschließt sich indirektdurch die Bezugnahme der Zeugen auf ihr fragendes Gegenüber: »Wann ich dieSpangler Barbara das letzte Mal gesehen habe? Warten Sie, gesehen habe ich siegenau eine Woche vor ihrem Tod.« (99, vgl. u.a. 11, 19).

48 Jeweils überschrieben mit Personenangaben wie »Ludwig Eibl, Postschaff-ner, 32 Jahre« (36) oder »Anna Hierl, 24 Jahre, vormals Magd auf dem Danner-hof« (89).

49 Erzählanalytisch bedeutsam sind diese Abschnitte, weil durch sie eine wei-tere Erzählinstanz eingeführt wird: ein heterodiegetischer Erzähler, der von denEreignissen zwischendenMordtaten und ihrer Entdeckung berichtet und insofern›älter‹ ist als der homodiegetische »Erzähler-Interviewer« (SilkeHorstkotte –OlafSchmidt,HeiligeMaria, bitte für sie! Die narrative Funktion der Litanei zumTrosteder armen Seelen in Andrea Maria Schenkels ,Tannöd‘, in: Martin Blawid (Hg.),

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Allerdings muss die Rede von »den Akten« nuanciert werden; wirhaben gewissermaßen zwei unterschiedliche Konvolute vor uns: dasschmalereKonvolut, das vom inAnschnitt 1 eingeführten Chronistenerstellt wird, und das umfangreichere Konvolut, das die Leserin/derLeser vor sich hat. Unser Dossier ist umfangreicher, weil es eben auchdie konventionellen Erzählungen umfasst – und diese Differenz istvon Bedeutung, weil der Fall innerfiktional ungelöst bleibt; zumindestwird die Lösung, des offenen Schlusses wegen, nicht explizit erzählt.Nur die Leserinnen und Leser sind in der Lage, Tat und Täter richtigzuzuordnen – und das Buch zumindest in dieser Hinsicht befriedigtzur Seite zu legen.

2. Ausgewählte Perspektiven

Eröffnungsabschnitt

Sehen wir uns zunächst die Perspektivierung des zitierten Eröff-nungsabschnitts genauer an, dabei Gebrauch machend von allen ex-ponierten Theoriestücken (wobei sich Schmids Perspektivmodell alsAusgangspunkt anbietet).

Zur perzeptiven Perspektive: Die bestimmende Wahrnehmungs-position ist das Ich, das selbst das Wort ergreift. Wir haben es miteinemFall interner Fokalisierung zu tun:Das Ich entscheidet über denGeschehensausschnitt, der in die Geschichte eingeht. Und da es sichum einen Ich-Erzähler handelt, bringt er – Schmids fünfter Aspekt –auch die eigene sprachliche Perspektive mit. Die ideologische Per-spektive ist fundiert in der intensiven und äußerst positiven emotio-nalen Beziehung des Erzählers zu jenem Dorf, das er – obwohl nur

Poetische Welt(en). Ludwig Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet, Leipzig2011, 237–254.). Diese Erzählebene gleichfalls als Imagination – und insofern(innerfiktional) nicht faktualen Sachverhalt – dem homodiegetischen Erzählerzuzuordnen (ebd., 245), ist natürlich möglich. Im Kontext der kriminalliterari-schen Bedeutung der korrekten Zuordnung von Tat und Täter gewinnt dieseErwägung allerdings anGewicht:Werdenmit dieser These auch die Aussagen desletzten Abschnitts in ihrem Wirklichkeitsstatus in Frage gezogen, so bleibt offen,ob Georg Hauer die Tat tatsächlich begangen hat (s.u.).

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Feriengast – »mein Dorf« nennt. Dass der als »Insel des Friedens«erfahrene Ort zum »Morddorf« wird, gibt denn auch den Ausschlag,dorthin zu fahren. Der eigentliche Anlass scheint zunächst aber nichtso sehr das Dorf zu sein – im Sinn der von einem grausamen Ver-brechen betroffenen Gemeinschaft, der der Erzähler beistehen will –,als die Wiedergewinnung der eigenen »Ruhe«, die ihm abhandengekommen ist. Bezüglich der räumlichen Perspektive scheint ent-scheidend, dass sie gerade eine Dynamik einschließt. Die Kenntnis-nahme der fernen Ereignisse durch die Zeitung motiviert zur Annä-herung. Eine räumliche Nähe zum Tatort selbst ist aufgrund dererzählerischen Retrospektion allerdings nur möglich durch denAustausch mit auffallend gesprächsbereiten ZeugInnen. Auch wenndies nicht der erste Anlass seiner Reise war, der Erzähler scheint hochwillkommen, weil er sich als »Fremde[r] und doch Vertraute[r]« alsGesprächspartner zum Austausch über die Gewalttat anbietet. Diezeitliche Perspektive ist bezüglich des Verbrechens selbst klar retro-spektiv, doch lässt sich der Grad der Retrospektion nur näherungs-weise bestimmen. Die psychische Dringlichkeit des Dorfbesuches wiedie Gesprächsbereitschaft der Zeugenmachen eine relativeNähe zumEreignis wahrscheinlich. Innerhalb des Abschnitts spielt zudem dieRelation zweier Zeitstufen eine erhebliche Rolle: Die Geschichte wirddurch eine narrativeAnalepse öffnet, die auf denAnfangder erzähltenZeit blendet (d.h. den frühesten Zeitpunkt, der thematisiert wird).Nur durch die Installation der frühkindlichen Glückserfahrungen,geschuldet dem Kontrast zu den eben überwundenen Kriegswirren,wird das Verbrechen als Einbruch ins Idyll erleb- bzw. erzählbar.Auch wenn der Abschnitt einige Auskünfte über die Biographie desErzählers und seine emotionale Involviertheit in die geschildertenEreignisse des Erzählers umfasst – er ist ein exemplarischer »offenerErzähler«50 –, bleibt offen, an wen sich seine Rede adressiert. Es gibtkeine fiktionsinterne Klärung der genauen Kommunikationssituati-on.

50 Silke Lahn und Jan-Christoph Meister, Erzähltextanalyse, 63f.

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Die Pfarrersköchin

Als Beispiel des Quellentypus der Interview-Mitschrift sei die Aus-kunft der Pfarrerköchin Maria Lichtl (63) angeführt:

»Wennsmich fragen, derTeufel hats geholt. Ja, derDeifel, derhats geholtdie ganze Sippschaft [i. e. die Familie Danner]. DerHerr Pfarrer glaubt’smir nicht. Der sagt, ich soll nicht so gottlos daherreden. Aber es stimmt,die Wahrheit ist’s und die darf man sagen. […]Und deshalb sag ich ihnen, diese Sippschaft da draußen ist vom Luzifergeholt worden. […] Gesehen hab ich ihn sogar, den Verbrecher, denHöllenfürst. […] AmWaldrand ist er gestanden und hat rübergeschautnach dem Ödhof der Danner. Ganz schwarz war er, mit Hut und Federauf dem Kopf. So schaut nur einer aus, der Teifel. So kann nur derauschauen, sag ich Ihnen, und wiemich noch einmal umgewendet habe,da war der verschwunden. […]Mit an Brief wars beim Pfarrer, die Barbara. Mit an Brief von denFranzosen. Nein, gesehen hab ich ihn nicht, den Brief. Aber den HerrnPfarrer hat sie sprechen wollen und dann hats ihm zumDank noch eineSpende für die Kirch da lassen. Das Kuvert, das hab ich liegen sehen, miteigenen Augen hab ich’s liegen sehen. […]An Ablass von ihren Sünden hat sie sich bestimmt kaufen wollen. Dasschlechte Gewissen hats druckt.« (105 f.)

Im Fall dieser Figur scheint die ideologische Perspektive von beson-derem Interesse. Die Interviewerzählung der Köchin trägt, anders alsdiemeisten anderen, nichts bei zur Rekonstruktion der unmittelbarenTathergänge (etwa zur Zeitstruktur oder zum Tatmotiv). Was sieberichtet, bildet durch Aussagen zur »Wahrheit« des Tathergangsaber ein starkes Milieuindiz. Die Köchin formuliert eine These zurIdentität des Täters, und sie bemüht dazu auch das Beglaubigungs-muster der Augenzeugenschaft. Diese starke These bildet aber vorallem ab, wie sehr ihr eigenes moralisches Wertesystem durch die»Zustände« auf dem Danner-Hof brüskiert wurde. Das Ausmaß anunchristlichem Verhalten – Inzest und der Versuch, diesen durcheinen gekauften Kindsvater zu vertuschen – muss nach dieser Auf-fassung durch den Teufel selbst sanktioniert werden. Zugleich ist inihre Darstellung ein Perspektivenkonflikt eingelassen, da der Pfarrerdieser These widerspricht, wohl aufgrund ihres allzu volksfrommen

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Charakters. Zur sprachlichen Perspektive: Die stilistische Gestaltungdes Abschnitts zielt offensichtlich darauf, imMedium der Schrift einemöglichst starke Mündlichkeit zu fingieren. Die auf Oralisierungbedachte Darstellung macht an verschiedenen Stellen aber auch klar,dass diese Rede in einem ganz bestimmten Kontext erfolgt. Wenn dieKöchin etwa sagt »Nein, gesehen hab ich ihn nicht, den Brief« (106),so reagiert sie auf eine Rückfrage, deren Verlautbarung nur impliziterschließbar bleibt.

Die Tat aus der Perspektive des Zeugen (119f.)

»Mich dreht sich auf den Rücken, kann das Grauen nicht fassen. ›Derbringt mich um, wenn er mich erwischt, der bringt mich auch um!‹Tränen laufen über seine Wangen, er hat Todesangst. Er hält sich beideHände vor sein Gesicht. […] Versucht seinen Atem, der stoßweise ausihm herausbricht, unter Kontrolle zu halten, anzuhalten. Die Augengeschlossen, liegt er da. Doch der Rasende unter ihm hört ihn nicht.Blind für alles in seinem Rausch, schlägt dieser zu, immer und immerwieder. […]Nach einer Ewigkeit tritt Stille ein, Totenstille. Erst nach einer weiterenUnendlichkeit bemerktMich die Stille. Er robbt langsam, fast lautlos aufdem Bauch Richtung Stiege. Unter ihm der Staden ist leer. Der Tätermuss durch den Stall weiter insWohnhaus eingedrungen sein. Mich hatnur diese einzige Möglichkeit, ungesehen und mit dem Leben davon-zukommen. Er holt Luft und läuft sie Stiege hinab. […]Atemlos rennt er, rennt immer weiter.« (119)

Dieser dritte Beispielabschnitt präsentiert erneut einen anderenQuellentypus: Es handelt sich um eine der wenigen heterodiegetischvermittelten Passagen. Dem Erzählten nach erfolgt hier die Schilde-rungderGewalttat – die erste von zweiDarstellungendesmehrfachenMordes, die in verschiedenen Hinsichten divergieren.

Entscheidend scheint hier die perzeptive Perspektive:Wir haben esmit einer intern fokalisierten Darstellung zu tun. Ein heterodiegeti-scher Erzähler erzählt das Geschehen entlang derWahrnehmung derFigur Mich. Dieser Erzähler verfügt über eine psychologische In-nensicht; er weiß etwa, dassMich erst verspätet die Stille nach der Tatbemerkt. Und er rapportiert Michs Gedanken, der dramatischen

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Szene gemäß, unter anderem in der ›originalen‹ Gestalt zitierter(innerer) Figurenrede. Zur räumlichen Perspektive: Mich ist an sichein Augenzeuge. Doch schränkt er seine Perspektive, seinen Sehsinn,gleich doppelt ein. Einerseits dreht er sich angesichts der Ereignisseunwillkürlich auf den Rücken, andererseits hält er sich »beide Händevor das Gesicht«. Er reduziert seine Wahrnehmung also auf eineOhrenzeugenschaft. Das ist psychologisch sicher plausibel, doch führtes zu einer interessanten Inkonsistenz, die derAutorinwiedemLektormöglicherweise entgangen ist. Wenn Mich so daliegt, kann er nichtsehen, wer unter ihm zum Opfer wird; er kann nicht wahrnehmen,dass »[z]uerst der Danner, dann noch seine Enkeltochter« ah-nungslos in den Stall hineinkommen. Aber vielleicht ist die Inkon-sistenz auch gar keine. Wenn man den Abschnitt als dominant, nichtaber konsequent intern fokalisiert betrachtet, kannmanden fraglichenSatz stärker von der Figur abheben und einem punktuell nullfokali-sierenden Erzähler zuschreiben. Nach diesem Abschnitt weiß derLeser deutlich mehr über den effektiven Tathergang; die Identität desTäters ist aber nach wie vor unklar. Diese wird im nächsten undzugleich letzten Abschnitt des Buches offengelegt.

Die Tat in der Perspektive des Mörders (121ff.)

In diesem Fall bleibt die diskursive Anlage des Erzählens konstant.Auch hier ergreift ein heterodiegetischer Erzähler das Wort, nur dasser – erneut intern fokalisierend – auf den Mörder blickt. Er ist einehemaliger Liebhaber der Tochter Barbara. (Aus diesem Abschnittstammte auch das zu Beginn eingespielte Zitat.)

»Mit dem Gesicht zum Fenster sitzt er da. Der Blick leer in die Fernegerichtet. So sitzt er auf seinem Bett in seinem Schlafzimmer, sieht ohnewahrzunehmen, den Blick nach innen, nicht nach außen gerichtet. […]Vor sich sieht er die Bilder des Nachmittags, sein Gespräch mit Anna,seiner Schwägerin. So deutlich und klar steht sie vor ihm,wie sie vor zweiStunden vor ihm gestanden ist. In den Stall zu ihm hinaus war sie ge-gangen. Mit ihm sprechen wollte sie, musste sie. In ihrem Gesicht Un-gläubigkeit und Trauer. Gemeinsam sind sie zur Bank hinter demHausgegangen. Von dort kann man im Frühjahr den ganzen Obstgarten

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überblicken. Sieht die Bäume in voller Blüte. Sieht das Land sich selbstwieder gebären. Er liebt diesen Anblick, jedes Jahr freut er sich darauf.Doch heute waren die Äste der Bäume noch kahl und tot vom vergan-genen Winter. Neben ihn hat sie sich gesetzt. Stumm saßen sie da. InihrenHändenhatte sie ein Stück Stoff gehalten. Er jetzt sah er es, erkannter es. Ein Tuch rot vom Blut. Sein Tuch.Das Tuch, an dem er sich die Hände abgewischt hatte. Die Schuld, die erauf sich geladen hatte, hatte er mit dem Tuch von seinen Händen wi-schen wollen, aber es klebt immer noch an ihm. Wegwerfen hat er dasTuch wollen, aber wohin hätte er es werfen sollen. So hat er es widerbesseresWissen, wider alle Vernunft behalten. Vielleicht, so geht es ihmdurchdenKopf, hat er es nichtweggeworfen, damit sie es findet, damit ereinem Menschen von seiner Schuld beichten konnte. Nicht alleine seinwollte er, nicht alleine mit seiner Tat.Anna hat ihren Armum ihn gelegt und sagt nur: ›Warum?‹ ›Warum?‹«(122)

Ich beschränke meinen Kommentar auf die zeitliche und die ideolo-gische bzw. – eng mit ihr verschränkt – die sprachliche Perspektive.Zur zeitlichenPerspektive: In der Erzählgegenwart sitzt derMörder inseinem Schlafzimmer, das zugleich das Todeszimmer seiner Frau ist.Aus dieser Gegenwart blickt er zurück auf ein Gespräch am Nach-mittagdes gleichenTages – einGesprächmit seiner SchwägerinAnna–, und dieses ist im Sinn einer relativenChronologie genau terminiert,nämlich zwei Stunden zuvor. Nach dieser Retrospektion wird wiederauf die Erzählgegenwart geblendet; das Präteritum wird vom Präsensabgelöst: »Er hat seine alte Pistole aus seinemNachttisch genommen.Kalt und schwer liegt die Waffe nun in seiner Hand. [/] Alles ist vonihm abgefallen. Er sitzt nur da, ruhig sitzt er da.« (125) Was danngeschieht, ist der Phantasie der Leserinnen und Leser überlassen. AufjedenFall kommt eine Selbstjustiz desMörders nicht nur alsmögliche,sondern als wahrscheinliche Option ins Spiel.

Entscheidend einmal mehr die ideologische bzw. sprachliche Per-spektive: Das Gespräch mit der Schwägerin wird ausdrücklich als ein»Beichten« bezeichnet (123). Und dieser Sprachgebrauch scheinteben der der Figur zu sein. Als Indiz für diese These lässt sich an-führen, dass die entsprechenden Sätze – »Beichten muss er. […] SieAbsolution soll sie ihm geben.« – umstandslos reformulierbar sind im

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Ich-Stil, sei es als Gedankenrede oder auch laut: »Ich muss beichten… […] Die Absolution soll sie/sollst du mir geben.«

Diese christlich-religiöse Rahmung des Gesprächs ist aber nichtdie einzige. Es wird darüber hinaus auch durch eine dramatischeMetapher charakterisiert, nämlich als »reißender Strom«, der ausihm, dem Beichtenden, herausbricht. Wie reißend der Strom ist,zeigt sich daran, dass der Redende als Ursprung des Stroms vondiesem selbst »mit sich fort« gerissen wird. In diesem metaphori-schen Setting wird Anna, die Beichtmutter, zum »rettenden Ast«, anden er sich klammert. Ich betone das Nebeneinander dieser beidenBilder, weil das zweite, die Flussmetapher, nun nicht dem psychi-schen Haushalt der Figur entnommen zu sein scheint, sondern demdes Erzählers. Sie lässt sich nicht umstandslos in Ich-Rede trans-formieren. Tut man es, sprengt es auf jeden Fall die Einheit derFiguren, wie man sie bislang kennengelernt hat. »Wie ein reißenderStrom bricht es auch mir heraus. Die Flut reißt mich mit sich fort.«Ein zweites Teilmoment der ideologischen Perspektive, das dieRahmung der Beichte in aufschlussreicher Weise erweitert : DerMörder schreibt sich seine Tat nicht als autonome Handlung zu; ersieht diese – potentiell selbstentlastend – als Folge rauschhafterBesessenheit :

»Wie im Rausch. In einem Rausch aus Blut, die Sinne vernebelt, nichtmehr Herr seiner Selbst. Nein, nicht er hat sie erschlagen. Nicht er. Die›wilde Jagd‹, die von ihmBesitz ergriffenhat.DerDämon, derVerderber,er hat sie erschlagen, alle. Zugesehen hat er sich selbst, zugesehen, wie siealle erschlagen hat.« (123).

Hier zeigt sich schließlich eine Korrespondenz zur eben diskutiertenPassage. Die These der Pfarrköchin ist insofern nicht ganz falsch, alssie sich mit der Selbstdeutung des Täters berührt.

Mit diesen kurzen Kommentaren ist weder das Spektrum der in-formellen Zeugenberichte noch das der anderen Quellentypen er-schöpft, doch dürfte andeutungsweise klar geworden sein, wie dieverfügbaren Theoriebestände im konkreten Fall produktiv werdenkönnen. Die folgenden bilanzierenden Überlegungen müssen nunstärker Aspekten der Perspektivenstruktur gelten, also den relatio-nalen Dimensionen, die der einzelnen Perspektive im Gesamtgefügedes Textes ihre spezifische Stellung geben.

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3. Mord, multiperspektivisch

Wenn mit dem Phänomen der Perspektive immer auch das einerPluralität gegeben ist (minimal: einer Dualität), so verbindet sichdamit nicht zwingend, aber regelmäßig die Notwendigkeit der Prio-risierung einer Perspektive. Dieser Sachverhalt zeigt sich verschärft inKonstellationen der Multiperspektivität. Hier mögen bereits die hoheZahl und die gegebenen pragmatischenAnforderungen dazu nötigen,diese oder jene Perspektive in dieser oder jenerWeise zu privilegieren.Die Logik dieser Privilegierung geht exemplarisch auch aus den ebenangestellten textnahen Kommentierungen hervor: Weder konntenalle 43Abschnitte zur Sprache kommen, nochwar jederAbschnittmitgleicher Intensität zu diskutieren. Welche Kriterien den Ausschlaggaben, gerade diese zu wählen und in diesen Hinsichten zu kom-mentieren, lässt sich, nach einigen anderen Hinweisen, aber genauersagen – genauer vielleicht auch, als es bei multiperspektivischen Er-zählungen anderer Genres der Fall wäre.

Denn das gewählte Beispiel ist in gewisserWeise ein wohlfeiles. Imkriminalliterarischen Erzählen geht es qua Gattung dezidiert darum,divergierende Perspektiven zu sichern, zu sichten und zu evaluieren.Die delikate Beziehung von Wahrheit und Perspektive liegt hier aufder Hand, weil es angesichts einer Untat – klassischerweise demKapitalverbrechen eines Mordes – geboten ist, die Wahrheit zu er-heben, um sie in Gestalt eines Rechtsverfahrens zur Geltung zubringen. Aber gerade aufgrund dieser Genrekonvention ist das ge-wählte – wie man sagen könnte – dokumentarisch-multiperspektivi-sche Erzählverfahren ja von Interesse. In diesem Fall bedeutete eseinen eklatanten Verstoß gegen die Genrekonvention, wenn dieLektüre es dabei beließe, sich auf ein ästhetisches Wohlgefallen amvorüberziehenden Perspektivenreigen zu beschränken.

Der Roman kommt der Konvention der entschiedenen Perspek-tivenwahl und –evaluation denn auch bereitwillig entgegen: Alsmultiperspektivische Erzählung gehört Schenkels Tannöd sicher demgeschlossenen Typus an. Die vielen Perspektiven lösen die Einheit desErzählten nicht auf. Und aufgrund des vergleichsweise kleinen undspektral schmalen Multi (s. u.) führen sie kaum zur Umstellung desLesemodus von Handlungsrekonstruktion auf literarische (odernarratologische) Epistemologie. Insofern bleibt der Roman trotz

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seines moderat formexperimentellen Charakters dem klassischenErzählmuster des Krimis nahe: Der Fall ist am Ende klar; Tat undTäter lassen sich zweifelsfrei richtig zuordnen. Der Zeugenberichtkorrespondiert mit dem Selbstzeugnis des Mörders; sie beglaubigensich wechselseitig. Allerdings muss bei aller Stimmigkeit eine ent-scheidende Perspektivendifferenz betont werden: Innerfiktionalwerden Tatmotiv, Tathergang und Täterschaft nicht öffentlich. Anna,die Quasi-Beichtmutter desMörders, ist die Einzige, die ausdrücklichBescheid weiß. Der Ich-Erzähler des eröffnenden Abschnitts kannsich als Urheber der Tannöd-Akten dagegen keine Gewissheit überdie Ereignisse verschaffen. Nur auf der textexternen Ebene, zwischenText und Leserin/Leser, wird das Bedürfnis nach einem Wissen umTäterschaft und Tatmotiv befriedigt und – durch das Schlussbild desTäters mit der Pistole – andeutungsweise auch das nach ausglei-chender Sühne.

Im generischen Milieu der (zumal klassischen) Kriminalliteraturliegt generell auf der Hand, wer für das sensible Geschäft der Per-spektivenpriorisierung und -evaluation zuständig ist: die Ermittler-figur. Sie begibt sich ins Dickicht widersprüchlicher Auskünfte undvager Indizien, um nach besten Kräften Ordnung zu schaffen. Inso-fern die Leserin/der Leser ebenfalls wissenwill, was Sache ist, wird derErmittler zu ihrem textinternen Repräsentanten. Wenn nun dieseInstanz fehlt, wie bei Schenkel der Fall, ist die Leserin/der Leser aufsich selber gestellt ; sie oder er haben unmittelbareren Zugang zu denAkten und müssen sich nicht aufhalten mit den mehr oder mindergeschickten und erfolgreichen Rekonstruktionsbemühungen des Er-mittlers.

Der Gravitation auf das Kapitalverbrechen folgt aber, wie meineKommentierung zeigt, nicht nur eine behagliche private Lektüre,sondern auch eine exemplarische im Kontext wissenschaftlicher Re-flexion. Es liegt auf der Hand, dass die Abschnitte bzw. Perspektivenzur Sprache kommen mussten, die unmittelbar dem Verbrechengelten. Wenn der Mehrfachmord als zentrierendes Geschehensele-ment fungiert, so bildet seine doppelte Darstellung – diejenige aus der»Live«-Perspektive des Zeugen und die aus der Retrospektive desTäters – zweifellos einen Grundbestand, dem andere Erzähleinheitenzu- oder eben auch nachgeordnet werden können (zum Beispiel dieAuskunft der Köchin, die insofern eine subordinierte Perspektive ist,

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als sie nurmittelbar Aufschluss gibt über die Tatmotivation und ihrenHergang). Aufgrund des geschilderten Handlungszusammenhangsliegt auf der Hand, dass die repräsentierten Perspektiven hierarchischgeordnet werden können – anders als in Fällen eines offenen multi-perspektivischen Erzählens, das gerade von der tendenziellen Ne-benordnung schwer oder nicht integrierbarer Stimmen lebt.51

DiePerspektivenwahlwird aber nicht nur bestimmtdurchAspekteder narratologischen Dimension der Geschichte (dem Tathergang alszentralem Geschehensmoment), sondern auch durch die spezifischeAnlage des Erzähldiskurses. Meine Darstellung des Romans konntenicht absehen vom einleitenden Abschnitt, der den folgendenTannöd-Akten allererst einen Rahmen gibt: Die Ich-Perspektivedieses Erzählers erlaubt es, die vielen folgenden Ich-Perspektiven grobzu situieren. Der Roman gehört also einerseits dem dritten der zi-tierten Grundformen des multiperspektivischen Erzählens an, den»Erzahlungenmit einermontage- bzw. collagenhaftenErzahlstruktur,bei der personale Perspektivierungen desselben Geschehens aus derSicht unterschiedlicher Erzahl- und/oder Fokalisierungsinstanzendurch andere Textsorten erganzt oder ersetzt werden«52 ; andererseitslässt er sich, was die Situierung der Erzählinstanzen betrifft, als eine»intradiegetisch multiperspektivische«53 Erzählung klassifizieren.Wie im Schulbeispiel des Briefromans sind die einzelnen Erzählin-stanzen selbst auf der Ebene des Erzählten angesiedelt ; einenErzähler,der diese Instanzen aus extradiegetischer Warte noch einmal über-blickt, gibt es nicht. Und zur Sprache kommen musste aus text-strukturellen Gründen auch der letzte Abschnitt. Denn abgesehendavon, dass hier die Täterretrospektive erfolgt, vollzieht sie die ›hin-tere‹ Schließung der erzählten Welt; hier wird das letzte und dahergewichtige Wort zu den Ereignissen gesprochen, das nicht nocheinmal durch weitere Perspektiven relativiert werden kann. Die Tä-terperspektive, die Gewissheit verschafft über Täter und Tathergang,

51 Abgesehen von der Hierarchie, die bereits und eindeutig durch die Ebe-nendifferenz von der Halbrahmung und den diversen Gesprächen auszumachenist.

52 Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Von ›der‹ Erzählperspektive zurPerspektivenstruktur narrativer Texte«, 18.

53 Dies., »Multiperspektivität aus narratologischer Sicht«, 43.

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wird gleichsam aufgespart bis zum letzten Moment;54 die metapho-rische Rede vom »Fluchtpunkt«55 der Perspektiven hat hier ein text-topologisches bzw. erzählstrategisches Pendant.

Zur Perspektivenstruktur

An dieser Stelle müssen aber, in aller Kürze, noch einmal alle 43Abschnitte in die Überlegungen einbezogen werden. Die Angeboteder narratologischen Multiperspektivismusdiskussion erlauben es,die Perspektivenstruktur des Romans, seine Realisierung des ge-schlossenen Typus, punktuell noch genauer zu benennen: Wie dasBeispiel erahnen ließ, kann sich eine Bestimmung dieser Strukturnicht auf den quantitativen Aspekt der Zahl der involvierten Per-spektiven beschränken; er muss fraglos auch dem qualitativen ihresSpektrums Rechnung tragen. Denn beide sind nicht direkt zu korre-lieren: Viele Figuren oder Perspektiventräger bedeuten nicht zwin-gend viele – substanziell – verschiedene Perspektiven; der Umfangdes »Perspektivenangebots«, ausgespannt zwischen mono- und po-lyperspektivischen Texten, sagt nichts über dessen »Streubreite«56,ausgespannt zwischen Homo- und Heterogenität. Das Personal vonTannöd gehört trotz klarer interner Ausdifferenzierung (die inpunkto Beruf und Alter bereits aus den Abschnittsüberschriftenhervorgeht) und vorbehaltlich der perzeptiven, räumlichen undzeitlichen Individualität insgesamt einem einheitlichenMilieu an. DieStreuung des ideologischen Spektrums ist, gemessen am Gesamt-spektrum möglicher Weltanschauungen und Werthaltungen, einesehr geringe. Im Feld zwischen Individualität und Kollektivität par-tizipieren die Tannöd-Figuren an einer starken übergeordnetenKollektiv-Perspektive. Der einzige herkunftsmäßig Fremde ist der

54 Genauer: bis fast zuletzt, denn das letzte Wort hat der liturgische Text, derAuszug aus der Litanei zum Troste der Armen Seelen, der seinerseits mit demgebetstheologischen Finalwort »Amen!« (125) endet. Vgl. ausführlicher AndreasMauz, »De profundis«.

55 Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Multiperspektivität aus narratologi-scher Sicht«, 60 u.ö.

56 Ebd., 54.

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aktensammelnde Ich-Erzähler. Doch auch er teilt, wie der erste Ab-schnitt zeigt, entscheidende Wahrnehmungsparameter und Wertemit den Dorfbewohnern, und nur als ein derart Fremd-Vertrauterkommt er auch als Chronist in Frage.

Entscheidend ist nun freilich, wie sich die Differenzeinheit dieserPerspektiven konkret darstellt, wie sich das Geschlossene des Typushier genauer fassen lässt. Wie knapp referiert, wird die Perspekti-venstruktur als Netzwerks modelliert, das innerhalb eines Kontinu-ums zwischen Kongruenz und Differenz drei markante Ausprägun-gen kennt: die additive, die korrelative oder die kontradiktorischeGestaltung. Tannöd realisiert mit dem additiven offensichtlich denschwächsten Typus multiperspektivischen Erzählens. Die einzelnenPerspektiven ergänzen sich; das Geschehen fügt sich durch die ver-schiedenen Passagen schließlich zu einem stimmigen Gesamtbild –anders als beim korrelativen (oder auch »kontrastiven«), das durchden höheren Grad an wechselseitiger Relativierung bestenfalls klein-räumige und/oder partielle Passungen erlaubt, und ganz anders als imkontradiktorischen Erzählen, in dem die Perspektiven gänzlich in-kommensurabel werden und die Logik eines kohärenten vornarrati-ven Geschehens, das erzählerisch plural repräsentiert wird, zerbricht.

Diese Perspektivenaddition wird diskursiv auch in der einfachstenForm repräsentiert, nämlich als sukzessive Folge und nicht etwa al-ternierend57 oder simultan58. Diese Anlage führt durch den primacyeffect zwangsläufig zu einer formalen Privilegierung der ersten Per-spektive(n); jede spätere nimmt sich als Variation der früheren aus.(Wobei gerade dies die Frage aufbrechen lässt, weshalb diese Per-spektive vor jener geführt wird bzw. was sich veränderte, wenn esanders wäre.) Die Geschlossenheit ergibt sich also auch durch denVerzicht auf eine alternierende Struktur, die durch den mehrfachen

57 Vgl. noch einmal Faulkners As I lay Dying.58 Vgl. etwa Brayn Stanley Johnsons Albert Angelo (1964). Die mehrspaltig

erfolgendeDarstellung kann die Hierarchie effektiv reduzieren und eine Form derGleichzeitigkeit repräsentieren. Gänzlich ausgehebelt wird sie aber nicht, weil sichdurch die unhintergehbare Ordnung der Lektüre (von oben links nach untenrechts) im Rezeptionsvollzug noch immer die linke Spalte als Einsatz aufdrängt.Zu diesem Beispiel auch Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Multiperspekti-vität aus narratologischer Sicht«, 56.

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Wechsel mehrerer Perspektiven zumindest potentiell stärkere Rei-bungen und (Selbst-)Widersprüche erlaubt.

Wenn dieses weiter entfaltbare Modell der Perspektivenstrukturgrundsätzlich für zwei gegensätzliche Strategien der Perspektiven-steuerung sensibilisiert – die »integrationsfördernde« und die »syn-thesestörende« –, so ist es von Interesse, dass Tannöd als integrati-onsfördernd-geschlossenes Exempel auf ein prominentes Mittel derIntegrationsförderung verzichtet. Es kennt keine übergeordnete Er-zählinstanz. Und ein »niedriger Grad an Ausgestaltung der Erzäh-lerperspektive« gilt idealtypisch eben als Instrument einer »synthe-sestörenden Perspektivensteuerung«, weil mit ihm die entscheidendeOption »expliziter Rezeptions- und Sympathielenkung« entfällt.59

Dass sich die Autorin dieses Darstellungsverfahrens bedient unddennoch ein perspektivenrelativ geschlossenes Ende präsentiert,dürfte mit für den Erfolg des Romans verantwortlich sein.

An diesem Punkt verlasse ich die narratologische Perspektiven-diskussion und das Tannöd-Exempel und schließe im Sinn einerausblickshaften Problemanzeige mit einer ausdrücklich hermeneuti-schen Perspektive auf die Narratologie selbst.

VI. Praxeologisch-hermeneutische Coda:Beschreiben und/oder Interpretieren

Im weiten Spektrum der Hermeneutiken scheint mir die praxeolo-gische im Moment besonders produktiv, ein Theorietypus also, derdie Vollzugsdimension des Verstehens und Interpretierens ins Zen-trum stellt. Oder negativ formuliert: Praxeologische Reflexion setztnicht an in der Sphäre der Theorien und/oder Methoden; sie achtet,bottom up verfahrend, gerade auch auf die Vollzugsaspekte, die nichtaus den top down strukturierten Theorien und Methoden ableitbarsind.60DieseAufmerksamkeit für diePraxiswird nunauchundgerade

59 Ebd., 65.60 Ich folgemit dieser Skizze demBand: AndreaAlbrecht et al. (Hg.),Theorien,

Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin 2015. Vgl. v.a. die gleichna-mige Einleitung der Herausgeberin, ebd., 1–22. Als interdisziplinär kanonischerReferenztext des »practice turn« wäre zu nennen: Andreas Reckwitz, »Grund-

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dort relevant, wo die kardinale normative Dimension des Interpre-tierens zur Debatte steht, wo wenn nicht die »Wahrheit« oder »Ob-jektivität« von Interpretationsaussagen, so doch deren intersubjektivePlausibilität bzw. Akzeptierbarkeit in Frage steht.61Wenn sich derOrtder Praxis extern durch die doppelte Unterscheidung von der Di-mension der Theorien und der Methoden näher bestimmen lässt, soist damit für die interne Ausdifferenzierung des Begriffs noch nichtsgewonnen.Unddass eine solche interneDifferenzierung fällig ist, liegtauf der Hand, wenn man sich die Pluralität wie die Heterogenität derAkte vor Augen führt, die ein Interpret vollzieht:

»Diese [die Interpretationen] tun immer vieles (aber nie allesMögliche,nie alles auf einmal und schon gar nicht Beliebiges): Sie antworten,appellieren, assoziieren, behaupten, belegen, beschreiben, bestätigen,bestreiten, deuten, differenzieren, erklären, erläutern, exemplifizieren,fragen, individualisieren, informieren, kontaktieren, legen aus, mutma-ßen, perspektivieren, projektieren, rubrizieren, schildern, schließen,spekulieren, systematisieren, typisieren, verallgemeinern, verdeutlichen,vergleichen, vermuten, zeigen, zitieren u. v. a. m.«62

Eine einfach Weise, das weite Feld der texthermeneutischen Praxis-formen zu strukturieren, liegt in der Unterscheidung von Beschrei-bungsakten bzw. -aussagen von Interpretationsakten bzw. -aussagen.Diese Sortierung kann sich u.a. an den Zielsetzungen der jeweiligenHandlungen orientieren, denn beschreibende und interpretierendeAkten bzw. Aussagen antworten auf tendenziell unterscheidbareFragen. Das Ziel des Beschreibens ist primär das einer Klassifikation,der – korrekten – Zuordnung phänomenaler Sachverhalte undphänomenbeschreibender Kategorien; das Ziel des Interpretierens istdagegen die Bestimmung oder Etablierung umfassenderer höherstu-

elemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialwissenschaftliche Perspek-tive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), 282–301.

61 Für eine ausführliche Untersuchung des Gütekriteriums »Plausibilität« vgl.prägnant: Simone Winko, »Zur Plausibilität als Beurteilungskriterium literatur-wissenschaftlicher Interpretationen«, in: Andrea Albrecht et al. (Hg.), Theorien,Methoden und Praktiken des Interpretierens, 483–512.

62 Steffen Martus, »Zur normativen Modellierung und Moderation von epis-temischen Situationen in der Literaturwissenschaft aus praxeologischer Perspek-tive«, in: Scientia Poetica 20:1 (2016), 220–233, 229.

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figer Bedeutungszusammenhänge.63 In Aufnahme von Leitdifferen-zen, die in der entsprechenden Debatte begegnen, lässt sich auchsagen: Liegt der Akzent hier auf dem »Objektbezug«, der »Textim-manenz« unddem »(rekonstruierenden) Lesen«, liegt er dort auf dem»Subjektbezug«, der »Texttranszendenz«, dem »(kreativen) Verste-hen«64. Diese Grunddifferenz verbindet sich ferner mit tendenziellunterscheidbaren Weisen, beschreibende und interpretierende Tä-tigkeiten/Aussagen zu evaluieren. Während sich Beschreibungen inder Regel bewerten lassen über eine Wahr-Falsch-Differenz, unter-liegen Interpretationen, insofern sie Hypothesen formulieren,grundsätzlich eher einer skalaren Bewertung geringerer oder höhererPlausibilität.

Funktional betrachtet dient die Unterscheidung bzw. der diffe-renzierte Bezug von Beschreibung und Interpretation schließlichselbst zentral der Evaluation von Interpretationsaussagen. DennTextinterpretationen lassen sich durch textbeschreibende Hinweiseproblematisieren; Interpretationen stehen aus der Perspektive derBeschreibung in einer »Logik der Rechtfertigung«65. Mit der Evalua-

63 Ich folge mit dieser groben Sortierung der Position Tom Kindts, dargestelltunter anderem in: »Deskription und Interpretation. Handlungstheoretische undpraxeologische Reflexionen zu einer grundlegenden Unterscheidung«, in: MarieLessing-Sattarie et al. (Hg.), Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Lite-raturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens, Berlin2015, 93–112. Ergänzend scheint es mir aber wichtig festzuhalten, dass sich diebeschreibende Klassifikation kaum erschöpft in bloßer »Terminologieanwen-dung« (ebd., 99), sondern auch kreative, begriffsbildendeMomente umfasst. Auchdiese sollten aufgrund ihrer Phänomennähe unter »Beschreibung« und nichtunter »Interpretation« subsumiert werden.

64 Vgl. Oliver Jahraus, »Analyse und Interpretation. Zu Grenzen undGrenzuberschreitungen im struktural-literaturwissenschaftlichen Theoriekon-zept«, in: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19:2(1994), 1–51, 15.

65 Carlos Spoerhase, »Strukturalismus und Hermeneutik. Über einigeSchwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse undInterpretation«, in: Hans-Harald Müller et al. (Hg.), Strukturalismus inDeutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975, Göttingen 2010,13–38, 21. Damit wird – was wichtig ist – nicht einem unidirektionalen Modellder Beziehung dasWort geredet. ImAnschluss an Spoerhasemuss betont werden,dass Textbeschreibungen nie ›rein‹ sind und sich allen Daten gleichermaßenintensiv zuwenden. Damit würde sie kaum fertig, und sie wären auch ihres

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tionsfunktion verbindet sich freilich ein Paradox, das eine derSchwierigkeiten der Unterscheidung und ihres Gebrauchs kenntlichmacht: »Je semantisch gehaltvoller die Beschreibung ist, desto ge-fährdeter scheint die für ihre intendierte Kontrollfunktion der Inter-pretation notwendige Intersubjektivität, je unkontroverser ihre se-mantischen Gehalte sind, desto bestätigungsirrelevanter ist sie.«66

Die praxeologisch-hermeneutische Differenz von Beschreibungund Interpretation ist offensichtlich auch von Bedeutung für dieNarratologie im Allgemeinen und das Problem erzählerischer Per-spektivierung im Besonderen. Zumindest den klassischen Variantender Erzähltheorie67 eilt in Aufnahme entsprechender ausdrücklicherAnsprüche der Ruf voraus, sie seien »rein deskriptiv«. Und wenn dieNarratologie weit über die Literaturwissenschaft hinaus zu einer Re-ferenztheorie geworden ist, so verdankt sich dies sicher auch der ef-fektiven Objektivierungsleistung der verfügbaren Modelle und Ter-minologien. Unabhängig von der entscheidenden Frage, wie»Beschreibung« und »Interpretation« und ihr Zusammenspiel imnarratologischenKontext zumodellieren sind, lässt sich sagen: Es gibteine Vielzahl narratologischer Aspekte, die den Phänomenen nach(wenn auch nicht den Vokabularen nach) deskriptiv fassbar sind;zweifellos gibt es aber auch Aspekte, die höherstufige Interpretati-onsakte erfordern. Im Kontext der Erzählperspektive lässt sich etwazweifelsfrei zwischen Erzähler- und Figurenrede unterscheiden (dieFigurenrede wird durch Redezeichen oder verba dicendi als solcheausgewiesen); einen Erzähler als »unzuverlässig« einzustufen, istdagegen nur aufgrundweiterreichender – und daher angreifbarerer –Hypothesen möglich. Wenn Vera und Ansgar Nünning in ihremmaßgeblichen Beitrag zum multiperspektivischen Erzählen notieren,sie würden »ein systematisches Raster von deskriptiven Analyseka-

»zielführenden Charakters« (ebd., 18) beraubt. Die Selektion der erfassten Datenwird vielmehr durch ein textinterpretatorisches Interesse bestimmt.

66 Benjamin Gittel, »Die Bestätigung von Interpretationshypothesen zu fik-tionalen literarischen Werken«, in: Andrea Albrecht et al. (Hg.), Theorien, Me-thoden und Praktiken des Interpretierens, 513–564, 528.

67 D.h. den Narratologien, die sich – wie Genette und auch Schmid – imBereich der strukturalistischen Erzähltheorie bewegen, im Gegensatz etwa undinsbesondere zu den Varianten einer kognitiven Narratologie. Vgl. noch einmalGreta Olson (Hg.), Current trends in narratology.

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tegorien«68 anstreben, ist das nicht unmittelbar vereinbar mit demHinweis, dass bei der »Analyse derGestaltung vonEinzelperspektiven[…] derGrad anZuverlässigkeit oderGlaubwürdigkeit« entscheidendsei, »der ihren Urteilen und Einstellungen jeweils zugeschriebenwird«69. Oder mit Bezug auf das oben explizierte PerspektivmodellSchmids: Seine Parameter 2 und 5, die ideologische und die sprach-liche Perspektive, sind sicher nicht rein beschreibend erschließbar.Hier basieren Aussagen über diese oder jene Stelle oder Figurzwangsläufig auf einer interpretierenden Wahrnehmung des Ge-samttextes oder auch auf der Einbeziehung textexterner Faktoren.Und je subtiler die Kategorien der Beschreibung und Interpretationgefasst werden, je stärker die normative Funktion ihres Zusammen-hangs betont wird, desto schwerer wiegen diese Differenzen.70

WennPerspektiven nicht nur, aber besonders im Fall ihrer starkenPluralisierung zur Evaluation nötigen, so stellt die ErzählliteraturexemplarischesMaterial bereit für entsprechendeÜbungen. Und einehermeneutisch informierte Narratologie liefert bestenfalls perspekti-ventheoretische Impulse, die auch jenseits der Erforschung von Er-zählliteratur auf Unterschiede verweisen, »die einen Unterschiedmachen«71.

68 Beitrag zur in Vera Nünning und Ansgar Nünning, »Multiperspektivität ausnarratologischer Sicht«, 47 (meine Kursivierung, A.M.)

69 Ebd., 53.70 Das wäre anhand von Benjamin Gittels eben zitiertem Aufsatz »Die Bestä-

tigung von Interpretationshypothesen zu fiktionalen literarischenWerken« – demderzeit, wie mir scheint, subtilsten Beitrag zur Debatte – weiter zu entfalten.

71 Gregory Bateson,Mind and Nature: A necessary Unity, New York 1979, 99:»Information consists of differences that make a difference«.

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Johanna Breidenbach

Das Gebet als PerspektivenwechselZum Umgang mit zweideutigen Blicken und dunklen Bildern

Hinführung und Hinweise zur Gliederung

Der Bedarf nach einem Perspektivenwechsel besteht dann, wenn einePerspektive zu enggeworden ist undmehr verstellt als sie eröffnet.Dasgilt auch für den epistemischenKontext, aber prekärwird das, wenn esumdie Perspektive geht, die wesentlich die Sicht auf Gott, einen selbstund auf andere Menschen bestimmt. Das lässt sich sowohl im zwi-schenmenschlichen wie im politischen Bereich ständig beobachten.Wenn der, den man auf eine bestimmte Art sieht, gerade durch dieseSehweise verzerrt wird, so wird der Blick starr, ungnädig und feind-lich. Demkorrespondiert die Erfahrung, in Perspektiven anderer oderin der Perspektive Gottes auf einen selbst gefangen zu sein.

Wenn als Lösung für das Problem verengter, geradezu verkehrterPerspektiven eine vollständige Elimination des Blickes des anderennicht in Frage kommt – weil dieser Exit selten möglich und oft auchnicht wünschenswert ist – so ergibt sich der Bedarf nach einer Ver-änderung der Perspektive. Wie wäre eine solche Transformation derPerspektive im und durch dasGebet zu denken, so dass vomGebet alsPerspektivenwechsel gesprochen werden kann? Eine zentrale Rollewird hierbei die Stimme und das Gehör spielen. Das Sehen wirdtransformiert, so die These, soweit es ihm gelingt, denHörsinn in sichaufzunehmen. Dann wird das Sehen ein Schauen, contemplatio.Dieser Begriff, mit dem das Beten traditionell auf das Schauen Gottesbezogen wird (gen. subj. und obj.), umfasst die entscheidenden Ge-sichtspunkte, die die Übergänglichkeit des Gebets ausmachen.

Dem Text, der das entfalten soll, wird zunächst eine kurze The-senreihe zum Gebet vorausgeschickt. Sie spannt den gebetstheolo-gischen Rahmen auf, in welchen die folgenden Überlegungen ein-gezeichnet werden. Beginnen möchte ich dann mit einerautobiographischen Erzählung von Herta Müller (I.). Bei ihrerLektüre stößt man auf das Problem der totalisierenden Perspektive

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allsehender Instanzen sowie einen zweifachen Spiegelbegriff. Letz-terer weist bereits in Richtung der Lösung des Problems. Der Zu-sammenhang von Gebet und Anfechtung, der hier implizit thema-tisch wird, wird in einem zweiten Abschnitt explizit entfaltet (II.).Die Fragen, die sich aus diesem Komplex ergeben, sollen in einemnächsten Schritt anhand des Traktats De visione Dei des Nikolausvon Kues erörtert werden (III.). In dessen Zentrum steht das Bildeines panoptes, eines Allsehenden. Besondere Aufmerksamkeit sollzum einen derGebetsförmigkeit des Traktats sowie zumanderen derInterpretation der Schrift durch Michel de Certeau gelten. Denn inihr wir die dogmatische Frage verbunden mit einer gegenwarts-hermeneutischen Analyse, die die Wahrheitsfähigkeit religiöserRede überhaupt berührt. Was sind die Bedingungen der Möglich-keit, in einer Situation weltanschaulicher Pluralität und sich weiterdurchsetzender Säkularisierung auf eine absoluteWahrheit bezogenzu bleiben? Hier kommt dem »Hören auf die Brüder«, in und durchdas sich neu das Bild der ewigen Wahrheit abzeichnet, eine zentraleRolle zu. Kontemplation wird durch de Certeau so zugleich als so-ziale Praxis profiliert. Die letzten beiden Schritte bündeln die Ge-danken zur Bedeutung der Überkreuzung von Schauen und Spre-chen im Gebet (IV.) und resümieren den zurückgelegten Weg (V.).

Vier bis fünf orientierende Thesen

Kommen wir zu den angekündigten Thesen, damit klar ist, von wonach wo sich der grundlegende Perspektivwechsel vollzieht, mit demdasGebet zu tun haben soll bzw. inwelchenHorizont er eingezeichnetist.1. Im Gebet geht es darum, wie wir in die Welt schauen oder mit

anderenWorten:DasGebet hat eswesentlichmit derPerspektivezu tun, die wir auf die Welt einnehmen. Im Term der »Welt«seien hier gegenüber anderen möglichen Konstellierungen ein-begriffen ich selbst, die anderenMenschen und Lebewesen sowiedie unbelebte Kreatur. Mit der Bezeichnung »Kreatur« greife ichschon vor auf These 2:

2. Das Gebet hat an einem Wechsel dieser Perspektive Teil undaktualisiert ihn fortlaufend. DieserWechsel ereignet sich so, dass

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alles was ist, als Kreatur in den Blick kommt, d.h. als SchöpfungGottes, mein Mitmensch als Nächster und ich selbst als ge-rechtfertigte Sünderin. Es geht es also um die radikale Totalper-spektive des Glaubens, die nicht etwas sieht, was sonst keinersieht, sondern alles anders sieht. Dabei ist die Pointe diesesWechsels, dass sie keine Wahlmöglichkeit des Menschen ist,denn es ist unmöglich, sich von sich aus so aufGottes Standpunktzu stellen, dass seine Sicht der Dinge zur existenzbestimmendenOrientierung würde.1 Vielmehr ist der Perspektivenwechsel vomUnglauben zum Glauben, so lässt sich in Anlehnung an IngolfDalferth sagen, ist als gewährte Partizipation an Gottes Sicht aufdieWelt zu beschreiben, die allem, was ist, den Glanz der Gnade2

verleiht. Diese fungiert als Einschub eines bestimmten »als ob«zwischen uns und unser Welterleben. Von Paulus wird dies imersten Korintherbrief negativ formuliert: die »die diese Weltgebrauchen« sollen sie so gebrauchen, »als brauchten sie sienicht« (1 Kor 7,31).

3. Die Zusammenrückung von Glaube und Gebet hat das Folge-problem, in der Beschreibung zwar gründlich, aber relativ un-scharf zu sein. DennwennmandenGlauben als Totalperspektiveversteht, so gewinnt man damit zwar viel, vermag aber all dieRandphänomene wie Wachstum, Anfechtung und Transfor-mationendesGlaubens innerhalb der symbolischenKoordinatender christlichen Religion nur schwer zu erfassen. Damit wirdauch das Gebet in seiner merkwürdigen Mittelstellung zwischenintentionalem Vollzug und unverfügbarem Geschehen nichthinreichend erfasst. Eigens bedacht werden muss weiter, dass

4. das Gebet eines Menschen nicht abgelöst werden kann vomRahmen der gemeinschaftlichen religiösen Praxis, in dem es sichkonstituiert bzw. abhängig ist von der Verfassung dieses Rah-mens. Mit anderenWorten: die Vermittlung der Perspektive desGlaubens ist ebenso zu betonen. Welche Formen ich beim Betenin Anspruch nehme, hat wesentlich damit zu tun, was ich bei

1 Vgl. von Ingolf U. Dalferth beispielsweise Radikale Theologie, Leipzig 32013.2 Vgl. Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christ-

liche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung,Tübingen 1989, z.B. 31, 301 et passim.

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anderen gesehen und gehört habe – oder eben nicht. Im christ-lichen Kontext bedeutet das zugespitzt: Das Gebet des Einzelnenist immer Teil desGebets der christlichenGemeinschaft wie auchdas Gebet der Gemeinschaft abhängt vom Gebet der Einzelnen.Die christlicheGemeinschaft wiederum ist nicht unabhängig vonder gesellschaftlichen Gesamtsituation, von der sie Teil ist.

5. Im Folgenden kommt das Gebet vor allem zur Sprache in seinerpraktisch wie theoretisch bedeutsamen Verbindung mit demGesichtssinn (contemplatio), gemäß der Tradition, in der esbezogen ist auf die Schau Gottes (visio beatifica). Damit findenviele andereAspekte desGebets hier keine Beachtung, die sich fürden Gegenstand auch nahelegen würde, insbesondere natürlichdie Thematisierung des Gebets als Klage und Lob und des be-rühmten Stimmungsumschwungs3 zwischen beiden. Ich hoffeaber, mit der Nachzeichnung des Gebets in seinen MomentenvonGewähr,Gegenseitigkeit undEntzug eineKernbewegung desBetens überhaupt zu erfassen.

I. Teuflischer und göttlicher Spiegel.Oder: Beten bedeutet, sich mit der Stimme zu helfen

In dem Essay-Band »Der Teufel sitzt im Spiegel«, erschienen 1991,sind elf poetologische Essays von Herta Müller versammelt, die 1953im Banat in Rumänien geboren wurde und 2009 den Nobelpreis fürLiteratur erhielt. IndenAufsätzen geht sie demProzess des Schreibensnach. Er verbindet in ihrer autobiographischer Erzählung ihreNachkriegskindheit auf dem Land als Teil einer kleinen deutschenMinderheit, ihre Zeit als Schriftstellerin unter Nicolae Ceaus|,escusowie die ersten drei Jahre in derBRDseit ihrerAusreise dorthin 1987.Für das Mädchen war die Großmutter eine prägende Gestalt. Als dieGroßmutter einmal beobachtete, wie ihre Enkelin mit ihrem Spie-gelbild kokettierte, warnt sie davor, dass der Teufel im Spiegel sitze.

3 Hermann Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösenLyrik Israels, zu Ende geführt von Joachim Begrich, Göttingen 41985 (11933),268–271; 282–285: »Im Wechsel zwischen Klage- und Danklied verläuft dasganze Leben des Frommen.« (285)

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Später entdeckteMüller jenseits der pädagogischenMaßnahme einentieferen Sinn dieser Ermahnung, auf den ich gleich wieder zurück-kommen werde. Grundlegend für das Leben im Dorf war eine be-drückende Enge, die jede Form von Nähe unterhöhlte durch Erfah-rungen der Entfremdung, dieMüller imRückblick als den »deutschenFrosch« bezeichnet: »Der deutsche Frosch aus den Niederungen [ihrerstes Buch, erschienen 1982 in zensierter Fassung, JB] ist der Ver-such, eine Formulierung zu finden, für ein Gefühl – das Gefühl,überwacht zu werden. Auf dem Land war der deutsche Frosch derAufpasser, der Ethnozentrismus, die öffentliche Meinung. Der deut-sche Frosch legitimierte diese Kontrolle des einzelnen mit einemVorwand. Der Vorwand hieß: Bewahren der Identität. […] Doch wieimmer hat auch dieses Auge des deutschen Frosches, da es ein AugederMacht war, nichts behütet.« Im Gegenteil »verwandelte er alles inEitelkeit und Verbote […]. Er hatte das Urteil ›Schande‹ zur Hand,für das, was beim einzelnen hinter der Stirn geschieht. Und das Urteil›Schuld‹ für das, was der einzelne nach außen tut.«4

In dem so gestimmten Leben des Dorfes ereignet es sich einesTages, dass das Kind Herta Müller die Großmutter durch einSchlüsselloch beobachtet, wie sie alleine in einem Zimmer laut mitsich selbst redet.DasKind ist schockiert, dieGroßmutter erscheint ihrfremd, verwickelt in ein Gespräch, das keine Zeugen erlaubt. Sie spürtintuitiv, dass sie sich im Beobachten ihrer Großmutter gemein machtmit den Glubschaugen des Frosches. In diesem Sinne schaut sie dieGroßmutter wie in einem Spiegel an, der dazu verführen kann, eineAnalyse des Spiegelbildes vorzunehmen, die die Realität in ein gna-denloses Licht taucht: »Der Satz ›Der Teufel sitzt im Spiegel‹ wußtedas.« In der Übertragung dieser Spiegelerfahrung auf die Sicht aufandere Menschen schreibt Müller weiter: »Wenn man Menschen,auch wenn sie einem nahestehen, ansieht, wird man schonungslos.Man zerlegt sie. […] Man sieht nichts, doch man ahnt, was innen ist.Weil es bei der Ahnung bleiben muß, wird diese zum Sehen, das sich

4 Beide Zitate aus Herta Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrneh-mung sich erfindet, Berlin 1991, 20f.

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ganz erfindet.Dawird dieWahrnehmung […] blutiger, alswennmanhineinsehen würde.«5

Jedochwird das gnadenlos spiegelnde Blicken unterbrochen durchdas, wasMüller imFolgendenhört.AusdemSatz, dendieGroßmutteröfter wiederholt, erschließt sie, dass die diese mit sich selbst sprachund zugleichmit ihremEhemann, »der sie entwürdigt hatte. Sie führtefür sich einGespräch zu Ende, das sie gar nicht geführt hatte, oder, dassie halb geführt und ganz entwürdigt hatte.«6 Der Satz, den Müllerimmer wieder hörte, war: »›[I]ch bin kein Schuhlappen‹. Und: ›Merkdir das‹, hatte sie oft gesagt.«7

Die eigene Stimme laut werden zu lassen und zu hören – Müllerbezeichnet dies als »Stimme« oder auch als »Diskurs des Alleinseins«– hilft der Großmutter, sich gegen die Perspektive ihres Mannes aufsie zurWehr zu setzen.Durchdie »StimmedesAlleinseins« gewinnendie eigenen Gedanken und Gefühle eine sinnliche Wirklichkeit. Sieeröffnet einen Raum, in dem eine andere Sicht ihr Recht einfordertund anfängt, Recht zu bekommen. In diesemSinne, soMüller, ist auchdie Stimme wie ein Spiegel. Aber eben kein teuflischer, der eine zer-störerische Perspektive freisetzt, sondern hier ist der Spiegel als In-strument gemeint, das dem Selbstinteresse und der eigenen Verge-wisserung sowie der Träumerei dient.

Das laute Selbstgespräch erinnert Müller an das Gebet:

»Die Stimme im Alleinsein hatte immer etwas vom Beten. Doch in derKirche beimBeten saßen viele dicht gedrängt in denBänken und betetenvor sich hin mit derselben Stimme, als wäre jeder mit sich allein. […]Worüber ich mich wunderte: daß sie, sie alle, für die der Teufel imSpiegel saß, sich nicht schämten, voreinander mit der Stimme des Al-leinseins zu beten.«8

Auf ihre Frage an die Großmutter, warum man überhaupt laut betenmüsse, antwortete diese: »,Weil du sonst überhaupt nicht betest. Und

5 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 26. Vgl. zur Regulierung des prekärenBlicks im Zusammenhang mit dem Spiegel seit alters Hans Belting, Florenz undBagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 22008, 246–251.

6 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 58.7 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 59.8 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 60.

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wenn ich sagte: ›Ich bete leise‹, wußte sie: ›Du lügst, du willst nichtlaut beten, weil du mit den Gedanken ganz woanders bist.‹ Sie hatterecht.«9

DasGebet hat etwas vomSelbstgespräch. Und doch ist es eines, dasim gemeinschaftlichen Vollzug seine Wahnhaftigkeit verliert – oderdie dort einen angemessenen Ort findet und dadurch nicht dieselbebleibt. Es bedeutet, sich all dessennicht schämen zumüssen,was einenin anderen Situationen dazu bringt, laut mit sich selbst zu sprechen.Und offenbar lebt es von der Übereinstimmung zwischen den Ge-danken und dem ausgesprochenen Wort.

Die Großmutter hat die Abwesenheit ihresMannes gebraucht, umim dadurch ermöglichten Gespräch mit ihm »sich bis ans Ende ihresWunsches« und ihres »Bedürfnisses nach Würde« »ins Recht zusetzen« und »zu Ende reden durfte«10. Und so hat Müller später inSituationen der Bedrängnis, etwa vor Verhören durch die Securitate,die Wahrheit, dass sie kein Schuhlappen ist, alleine für sich lautwiederholt und dabei die Stimme des Alleinseins als Spiegel benutzt.11

Wir halten fest: dem Diskurs des Alleinseins, der hilft, mit denGedanken bei der Sache zu sein, der es ermöglicht, Wahrheiten zuträumen und auszusprechen, die während des Tages mit »seinemgroßenAuge«12nicht erlaubt sind, der hilft,Widerstand zu leisten undzu seinem Recht zu stehen und als Gebet ermöglicht, ohne Schamzusammen jeder für sich zu sein – all diese auf den anderen angelegtenArtikulationen des Selbst entspricht eine visuelle Erfahrung. Diesebegreift den Spiegel als Reflexionsraum, der zugleich vergewissert undMöglichkeiten eröffnet. In diesem Fall, so darf manwohl folgern, sitztnicht der Teufel im Spiegel.

Wir können also mit Herta Müller zwische Spiegel und Spiegelunterscheiden. Der eine ist gekoppelt an ein überwaches Auge, dasgleichermaßen kontrolliert wie zersetzt. Dieser Spiegel, in dem der

9 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 60.10 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 60.11 Noch eine weitere Sprache ist neben dem lauten Selbstgespräch diesem

Register des Alleinseins zuzuordnen: der Traum. Genauso intim wie das Selbst-gespräch und ebenso der völligen Kontrolle entzogen, stellt er »für jeden dieunfreiwillige Arbeit an der Existenz dar, der bis zur letzten Konsequenz geführteDiskurs des Alleinseins.« Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 62.

12 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 63.

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Teufel sitzt, wirft den Blick als eine horrende Supervision zurück. Derandere Spiegel ist gekoppelt an Stimme und Ohr. Er unterbricht dieSuper-Vision und eröffnet eine andere Perspektive. Er empfängt seinBild und gibt es, Möglichkeiten zuspielend, wieder zurück.

HertaMüller ist demFrosch in veränderterGestalt übrigens immerwieder begegnet. Zuerst wurde er »der Frosch des Diktators«13, alsovon Ceaus|,escu, der sich später u. a. »unser irdischer Gott« nennenließ, und dessen allgegenwärtiges Porträt oberirdisch das allseits wa-che Auge seines Geheimdienstes flankierte. In der Bundesrepublik, soMüller, sah sie den »Frosch der Freiheit«14. Von unzähligen Wahl-und Werbeplakaten starrten Gesichter, die in einen Vergleich zwin-gen, dem keine und keiner standzuhalten vermag. »Der Frosch derFreiheit lächelt mit weißen Zähnen. Er hinterfragt nicht Dinge. Erstellt Menschen in Frage.«15

Vielleicht ließe sich diese letzte Variante des Frosches als Ausdruckder »narzisstischen Bildbesessenheit«16 begreifen, die Johannes Hoffdurch den Austausch mit dem Bildkünstler Christoph Schlingensiefals das zentrale Problem unserer Zeit identifiziert. Als Lösung visiertHoff eine Unterbrechung des ungebrochenen (wenngleich durch diePsychoanalyse transformierten) Narzissmus der Moderne durch ei-nen Medienwechsel an, nämlich durch das Hinzutreten des Hörens.Bezugnehmend auf das bekannte Pauluswort aus Röm 10,17 »DerGlaube kommt vomHören« geht es Hoff, vereinfacht gesagt, um eineRehabilitierung des Hörens gegenüber einem entfesselten Blicken.Hoff führt dies durch anhand des Traktats De visione Dei von Niko-laus von Kues, angeregt durch einen Aufsatz von Michel de Certeau.

Bevor ich mich dem zuwende, möchte ich noch einmal auf denAspekt der Bedrängnis zu sprechen kommen, die von einer allesse-henden Instanz ausgehen und damit die Interpretationshinsicht zu-spitzen, mit der an die Abhandlung von Cusanus herangetretenwerden soll.

13 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 29.14 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 29.15 Müller, Der Teufel sitzt im Spiegel, 30.16 «narcissistic obsession with images”: Johannes Hoff, The Analogical Turn.

RethinkingModernitywithNicolas of Cusa, GrandRapids,Michigan/Cambridge,UK 2013, xxiii.

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II. Zwischenschritt: Anfechtung und Gebet

Denn dass Gott unerkennbar ist, jedoch in der Potenz des Allsehen-den seinerseits alles und jeden (er-)kennt, stellt ein genuin theologi-sches Problem dar. Gerade die Allsicht Gottes, die verbunden ist mitanderen Attributen seiner universalen Macht, führte trotz gegentei-liger Bemühungen der Theologinnen in der Vergangenheit immerwieder zuKrämpfen. So beschreibt es TillmannMoser in seinemBuch»Gottesvergiftung«, in dem er sich in einem erschütternden Brief anGott von dem Gott zu befreien sucht, der ihm in seinem Elternhauseingeträufelt wurde, vorzugsweise intravenös über die ergreifendenLieder des protestantischen Pietismus.

»Aber weißt du, was das Schlimmste ist, dass sie mir über dich erzählthaben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, daß du alles hörstund alles siehst und auch die geheimenGedanken erkennen kannst. […]›Herr, erhebe dein Antlitz über uns…‹, so haben wir am Ende jedesGottesdienstes gefleht, als gäbe es keine größere Sehnsucht, als immerzudein ewig-kontrollierendes big-brother-Gesicht über uns an der Deckezu sehen. Du als Krankheit in mir bist eine Normenkrankheit […], derunerfüllbaren Normen, die Krankheit des Angewiesenseins auf deineGnade, die […] bei dir erbettelt werden mußte. Ein Wucherer warst dumit deiner Gnade, oft nur hast du sie gegen Menschenfleisch, dochimmer nur provisorisch, mit dauerndem Widerrufsrecht, vergeben.«17

Auf verwickelten Ebenenwird beiMoser deutlich, was theologisch alsRealität der Sünde18 auszuweisen wäre. In diesem Kontext stellt sie soetwas wie eine Eintrübung der Sicht dar, die den allsehenden BlickGottes nicht als Fürsorge wahrnimmt, sondern als unsichtbareSchreckensfigur in der Mitte des Bentham’schen Panoptikums, dasFoucault in »Überwachen und Strafen« untersucht hat.

17 Tilmann Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976, 13ff.18 Zur Kritik an (unvorsichtigen) Rationalisierungen und Externalisierungen

der Anfechtung und für ein Plädoyer bleibender Unbestimmtheit des Woher derVersuchung vgl. Philipp Stoellger, Glaube als Anfechtung? Zur Hermeneutik derDifferenz von Anfechtung und Versuchung, in: Anfechtung. Versuch der Ent-marginalisierung eines Klassikers, hg.v. Pierre Bühler/Stefan Berg/AndreasHunziker/Hartmut von Sass, Tübingen 2016, 63–100.

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Das Panoptikum stellt den Entwurf der perfekten Strafanstaltdurch vollständige Überwachung dar und fußt auf dem Prinzip, dieWechselseitigkeit des Blickens zwischen einem Wärter und vielenHäftlingen auszuschalten. Im Halbkreis angeordnete Zellen, welchevollständig be- bzw. durchleuchtet sind, befinden sich alle imBlickfeldeines zentralen Turmes. Der Bewacher in der Spitze des Turmes wirddurch die Abschottung seines Ausgucks mittels Jalousien allerdingsvon niemandem gesehen. Besonders perfide ist die dadurch erzielteInternalisierung der Perspektive des Bewachers: Es reicht zu wissen,dass man immer unter Beobachtung stehen könnte, unabhängig da-von, ob gerade wirklich jemand im Turm anwesend ist oder nicht.Bezeichnenderweise funktioniert die absolute Kontrolle nur über dieAllsicht des Blickes, der nicht erwidert werden kann, und nicht imakustischen Analogon. Bentham sah in einem ersten Entwurf Hör-rohre zur Überwachung vor: Aber um die Reziprozität akustischerLebensäußerungen zwischen Turm und Zellen zu unterbinden, hatman keinen Kunstgriff gefunden wie im Feld des Sehens.19

In Fortführung der malignen Froschfamilie Müllers müsste manhier sagen, dass der »Frosch Gottes« mindestens bis in jüngere Zeitüber Generationen an der Drangsalierung des menschlichen Selbst-verhältnisses und damit an der Beschränkung von Beziehungsfähig-keit mitgewirkt hat. Aber unabhängig von den Zeitläuften ist der(unheilvolle) Wechsel von getroster Zuversicht auf Gott über eineVerunsicherung hinsichtlich seiner Präsenz und Güte bis hin zurGegnerschaft mit Gott dem Glauben selbst grundsätzlich einge-schrieben. Denn der Glaube ist die Bedingung der Möglichkeit desZweifels20. Die abgründige Möglichkeit, dass Gott, die Güte selbst, alsmalum erfahren wird, stellt den maximalen Fall von Anfechtung,tentatio, dar.21 Laut Luthers klassischer Formel sind es nun geradeoratio, meditatio und tentatio, die einen Theologen zum Theologen

19 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,Frankfurt a.M. 1994 [erstmals 1976 auf Deutsch erschienen, ein Jahr nach demErscheinen der französischen Originalausgabe], 256ff., bes. 259, Anm. 4.

20 »Zweifel« meint hier natürlichmehr als kognitiveUnsicherheit, sonderndenFall existenzieller Fragwürdigkeit.

21 Vgl. Stoellger, Glaube als Anfechtung?, 87–89. Ingolf U. Dalferth, Malum.Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008, 460–478.

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machen.22 Claudia Welz hat in Auslegung dieser Formel jüngst ge-zeigt, wie gerade Gebet und Anfechtung zusammenhängen. Sie ver-deutlicht das Problemander Rede vonGottes Stimme, die spricht undvon der erhofft wird, auf Gebete zu antworten. Die Frage der An-fechtung lautet hier: Wie erkenne ich Gottes Stimme in den vielenStimmen? Da ein objektiv verfahrendes Kriterium in der Sache desGlaubens grundsätzlich untauglich ist, kann Erhörung sich nur fest-machen an der »Art undWeise, wie das Gehörte zum Unerhörten inBezug gesetzt wird«23. In den daraus resultierenden glaubenden Un-terscheidungsprozessen, die nie abschließbar sind, stellt das Gebetalso einen vermittelnden Vollzug dar. Und zwar vermittelt es Zweifelund Glaube so, dass der Zweifel nicht zu einem völlig destabilisie-renden Skeptizismus führt, der Glaube hingegen vor einemKippen invermeintliches Wissen bzw. Erkennen bewahrt bleibt. Die Anfech-tung hält gewissermaßen den Kreislauf des Glaubens aufrecht, wennanders das Gebet das Herz des Glaubens ist:

»Sie [die Anfechtung, JB] sorgt dafür, dass immer wieder von neuemgefragt wird, was genau gesagt wurde und was damit gemeint seinkönnte. Sie führt nicht nur zum Lesen und Wiederlesen dessen, wasgeschrieben steht, sondern auch hinein in ein fortgesetztes ›Gespräch‹mit Gott, in dem auch und gerade die Stille zu den Betenden spricht.«24

Die skizzierte Problematik des Allsichtprädikats Gottes vertieft sich,wennman sich den fundamentalen Zusammenhang vonDenken undSehen für das menschliche Sein vor Augen hält. Seit Beginn derPhilosophiegeschichte ist das denkende Erfassen Gottes und derWeltdurch ein reflektierendes menschliches (Selbst-) Bewusstsein mit der

22 Martin Luther, Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe derdeutschen Schriften Luthers [1539], Martin Luther Ausgewählte Schriften, hg.v.Karin Bornkomm/Gerhard Ebeling, Frankfurt a.M. 1982, 5–11, 8.

23 Claudia Welz, Dem Unsichtbaren eine Stimme geben: Gebet, Glaubensan-fechtung und (Un)Gehorsam, in: Anfechtung, 253–282, 271.

24 Welz, DemUnsichtbaren eine Stimme geben, 281. Vgl. Pierre Bühler/StefanBerg/Andreas Hunziker/Hartmut von Sass, Anfechtung. Einleitende Überlegun-gen, in: dies., Anfechtung, IX-XXIII, XX.

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Metaphorik des Sehens gekoppelt,25 was der zentralen Bedeutung desGesichtssinns für die Ausbildung menschlicher Identität und Sozia-lität korrespondiert.26Das hat mindestens Bedrängnispotenzial, dennzugespitzt kann man formulieren, dass ein sich selbst bewussterMensch niemals ohne ein Auge ist, das ihn besieht, ob man dies nunepistemisch, psychologisch, ethisch, theologisch oder anderweitigentfaltet. DiemannigfaltigenLeiden, die dieseGrundkonstellation desum sich selbst wissenden, sprich, sehenden27 Selbstbewusstseins er-zeugt, machen es ab einem gewissen Grad an Aufmerksamkeit28

notwendig bzw. lösen das vielleicht unabweisbare Verlangen aus, sichzu diesem Auge zu verhalten. Damit spielt sich das Drängen nacheinem Austausch ein, einer Möglichkeit der schonenden, vielleicht jawohlwollenden, am Ende gar selig gelösten »Rede« mit dieser Instanzein.29 Mit dem Auge sprechen zu können, würde dessen Macht ver-ändern.

Auf dem so skizzierten Weg führte die prekäre Allsicht Gottes aufdas Thema der Anfechtung und von da aus weiter zum Gebet alsMöglichkeit befreienden Umgangs damit. Auf diesem Hintergrundwenden wir uns nun Nikolaus von Kues zu.

25 G.König,Art.Theorie, in:HWPh10 (1998), 1127–1146.Vgl.KristófNyíri, Bildund Gebet, in: Christoph Dohmen/ChristophWagner (Hg.), Religion als Bild – Bildals Religion, Regensburg 2012, 217–228.

26 Vgl. die brillanten Beobachtungen von Georg Simmel, Exkurs über die Sozio-logie der Sinne, in: Soziologie. Untersuchungen über die Vergesellschaftung, Ge-samtausgabe, Bd. 11, Frankfurt a.M. 1992, 722–742.

27 Bzw. eben nicht sehend. Zur inhärenten Trübheit des Denkens vgl. GeorgeSteiner, Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe, Frankfurt a.M.2006, bes. 53ff.

28 Vgl. hierzuGünterBader,AnfechtungalsAufmerksamkeit.Aufmerksamkeit alsAnfechtung, Kolloquium Genf 8.4.2011, Rheinbach 2012.

29 Von hier aus führte leicht eine Abzweigung zumBegriff des Gewissens und vonda aus noch weiter zum theologischen Motiv der Forumssituation des Menschensowie zumSprechenundBeten imZusammenhangmit derRechtfertigung.Hier stehtallerdings das Hören im Vordergrund. Vgl. wiederum Gerhard Ebeling, Das Gebet;ders., Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Tübingen 1979, 189–191;202–204;Bd. 3,Tübingen1979208–219 sowieders.,TheologischeErwägungenüberdas Gewissen, in: Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen 31967, 429–446. Vgl. dazu dasEbeling-Referat beiDeutsch,O-Ratio, 195–214.ZumZusammenhangvon leidvollem(sich) selbst denken müssen und Sprache vgl. Jochen Schmidt, Klage. Überlegungenzur Linderung reflexiven Leidens, Tübingen 2011, 1–24; 154–176.

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III. Sehen und Gesehenwerden. Beten als Schau und Gespräch

Im Jahr 1453 schickt Nikolaus von Kues als Bischof von Brixen eineAbhandlung unter demTitel30 »De visione Dei sive de icona liber« aneinen Konvent von Mönchen am Tegernsee. Diese hatten ihn umStellungnahme in einem Streit gebeten, welcher sich an der Frageentzündet hatte, ob demAffekt oder demWillen der Vorzug zu gebensei auf demWeg zur uniomystica, der Vereinigung der Seelemit Gott.Cusanus antwortet, indem er nicht (direkt) antwortet, sondern dieMönche zu einer besonderen Bildbetrachtung auffordert. Zusammenmit seiner Handreichung möchte er die Mönche »experimentaliter«,»auf dem Weg der Selbstbetätigung in das heilige Dunkel«31 führen.Damit diese Einweisung ihnen leichtfalle, schickt er ein Bild eines»Alles-Sehenden/omnia videntis« mit. Diese neue Errungenschaft aufdemFeld derMalerei wirkt so, »als ob es alles ringsherumüberschaue/quasi cuncta circumspiciat«32. Cusa zählt mehrere Bilder dieser Artauf, keineswegs alle religiöserNatur.Wir wissen nicht, welches Bild erletztlichmitgeschickt hat, auch wenn einiges dafür spricht, dass es einChristusbild war, denn nicht nur nennt er es selbst icona Dei33, son-dern seine Schrift läuft auch auf eine christologische Betrachtung zu.Ich komme auf diese Unklarheit oder »Inkonvenienz« gleich nocheinmal zurück. In der Versuchsanweisung für das, was BernardMcGinn eine »Paraliturgie«34, Michel de Certeau eine »mathemati-

30 Zur bildtheologischen Relevanz der wechselnden Titel s. Günter Bader,Nicht-Sehen im Sehen Gottes. Zu Cusanus, [sic] De visione Dei, in: Präsenz imEntzug. Ambivalenzen des Bildes, hg.v. Philipp Stoellger/Thomas Klie, HUTh 58,Tübingen 2011, 325–343, 328–331.

31 Nikolaus von Kues, De visione Dei/Die Gottesschau, in: ders., Philoso-phisch-theologische Schriften, hg. u. eingef. v. Leo Gabriel, übers. v. Dietlind undWilhelmDupré, Studien- und Jubiläumsausgabe Lateinisch-Deutsch, Bd. 3,Wien1967, 93–219, 94f. Die neuere Ausgabe des lateinischen Textes findet sich inBand 6 der Gesamtausgabe im Meiner-Verlag: Nicolai de Cusa, De visione Dei,hg.v. Heide D. Riemann, Hamburg 2000.

32 Nikolaus von Kues, De visione Dei/Die Gottesschau, 94f.33 Vgl. ebd., 96.34 BernardMcGinn, Seeing and Not Seeing. Nicholas of Cusa’s De visione Dei

in the History of Western Mysticism, in: Cusanus, The Legacy of LearnedIgnorance, hg.v. Peter J. Casarella, Washington 2006, 26–53, 39.

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sche Liturgie«35 genannt hat, geht es letztlich um das Erwecken derAugen des Geistes und der Vernunft (»mentalibus et intellectualibusoculis«36) anhand einer sinnlichen Wahrnehmung.

Sie soll so vonstattengehen: Die Mönche hängen das Bild an eineWand und stellen sich im Halbkreis um das Bild auf. Nun wird dasmystischeExperiment anhandeines dreifachenErstaunens gegliedert,das gleichsam der Impulsgeber für das schrittweise Übersteigen dervisuellen Perzeption hin zu einer geistigen ist: Zunächst nimmt dereinzelne Mönch wahr, dass er an seinem Ort angeschaut wird, aberauch angeschaut wird, wenn er seinen Platz verlässt und sich an dasandere Ende des Halbkreises begibt. Er wird sich wundern, so vonKues, über »die Wandlung des unwandelbaren Blickes«.37 Sodannwird er sichwundern,wenn er sich inBewegung setzt underfährt, dassauch im Abschreiten des Halbkreises der Blick des Auges auf ihmruhen bleibt. Schließlich wird er völlig erstaunt sein, wenn er seinenMitbruder, der sich ebenfalls entlang des Kreises bewegt, nach seinerBilderfahrung fragt und ihn antworten hört, dass der Blick des Bildesauch ihn beständig begleitet. Er möge glauben, so von Kues, »so erhört, daß der Blick des Bildes sich gleichermaßen mit ihm und ent-gegengesetzt bewegt. Sollte er nicht glauben, würde er nicht fassen,daß dies möglich ist./Et nisi crederet non caperet hoc possibile.«38

ImAnschluss andieVersuchsanordnung, die imGegensatz zudemBentham’schen Panoptikum gerade die eigene Seherfahrung und diedynamische Perspektive in den Vordergrund stellt, folgen drei Vor-bemerkungen zur Theologie der Sicht Gottes. Hier sei nur diejenigegenannte, die die Kreisstruktur der Theologie betrifft. Sie beruht aufdem Axiom der absoluten Identität Gottes, die Alterität, insofern sienur als Gegensatz zu Identität zu denken ist, ausschließt. Dies bewirktfür die Attribute Gottes, dass sie, obwohl sie auf der sprachlichenEbene Verschiedenes ausdrücken, in Gott nichts Verschiedenesmeinen können, so dass die Attribute des Sehens, Hören, Riechens,

35 Michel de Certeau, Nikolaus von Kues: Das Geheimnis eines Blickes, in:Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg.v. Volker Bohn, Frankfurt a.M.1990, 325–356, 339.

36 Nikolaus von Kues, De visione Dei/Die Gottesschau, 112.37 De visione Dei/Die Gottesschau, 97.38 De visione Dei/Die Gottesschau, 96f.

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Empfindens und Verstehens usw. in Gott selbst »nicht verschieden/non est aliud«39 sind.

Auf diese Grundlegung folgt die eigentliche Betrachtung, die be-zeichnenderweise einen Wechsel in die Redeform des Gebets be-inhaltet.DenSprechrichtungswechsel (hin zuGott) leitet eineAnredean den Bruder ein, um die Wendung zu Gott von dessen Sprecher-position aus zu vollziehen: »Tritt nun, Bruder und Betrachter, heranzum Bild Gottes/Accede nunc tu frater contemplator […]«40.

Aus der Erfahrung des treuen Blickes, so von Kues, »fühlst [du]dich aufgerufen und wirst sprechen: Herr, ich schaue nun in DeinemBild Deine Vorsehung in sinnlicher Erfahrung. Denn wenn Dumich,der ich der niedrigste von allen bin, nicht verläßt, dann wirst Duniemals irgendeinen verlassen. […] Du bist also als das absolute Seinvon allem so bei sämtlichenWesen, als ob du umnichts anderes Sorgetrügest. […] Du läßt mich in keiner Weise begreifen, Herr, daß Duetwas anderes außer mir mehr liebst als mich, da mich Dein Blicknicht verläßt. Und weil das Auge dort ist, wo die Liebe weilt, erfahreich, daß Dumich liebst; denn über mir, deinem geringen Diener ruhtDein Auge in größter Aufmerksamkeit.«41

Eine neue Art zu sehen

Bevor wir nun diesem mehrfachen Wechsel der Sprecherpositioneigens nachgehen, treten wir nochmals einen Schritt zurück, um dasSpezifische dieser Bildbetrachtung bei von Kues zu erfassen. DasThema »Bild und Gebet« hat in der christlichen Tradition eine langeund komplexe Geschichte. In Fortführung dieser Tradition, auswelcher besonders dasMotiv des »lichtenDunkels« in derMystischenTheologie für Nikolaus von Kues wichtig ist,42 kommt dem Bild bei

39 De visione Dei/Die Gottesschau, 102. Vgl. Nikolaus von Kues, Non aliud/DasNicht-Andere, in: ders., Philosophisch-theologische Schriften, hg. u. eingef. v.Leo Gabriel, übers. v. Dietlind und Wilhelm Dupré, Studien- und Jubiläumsaus-gabe Lateinisch-Deutsch, Bd. 2, Wien 1966, 443–566.

40 De visione Dei/Die Gottesschau, 103.41 De visione Dei/Die Gottesschau, 105.42 In der mystischen Theologie invertiert deren Gründervater Pseudo-Dio-

nysius Areopagita Sehen und Nicht-Sehen in Bezug auf Gott. In der paradigma-

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ihm eine besondere Rolle zu.43 Sie speist sich daraus, dass er inmittender Entstehungszeit einer neuen Epoche deren Impulse aufnimmtund sich der Frage widmet: »Was heißt ›sehen‹? Wie kann aus einer›Sehweise‹ eine neueWelt entstehen?«44DasErgebnis ist nachMichelde Certeau ein besonderer Zugang, der sich in einer »Verbindung vonBeobachtung und Intuition«45 niederschlägt. Zentral für diese Art,Philosophie zu betreiben, sei die Konzeptualisierung von materiellenGegenständen, von Dingen dieserWelt, als Spiegel. Blickt man in ihnhinein, vollzieht sich in der contemplatio eine Transformation desBlickens überhaupt. Auf der einen Seite beobachtet man in diesemSpiegel durchaus ein Objekt, kann es genau analysieren und be-schreiben. Auf der anderen Seite leitet der Spiegel den Blick weiter indie Möglichkeit des Unsichtbaren, er verwandelt das Sehen und rei-

tischen Nachzeichnung des Aufstiegs Mose auf den heiligen Berg schreibtAreopagita im Anschluss an die Erlangung des Gipfels: »Danach [nach derWahrnehmung des »Ortes« des bleibend unsichtbaren, nicht antreffbarenGottes]löst sich (Mose) auch vom Bereich dessen, was sichtbar ist und zu sehen vermag,und taucht in das Dunkel des Nichtwissens ein, in das wahrhaft mystische(Dunkel), in dem er sich allem gegenüber verschließt, was die Erkenntnis zuerfassen imstande ist. […] Daß wir in diesem überlichten Dunkel weilen und imNichtsehen und Nichterkennen den sehen und erkennen möchten, der unserSehen und Erkennen übersteigt, (und zwar gerade) durch Nichtsehen undNichterkennen – denn das bedeutet in Wahrheit Sehen und Erkennen –, darumbete ich«. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie, eingel. u.übers. v. Adolf Martin Ritter (Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 40),Stuttgart 1994, 76 (c. I; 1001,1 A – c. II; 1025, 1 A). Zur Rezeption des Areopa-giten bei Nikolaus von Kues vgl. Hoff, Rethinking Modernity, 5–9. Vgl. weiter-führend zum Traditionshintergrund den Beitrag von McGinn, Seeing and NotSeeing.

43 Zur Rolle des Bildes in der die Renaissance quasi vorbereitenden Etappe derdevotio moderna vgl. Johanna Scheel, Das altniederländische Stifterbild. Emoti-onsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis, Berlin 2014.

44 Michel de Certeau setzt generell, wie einige andere, die Ablösung der soge-nannten westlichen Welt von einem einheitlichen Glaubens- und Denkrahmen,die sich in der Moderne voll durchsetzt, bereits vor der Konfessionalisierung an,hiermitVerweis aufCusas’ »Depace fidei«, die in derDarstellung vonWahrheiteneine »Antwort auf das Wüten des Fanatismus« gebe. Michel de Certeau, DasGeheimnis eines Blickes, 326. Zur Veränderung der Tradition bei Kues ohne diesespezifische geistesgeschichtliche Rahmung vgl. Bader, Nicht-Sehen im SehenGottes, 331.

45 De Certeau, Geheimnis eines Blickes, 326.

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chert es unendlich an. Um ein Beispiel aus der Küche zu nehmen: derLöffel. Er ist alltäglicher Gebrauchsgegenstand und hat doch signifi-kative Potenz. Dannwird der Löffel zumSpiegel: »Als Spiegel erreichtder Löffel seine Vollendung und wird zu einem Juwel für den Geist,wenn der Betrachter über die genaueste Beobachtung hinaus in ihmeine Pracht entdeckt, die dem Auge verborgen bleiben muß.«46 ImHintergrund des Zusammenfallens der beiden Sehweisen, die denSpiegel als Instrument des Übergangs47 ausmachen, steht sowohlCusanus’ »De docta ignorantia«� welche Cusanus zufolge aufgrundeiner Eingebung entstanden ist � als auch sein mathematisches In-teresse. Es macht ihn zu einem Vermittler zwischen der immer neueErkenntnisse erzielenden naturwissenschaftlichen Methodik und ei-nem traditionellen theologischen Wahrheitsverständnis, demzufolgealle particula veri eingebunden sind in die HinordnungmenschlichenLebens und Erkenntnisstrebens auf die Wahrheit des einen Gottes.48

Johannes Hoff unterscheidet für diesen spezifischen Ansatz bei ihmzwischen truth_1 und truth_2, die das Verhältnis von Liturgie undTheorie als den beiden Quellen theologischer Wahrheitserkenntnisbei Cusanus bestimmen.49 Während truth_2 wahrheitsfunktionale,einzelne Erkenntnisse auf allen möglichen Wegen erbringt, dienttruth_1 – d.h. die doxologisch-liturgische Fundierung der Wahrheit– als sinngebender Rahmen dieser Erkenntnisse, der überhaupt eineGewichtung bezüglich der Relevanz und Bedeutung erlaubt und da-mit Orientierung des Wissens ermöglicht.50

Die Verbindung beider Wahrheitszugänge vollzieht sich bei Cus-anus imPerspektivenwechsel des betendenBlicks. Ihm sind dieDinge

46 De Certeau, Geheimnis eines Blickes, 327f.47 Vgl. De Certeau, Geheimnis eines Blickes, 327.48 Dies ließe sich auch für die spezifische Aufnahme der neuen Perspektiv-

malerei bei Cusanus zeigen, die durch Leon Battista Alberti entwickelt wurde. Vgl.Philipp E. Reichling, Rezeption als Meditation. Vergleichende Untersuchungenzur Betrachtung in Mystik und klassischer Moderne, Oberhausen 2004,141–146.

49 Hoff, Rethinking Modernity, 19–24; 185–189.50 Mit diesem Programm möchte Hoff die szientistischen und narzisstischen

Auswüchse der Moderne sanieren, wobei die katholische Kirche, wie sich späterherausstellt, mit ihrem liturgischen Handeln das Paradigma der Vermittlungs-praxis von Individualität und Totalität ist bzw. endlicher und unendlicher Per-spektive ist. Es wäre interessant zu erfahren, welche gesellschaftliche Rolle derKirche sich daraus für Hoff ergibt.

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zugleich Gegenstand materieller Welterkenntnis und Zeichen derewigenWahrheit, die beides bedingt: den erkennenden Blick und denGegenstand seines Interesses, und beide umfängt. Der »Spiegel«schlägt sich hier ganz auf die positive Seite der beiden Spiegelsorten,die wir bei Müller notiert haben. Es wird nicht unterschieden zwi-schen Spiegel und Spiegel, sondern zwischen Spiegel und Nicht-Spiegel. Sobald etwas im Gebet Spiegel zu werden vermag, ist bereitsalles gewonnen; denn dann reflektiert er das Ganze im Einzelnen undlässt es funkeln in diesem größeren Licht.

Sehen ist gesehen werden

Durch die Spiegelmetapher deutet sich eine Rezeptivität im aktivenSehen an. Cusanus vertieft das passive Moment weiter, indem er dieAsymmetrie des Blickwechsels zwischen Ikone und contemplatorbetont. Im Betrachten des Blickes wird der Betrachter gewahr, dasssein Sehen des Bildes eineWirkung des vorgängigen Sehens von Gotther ist:

»Was anderes ist Dein Sehen, Herr, wenn Dumich mit liebendemAugebetrachtest, als daß ich Dich sehe; indemDumich ansiehst, läßt Du, derverborgene Gott, Dich von mir erblicken. Jeder vermag Dich nur soweitzu sehen, als Du es ihm gewährst. Nichts anderes ist es Dich zu sehen, alsdaß Du den Dich Sehenden ansiehst.«51

Cusanus spitzt diese passive Struktur des Sehenlassens durch Gottnoch weiter zu. Er baut dazu auf der genannten Kreisstruktur auf. DaGott keine Andersheit in sich begreifen kann, sieht jeder Mensch inGott wie in einem Spiegel nichts anderes als sich selbst bzw. seineeigene Wahrheit: ein Mensch in zorniger Stimmung sieht in Gott einzorniges Bild, ein freundlicher Mensch erkennt ein freundliches undwürdenwir annehmen, dass TiereGott sehen, so ist klar, dass einRindnichts anderes als ein Rind sehen würde.52 Grund für diese Unter-werfung unter das Gesetz der Projektion, sit venia verbo, sei für Gott,

51 De visione Dei/Die Gottesschau, 109.52 Vgl. De visione Dei/Die Gottesschau, c. VI., 112–117. Vgl. c. VIII., 127, wo

von Gott ausgesagt wird, dass er ein lebendiger Spiegel ist.

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damit den Menschen näher an sich zu ziehen. Denn vorausgesetzt,dass der Mensch zunächst am meisten liebt, was ihm ähnlich ist,kommtGott ihmumder Liebewillen so entgegen, als sei er dasAbbildund der Mensch das Urbild. Der betende Blick des Menschen jedocherkennt diesen – letztlich christologisch fundierten – move Gottes.Dieser stellt sich zwar als einfacher Spiegel des Menschen: »Doch dasGegenteil davon ist wahr. Was er in jenen [sic] Spiegel der Ewigkeitsieht ist nicht Darstellung, sondern die Wahrheit, deren Darstellunger, der Sehende, selbst ist.«53

Genau diese Erkenntnis des eigenen Blickens als vollständig er-blickter Blick löst ein Erschrecken aus, das nach de Certeau zu einerBlendung des Menschen führt. Er verliert den gewohnten Standort,von dem aus er etwas erkannte, und muss, wie Liebende oder Ver-rückte einer anderen Logik gehorchen. Sie hat ihren archimedischenPunkt darin hat, dass der vermeintlich selbsttätig nach (Gottes-)Er-kenntnis ausblickende Mensch in diesem Erkennen sich als erkannterfährt.54 Die vor-gestellten Annahmen über Gott werden damitebenso irritiert wie die Selbstsicherheit des Menschen. Damit beginntder Überstieg in das überhelle Dunkel Gottes, in dem Gott nur soerkannt wird, dass er nicht erkannt wird.55

Es geschieht also im Verlauf des Sehens, dass die Präsenzqualitätdes Bildes kippt: von einem Anschauungsgegenstand frommer Be-trachtung, das etwas zeigen kann, wird es bedeutsam gerade in dem,was es nicht zeigt. Just dieses blinde oder negative Moment im Bild-experiment ist aber nicht nur der Beginn des Überstiegs hin zu Gott,der nicht Gegenstand objektorientierter Erkenntnis sein kann, son-

53 De visione Dei/Die Gottesschau, 161.54 Michel de Certeau, Geheimnis eines Blickes, 346. 352f.55 An dieser Stelle sei auch auf die die dreifache »Inkonvenienz« des Bildes

verwiesen, die Bader ausmacht. Sie meldete sich erstens bereits vor der Durch-führung des Experiments und besteht darin, dass alle möglichen Bilder als iconaDei fungieren könnten. Eine weitere Unbestimmtheit besteht darin, dass es nichtum ein bestimmtes Bildsujet oder -motiv geht, sondern um die Qualität einesBlickes. Drittens schert das Bild, das von Kues im Auge hat, aus der Praxis derfrommen Bildbetrachtung aus, indem es die Dimension der Affekte gar nichtberührt. So bereitet es bereits als Bild selbst innerhalb dieses Versuchs die Ent-zugserfahrung vor, die sich in der Durchführung einstellt. Vgl. Günter Bader,Nicht-Sehen im Sehen Gottes, 334–337.

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dern es auch öffnet den Raum für das Sprechen der Menschen mit-einander; es ist der Beginn von Sprache und Geschichte.56 Um dasnachzuvollziehen, müssenwir noch besprechen, wie sich derWechselder Perspektiven, der sich auf der Ebene des Sehens vollzieht, ebensoauf der Ebene des Textes ereignet.

Vom Sehen zum Reden und Hören

Es wurde schon gesagt, dass Cusanus unmittelbar vor Beginn seinerMeditation seinen Bruder mit Tu anspricht, um dann seinen Platzeinzunehmenund sich durch ihnhindurch anGott zu richten: »Thus,the ego of the author and the tu of the addressed are here fusedthrough their shared calling out to the divineTu inmystagogic prayer.The shifting perspectives of De visione function on many levels”.57

Diese Fiktion einer gemeinsamen Anrufung Gottes muss aber auchselbst in diesen Wechsel einbezogen werden. Denn wenn Cusanus,wiederum in Anspruchnahme der göttlichen Kreisstruktur, sagenkann: »Dein Blick spricht«58 und wenn, wie dargelegt, gilt, dass Sehenund Gesehenwerden im Angesicht Gottes in eins fallen, so gilt analogfür die gesamte betende Rede, dass sie als Gabe und Äußerung derStimme Gottes in menschlicher Rede verstanden werden muss.«Thus, the content of Cusanus’s message of what it means to seeGod�a seeing that is being-seen and a speaking that is hearing onselfbeing-spoken�is already inscribed in the dynamics of the text’s voi-ces.”59

Es kommt noch ein weiter Sprecherwechsel hinzu, wo genau diesesgöttliche Reden explizit gemacht wird.60 In Entsprechung zur Be-schränkung der relativen menschlichen Sicht stellt nämlich Cusanusim Text eine Frage, die die Beschränkung des Betens thematisiert:

56 Vgl. de Certeau, Geheimnis eines Blickes, 346.57 Bernard McGinn, Seeing and Not Seeing, 41.58 De visione Dei/Die Gottesschau, 133.59 Bernard McGinn, Seeing and Not Seeing, 41.60 Das zeigt Simon Strick, Spiegel und Mauer, 221f.

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»Wie gelangt mein Gebet zu dir, der du auf keineWeise erreichbar bist?Wie soll ich dich bitten?Was ist sinnloser, als zu bitten, Dumögest Dichmir schenken, da Du doch alles in allem bist. […] Ja, noch mehr: wiewirst dudichmir geben,wennDumichnichtmir selbst gibst?Undwennich so im Schweigen der Betrachtung [in silentio contemplationis] ver-stumme, antwortest Du mir, Herr, tief in meinemHerzen und sagst: Seidu dein und ich werde dein sein.«61

So wie Gott als Objekt der menschlichen Sicht unerkennbar bleibt,sondern eine Transformation des Sehens selbst stattfinden muss, sokann auch das Gebet Gott nicht erreichen, insofern es sich an ihn alsGegenüber richtet. Gott als der allesUmgreifendeundEwigselbe kannnicht der andere im Gespräch mit dem Menschen sein, sondernsprengt die Dimensionen von »Du« und »ich« insoweit sie einesymmetrischeGesprächsanordnung insinuieren.Nach Strickwird dieSprengung oder Blendung durch einen erneuten Sprecherwechselauch imText inszeniert, derGott selbst imHerzendesBeters sprechenlässt: »Auf textlicher Ebene ereignet sich die coincidentia opposito-rum also tatsächlich: Gott, Cusanus und die betenden Mönchesprechen gemeinsam � die Konstellation des Gegenüber ist imSprechen aufgelöst.«62 Diese Inszenierung auf der Diskursebene hatnun auch Auswirkungen auf das Bild. Nach Strick verliert es imVerlauf des Experiments seine Funktion und gleicht der berühmtenLeiter, die man wegstoßen kann, wenn man oben angekommen ist.63

Tatsächlich kommt von Kues im Rest des Traktats nicht mehr auf dasBild zu sprechen.

Ist diese Eliminierung des Bildes als gemeinsamer Bezugspunkt derDiskursgemeinschaft und die Konzentration allein auf das Gesprächvielleicht auch die gesuchte Lösung für das Ausgangsproblem derZweideutigkeit göttlichen Blicks? Das heißt, anders gefragt: Was istder Gewinn, wenn man das Bildexperiment aus dem 15. Jahrhundertals Modell für die Einstellung der Moderne gegenüber Gott begreifen

61 De visione Dei/Die Gottesschau, 120f.62 Strick, Spiegel und Mauer, 222.63 Vgl. Strick, Spiegel und Mauer, 224, unter Bezugnahme auf Ludwig Witt-

genstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.2006 [11984], 7–85, 6.54, 85.

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würde? Welche Denkoptionen bietet es uns heute? Setzt man auf dasZurücktreten des Bildes gegenüber dem Gespräch, so bietet sich dieAussicht, die Instanz, die für Ambivalenzen anfällig bleibt, endlich loszu sein. Und zugleich hat man einen Umgang mit der Pluralitätweltanschaulicher und lebensweltlicher Perspektiven gefunden. Aufdas Gespräch allein zu setzen und einen Einheitsbezug aufzugeben,scheint also auf den ersten Blick vernünftig. Das Gebet könnte indiesem Verständnis dann z.B. eine Rolle als kommunikative mit-menschliche Haltung mit Transzendenzaspekt spielen, eine eleganteMetapher für eine unbestimmte Tiefendimension menschlichen Ge-sprächs.

Gegenüber dieser These betont de Certeau die bleibende Bedeu-tung des Bildes. Zwar geht auch er davon aus, dass dem gemeinsamenAustausch zunehmend Bedeutung für das Verständnis des Sehenszukommt. In der frühen Neuzeit, in welcher die kirchliche Deu-tungshoheit über Wissenschaft, Erkenntnis und Frömmigkeit weiterbröckelt, formuliert er die fundamentaleUnsicherheit hinsichtlich desGottesglaubens folgendermaßen: Zwar spricht der göttliche Blick ir-gendwie noch: »Ermacht eineAussage, aber niemandweiß oder kannwissen, was er aussagen will. Es gibt nichts, das diesen unbekanntenWillen artikuliert oder ihn in einer zugänglichen Form verbreitet.«64

Deswegen erhält die Einbindung dieser Erfahrung in einen Diskursumso größere Bedeutung,65 da genau jener Boden einer selbstver-ständlich geteilten Verständigung über Glaubensfragen rissig ge-worden ist. Der Verlust einer »gemeinsamen Anschauung« verweistdie Gesprächsteilnehmer an einander. Das führt jedoch nicht, imGegensatz zur Figur der abgestoßenen Leiter, zu einem Verzicht aufdas Bild. Das Gespräch, der Diskurs, kann den Bezug auf das Bildnicht auslöschen, gerade weil es um die Erfahrung des Einzelnen mitdem Unsichtbaren geht: »Was jeder als ein vom Blick bedrängtesSubjekt sagen kann, kann der andere nicht sehen, sondern nur glau-ben.« Insofern wird die Beziehung zum Bild, das den Diskurs über-haupt ermöglicht und provoziert hat, zwar vervielfacht, aber nichtaufgelöst oder eliminiert. Der Diskurs bleibt an das Bild gebunden,

64 De Certeau, Das Geheimnis eines Blickes, 352.65 »Wenn du dem anderen nicht glaubst, wirst du im Unmöglichen und

Sinnlosen verharren.« De Certeau, Das Geheimnis eines Blickes, 353.

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gerade weil es sich als Sehbares den Augen entzieht und damit »in-mitten der ineinanderverschlungenen Worte die Gegenwart einerAbwesenheit bleibt oder mehr und mehr dazu wird«.66

Zwei Gesichtspunkte charakterisieren den Diskurs weiter bzw.halten fest, wie Sehen und Sprechen beginnen, sich zu überkreuzen:

Zum einen kommt das Gebet ins Spiel als hermeneutisch relevanteBestimmung des für die menschliche Wahrnehmung unbestimmtengöttlichen Blickes.67 Cusanus legte, wie wir sahen, seine Reflexionendem frater contemplator betend in den Mund. »Du fühlst dich auf-gerufen undwirst sprechen…«Damit gibt er dessenVerstehen vor, inwelchen Bahnen es sich zu bewegen habe. In diesen Gebetsworten

66 Beide Zitate von de Certeau, Das Geheimnis eines Blickes, 337, Hervorhe-bung von mir. Diese Position unterstützt auch Josef Wohlmuth, Bild und Name.Zu De visione dei von Nikolaus von Kues, in: Sprachegewinn (FS Günter Bader),hg.v. Heinrich Assel/Hans-Christian Askani, Berlin 2008, 257–286. Hoff siedeltgenau hier die Sprengung der mit der Zentralperspektivität gestifteten narzissti-schen Bildbesessenheit an: Indem ich im Gegenüber meines blinden Punktesgewahr werde, der Beschränkung meiner Sicht, wird es – wird sie oder er – zumVerweis auf Gott, den Unbeschränkten. Hoff, Rethinking Modernity, 105–109.

Das Modell einer signifikanten Abwesenheit ließe sich ohne Weiteres explizitfür die übergeordnete Frage nach der Perspektivität vonWahrheit ausführen, wiemit Hoff bereits angedeutet: Unbestritten ist der Glaube eine unter mehrerenPerspektiven, die Wahrheit unter ihren eigenen Voraussetzungen (nämlich, dasses dabei um umfassend relevante, letzthinige Wahrheit, also Wahrheit im Sinnevon truth_1 geht,) erschließt. Hier besteht keine Konkurrenz zu anderen Per-spektiven, sondern nur höfliches, gesprächsweise ausgetauschtes Interesse. Esstellt sich jedoch die Frage, auf welcher Grundlage das Gespräch dann überhauptgeführt werden kann. Das Bild Gottes, wie im Experiment vorgestellt, steht für dieErwartung, dass es einen gemeinsamen Bezugspunkt aller Erfahrungen in undmitdieser Welt gibt. Er ermöglicht die Pluralität seiner Anschauungen und bringt siein ein gegenseitiges Verweisverhältnis im Sinne einer wechselseitigen Erinnerungdaran, dass keinMensch und keine Disziplin dieWahrheit je »hat«. Die Theologieerinnert sich daran besonders in Zeiten disziplinärer Schwäche, in denen deswe-gen oft die Negative Theologie, welche genuin die Unerkennbarkeit Gottes un-terstreicht, Konjunktur hat. Vgl. hierzu Michel de Certeau, Expérience chrétienneet langages de la foi, in : Christus 46 (1/1965), 147–163. Zur Perspektivität in derMalerei als »Symbol für die Kultur der Neuzeit« vgl. das instruktive Buch vonBelting, Florenz und Bagdad, bes. 229–287.

67 Vgl. Wohlmuth, Bild und Name, 261–267. Zur bestimmten Unbestimmt-heit Gottes, die die Bestimmtheit des Menschen heilvoll öffnet, vgl. grundlegendIngolfDalferth, BestimmteUnbestimmtheit. ZurDenkformdesUnbestimmten inder christlichen Theologie, in: ThLZ 139 (2014), 3–35.

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wird der göttliche Blick als liebevoll gedeutet und evoziert. An dieserStelle nimmt das Gebet eher Züge der Predigt an, die (u. a.) geradedazu dient, Ambivalenzerfahrungen im Sinne der Vertiefung undVergewisserung des Glaubens von Gott her auszulegen. Dabei bleibtdie mystagogische Handreichung des soufflierenden Gebets, die denBruder an der Hand nehmen und mit zum angestrebten Verste-hensziel ziehen will, auf dessen Einstimmung angewiesen.68 Es ver-bindet Bestimmtheit und Unbestimmtheit: Es hat eine bestimmteAdresse und durch diesen Gegenstandsbezug69 eine eindeutige Aus-richtung. Und gleichzeitig ist es unbestimmt darin, dass der Gegen-stand des Gebets alle vomMenschen aus einnehmbaren Perspektivenauf ihn übersteigt. Der Bruder kann sich mit diesem angebotenenGebet einstimmen und ausrichten lassen, aber ob er wirklich etwassieht, wird dadurch nicht sichergestellt.

Deswegen steht die contemplatio als sehendes Nicht-Sehen, dassich verweilend auf Gottes Gegenwart ausrichtet, auch mit demHarren inVerbindung. In diesemSinn ist es präzise der Spiegel, durchden »jetzt ein dunkles Bild« (1 Kor 13,12) gesehen wird. Simon Peng-Keller macht in seiner Deutung des kontemplativen Gebets daraufaufmerksam, dass die contemplatio als Grunddimension jeglichenBetens verstanden werden kann, dem neben dem Moment des Ver-weilens und der sensibilisierenden Aufmerksamkeit das Moment derPassivität und der Armut eignet.70 Letztere beziehen sich auf Unfä-higkeit des Menschen, irgendeine adäquate Vorstellung von Gott zugewinnen, wenn er sie nicht selbst mitteilt. Sich als arm und passiv zubeschreiben, ist Ausdruck einer Bejahung dieser Abhängigkeit.Gleichzeitig greift das die Stummheit des Bildes auf, die de Certeau in

68 Vgl.Michel de Certeau, Das Geheimnis eines Blickes, 350f. Zur Verbindung,die von dieser Bestimmung zur Devotio moderna verläuft, vgl. Scheel, Das alt-niederländische Stifterbild, 282–291. Von dieser hermeneutischen Wirkung desGebets her müsste vielleicht auch die dritte Inkonvenienz des Bildes neu bedachtwerden.

69 Gegenständlich in Bezug aufGott, pathisch in Bezug auf denMenschen. Vgl.Günter Figal. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006,126–141; Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer›categoria non grata‹, Tübingen 2010.

70 Vgl. Simon Peng-Keller, Geistbestimmtes Leben. Spiritualität, Zürich 2012,183–201.

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gegenwartsdiagnostische Hinsicht formuliert hatte. Indem nun dasGebet geduldig denBlick auf das gerichtet hält, was von sich aus nichts(oder nichts mehr) zu sehen bzw. zu hören gibt, verbindet es dasMoment von Ungewissheit und fester Erwartung. Dadurch ermög-licht es auch im Umgang mit den vielen unterschiedlichen Perspek-tiven der »Brüder« eine Weite, ohne dass das Gespräch sich verliert.Und andersherum fügt es der festen Ausrichtung auf eine Wahrheitdie Wunde der Angewiesenheit auf die anderen zu. Daraus folgt eineBrüchigkeit des religiösen Wahrheitsdiskurses, die diesem keinenAbbruch tut, sondern ihn vielmehr neu zur Geltung bringt.71

Das führt auf einen zweitenGesichtspunkt.Dasmitgeschickte Bild,die iconaDei, wird vonCusa imText zwar zunehmendweniger bis garnicht mehr thematisiert. Jedoch rückt proportional dazu Jesus bzw.Jesus als Bild in den Vordergrund. Er wird zunehmend Gegenstanddes Traktats, denn er ist der Vermittler von Beschränktheit und Ab-solutheit. Dasmacht ihn zumBild des unsichtbarenGottes.72 Insoferntritt auf der Textebene das sinnliche Bild zurück, aber das Bild Jesu alsunsinnliches Bild tritt hervor. Dass er als unsinnliches Bild hervortritt,hat wiederum zwei Gesichtspunkte. Der erste ist, dass Jesus Christusals Thema des Traktats zum zentralen Punkt der theologischen Ent-faltung der »Gottesschau« wird. Der zweite ist, dass das Hervortreteneines unsinnlichen Bildes als Sprachbild nichts anderes als den Me-chanismus derMetapher beschreibt, zu dem ebenso das Zurücktretenbzw. die Negation der wörtlichen Bedeutung gehört. Insofern wie-derholt der Text, was ermit demBild in actu für dieMönche erreichenmöchte: eine Transformation des Blickens selbst. Die sinnliche An-schauung tritt zurück zugunsten einer geistigen und geistlichen Er-kenntnis, der Blick dringt gewissermaßen hindurch. Ein solcher Blick,der ergriffen wird von seinem Gegenstand, erkennt die Dinge als daswas, sie (auch) sind: Teil der Schöpfung, die nach biblischemZeugnissowohl jauchzt wie seufzt und auf beides die befreite Antwort der

71 Vgl. zur Metaphorik von »Wunde« und »Bruch« den Aufsatzband: MicheldeCerteau,GlaubensSchwachheit, hg.v. LuceGiard, Stuttgart 2009 [La faiblesse decroire, établi et présenté par Luce Giard, Paris 1987].

72 In Jesus bzw. imSehen Jesu (gen. obj.), der zugleichGott undMensch ist, fälltbeides zusammen: beschränktes und absolutes Sehen. Vgl. De visione Dei/DieGottesschau, c. 19–25, 179–219.

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Menschen erwartet. Das heißt es besteht weder ein Widerspruchzwischen verschiedenen Perspektiven auf ein Bild, aber auch keineZusammenhangslosigkeit. Bezogen auf das übergeordnete Problemder Perspektivität der Wahrheit, hieße das, dass denkbar wird, dassGott im vielfältigen Pluralismus auf neue Weise präsent wird –spricht und blickt�, nachdemdie alteWeise vergangen� verstummtund verdunkelt – ist. Das eine Bild Gottes tritt neu in der menschli-chen Sprache hervor, wenn diese sich auf ihre eigenen Bildlichkeitbesinnt.73

IV. Die Überkreuzung von Schauen und Hören

An die Lektüre von De visione Dei wurde unter den Vorzeichen derAnfechtungsproblematik herangetreten und der Ertrag der Lektüresoll jetzt noch einmal konzentriert werden. In Bezug auf die dogma-tische Kernproblematik � dass sich der fürsorgliche Blick Gottes ineinen zerstörerischen verwandelt und damit Gott selbst gegen allessteht, wofür doch Gott stehen sollte – kommt das Gebet durch dieTraktierung bei von Kues in mehreren Hinsichten zur Sprache, dieeng mit einander verbunden sind. Zentral war die Überkreuzung vonSchauen und Hören im Gebet, die bei Cusanus eingeführt wurdedurch das Ziel, im betenden Umgang mit dem Bild Gottes das sinn-liche Sehen zu einem geistlichen Schauen zu führen. Schauen wäre alspositive Bewegung des Glaubens aufzufassen: sie ist bezogen auf einerst sinnlich, dann geistlich wahrnehmbares Bild. In denWechsel tratals Scharnierstelle das Hören auf die Brüder, das der negativen Be-wegung desGlaubens entspricht, seinem apophatischenMoment: Ichmuss auf meine Nachbarin hören und ihr vertrauen, um zu erkennen� weil ich selbst nicht sehen kann. Dennoch ist die Zuordnung nichtso einfach: hier Schauen, Bild und Gewissheit, dort Hören, Wort undWagemut des Vertrauens.

73 Vgl. dazu die Werke von Günter Bader. Exemplarisch: Die Andacht zumUnbedeutenden. Vom Ursprung der Theologie. Antrittsvorlesung Bonn6.12.1995, Rheinbach 2008; »Theologia poetica«. Begriff und Aufgabe, in: ZThK83 (1986), 188–237; Melancholie und Metapher. Eine Skizze, Tübingen 1990.

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Zwar bietet der Traktat als gemeinsames Gebet zu Gott eine ein-dringlicheVerstehensmöglichkeit des göttlichenBlickes als liebenden,fürsorglichen Blick. Das ist erstens die hermeneutische Bedeutung desGebets. Hier tritt das gemeinsame Sprechen dem unsicheren Sehenzur Seite und orientiert es in Richtung eines bestimmten Verstehens.

Doch gleichzeitig öffnet das Sprechen das Sehen auf die Rezeptionanderer Sehweisen und weitet damit die Perspektive des Betrachters.Nach de Certeau: weil die gemeinsame Anschauung schwindet, ver-schärft sich die dem Glauben grundsätzlich gemeinschaftliche Di-mension; die Notwendigkeit, auf einander zu hören und sich zuvertrauen eröffnet wieder neue Verstehensmöglichkeiten. Dennochist das Bild bleibender Bezugspunkt insofern die gemeinsame Be-trachtung des Bildes das gegenseitige Gespräch erst ermöglicht hat.Zwar schwindend in seiner Bedeutung als sinnliches Bild, nimmt esjedoch zu in der Gestalt Jesu, die im Text hervortritt. So überkreuzensich Bild und Sprache, indem imSprechen das Bild Gegenstand diesesSprechens bleibt und das Bild sich zunehmend durch das Sprechenerschließt. Dieser Verhältnisbestimmung von Bild und Wort ent-spricht die Relation von Schauen und Hören: beide, insofern sie zweinotwendige Bewegungen des Glaubens sind, finden sich jeweils so-wohl auf der Bild- als auch auf der Textebene.

Schauen wurde eben eher dem positiven, bestimmten Blick desGlaubens zugeordnet, dasHören dem negativen, rezeptivenMoment.Beide durchdringen sich, wenn durch das Hören auf den anderen derBlick geweitet und verändertwirdundwenndurchdenBlick auf einenGegenstand das Hören orientiert wird hinsichtlich seines Grundesund Ziels. Hören und sprechen, ein Gespräch, ist überhaupt nurmöglich, wenn nicht jeder in die isolierende Individualität seinerPerspektive abrutscht, sondern ein gemeinsamer Bezugspunkt � einunsichtbares Bild � die Sprechenden miteinander verbindet.

Das Gebet beinhaltete als Kontemplation beide Aspekte: sowohldie intentionale, aktive Wendung als auch die offene, passive Aus-richtung auf Gott. Erstere orientiert den Glauben und richtet ihn aus,indem sie sich anGott als einen bestimmtenAdressaten richtet. Dabeikann sie sich auf die Überlieferung des Christuszeugnisses berufen.Letztere, dieOffenheit zuGott hin, sprengt die gegebenenVerstehens-undWahrnehmungsmuster, derer sich das Gebet (zunächst) bedient,und taucht damit die menschlichen Erfassensmöglichkeiten in Dun-

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kelheit. In dieser Zweipoligkeit ist das Gebet selbst als Instrument desÜbergangs zu begreifen, das aufgrund der in ihm wirksamen Span-nung die Dynamik dieses Übergangs immer wieder in Gang setzt.

Insofern antwortet das Gebet auf das eingangs gestellte Problemder möglichen Zweideutigkeit des göttlichen Blicks, indem es einenWeg eröffnet zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Die Er-fahrung, von einem Blick bedrängt zu werden, bleibt zwar bestehenbzw. kann sich immer wieder einstellen. Dennoch muss man demBlick nicht ausweichen und ihn muss ihn nicht bestreiten, denn dieseErfahrung kann sich durch harrendes Weiter-hin-Schauen wandeln.Die Möglichkeit, im Gebet auch Worte eines anderen bzw. einesÜberlieferungszusammenhangs in Anspruch zu nehmen, bietet sichdabei als Verstehenshilfe an.

V. Resümee

Resümieren wir nun noch einmal den gesamten zurückgelegten Gangder Überlegungen. Zunächst wurden mit Herta Müller zwei Spiegelunterschieden, denen jeweils eine Seh- und Selbsterfahrung zuge-ordnet wurde. Während der eine Blick in den Spiegel der Selbstver-gewisserung dient, zerstört der andere durch gnadenlose Analyse denlustvollen Blick auf sich selbst. Von Anfang sind mit diesen Erfah-rungsweisen soziale Optionen verbunden, d.h. entweder ermöglichteoder beschädigte Formen, Beziehungen zu knüpfen, sowohl im pri-vaten als auch im öffentlichen Raum. Das Gebet erschien hier alsPraxis des Widerstands, als eine Übung, sich gegen den gnadenlosenBlick mit Hilfe der Stimme ins Recht zu setzen.Die christliche Lehrbildung, nach der Gott selbst als ein Allsehenderaufgefasst wird, führte in einem zweiten Schritt auf den Problem-komplex von Gebet und Anfechtung. In der Notwendigkeit, Gott alsultimative Überwachungsinstanz von Gottes fürsorglichem Blick zuunterscheiden, erwies sich dasGebet alsMittel zwischenGlauben und(existenziellem) Zweifel. Dadurch bewahrte es beide vor einer un-heilvollen Verfestigung, die zu den jeweiligen Zerrformen von Glau-ben und Zweifel führen müssten. Durch die Anfechtung bleibt derGlaube im Gebet offen zu Gott hin, bis der Glaube sein telos erreichthat.

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Schließlich wurde in einem dritten Schritt anhand von Nikolausvon Kues Traktat De visione Dei die Überkreuzung von Sehen undSprechen entfaltet. Der Spiegel kommt hier vor im Rahmen einerexperimentellen Bildandacht. In deren Zentrum steht ein zunächstreziproker Blickwechsel, der dann in eine Blendung führt. Diese be-wirkt eine Transformation der menschlichen Sehweise: die Erken-nende erkennt sich als Erkannte im schrankenlos liebenden BlickGottes.

Das Gebet wurde in drei Punkten besonders akzentuiert: einmalinsofern es als literarische Strategie die unmögliche Gegenüberstel-lung von Gott und Mensch auf der Textebene auflöste und den In-einsfall von göttlichem Sprecher und menschlichen Sprechern prag-matisch vollzog; sodann insofern es als hermeneutische Praxis in denBlick kam, die die Unbestimmtheit des göttlichen Blickes auf spezi-fische Weise bestimmte; und schließlich insofern es einen Weg er-öffnet, die Unerkennbarkeit Gottes auszuhalten, indem sein Bild –Jesus Christus – immer wieder erkennbar in der Begegnung mit denanderen hervortritt.74 Kontemplation wurde so erkennbar als hören-des Schauen, das sowohl auf die Gott wie auf die anderen offen undgewiss bezogen ist.

74 Ich dankeMichael Pfenninger herzlich für das aufmerksameKorrekturlesen.

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III.

Konflikte und Dilemmata.

Perspektivismus aus ethischer Sicht

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Véronique Zanetti

Moralische Dilemmata, schmutzige Händeund Kompromisse

»A stick that is really straight is one that wouldlook bent in water even if it is never put in water.

A genuine dilemma is one that, given the right conditions,would appear to be… appear to be what?«

Mary Mothersill1

Der Zusammenhang zwischen ›Dilemmata‹, ›schmutzigen Händen‹und ›Kompromissen‹ scheint auf dem ersten Blick eindeutig: Poli-tiker oder Privatpersonen, die eine Entscheidung in einer dilemma-tischen Situation treffen, d.h. in einer Situation, in der es kollidierendePflichten ohne harmonisierbaren Ausweg gibt, machen sich dieHände schmutzig und kompromittieren sich.2 In einem echten Di-lemma gibt nämlich keine der konfligierenden Pflichten den Aus-schlag. Die Verletzung einer der beiden Pflichten kann daher nichtdamit gerechtfertigt oder entschuldigt werden, dass die Handlungalles in allem richtigwar. Unter solchenUmständen sieht es so aus, alsentkäme man einem Dilemma grundsätzlich nie mit ›sauberen‹Händen, da keine getroffene Lösung moralisch einwandfrei ist.3

1 »TheMoral Dilemmas Debate«, in: Homer E.Mason (ed.), Moral Dilemmasand Moral Theory, Oxford 1996, 66.

2 Ich danke Rüdiger Bittner, Manfred Frank und Valerij Zisman für ihrewertvolle Kommentare.

3 Susanne Boshammer, »Politische Verantwortung und moralische Integrität.DasProblemder schmutzigenHände.«DerText ist nur online zugänglich: https://www.philosophie-cms.uni-osnabrueck.de/fileadmin/Allgemeine_Uploads/Publi-kationen/Boshammer/Politische_Verantwortung_und_moralische_Integrität._Das_Problem_der_schmutzigen_Hände__Susanne_Boshammer_.pdf (down-loaded März 2017). Siehe auch ihre Einführung in die Problematik des morali-schenDilemmas: »Von schmutzigenHänden und reinenGewissen. Konflikte undDilemmata als Problem der Ethik«, in: Johann S. Ach, Kurt Bayertz und LudwigSiep (Hg.), Grundkurs Ethik I, Paderborn 2008, 143–161.

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Dieser Eindruck trügt allerdings. Man kompromittiert sich, wennman sich die Hände schmutzig macht. In Dilemmata-Situationenjedoch, so meine These, macht man sich die Hände nicht schmutzig.Außerdem sind nicht alle Fälle von Kompromissen Fälle von Kom-promittierung, und manchmal zeigt sich ein Ausweg aus Sackgassen.

Ich werde die Meinung vertreten, dass es moralische Dilemmatagibt, dass sie aber selten vorkommen. Viele Fälle, die man in derUmgangssprache dilemmatisch nennt, sind in Wirklichkeit keine; eshandelt sich vielmehr oft um Beispiele von lösbaren moralischenKonflikten.Obman sich dabei dieHände schmutzigmacht, hängt vonder Schwere der Tat, aber auch von der Interpretation der gegebenenUmstände ab. Moralische Dilemmata hingegen sind unlösbar, undihre dilemmatische Struktur hängt nicht von der Einnahme einerbestimmten Perspektive auf einen Sachverhalt ab.

Im ersten Teil werde ich den Begriff ›moralisches Dilemma‹ prä-zisieren und werde zwischen einem strengen und dem umgangs-sprachlichen Sinn von ›Dilemma‹ unterscheiden, bei dem schweremoralische Konflikte gemeint sind. Schwere moralische Konflikteähneln (strengen) Dilemmata, weil es bei beiden keinen glücklichenAusgang gibt. Sie unterscheiden sich dennoch darin, dass sie lösbarsind. Im zweiten Teil werde ich eine Parallele zwischen schmutzigenHänden und Kompromissen ziehen: Manche tragischen Konfliktekönnennicht gelöstwerden, ohne dassmanmoralischeKompromisseschließt und etwas tut, was in den eigenen Augen falsch ist. DiePhänomene Kompromittierung, Schuldgefühl und Bedauern müssengeklärt und auseinandergehalten werden. Dilemmatische Situationenlassen sich hingegen durch keine Kompromissfindung lösen. Ließesich ein Ausweg aus einem Dilemma durch einen Kompromiss fin-den, würde es sich nicht um ein echtes Dilemma handeln.

Dilemmata und andere moralische Konflikte

Der Diskurs über moralische Dilemmata ist geprägt von der Dis-kussion, die in der angelsächsischen Debatte der siebziger und acht-ziger Jahre stattfand. Sie hatte sich auf die Frage konzentriert, ob es

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unlösbare moralische Konflikte geben kann und, gegebenenfalls,welche Konsequenzen diese Erkenntnis für die Moral hätte.4

Die Diskussion zeichnet zwei unterschiedliche Richtungen aus, indie sich die Debatte lenken lässt: eine metaethische und eine phä-nomenologische. Bei der metaethischen besteht der Verdacht, dassDilemmata grundsätzliche Regeln unserer deontischen Logik in Fragestellen und uns vor die Alternative stellen, entweder die Existenzmoralischer Dilemmata zu negieren oder auf einige Grundregeln derdeontischen Logik zu verzichten. Angestoßen von Bernard Williamswird parallel darüber diskutiert, was es phänomenologisch für mo-ralische Akteure bedeutet, vor Situationen gestellt zu sein, in denen eskeinen anderenAusweg zugeben scheint, als etwasmoralischFalscheszu tun, um größere Übel zu vermeiden – egal, ob Reaktionen daraufwie Schuldgefühl, Reue oder Bedauern angemessen sind oder nicht.5

Ich werde, wie gesagt, davon ausgehen, dass es ›echte‹ Dilemmatagibt, dass sie aber selten vorkommen. Daneben gibt es zahlreiche Fällevon mehr oder weniger harten moralischen Konflikten, die wie Di-lemmata aussehen, aber keine sind.Wie bei echtenDilemmata jedochstehenPflichten inKonflikt, unddie Entscheidung für eine vonbeidenist unvermeidlich mit der Hintansetzung der anderen erkauft. Es gibtalsdann keinen völlig glücklichen Ausgang aus dem Konflikt – auchwenn dieser sich rational lösen lässt –, und die Entscheidung kann jenach ethischer Perspektive dem moralischen Akteur einen bitterenNachgeschmack hinterlassen. Dieses Gefühl, das Bernard Williamsals Gefühl des Bedauerns beschrieben hat, drückt jedoch nicht eineErkenntnis aus, dass die Entscheidung falschwar; es ist keinAusdruckder Reue. Das Gefühl bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass man,obschon man die Entscheidung für unter den Umständen richtig hältund sie wiederholen würde, sie nicht für an sich richtig hält. Lügenbeispielsweise wird nicht dadurch moralisch richtig, dass in einergegebenen Situation, in der das Aussprechen der Wahrheit unver-

4 Z.B. Walter Sinnott-Armstrong, Moral Dilemmas, Oxford 1988.5 Vgl. Bernard Williams, »Widerspruchsfreiheit in der Ethik«, in: ders., Pro-

bleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972, Stuttgart 1978, 263–296;ders. »Person, Character and Morality«; »Politics and Moral Character« und»Conflicts of Values«, in: ders., Moral Luck: Philosophical Papers 1973–1980,Cambridge 1981.

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antwortbare Konsequenzen nach sich ziehen würde, die Lüge denVorzug erhält.

Dilemmata

Ich verstehe ›echte‹ Dilemmata so, dass zwei gleich gewichtige mo-ralische Sollensanforderungen aufeinander prallen, die nicht gleich-zeitig befolgt werden können. Entscheidend für die Beschreibung derdilemmatischen Situation ist : a) dass die Anforderungen gleich starksind; b) dass beide Pflichten gleichzeitig realisiert werden müssen,obwohl c) die Realisierung der einen die der anderen ausschließt bzw.verhindert, und d) dass keine dritte Option sich darbietet. Es gibtinsofern keinen glücklichen Ausgang.6 Daraus folgt, dass es keinerationale Entscheidung zugunsten einer der beiden Optionen gibt,weil kein Grundmehr für die eine als für die andere spricht. Dennochmuss eine Entscheidung getroffen werden, weil das Nichtstun selbstauch schwerwiegende Konsequenzen nach sich zöge.

Buridans Esel wird von zwei gleich starken Impulsen getrieben –und man kann diese Impulse sogar als Gründe konstruieren –,nämlich das Heu oder den Hafer zu fressen. Trotzdem steht er vorkeinem Dilemma. Die Dilemmata, die uns interessieren, gehören derMoral an. Insbesondere geht es hier um Sollens-Ansprüche oderPflichten von einem solchen Gewicht, dass wir uns als moralischeAkteure mit ihrer Unrealisierbarkeit nicht leicht abfinden können.

Ein in der Literatur oft verwendetes Beispiel für ein echtes Di-lemma ist das der Sophie in dem Roman Sophie’s Choice vonWilliamStyron (1979). Ich übernehme es, weil es das Problem, umdas es geht,besonders klar darstellt und außerdem allgemein bekannt ist.

Sophie wurde beim Eintritt ins Konzentrationslager aufgefordertzu wählen, welches ihrer beiden Kinder sie behalten möchte. Dasandere würde in die Gaskammer geschickt. Weigert sie sich, eineWahl zu treffen, werden beide Kinder vergast. Es ist demnach fürSophie sinnvoll, sich für eines der Kinder zu entscheiden. Jedoch gibt

6 Vgl. Walter Sinnott-Armstrong, Moral Dilemmas, 29. Zu einer umfassendenBehandlung der Literatur siehe Marie-Luise Raters, Das moralische Dilemma.Antinomie der praktischen Vernunft?, Frankfurt/München 2013.

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es keinen rationalen Grund für ihre Präferenz,7 und jede Option führtunweigerlich zum Tod eines Kindes. Die besondere Tragik der Lagewird dadurch gesteigert, dass eine begründete Wahl zwischen denKindern alsmoralisch dubios erscheint: Es istmoralisch abwegig, denWert des Lebens eines Kindes gegen den des anderen abzuwägen unddamit eine Präferenz zu bekunden; andererseits erscheint es auchunangemessen, nicht zu wählen, sondern eine Münze zu werfen undso das grauenhafte Los dem Zufall zu überlassen.8

Das Problem bei echten Dilemmata liegt nicht darin, dass zweiVerpflichtungen sich nicht vereinbaren lassen, denn das passierthäufig. Wenn ich meine Vorlesung halten sollte, obwohl mein Kindzuhause alleine krank im Bett liegt und meiner Gegenwart bedarf,kann eine dieser Verpflichtungen die andere übertrumpfen. DasProblem entsteht erst daraus, dass wir gleichstarken Verpflichtungenausgesetzt werden.9

DieGegner derAnnahmemoralischerDilemmata sehendarin einelogische Inkonsistenz, die die handlungsleitende Rolle der Moralgrundsätzlich in Gefahr bringe. Mit anderen Worten: Die Dilem-mata-Gegner wenden ein, es sei unmöglich, auf der Existenz mora-lischer Dilemmata zu bestehen und gleichzeitig Grundprinzipienunseres moralischen Denkens aufrecht zu erhalten. Man müsse ent-weder auf die Prinzipien verzichten oder sich klarmachen, dass eskeine Dilemmata gibt. Beides gehe nicht.10

7 Um auszuschließen, dass es vielleicht doch einen Grund geben könnte, weildas eineKind gesundheitlich fragiler als das anderewäre oderweil es einem Jungenschwerer fallen könnte, sich vor harter körperlicher Arbeit zu schützen, die seineÜberlebenschancen vermindern würde, usw., wird vorgeschlagen, von eineiigenZwillingen zu sprechen.

8 Vgl. Susanne Boshammer, Von schmutzigen Händen und reinen Gewissen,158.

9 Wennman ein anderes Beispiel als das der Sophie nehmenwill, weilmandasEinmaligkeits-Merkmal des Nazi-Kontextes vermeiden will, kann man das Bei-spiel anders konstruieren. Sophie befindet sich am Ufer und sieht das Kanu mitihrenbeidenKindern kentern.DieKinder könnennicht schwimmen, und sie kannnur eines retten.

10 Siehe auch Earl Conee, »Against Moral Dilemmas«, in: The PhilosophicalReview 91:1 (1982), 87–97.

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Das metaethische Problem moralischer Dilemmata

Die Moralphilosophie wird durch echte Dilemmata theoretisch be-sonders herausgefordert, weil damit, wie gesagt, die paradoxe Situa-tion aufkommt, dass man zwei gleichstarken Verpflichtungen un-tersteht, die sich ausschließen. Demnach würden drei Grundsätze derdeontischen Logik durch Dilemmata in Frage gestellt : Das erstePrinzip, »Sollen impliziert Können« (auch voluntaristisches Prinzipgenannt), besagt, dass nicht etwas von einer Person verlangt werdenkann, das zu tun sie nicht in der Lage ist. Im Fokus des Prinzips stehennicht Supererogationen: Es geht nicht um eine Empfehlung, morali-sche Akteure nicht zu überfordern. Das Prinzip drückt eine grund-sätzliche Einstellung zurRolle derMoral aus. Gibt sie uns eine faktischnicht realisierbare Handlungsanweisung, so ist diese unangebracht, jaunsinnig.

Das zweite Prinzip, dasAgglomerations-Prinzip, besagt, dass, wennman zwei Verpflichtungen hat, man mithin verpflichtet ist, sowohldas eine wie das andere zu tun. In anderenWorten, wennman A undB tun muss, muss man auch (A & B) tun. Bin ich beispielsweisesowohl Mutter als auch Philosophie-Professorin, übernehme ich einedoppelte soziale Rolle mit ihren entsprechenden Pflichten und kannmir nicht nur diejenige aussuchen, die mir besser gefällt oder leichterwahrzunehmen erscheint.

Das dritte Prinzip, Erlaubnis-Prinzip genannt, enthält zwei Klau-seln: a) Wenn man eine Verpflichtung hat, A zu tun, hat man dieentsprechende Verpflichtung, das zu tun, was notwendig – und er-laubt – ist, um diese Pflicht zu erfüllen. Wenn ich zum Beispielmeinem Kind versprochen habe, mit ihm abends ins Kino zu gehen,muss ich mir die Zeit reservieren und genug Geld mitnehmen, damitich zwei Kino-Karten kaufen kann. Daraus folgt b): Wenn man eineVerpflichtung hat, A zu tun, darf man nichts tun, was A verhindert:Wenn ich meinem Kind einen Kino-Abend versprochen habe, darfich nicht mit Universitätskollegen abhängen oder an diesem selbenAbend einen Vortrag annehmen.

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Weil Dilemmata-Kontexte Situationen darstellen, in denen perdefinitionem zwei Pflichten kollidieren, führt dieAnwendung der dreierwähnten Prinzipien zu logischen Widersprüchen.11

Aus der Konjunktion des Voluntarismus- und des Agglomerati-ons-Prinzips folgt:Wenn ichAundwenn ichB tunmuss,muss ich (A& B) tun UND es gilt als notwendige Bedingung der Verpflichtung,dass ich sowohlAundBals auch (A&B) tunkönnenmuss.DasLetzteist aber, wie wir wissen, durch die dilemmatische Situation ausge-schlossen.Daraus folgt also, dass ich sowohl (A&B) tunmussals auchvon der nämlichen Pflicht entbunden bin, weil sie nicht durchführbarist. Das ist natürlich widersprüchlich. 12

Aus der Konjunktion des Agglomerations- und des Erlaubnis-Prinzips folgt dieses: Wenn ich (A & B) tun muss, A & B zusammenaber nicht realisieren kann und wenn ferner die Realisierung von Bimpliziert, dass ich dadurch verhindert bin, A zu realisieren, dannhabe ich sowohl die Pflicht, B zu tun, als auch die Pflicht, Nicht-B zutun oder B zu unterlassen. Das ist erneut widersprüchlich.13

11 Die Paradoxe und Widersprüche sind bestens von David Brink analysiert:»Moral Conflict and its Structure«, in: The Philosophical Review 103:2 (1994),215–247. Ich übernehme hier große Teile seiner Analyse.

12 Formalisiert sieht der Widerspruch wie folgt aus:O (A)O (B)d

C (A & B)Es ist nicht möglich, (A & B) auszuführen, wo C für ›can‹ stehtO (A) & O (B)! O (A & B)AgglomerationDaraus folgt: O (A & B)O (A & B)! C (A & B)Volontarismus: ought implies canDaraus folgt: C (A & B)Daraus folgt: C (A & B) &

d

C (A & B).13 Formalisiert:

O (A)O (B)d

C (A & B)Daraus folgt : B ! d

A[O (A) & (B ! d

A)]! O (

d

B)Daraus folgt: O (

d

B)O (

d

B)! d

O (B)Daraus folgt:

d

O (B)Daraus folgt: O (B) &

d

O (B).

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Die Dilemmata-Gegner argumentieren, wie gesagt, dass es keineDilemmata geben kann, weil sie die Moral mit logisch widersprüch-lichen Anforderungen zur Strecke brächten. Diese Schlussfolgerungist meiner Meinung nach nicht zwingend. Man kann auf ein deonti-sches Prinzip verzichten, ohne dass die Folgen für die Moral gravie-rend sind. Man kann nämlich ohne logische Inkonsistenz eine Aus-nahme vomAgglomerations-Prinzip formulieren, und zwarwie folgt:

Es entsteht genau dann keine Verpflichtung aus der Konjunktion zweierPflichten, wenn die Konjunktion faktisch nicht realisierbar ist.14

Die Pflicht, die aus der Konjunktion selbst entsteht, entfällt. Dasvoluntaristische Prinzip bleibt unangetastet und das Erlaubnis-Prin-zip auch, solange es sich auf die einzelnen Verpflichtungen bezieht.

Wie sieht die Lösung konkret aus? Es ist Sophie verwehrt, ihrebeiden Kinder zu retten. Würde sie sich weigern, ein Kind auszu-wählen, würden beide sterben. Eine Entscheidung zu unterlassen,wäre insofern irrational. Sie soll sich für das eine oder das andereKindentscheiden. Entscheidet sie sich für den Jungen, obwohl sie genausoviele Gründe gehabt hätte, das Mädchen mitzunehmen und vor derGaskammer zu retten, tut sie nichts Falsches. In anderenWorten, dieeinzelnen Glieder der Konjunktion (A & B) verlieren in der Ver-knüpfung als Konjunktion ihren verpflichtenden Charakter, denn siesind nicht realisierbar. Die Gründe jedoch, die für die jeweiligeHandlung ausschlaggebend sind und die für die jeweilige Verpflich-tung sprachen, verlieren nichts von ihrer Geltung.Deshalb deutet sichhier die Konsequenz des Bedauerns an, die ich im nächsten Abschnitterläutere.

Ich wende mich jetzt dem zweiten angekündigten Aspekt derDebatte zu, nämlich wie es um die Phänomenologie des moralischenAkteurs moralischer Dilemmata bestellt ist.

14 Vgl. Bernard Williams, »Ethical Consistency«, in: Proceedings of the Aris-totelian Society 39 (1965), 103–138; vgl. auch David Brink, »Moral Conflict andits Structure«.

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Die phänomenologische Dimension moralischer Dilemmata

Bernard Williams, Thomas Nagel und andere ethische Pluralistensprechen hinsichtlich einer Handlungswahl ohne guten Ausgang voneiner tragischen Entscheidung. Unterscheiden sich Dilemmata undmoralische Konflikte hinsichtlich der Phänomenologie des Zustands,in dem sich dermoralische Akteur befindet? Als Philosophen könnenwir eigentlich wenig darüber sagen. Die Frage müsste sich an Psy-chologen richten.WasWilliams undNagel dennoch untersuchen, ist,ob ein Restbestand an Verpflichtung bleibt, der trotz meiner Ent-scheidung für einen Zweig der Alternative weiterhin gilt und dannvielleicht mein Gewissen belastet. Ausgehend von der Tatsache, dassDilemmata oder moralische Konflikte dadurch charakterisiert wer-den, dass Pflichten kollidieren, stellt sich die Frage, ob ein schlechtesGewissen, ein Gefühl der Reue oder des Bedauerns angebracht unddadurch begründet sind, dass eine auf uns liegende Pflicht unerfülltgeblieben ist.

Was meine ich mit ›Reue‹, ›schlechtem Gewissen‹ und ›Bedau-ern‹? Es ist wichtig, die Begriffe zu unterscheiden.

Mit »Reue« wird etwas anderes als mit »Bedauern« bezeichnet.Reue bezieht sich auf die Handlung selbst, die man aus der zeitlichenDistanz als nicht richtig einschätzt und die man nicht wiederholenwürde,wennman sich erneut in der gleichen Situationbefände.Wennich mein Tun bereue, sehe ich mich entweder als schuldig und/oderich denke, dass ichmich in meinemUrteil geirrt habe. Ich drückemitder Reuemeine Einsicht aus, dassmeine Einschätzung der Lage falschund/oder meine Reaktion unangemessen war. Fühle ich Reue, habeich ein schlechtes Gewissen. Man mag streiten, ob es so etwas wie einschlechtes Gewissen gibt oder ob es ein Relikt der christlichen Moralist. Das ist für die Unterscheidung nicht relevant. Falls jemand eineLanze für das schlechte Gewissen brechen möchte, müsste er oder siesie als Begleiterscheinung der Reue interpretieren.

Das Bedauern hingegen muss sich nicht auf die Handlung bezie-hen. Ich kann bedauern, dass ich mich in Umständen befand, unterdenen ich zu einer vonmir selbstmissbilligten Entscheidung kam, dieich dennoch nicht widerrufe. Wie wenn ich zum Beispiel meinemKind den in Aussicht gestellten Ausflug verweigere, weil es gegen dieAbsprache seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Meiner Meinung

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nach kann man sogar ohne Inkohärenz die Entscheidung selbst be-dauern, ohne damit ausdrücken zu wollen, dass sie falsch war. Diesebegriffliche Differenzierung ist wichtig für den Kompromiss. Zeigtman sich kompromissbereit, wenn eine Auseinandersetzung festge-fahren ist und alle Parteien bei ihrer Überzeugung bleiben, wird man›über seinen Schatten springen‹, ›in den sauren Apfel beißen‹ undeine Position einnehmen, die man für nicht richtig, den Umständenentsprechend aber für angemessen hält. Einigen sich zum BeispielLiberale und Konservative auf eine Fristenlösung bei der Entschei-dung über Abtreibung, werden beide Parteien das Ergebnis der Ent-scheidung bedauern, weil sie es für falsch halten. Dennoch werden sienicht bedauern, dass sie sich kompromissbereit gezeigt haben unddass am Ende der Verhandlung dieses Ergebnis (statt einer Zuspit-zung des Konflikts) zustande gekommen ist. Würden sich die Um-stände ändern, würden beide Parteien anders entscheiden. In derherrschenden Situationwar ihre Entscheidung in ihrenAugen richtig.Dass eine Kompromisslösung moralisch wünschenswert oder gut ist,heißt, dass sie eine gangbare Lösung für einen Streit anbietet. Sie istdennoch als Kompromisslösung moralisch nicht wünschenswert,denn sie ist nicht die Lösung, dieman fürmoralisch richtig hält. Sie ist›gut‹ bezogen auf den anders nicht beizulegenden Streit, für den sie alsLösung gedacht war. Sie ist ›nicht gut‹ bezogen auf den moralischenSachverhalt, der den Streit ausgelöst hat. Die Gründe, die für dieursprünglich erwünschte Handlung sprechen, bleiben erhalten. »Re-gret signifies that the non-overriding alternative still matters to her,although her deliberation is well grounded«.15

Welche Gefühle sind gerechtfertigte Begleiter moralischer Dilem-mata? Dabei interessiert mich nicht, welche Gefühle sich de factoeinstellen – das ist ein psychologisches Problem –, sondern welcherational begründet sind. Soll Sophie Reue, schlechtes Gewissen oderBedauern empfinden?

Nimmt man die Einsichten wieder auf, die wir aus der metaethi-schen Analyse gewonnen haben, präsentiert sich Sophies Fall wiefolgt: Es ist ihr verwehrt, beideKinder amLeben zu erhalten.O (A&B)lässt sich nicht realisieren. Sie muss sich für einen Zweig der Alter-

15 Carla Bagnoli, »Value in theGuise of Regret«, in: Philosophical Explorations3 (2000), 169–187, 179.

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nativen entscheiden. Es gilt entwederO (A) oderO (B).Mehr noch, esgilt O (A) und es gilt O (B), auch wenn man Agglomeration nichtzulässt.

DieDilemma-Situation in alltäglicherRedewird öfters imEcho aufKierkegaards »Entweder – oder« beschrieben: »Heirate, und duwirstes bereuen; heirate nicht, und duwirst es bereuen; heirate oder heiratenicht, du wirst beides bereuen.« Das ist allerdings verwirrend. Wirddoch damit unterstellt, dass, aufgrund der Geltungs-Symmetrie zwi-schen zwei kollidierenden Pflichten, keine durch die andere aufge-hoben oder übertrumpft wird und die Verbindlichkeit der einzelnenPflichten gleich stark bleibt. Sophie würde dann etwas Falsches ma-chen, egal, was sie tut.

Mein Vorschlag war, die besondere Situation dahingehend zu in-terpretieren, dass durch die Gleichgewichtigkeit der konfligierendenPflichten die Verpflichtungsdimension beider aufgehoben wird.Tatsächlich hat Sophie nur die Wahl zwischen Skylla und Charybdis.Sie ist wie »a downhill skier who has the choice between skiing over aprecipice and being buried by an avalanche«16. Mangels eines gutenGrundes, eine der beiden Optionen vorzuziehen, scheint es mir nichtsinnvoll zu sagen, dass Sophie ihrer Pflicht nicht nachgegangen ist.Wenn keine Entscheidungs-Alternative die besseren Gründe für sichhat, fällt die Verantwortung für dieHandlungsentscheidung weg. Nurwenn sie sich geweigert hätte, überhaupt eines der Kinder zu retten,hätte sie ihre Pflicht vernachlässigt. Sophie trägt keine Schuld an derSituation, in der sie sich befindet, und sie fällt kein falsches Urteil,wenn sie eins der Kinder vorzieht. Ich gehe sogar einen Schritt weiter.Meiner Meinung nach sind Dilemmata keine Fälle von moralischbeurteilbaren Entscheidungen, und zwar darum nicht, weil dieSymmetrie der Pflichten den moralischen Akteuren eine begründeteHandlungsalternative verwehrt und ihnen bloß die Wahl lässt,überhaupt etwas zu entscheiden. Der Skifahrer inMothersills Beispieltrifft keine moralisch beurteilbare Entscheidung, und er könnte ge-nauso gut schreien oder die Augen zumachen. So verhält es sich auchbei Sophie: Sie könnte genauso gut ein Los ziehen oder mit ge-schlossen Augen auf eines der Kinder deuten. Schlechtes Gewissen

16 Marie Mothersill, »The Moral Dilemmas Debate«, 75.

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und Reue sind fehl am Platz. Man wird jedoch verstehen, dass sie eintiefes Bedauern empfindet, mit einer so trostlosen Alternative kon-frontiert zu sein.

Könnte eine Kompromisslösung Sophie einen Ausweg aus derSackgasse bieten? Das ist Mothersills Vorschlag:

»Did it, for example, never occur toAgamemnon that hemight negotiatea compromise with Artemis, offering to sacrifice a bullock or his favoritehound instead of Iphigenia? […] Could Sartre’s student have joined alocal chapter of the Free French and stayed at home, or perhaps per-suaded his mother to enlist along with him and become a comrade inarms?«17

Der Vorschlag ist allerdings verwunderlich und stimmt nicht mit derBeschreibung der Ausweglosigkeit des Skifahrers überein, die Mo-thersill gibt. De facto hat Sophie nur drei Optionen. Man kann ihreGeschichte erzählen, wie man will : Aus den gegebenen Fakten lassensich keine weiterenMöglichkeiten konstruieren. Deshalb stellen echteDilemmata eine so bedeutende Herausforderung an die Moral: Siesind sowohl ontologischer wie logischer Natur. »[G]enuine moraldilemmas are ontological, not merely epistemic; the truth of theconflicting ought-statements are independent of the agent’s beliefs.«18

Dilemmata sind nicht Perspektiven-abhängig. Und hätte sich einAusweg inGestalt einer Kompromissfindung abgezeichnet, wären dieUmstände eben nicht dilemmatisch gewesen.

In dem folgenden Abschnitt diskutiere ich nun zwei Beispiele vonschweren moralischen Konflikten, die wie Dilemmata aussehen, aberkeine sind, weil Kompromisslösungen in Aussicht stehen. Sie habenmit dem Dilemma gemeinsam, dass sie sich aus einem scheinbarausweglosen Konflikt zwischen moralischen Forderungen ergeben,aus dem man nicht ohne moralischen Verlust hervorgeht; und dassein Zwang dem Handelnden die Hand zu führen oder ihm vielmehrdie Entscheidung aus der Hand zu nehmen scheint. Gemeinsam istjedenfalls das drängende Bewusstsein, dass alle guten Auswege ver-sperrt sind und dass keine andere Option zur Wahl steht als einesolche, die die Verletzung einer moralischen Verpflichtung mit sich

17 Ebd.18 Vgl. Terrance C. McConnell, in: »Moral Residue and Dilemmas«, 36.

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bringt. Im Unterschied zur Dilemma-Situation weiß allerdings derAkteur, was er tun soll. Die Kompromisslösung erscheint ihm sogarzwingend, womit er sich dieHändemöglicherweise schmutzigmacht.

DasUrteil über dieHandlung fällt oft abfällig aus – sowohl aus derAußen- wie auch aus der Innenperspektive –, als sei die Handlungkompromittierend.Diesem Begriff möchte ich auf die Spur kommen.Hinter dem Vorwurf der Kompromittierung verbirgt sich die Idee,dass Kompromisse schändlich sind, entweder, weil man sich selbstnicht treu geblieben ist, oder, weil man gewichtige Prinzipien verletztund ›verraten‹ hat. Eine Person würde sich nämlich nicht kompro-mittiert fühlen, wenn das, worauf sie durch den Kompromiss ver-zichtet hat, nicht vonmoralischer Bedeutung für sie wäre. Ichmöchtezeigen, dass das abfällige Urteil, man habe sich kompromittiert unddamit die Hände schmutzig gemacht, von der Perspektive abhängt,aus der sich dieHandlung darstellt – außerwenn die Tat alles in allemnicht zu rechtfertigen (der Kompromiss nämlich faul) war.

Moralische Konflikte, Kompromisse und schmutzige Hände

Bevor ich zu den angekündigten Beispielen komme, will ich etwas zurBedeutung von ,Kompromiss‘ sagen. Ein Kompromiss ist eine Ver-handlung oder einVerhandlungsergebnis, das ein Interesse oder einenAnspruch einschränkt, weil die Verhandlungspartner gleichermaßeneinsehen, dass ihr Anspruch nicht konsensuell durchzusetzen ist. DerKompromiss zeichnet sich insofern durch einen Verlust oder einZugeständnis aus: Wie schon angedeutet, möchte man ein Ziel er-reichen oder etwas bekommen, von demman denkt, es wäre rechtens,wünschenswert oder käme einem zu, gibt sich jedoch mit wenigerzufrieden.

DerKompromiss teilt mit demDilemma denAusgangspunkt, dassder Konflikt zwischen den bestehenden Ansprüchen oder Ver-pflichtungen nicht über den Weg der Abwägung oder des Argu-mentaustausches zu lösen ist. Hätte es eine Lösung gegeben, die alleParteien zufrieden stellt, wäre ein Kompromiss nicht erforderlich.Zwar findet bei der Suche nach einem Kompromiss eine Abwägungstatt, um eine Lösung zu finden, die mehr oder weniger in die Mitteder konkurrierendenAnsprüche zielt unddieParteien zufrieden stellt.

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Dennoch bleiben beim Kompromiss die Beteiligten letztlich bei ihrerursprünglichen Überzeugung, dass ihre Ansprüche berechtigt oderihre Überzeugung gut begründet waren. Die Parteien, die einenKompromiss schließen, tun es imGrundegegen ihrenWillen,weil alleanderen Wege zu noch schlechteren Ergebnissen führen. Deshalbneigen die Parteien dazu, die Kompromissbildung als etwas zu be-schreiben, in das sie ›hineingeraten‹ sind, zu dem es keine bessereWahl gegeben hätte. Das gilt vor allem dann, wenn der Kompromissmoralisch bedenklich ist und einen moralisch ernsten Konflikt bei-legen soll.19

Die Parallele zwischen Dilemma und Kompromiss ist größer beiinnersubjektiven als bei intersubjektiven Kompromissen. Weil in-kompatible Sollensaufforderungen sich in foro interno abspielen, ge-rät der moralische Akteur in eine Art Handlungsstarre, die durchquasi schizophrene, widersprüchliche Forderungen verursacht ist.Das ist vermutlich der Grund, aus dem die Dilemma-Literatur sichüberwiegend auf Fälle von innersubjektiven Konflikten konzentriert,weil sie die unerträgliche Spannung viel lebendiger vor Augen führen.

Zwei Beispiele können helfen, die Problemlage zu klären. Das ersteBeispiel steht für einen innersubjektiven Kompromiss, das zweite fürseine intersubjektive Form.(1) In ihrem BuchOnComplicity & Compromise geben Lepora und

Goodin das Beispiel einer Ärztin, die in einem KriegsgebietSoldaten Kondome gibt, damit sie Frauen bei der Vergewalti-gung nicht schwängern oder (sich) infizieren.20

(2) Am 8. Mai 2017 wurde in der Presse berichtet, dass die nige-rianische Regierung einen Deal mit der Terrorgruppe BokoHaram abgeschlossen hat. Im Austausch gegen inhaftierteBoko-Haram-Mitglieder und eine Geldsumme wurden 82entführte Mädchen freigelassen, die seit mehr als drei Jahren

19 Siehe vor allemChiara Lepora, »OnCompromise andBeingCompromised«,in: The Journal of Political Philosophy 20:1 (2012), 1–22.

20 Chiara Lepora und Robert E. Goodin, On Complicity and Compromise,Oxford 2013, 1f. In dem erwähnten Beispiel handelt es sich um einen einzigenSoldaten. Man kann sich aber den Fall vorstellen, in dem Kondome den Soldatenfreigestellt werden.

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von ihnen als Sklaven (unter anderem als Sexsklaven) gefangengehalten waren.21

In beiden Beispielen wurde etwas pro tanto moralisch Verwerflichesgetan, obwohl alles in allem das herbeigeführte Gut überwiegt. Imersten Beispiel kann der Gebrauch von Kondomen die Hemm-schwelle zur systematischen Vergewaltigung senken. Vor allem aberbekommt die Verteilung von Kondomen durch die Sanität[erin] dasoffizielle Siegel der Legalität aufgedrückt. Im zweiten Beispiel verstößtder Staat gegen seine strafrechtliche Pflicht, alle Bürger unparteiischund als Gleiche vor dem Gesetz zu behandeln. Indem er obendreineine bedeutende Summe Geld bezahlt und Kriminelle freilässt, un-terstützt er nicht nur direkt die Gewalt und mehrt deren Potential,sondern ermutigt auch die Käuflichkeit der Rechtsprechung. In bei-den Fällen lassen sich negative Konsequenzen an einer ErschütterungderWertmaßstäbemessen.Man erwartet von der Sanität, dass sie ihreSoldaten ärztlich versorgt, und vom Staat, dass er die Rechtsausübunggewährleistet. Beide Erwartungen sehen sich durch die ausgeführteHandlung enttäuscht, ja zum Teil pervertiert.

Zwei Fragen stellen sich: Haben wir es in beiden Fällen mitKompromissen zu tun und, wenn ja, sind sie kompromittierend?Klassische Fälle vonKompromissen haben eine intersubjektive Form.Sie ergeben sich, wie schon gesagt, aus einer Verhandlung. Das trifftvermutlich im zweiten Beispiel zu, nicht aber im ersten. Die Ärztinverhandelt nämlich nicht mit dem Soldaten. Und es ist strittig, ob sieüberhaupt mit sich selbst verhandelt.

Ich gehe davon aus, dass sie, bevor sie zu ihrem Entschluss kommt,in foro interno mit sich selbst gerungen hat. Zwar findet keine echteVerhandlung statt, weder mit anderen noch mit sich selbst. Außer-dem, könnteman einwenden, erfolgt die Entscheidung, so dramatischihr Ausgang auch ist, als Resultat der klassischen Prozedur des Ab-wägens von Pro- und Contra-Argumenten. Was die handelnde Per-son jedoch anders als bei üblichen Abwägungen erleben wird, ist dasauf ihr lastende Gefühl, unter Handlungszwang zu entscheiden: dasGefühl, dass keine andereWahl bleibt, als eineHandlung zu gestatten,

21 Frankfurter Rundschau vom 8. Mai 2017, 8.

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die in einem anderen Kontext als unmoralisch abgelehnt wordenwäre. Und dies gilt für beide Beispiele.

Geschah die Entscheidung also unter Zwang, so stellt sich aller-dings die Frage, ob die Rede von einem Kompromiss nicht fehl amPlatz ist. Es ist tatsächlich eine Bedingung eines genuinen Kompro-misses, dass die Verhandlung nicht unter Gewalt oder Gewaltan-drohung stattfindet und dass demKompromiss freiwillig zugestimmtwird. Stand die Ärztin wirklich unter Zwang, so hatte die innereAuseinandersetzungmit ihren Grundprinzipien nicht die Dimensioneiner internen Verhandlung mit offenem Ausgang.

Die Analyse der Bedingungen, denen eine freiwillige Zustimmunguntersteht, ist Gegenstand einer ausführlichen Debatte in der Se-kundärliteratur.22 Um diese komplexe Debatte abzukürzen, gehe ichdavon aus, dass von einer freiwilligen Zustimmung dann nicht dieRede sein kann, wenn die handelnde Person unter Gewalt oder Ge-waltandrohung steht, ihre Zustimmung zu geben. Im vorliegendenFall war die Ärztin nicht gezwungen zu handeln, wie sie es tat. Sie warselber nicht bedroht. Dasselbe gilt für diejenigen, die mit Vertreternder Boko-Haram-Bewegung verhandelt haben.

Haben sich die handelnden Subjekte kompromittiert und sichdamit die Hände schmutzig gemacht? Das Phänomen der schmut-zigen Hände wird in der Literatur überwiegend als Kollateral-Phä-nomen politischer Entscheidungen behandelt. Dafür gibt es mehrereGründe. Politiker, vor allem solche mit höheren Entscheidungsbe-fugnissen, haben einen bedeutenden Einfluss auf das gesellschaftlicheGeschehen. Die von ihnen ergriffenen Maßnahmen können weitrei-chende Auswirkungen für die Gesellschaft haben, sowohl in derReichweite wie in der Dauer. Politische Funktionen gehen deshalbidealerweise mit einer Verantwortung für das öffentliche Wohl ein-her: Diese Verantwortung wurde Personen im politischen Dienstübertragen, in der Erwartung, sie werden das allgemeine Interesseüber ihr privates stellen, auch wenn sie dafür in manchen Situationenihre eigenen (moralischen) Überzeugungen hintanstellen müssen.

Das Phänomenmag zwar in der Politik häufiger als im Privatlebenvorkommen. Es ist allerdings kein Spezifikum des politischen Han-

22 Siehe Fabian Wendt, Compromise, Peace and Public Justification. PoliticalMorality Beyond Justice, London 2016, 35–47.

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delns. Privatpersonen oder Institutionen (Hilfsorganisationen zumBeispiel) stehen auch vor harten Entscheidungen, in denen die Ver-meidung des größeren Übels nicht ohne Verletzung moralischerPrinzipien gelingt.

Folgende Elemente bilden die notwendigen Bedingungen der zuanalysierenden Handlung: a) ein empirischer Kontext, in dem einePerson sich gehalten sieht, gegen ihre moralischen Überzeugungenund/oder die etablierten Moralvorstellungen zu handeln; b) die ex-ternen und nicht selbstverschuldeten Umstände; c) eine klare Vor-stellung dessen, was getan werden soll und d) das Bewusstsein desAkteurs, dass das Handeln unter anderen Umständen moralischfalsch wäre.23

Um sich allerdings die Hände schmutzig zu machen, sich alsomoralisch zu kompromittieren, muss man am Ende für schuldig er-klärt werden. Ob in den erwähnten Beispielen die Akteure sich eineSchuld ankreiden lassen müssen, obschon die Kompromisslösungeinen Ausweg anbot, der einen noch schlimmeren vermied, ist strittigund hängt von der Perspektive ab, unter der die Handlung analysiertwird. Bekanntlich führt der konsequentialistische Blick auf die Ge-samtfolgen der Handlung zu einer anderen Schlussfolgerung als einedeontologische Perspektive, die sich auf Pflichten konzentriert, oderals eine Wertetheorie, die deren Verletzung einklagt.

Für die Konsequentialisten ist eine Lösung dann richtig, wenn diezu erwartenden Vorteile die Nachteile überwiegen. Es ist eine Be-sonderheit dieser Position, dass ihr zufolge Situationen sowohl ver-gleichbar wie auch skalierbar sind: Sachverhalte können durchHandlungen besser oder weniger gut realisiert werden.24 Zumindesttheoretisch können alleHandlungen als demVerhältnis zwischen denGesamtmengen an zu erzielenden Gütern entsprechend eingestuftwerden, die sie hervorbringen. Sind Handlungen nach ihren Folgen

23 Vgl. Robin Celikates, »Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und dasProblem der ›schmutzigen Hände‹«, in: Ralf Stoecker, Christian Neuhäuser,Marie-Luise Raters, Fabian Koberling (Hg.), Handbuch Angewandte Ethik,Stuttgart/Weimar 2011, 278–282.

24 Vgl. John Harsanyi, »Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Inter-personal Comparisons of Utility«, in: Journal of Political Economy 63 (1955),309–321; John A. Mirrlees, »The Economic Uses of Utilitarianism«, in: AmartyaSen andBernardWilliam (eds.), Utilitarism and beyond, Cambridge 1982, 63–84.

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skalierbar, werden diejenigen besser sein, die so nahe wie möglich andie gewünschten Ergebnisse herankommen, die in den Handlungs-optionen der handelnden Person liegen, und diejenigen in demMaßeschlechter, wie sie sich von diesem Handlungsziel entfernen. Es kannzwar unter den Handlungsoptionen zwei oder mehr geben, die gleichwünschenswerte Ergebnisse erzielen. Die Befreiung der 82 Mädchenaus der Gewalt der Boko-Haram-Anhänger hätte vielleicht auf demWeg über andere Zugeständnisse von Seiten der Regierung erreichtwerden können. Bei einem ähnlichen Ausgang gibt es keine klareVerpflichtung, genau eine der Handlungen zu vollziehen, die dazuführt. Die Verpflichtung besteht darin, überhaupt eine der Hand-lungen auszuführen, die zu den insgesamt guten Konsequenzenführen.25

Darin unterscheiden sich die konsequentialistische und die deon-tologische Perspektive, dass die Verantwortlichkeit sich im ersten Fallan den realisierten Ergebnissen messen lässt, während sie sich imzweiten Fall aus der Implementierung der Pflicht ergibt. Im Unter-schied zu Pflichten können Verantwortlichkeiten mehr oder wenigerrealisiert werden. Das liegt daran, dass sich äquivalente Ergebnissemehr oder weniger leicht durcheinander ersetzen lassen: Ein undderselbe Kompromiss lässt sich auf vielerlei Weise realisieren; undwas amEnde zählt, sindnicht dieMittel, die dabei zumEinsatz kamen,sondern was durch sie zustande gekommen ist. Beim Gebot, einerPflicht nachzukommen, geht es dagegen um alles oder nichts, weileine Pflicht sich nicht durch eine andere substituieren lässt.26

Konzentriert sich der Blick ausschließlich auf die erzielten Kon-sequenzen, kann den Handelnden nicht vorgeworfen werden, siehaben etwas Falsches gemacht, wenn sie die unter den Umständenbeste Option ausgewählt haben.27 Wenn man durch Kompromiss-bildung zwischen zwei Übeln das geringere herbeigeführt hat, macht

25 BenEggleston, »Act utilitarianism«, in: BenEggleston andDaleMiller (eds.),The Cambridge Companion to Utilitarianism, Cambridge 2014, 127.

26 Siehe Robert E. Goodin, Utilitarianism as a Public Philosophy, Cambridge1995, 86.

27 Vgl. Kai Nielson, »There is No Dilemma of Dirty Hands«, in: Paul Rynardand David P. Shugarman (eds.), Cruelty & Deception: The Controversy over DirtyHands in Politics, Peterborough, ON 2000, 139–155; Peter Baumann, »Schmut-zige Hände?«, in: Logos 7 (2001), 187–215.

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mandasmoralischRichtige. Entsprechendmachtman sich dieHändenicht schmutzig. Fällt eine Abwägung zugunsten einer Handlunginsgesamt positiv aus, fällt allein diese Abwägung moralisch ins Ge-wicht. Einzelne, disjunktive Pflichten haben sich sozusagen aufgelöst,einfach dadurch, dass sie in die Addition eingegangen sind, die sichzur allgemeinen Pflicht summiert.

Dasheißt allerdings auch, dass derKonsequentialist amEnde keineKompromisse schließt. Insgesamt ist für ihn die Inanspruchnahmeeines Kompromisses überflüssig, schon darum, weil im Konfliktfallmoralische Entscheidungen durch höherstufige Prinzipien diktiertwerden, die dann als selbständigeGrundsätze undnicht als Ergebnissevon Kompromissen anzusehen sind. Wird zwischen konfligierendenNormen abgewogen und zugunsten einer dritten entschieden, habenwir es nicht mit einem Kompromiss, sondern mit einer Verlagerungauf ein Prinzip zu tun, das nunmehr als höherrangig bewertet wird.Die höherrangige Norm wird als diejenige eingestuft, die in demkonkreten Fall z.B. bessere Aussichten hat, gesellschaftlich größerenNutzen zu erzielen. Ist ein höherer Nutzen erreichbar, ist die Hand-lungsentscheidung für diesen Zweck die einzig richtige. Sie ist deshalbkeine Kompromisslösung, denn – noch einmal – eine Kompro-misslösung ist immer nur eine zweitbeste bzw. eine Lösung, die maneigentlich nicht für richtig hält, die man aber zähneknirschend inErmangelung einer besseren Lösungsaussicht akzeptiert.

Aus der Perspektive einer strengen Pflichtmoral hingegen kann esKompromisse geben, diese sind jedoch verpönt; weil sie gegen diePflicht verstoßen. Der Pflichtmoral zufolge sind Handlungen, in de-nen etwas Falsches getan wird, um unerwünschte Folgen zu mini-mieren, intrinsisch falsch und daher verboten. Kants Ansicht über dieStrafanwendung ist in dieser Hinsicht deutlich. Danach lässt sichbeispielsweise die Staatspflicht, Gerechtigkeit walten zu lassen, durchkein Surrogat ersetzen: »Selbst, wenn sich die bürgerlicheGesellschaftmit aller Glieder Einstimmung auflöste […], müßte der letzte imGefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit je-dermann das widerfahre, was seine Taten wert sind.«28 Nicht dieunvertretbare Stellung der Todesstrafe ist das, worauf es mir an-

28 Immanuel Kant, »Das öffentliche Recht«, in: ders., Metaphysische An-fangsgründe der Rechtslehre. Erster Teil, Hamburg 1998, 157.

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kommt, sondern dieTatsache, dass einKompromiss als Surrogat nachKant der Verletzung einer moralischen Pflicht gleichkommt. Dem-nach wäre das staatliche Verhandeln mit der Boko-Haram-Gruppeein Verrat am Prinzip der Gleichbehandlung und der Rechtssicher-heit.

Man braucht sich nicht dem kantischen Rigorismus anzuschlie-ßen, um angesichts dramatischer Situationen, in denen die Alterna-tive heißt: entweder untätig zu bleiben oder ein Übel vermittels einermoralisch falschen Handlung zu verringern, die Ansicht zu vertreten,man habe eine Pflicht verletzt und sich deshalb die Hände schmutziggemacht. Diese Deutung ist in der philosophischen Literatur weitverbreitet. Sie sieht diemoralische Schuld darin begründet, dass etwaspro tanto moralisch Verwerfliches getan wurde und sich bestehendePflichten nicht durch dieKonkurrenz anderer Pflichten ›ausradieren‹lassen.29 Ruth Marcus argumentiert beispielsweise, dass »consistencyof moral principles or rules does not entail that moral dilemmas areresolvable in the sense that acting with good reasons in accordancewith one horn of the dilemma erases the original obligation withrespect to the other«30. Demnach verliert, selbst wenn ein Konfliktlösbar ist, eine Pflicht ihre grundgebende Dimension nicht dadurch,dass sie in der gegebenen Situation nicht handlungsrelevant ist. Dergrundgebende Imperativ »Schone das Leben von Menschen« zumBeispiel verliert nicht an Geltung, weil man sich in einer Situationbefindet, in der seine Realisierung eine Handlung erfordert, die selbstden Imperativ verletzt. Wenn ein Schwangerschaftsabbruch bei-spielsweise ausgeführt werdenmuss, weil das Leben der Schwangerenin Gefahr ist, entsteht der behandelnden Ärztin ein moralischerKonflikt, falls sie derMeinung ist, dass FötenMenschen sind. Führt sieden Abbruch durch, tötet sie den Fötus. Weigert sie sich, dieSchwangerschaft künstlich abzubrechen, macht sie sich schuldig, der

29 Aus der sehr ausgedehnten Diskussion seien exemplarisch zur anfänglichenDiskussion drei klassische Texte erwähnt: Bernard Williams, »Ethical Cons-istency«; Christopher Gowans, Innocence Lost: An Examination of InescapableMoral Wrongoing, New York 1994, und Ruth B. Marcus, »Moral Dilemma andConsistency«, in: The Journal of Philosophy 77 (1980), 121–136. Aus der jetzigenDiskussion: Marie-Luise Raters, Das moralische Dilemma, bes. Kap. 6 und LisaTessman, When Doing the Right Thing is Impossible, Oxford 2017.

30 Ruth B. Marcus, Moral Dilemma and Consistency, 121.

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SchwangerenHilfeleistung inNot zu verweigern. Nach dieser Lektüreverletzt sie so oder so den Imperativ und macht sich die Händeschmutzig. Demnach bleibt eine Restpflicht in Kraft, gegen die ver-stoßen wurde.

Ich halte diese Schlussfolgerung für überzogen. In dem letzten Teilmöchte ich für eine Zwischenposition zwischen der konsequentia-listischen und der deontologischen Position argumentieren und zei-gen, dass, indem sie eine Kompromisslösung akzeptieren unddurchführen, um ein geringeresÜbel zu erzielen, die Akteure das allesin allemRichtige tun unddeshalb keine Schuld tragen.DiemoralischePflicht, die durch die Entscheidung übertrumpft wurde, verliert ihreverpflichtende Dimension. Dennoch verwischt die insgesamt positiveBilanz nicht die Tatsache, dass etwas pro tanto moralisch Verwerfli-ches getan wurde. Die Akteure tragen deshalb eine Verantwortung, indem Sinne, dass sie für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen werdenkönnen, was für eine strenge dilemmatische Situation nicht gilt.

Verantwortung ohne Schuld

Wenn wir eine Person für eine Handlung verantwortlich machen,können wir den Aspekt der Verantwortlichkeit in vielerlei Sinneverstehen.A) Wir können auf die Handlung der Person als Auslöserin von

Folgeereignissen verweisen. Verantwortung steht in dem Fallfür die direkte Urheberschaft.

B) Wir können darauf bestehen, dass die Person für die Hand-lungsfolgen zuständig ist. Die Person ist in dem Fall verant-wortlich, weil die Handlung, obwohl sie nicht von ihr selbstausging, in ihre Zuständigkeit fiel.

C) Wir können auf ihre moralische Schuld verweisen.D) Und wir können sie schließlich für ihr Tun zur Rechenschaft

ziehen wollen.31

31 Siehe Kurt Bayertz, »Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwor-tung«, in: ders. (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995,3–72. Ich bin Johanna Wagner dankbar dafür, dass sie mich ein Kapitel ihres

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Die verschiedenen Aspekte können sich implizieren, müssen es abernicht. Man kann etwas verursacht haben, wofür man keine Schuldträgt, und dennoch Frage und Antwort für die Auswirkungen stehenmüssen. Genau diese letzte Dimension ist für das Folgende von Be-lang.

Ein echtes Dilemma, wir erinnern uns, ist durch eine Symmetrievon Verpflichtungen charakterisiert. Daraus, dass unweigerlich dieRealisierung einer Pflicht die andere verletzt, folgt, dass entweder dasvoluntaristische Prinzip oder das Agglomerationsprinzip aufgegebenwerden muss. Mein Vorschlag war, auf das Agglomerationsprinzipdahingehend zu verzichten, dass, wenn die Konjunktion zweierPflichten faktisch nicht realisierbar ist und aufgrund der Gleichge-wichtigkeit der Pflichten keine die andere übertrumpft, sowohl diePflicht, die durch die Konjunktion entsteht [O (A&B)], als auch dieVerpflichtungsdimension der konkurrierenden Pflichten entfällt.Sophie trägt keine Schuld, wenn sie sich für die Rettung eines derKinder entscheidet; ihre Entscheidung war der Möglichkeit guterGründe für eine der beiden Optionen entrückt und befindet sichdarum außerhalb des Bereichs moralischer Zurechenbarkeit.

Keiner der beiden Fälle von tragischem Konflikt, die als Beispielegedient haben, ist mithin ein solcher von gleichgewichtiger Ver-pflichtung. Die Kompromisslösung bietet einen Ausweg an. Sowohldie Ärztin als auch die nigerianische Regierung haben gute Gründe,dem Kompromiss zuzustimmen. Ihre Entscheidung ist folglich mo-ralisch richtig.Dennochmöchte ichnicht demkonsequentialistischenSchluss zustimmen, dass die Akteure nichts getan haben, das sie unteranderen Umständen als eine Verletzung ihrer Pflicht interpretierthätten. Hares Behauptung, »[w]enn deine Pflichten miteinander inKonflikt geraten, eine davon nicht deine Pflicht ist«,32 ist nur dannplausibel, wenn damit gemeint ist, dass die Pflicht dann ihre ver-pflichtende Dimension verliert, nicht aber, dass sie sich dann ganzund gar in Luft auflöst. Bliebe sie verpflichtend, könnte das Volun-tarismus-Prinzip nicht aufrechterhalten werden. Löste sie sich aller-

Dissertations-Manuskripts über die Verantwortung hat lesen lassen, auf das ichmich hier beziehe.

32 Richard Hare,Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz,Frankfurt a.M. 1992, 93.

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dings als Pflicht gänzlich auf, gäbe es keinen tragischen Konflikt. DerGrund, weshalb eine Handlung unter anderen Umständen gebotenoder verboten gewesen wäre – dieser Grund bleibt bestehen und inder Konfliktsituation weiterhin in Kraft. »There is a reason not actedon that still obtains, and therefore continues to call for action.«33

Mit anderen Worten: Bei einem moralischen Konflikt sehen sichdie Akteure damit konfrontiert, dass sie eine Handlung begehenmüssen, die sie unter anderen Umständen keinesfalls getan hatten,weil moralische Gründe klar gegen sie sprechen.34 Die Akteure habeneinen Kompromiss geschlossen und sich dennoch nicht moralischkompromittiert. Sie tragen keine moralische Schuld; und dennochsind sie für ihr Tun verantwortlich. Denn durch den Kompromiss istihre (an sich verwerfliche) Handlung überhaupt ermöglicht und so-gar realisiert worden. Zwar war der Kompromiss die in dieser Situa-tion besteOption, um Schlimmeres zu verhindern. »But that ismerelyto say that there are bothmore goods on the scale aswell asmore bads,in consequence of the compromise.«35

Von den Handelnden zu sagen, dass sie ohne Schuld verantwort-lich sind, bedeutet, dass man von ihnen erwarten darf, dass sie für ihrTunRechenschaft ablegenmüssen. Siemüssen, wie die etymologischeWurzel des Ausdrucks ›Verantwortung‹ klarstellt, ›Rede und Ant-wort‹ geben, sich rechtfertigen.36 Eine solche Rechtfertigung wäre auskonsequentialistischer Sicht unangebracht. Insofern bleibt eine mo-ralische Verantwortung für den entstandenen Schaden, auch wenn

33 Monika Betzler, »Sources of Practical Conflicts and Reasons for Regret«, in:Peter Baumann and Monika Betzler (eds.), Practical Conflicts. New PhilosophicalEssays, Cambridge 2004, 197–222, 199.

34 So meint etwa Peter Schaber: »If one is faced with an insolvable moralconflict, one is forced to perform an action that hasmoral reasons speaking againstit, but that is not one that is wrong«. (»Are There InsolvableMoral Conflicts?«, in:Peter Baumann and Monika Betzler, Practical Conflicts, 279–294, 288).

35 Chiara Lepora, »On Compromise and Being Compromised«, 16.36 Vgl. John L. Austin: »One way […] is to admit flatly that he, X, did do that

very thing, A, but to argue that it was a good thing, or the right or sensible thing, ora permissible thing to do, either in general or at least in the special circumstances oftheoccasion. To take this line is to justify the action, to give reasons for doing it: notto say, to brazen it out, to glory in it or the like.« (»A Plea for Excuses«, in:Proceedings of the Aristotelian Society 7 (1956/57), 1–30, 2). Ich danke JohannaWagner für diesen Verweis.

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das herbeigeführte Gute alles in allem den abgewendeten Schadenübertrumpft.

Durch einen schweren moralischen Konflikt wird man dahin ge-bracht, einer gewichtigen moralischen Verpflichtung zuwiderzuhan-deln, die ihremoralische Geltung nicht einbüßt: Als zurückgedrängtePflicht bleibt sie grundgebend für die Entscheidung, und das Bedau-ern ist das Anzeichen dafür, dass wir den nicht zur Geltung gekom-menen Grund noch anerkennen.37

Schlussfolgerung

Auf die Frage, inwiefernmoralische Konflikte Perspektiven-abhängigsind, fiel meine Antwort für die echten Dilemmata negativ und fürandere moralische Konflikte positiv aus. Wenn es Dilemmata gibt,sind sie dadurch charakterisiert, dass Pflichten symmetrisch bzw. dassVerpflichtungen gleichgewichtig sind. Deshalb sind echte Dilemmataeine so bedeutendeHerausforderung für dieMoral.Weil sie entwederdas Voluntarismus-Prinzip (»Sollen impliziert Können«) oder dasAgglomerationsprinzip außer Kraft setzen.

Ich habe vorgeschlagen, moralische Dilemmata als Entschei-dungsfälle zu interpretieren, die sich außerhalb des Bereichs morali-scher Pflicht und moralischer Verantwortung befinden. Daraus folgt,dass moralische Akteure für ihre Handlung in dilemmatischen Si-tuationen nicht zu tadeln sind. Schlechtes Gewissen und Reue sindpsychologisch nachvollziehbar, sie sind jedoch nicht rational be-gründet. Hingegen mag das Gefühl des Bedauerns begründet sein,insofern es sich auf die Umstände bezieht, aus denen die dilemmati-sche Situation entspringt; das ungute Gefühl bezieht sich aber nichtauf die Handlung selbst.

Schwere, aber lösbare moralische Konflikte sind dagegen insofernPerspektiven-abhängig, als die Lösung selbst und ihreAuswirkung aufdas Gewissen wesentlich von der ethischen Sicht abhängen, die manauf die Handlung wirft. Kompromisse können einen Ausweg auseinemmoralischenKonflikt anbieten. Ist die Lösung alles in allemgut,

37 Marie-Luise Raters, Das moralische Dilemma, 270.

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weil mehr Übles dadurch verhindert als getan wird, sind für Konse-quentialisten verbleibende Spuren von schlechtem Gewissen, Reueoder Bedauern als irrational zu verbannen. Diese mögen aus Erzie-hung und religiöser Konditionierung eingetrichtert worden und nichtleicht zu überwinden sein. Sie sind dennoch unbegründet. Aus einerdeontologischen Sichtweise, in der die Prima-facie-Pflichten ihrenverpflichtenden Charakter nicht dadurch verloren haben, dass siedurch eine insgesamt stärkere Pflicht verdrängt wurden, kann einGefühl der Kompromittierung deshalb aufkommen, weil man etwasmoralisch Falsches getan hat. Mein Argument war, dass ein solchesGefühl unbegründet ist, wenn man alles in allem eine richtige Ent-scheidung getroffen hat. Es wäre jedoch erklärlich und sogar rationalbegründet, dass die Kompromiss-Schließenden ein Gefühl des Be-dauerns beschleicht. Schließlich dürfen sie bedauern, nicht habendurchsetzen zu können,was sie fürmoralisch richtig halten. Sie habennur das Zweitbeste erreicht: Das war in diesem Einzelfall richtig, wärees aber nicht unter anderen Umständen. Der Deontologe – das istmein Argument – kann diese Unterscheidung machen, der Konse-quentialist hingegen nicht.

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Anton Leist

Wertepluralismus als offenes Spiel

»Ich erzähle Ihnen ja nichts Neues, wenn ich sage, dass diebeiden Bereiche im Grunde nicht zu vergleichen sind, schon

gar nicht in einer wertenden Art und Weise. Wenn ichnie daran gedacht habe, einen herausragenden Roman zu

verfilmen, dann deswegen, weil dort bereits ein Universumvorliegt, das auch für den Film spezifisch literarische Mittel

in den Vordergrund rückt.«1

1. Wertepluralismus und Konformität

Wir leben in einer Kultur, in der es zumGemeingut geworden ist, dasses viele mögliche Lebensweisen gibt. Normalerweise begrüßen wirdas, aber ist es nur begrüßenswert? Steckt nicht eine Gefahr der Be-liebigkeit in dieser Botschaft? Auf weniger sichtbare Weise leben wiraußerdem in einer Kultur, die Lebensweisen vereinheitlicht. ZweiTendenzen laufen gleichsam gegeneinander, eine der Vervielfältigungder Lebensweisen und eine der Vereinheitlichung. Wie ist beidesmöglich?

Der akademische Terminus für die erste Tendenz ist ›Werteplu-ralismus‹. Der Wertepluralismus sagt, dass viele verschiedene Werteexistieren, ohne sich über einen Grundwert kontrollieren zu lassen.Damit bringt der Wertepluralismus den angedeuteten Grund derUnruhe zum Vorschein. Es gibt kein inhaltliches Band zwischen denverschiedenen Werten. Eine Vorstellung von einem solchen Bandgäbe der ›Wertemonismus‹. Ihm zufolge gibt es hinter allen Werteneinen Grundwert, in den sich alle Werte übersetzen lassen. In derradikalsten, reduktiven Variante gibt es dann tatsächlich nur einenWert, auf den sich alle verschiedenen Wertausdrücke direkt oderindirekt beziehen.

Wie akademisch der Terminus ›Wertepluralismus‹ ist, zeigt diezweite Tendenz. Obwohl angeblich viele verschiedene Werte existie-

1 Stanley Kubrick, »Guten Tag, Mr. Kubrick« (1957), in: Alison Castle (Hg.),Das Stanley Kubrick Archiv, Köln 2016, 159.

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ren, herrscht in der sozialen Realität eine erstaunliche Konformität inden Lebensweisen. Die modernen Individuen können für sich ent-scheiden, entscheiden aber häufig (für sich) ebenso wie die anderen.›Konformität‹ ist kein vergleichbar philosophisch umstrittener Ter-minus, sondern ein empirisch akzeptierter, aber unangenehmerTatbestand. Dass es ihn gibt, räumt man ein, aber widerlegt er denWertepluralismus?

Erstaunlich ist jedenfalls nicht, dass sich die diskursive Energieunter Philosophen nur auf den Pluralismus als eine Art Rätsel bezieht.Auf der einen Seite scheint derWertepluralismus etwas zu sein, das imPrinzip zeitlos ist und ein elementares, also ›philosophisches‹ Pro-blem umfasst: Das Problem ist das der Vergleichbarkeit von Werten.Obwohl prinzipiell unausweichlich, kann es in der liberalen Kulturstärker ins Bewusstsein treten als in einer nicht-liberalen. Denn indieser Kultur ist es nicht nur erlaubt, man ist häufig gezwungen zuwählen und damit zu vergleichen. Auf der anderen Seite wird, unterPhilosophen, zwarmeist derUtilitarismus zurVeranschaulichung desWertemonismus genannt, aber in der realen Gesellschaft ist es eherder Einfluss ökonomischen Denkens auf viele Lebensbereiche, derwertmonistischen Charakter hat.2 Ökonomisch gedacht wird auf derGrundlage individueller Nutzenmaximierung bei untereinandervergleichbaren Präferenzmengen. Diese Art zu denken steht in un-sererKultur imKonfliktmit demWertepluralismus und, bei näheremZusehen, mit Werten selbst. Schließlich könnte sie auch die zweiteTendenz, die Konformität, mindestens teilweise erklären.

Das ökonomische Denken verspricht maximale Handlungskon-trolle, weil nach ihm alle Handlungsalternativen erschöpfend darge-stellt werden können und dann entscheidbar werden. Darin liegensein Erfolg, seine Unverzichtbarkeit und seine generelle Attraktivität.Warum gibt es dann gleichzeitig noch so etwas wie Wertepluralis-mus? Die allgemeine, im Folgenden veranschaulichte und zu bele-gende Antwort ist, dass sich die für uns wichtigsten Handlungsal-ternativen nicht hinreichend kontrollieren lassen und dass derWertepluralismus dem eine positive Form gibt.

2 Verstärkt durch die Entwicklung von ›McWorld‹, einer weltweit vernetztenÖkonomie; siehe z.B. Benjamin Barber, Jihad vs. McWorld: How Globalism andTribalism Are Reshaping the World, New York 1995.

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Wie es aussieht, müssen wir also mit beiden Tendenzen zurecht-kommen. Wenn der Pluralismus eine mangelnde Kontrolle überEntscheidungen bedeutet, könnte man zwar hoffen, dass das ökono-mische Denken diese Kontrolle liefert, aber, wie eben angedeutet,liefert das ökonomische Denken zwar eine Kontrolle, aber um denPreis der Destruktion vonWerten. Um nicht bagatellisiert zu werden,ist es nötig, daran zu erinnern, wofür eine solche Formulierung –›Destruktion von Werten‹ – genauer steht. Sie steht nicht für dieVorstellung, etwas dem Leben Externes würde destruiert, sondern fürdie Bedeutsamkeit realer Lebensinhalte. Werte erzeugen Notwen-digkeit, und das ökonomische Denken überführt diese in eine be-stimmte Art von Beliebigkeit. Dadurch entsteht die Tendenz der›Destruktion‹.

Eben habe ich denGegensatz von Vielfalt und Konformität als denvon Wertepluralismus und Wertemonismus geschildert. Ob der Ge-gensatz so zutrifft, hängt davon ab,welchenBegriff von ›Werten‹manhat. Vielleicht nicht erstaunlich, bestimmt dieser Begriff auch dieDiagnose von Pluralismus und Monismus selbst. Im folgenden (2)schließe ichmich der ›antik-klassischen‹ Position von Joseph Raz an,wonach Werte nicht auf Wünsche der einen oder anderen Art re-duzierbar sind. Damit fällt auch die Präferenzentheorie – als Kern desökonomischen Denkens – als eine eigene Variante von Wertemo-nismus weg. Stattdessen stellt sie eine suboptimale Rückfallpositionbei unlösbaren Wertekonflikten dar.

So weit handelt es sich um Überlegungen nur zu Begriffen. Inwelchem Ausmaß gilt der Wertepluralismus aber tatsächlich? InAuseinandersetzung mit Ruth Chang und Donald Regan zeigt sichdabei, in wie hohem Maß die Rekonstruktion von Alltagsbeobach-tungen ebenfalls durch eine bestimmteWertetheorie beeinflusst wird(3). Insgesamt erweist sich die Interpretation vonWertekonflikten alsder einzig verlässliche Ausgangspunkt für eine empirische Diagnose,die durch eine Unterscheidung von ›ideellen‹ und ›materiellen‹Werten ergänzt werden muss.

Eine von Raz beigesteuerte Beobachtung zu ›konstitutiver Un-vergleichbarkeit‹ verschärft den Gegensatz von ideellen und materi-ellen Werten (4). Dabei werde ich Raz’ Begriff durch die Hypothese›heiliger Werte‹, als einer Form der ideellen, ergänzen. Auf dieseWeise erklärt sich seine Beobachtung, inwieweit der versuchsweise

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Tausch bestimmter Güter den Wert dieser Güter zerstört. Ein säku-larer Erklärungsversuch der Bedeutung heiliger Werte in einer zu-nehmend religionsfremden Gesellschaft könnte sich auf die man-gelndeKontrollierbarkeit einerKlasse vonObjektenundBeziehungenstützen. Die mangelnde Kontrolle verleiht einen besonderen Wert.

Auch für die Interpretation der Rationalitätsfolgen bei unver-gleichbaren Werten spielt die Art der Wertetheorie wiederum einezentrale Rolle (5). Welche Folgen hat das Rationalitätsdefizit auf-grund der Unvergleichbarkeit von intrinsischenWerten? Ausgehendvon der klassischen Wertetheorie stehen sich dabei Wunsch- undWertegründe als zwei Formen von Rationalität gegenüber. Währenderst die Wertegründe eine kognitive Kontrolle gegenüber den Wün-schen erlauben, ist ihre Wahl nicht zwingend. Im Idealfall harmo-nieren sie mit den Wünschen, auf die sie eine korrigierend-kultivie-rende Wirkung ausüben. Weil sie darin als Kern von Autonomieverstanden werden können, verlieren wertebasierte Entscheidungen,trotz eingeschränkter Rationalität, ihren befürchtet entfremdetenCharakter.

Pluralismus und Konformität im Sinn der Eingangsfrage erklärensich dann als Phänomene auf zwei verschiedenen begrifflichen Ebe-nen (6). Während der Pluralismus eine Eigenart unserer Werturteileist, stellt sich Konformität über den sozialen Einfluss auf unsereWünsche und Gefühle her. Der Konformität ist nur mit autonomenEntscheidungen zu entkommen, von denen wir mangels Vergleich-barkeit aber nie positiv wissen, wohin sie führen werden.

2. Inwiefern manche Werte unvergleichbar sind

Der ›Wertepluralismus‹ trifft eine ontologische Aussage zur Vielfaltaufeinander nicht reduziblerWerte.Häufigwird gesagt, dieseAussagegelte, worin immer Werte bestehen oder wie immer man Werteverstehen will. Die Aussage soll also neutral dazu sein, wie Werterekonstruiert werden. Das ist allerdings nicht richtig. Um die Eigen-heit des Wertepluralismus zu verstehen, ist es zunächst nötig, eineübliche Definition zu betrachten. Eine in der Diskussion üblich ge-wordene Definition lautet so:

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(WP) Wertepluralismus: Zahlreiche alltagsrelevante Werte sind unver-gleichbar verschieden.

Dabei gilt zusätzlich folgendes. Erstens, dass ein Vergleichen einwertendes Rangordnen bedeutet, entsprechend den drei Prädikaten›besser‹, ›gleich‹, ›schlechter‹. Ein solches Rangordnen benötigt un-ausweichlich einen übergreifenden Wert, mit dessen Hilfe die spezi-ellen Werte verglichen werden.3 Unvergleichbarkeit bedeutet also,dass es keinen überbrückenden, vergleichenden Wert gibt. Dabei istzweitens zu beachten, dass unvergleichbareWerte nicht dasselbe sindwie unvereinbare oder inkommensurable (in einer Bedeutung). ZweiDesserts sind unvereinbar, wennmannur eines essen kann – was abernicht ausschließt, dass sie vergleichbar sind. Zwei Desserts könnenauch kommensurabel im Sinn eines verfügbaren Maßes sein – etwaüber ihren Preis. Pluralismus wäre bei anspruchsvoll kardinalenAnsprüchen nicht überraschend. Bei nur ordinalen, entsprechenddem ›besser‹ und ›schlechter‹, hingegen schon.

Dass eineDefinitionwieWP ›üblich‹ ist, trifft allerdings nicht ganzzu. Die umfangreiche philosophische Literatur zum Wertepluralis-mus interessiert sich weitgehend nur für das Phänomen der Unver-gleichbarkeit. NachWP sind die Diagnose desWertepluralismus unddie der Unvergleichbarkeit von Werten eng miteinander verbunden.Es gibt danach keine Diagnose der Vielzahl von verschiedenenWerten, unabhängig von deren Vergleichbarkeit. Dieser Tatbestandsteht in der Diskussion im Vordergrund, weil er als Hindernis fürrationales Entscheiden erscheint, oder auch nur deshalb, weil er einverwirrendes, dieOrdnungderWelt irritierendes Phänomendarstellt.Weniger interessiert, welchen tatsächlichen Umfang der Pluralismusinnerhalb von sozial implementierten Werten insgesamt hat undwelche sozialen und kulturellen Ursachen zu ihm führen oder welche

3 So führt auch Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1986, 322, dieUnvergleichbarkeit ein. Versteckt ist in dieser Formulierung die Notwendigkeitdes ›Reduzierens‹ von vielen Werten auf einen. In der technisch orientiertenLiteratur werden dann Überlegungen zu verschiedenen Versionen des Reduzie-rens angestellt. Davon sehe ich hier ab.

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sozialen Folgen entstehen.4 ImUnterschied zum üblichen Fokus habeich in WP die Annahme von ›zahlreichen‹, genauer: als zahlreichvermuteten Werten aufgenommen.

WP ist auch nicht neutral dazu, wie Werte rekonstruiert werden,sondern folgt nur bei einer Auffassung von Werten, die man je nachdem ›klassisch‹ oder ›kognitiv‹ nennen kann. Beides sind vieldeutigePrädikate, die sich am einfachsten durch den Gegensatz von Wertenund Wünschen kennzeichnen lassen. Der Unterschied besteht inFolgendem. Nach einer objektivistischen Sicht sind Werte perso-nenexterne Tatsachen einer bestimmten Art, auf die sich Überzeu-gungen und Gründe beziehen, demgegenüber sind Wünsche (Präfe-renzen) personale Dispositionen, die als solche nicht bereits Gründedarstellen.Werte sind vonWünschen verschieden, insofernWünscheihrerseits teilweise einer Begründung bedürfen und dabei nur Werteals Gründebasis plausibel sind, die nicht ihrerseits wiederum aufWünsche zurückgehen. Das gilt jedenfalls für ›einfache‹ Wünsche,die nicht bereits durch Gründe undWerte vermittelt sind. Hieltemansich hingegen an komplexe, durch Gründe und Werte vermittelteWünsche, könnte man die Eigenheit vonWerten nicht herausstellen.Die grundsätzliche Verschiedenheit von Werten und Wünschen istMerkmal der klassischen Wertetheorie.5

Ein sich daraus ergebender Unterschied ist unter anderem fol-gender: Wünsche lassen sich ihrer gefühlten Dringlichkeit nachordnen, Werte nicht. Wünsche werden zwar nicht regelmäßig ›ge-fühlt‹, aber sie können ›gefühlt‹ werden.Werte können nicht gefühltwerden. Man kann etwas aus einerWertüberzeugung tun, auch wenn

4 Siehe z.B. die in diesem Sinn typischen Beiträge von Ruth Chang, »Intro-duction«, in: dies. (ed.), Incommensurability, Incomparability, and PracticalReason, Cambridge,MA 1997, 6; dies., »Against Constitutive Incommensurabilityor Buying and Selling Friends«, in: Philosophical Issues 11:1 (2001), 33–60; dies.,Making Comparisons Count, London/New York 2002; dies., »Value-Pluralism«,in: International Encyclopedia of the Social & Behavioural Sciences, 2nd edition,2015, Vol. 25, 21–26.

5 Sie drückt sich in einer Vielzahl von weiteren Beobachtungen aus. Für eineausführliche phänomenale Beschreibung siehe Joseph Raz, Engaging Reason,Oxford, 1999, Kap. 3. – Bernard Williams vertritt in diesem Sinn eine einfacheWünschetheorie, die allerdings Werte neben Wünschen zulässt. Siehe BernardWilliams, »Values, Reasons, and theTheory of Persuasion«, in: ders.,Philosophyasa Humanistic Discipline, Princeton, NJ 2008.

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man es nicht wünscht und vielmehr mit Widerwillen tut. Im opti-malen Fall stimmen Wünsche, Werte und wertbasierte Gründe al-lerdings überein, so dass ein Wunsch durch eine Überzeugung ge-deckt ist. Für eine Präferenzentheorie, wird sie in Hinblick auf denWertepluralismus ins Auge gefasst, entsteht daraus eine Doppeldeu-tigkeit. Entweder sie bezieht sich, wie in der Ökonomie üblich, aufempirisch gegebene alltägliche Wünsche. Dann sind diese Wünschehäufig durch Werte angeleitet und unterliegen, wie die Werte selbst,dem Problem der Unvergleichbarkeit. Oder sie bezieht sich nur aufWünsche, oder sie räumt Wünschen im Konflikt von Wünschenuntereinander eine Priorität ein. Dann sind diese Wünsche nichtdurchWerte gedeckt und werden nach Dringlichkeit geordnet. Diesezweite Möglichkeit ist besonders interessant, weil sie eine Rückfall-position für den Zustand der Unvergleichbarkeit von Werten dar-stellt. Einfache Wünsche, geordnet nach Dringlichkeit, sind dann dieMotivationsbasis, aus der heraus man handelt.

Der klassischenWertetheorie zufolge stellen ›überlegte Wünsche‹allerdings keine eigenständige Umschreibung von Werten dar. Dasfolgt einfach daraus, dass das Überlegen desWunschs diesen nicht zueiner kognitiven, vom psychischen Zustand verschiedenen Tatsacheverändert. Der überlegte Wunsch bleibt ein psychischer Zustand,möglicherweise basierend auf einem Wert. In der Literatur ist dieseAuffassung von Werten jedoch umstritten, und die Konzeption derWerte als überlegterWünsche wird bis heute alternativ vertreten. Fürdiese Konzeption entsteht kein Vergleichbarkeitsproblem, weilwunschbasierte Werte entsprechend der Dringlichkeit der Wünscheverglichen und geordnet werden können. Weil es diese Konzeptiongibt, ist die Annahme jedoch falsch, der Wertepluralismus sei neutralgegenüber der Rekonstruktion von Werten. Tatsächlich kann er nurin der klassischen Theorie entstehen.

Die klassische Theorie könnte leicht ad absurdum geführt werden,würde sie so verstanden, dass sie unter den Motiven für das Handelndie Wünsche vollständig streicht. Das kann natürlich nicht gemeintsein, kein Mensch kann längerfristig gegen oder unabhängig vonseinenWünschen handeln. Vielmehr ist das klassische Idealbild, dasssich Wünsche und Werte decken. Sollten sich Werte und Wünschedecken,macht es so viel Sinn, dassWerte denWünschen entsprechen,wie umgekehrt. Allerdings decken sich beide in der Regel nicht völlig,

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und dann wäre es fatal, wenn Wünsche die Werte determinierten,anstatt dass Werte die Wünsche korrigieren. Damit ist auch dermögliche Irrtum ausgeräumt, wonach Werte selbst ein abstraktesHandlungsziel wären. Stattdessen sindWerte aufHandlungsoptionenundDinge gerichtet, benötigen also ›Träger‹.Man verfolgt ›Werte‹ indem Sinn, dass man bestimmte wertbasierte Wünsche für konkreteHandlungen und Entscheidungen hat. Irreführend sind deshalb,wörtlich verstanden, Redensarten wie die, dass man zwischen ›Frei-heit und Gerechtigkeit‹ zu wählen habe. Eine entsprechende Wahlwird nie abstrakt, sondern immer nur anhand konkreter Alternativenzur Entscheidung stehen, etwa innerhalb einer neuen Arbeitsstelleoder bei einem Sozialgesetz.

Eine andere folgenreiche begriffliche Entscheidung betrifft dieFrage, ob wir nicht nur von Klugheitswerten, sondern auch vonmoralischenWerten sprechen wollen. Da ›Gleichheit‹ und ›Freiheit‹üblicherweise als moralischeWerte gelten, mag das trivial erscheinen.Nicht trivial ist aber die Frage, ob moralische Werte abgeleitete oderletztgültige, ihrerseits begründende Werte sind. Das ist insofernumstritten, als es eine aus dem Kantianismus entspringende norma-tive Zweiteilung in die Bereiche ›desGuten und des Rechten‹ gibt, dienicht nur lexikalischer, sondern prinzipiellerArt ist. Danach ließe sichdas Rechte nicht auf das Gute zurückführen, während nach derklassischen Auffassung von Werten gerade das geschieht. Wie wir inKürze sehen werden, beruht ein Argument gegen den Werteplura-lismus auf der behaupteten Eigenständigkeit des Rechten.

Im Folgenden geht es nun darum, inwieweit derWertepluralismuszutrifft und welche Folgen das hat. Die erste Stufe dieser Fragen zieltauf die grundsätzliche Alternative in Form einesWertemonismus. Isteinmal dieMöglichkeit ausgeräumt, dass unsere Präferenzen eine ArtWertemonismus darstellen, bleibt eine Version des Utilitarismus alseinzige Alternative. Beispielhaft ist dazu die Position von G.E. Moore,die gegen die Pluralisten, etwa von D. Regan, verteidigt wird.6 DieThese dieser Theorie lautet, dass sich letztlich alleWerte als Varianten

6 Vgl. Donald Regan, »Authority and Value: Reflections on Raz’s Morality ofFreedom«, in: Southern California Law Review 62 (1989), 995–1095; ders.,»Value, Comparability and Choice«, in: Ruth Chang (ed.), Incommensurability,Incomparability, and Practical Reason, Cambridge, MA 1997.

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des einen ›Guten‹ erweisen lassen müssen, vorausgesetzt, es sindwirklich Werte. Eine Prima-facie-Plausibilität hat die These darin,dasswir verschiedeneWerte problemlosmit demeinenPrädikat ›gut‹zusammenfassen können. Weil das eine formale Zusammenfassungist, ist es nicht unbedingt ein Beleg des Wertemonismus. EinigeGründe für diesenMonismus werde ich im Folgenden berühren, einesystematische Auseinandersetzung muss hier aber unterbleiben.

Zwei vonRegan vorgebrachteArgumente für denWertemonismussind die folgenden. Erstens, wenn Akteure in den Beispielen für denWertepluralismus um eine Entscheidung ›ringen‹, wie anders ließesich das erklären als eben dadurch, dass sie die Alternativen fürwertemäßig vergleichbar halten? Das Ringen ist deshalb ein Beleg fürden Wertemonismus.7 Das Problem dieses Arguments ist, dass all-tägliche Erfahrungen stark interpretationsbedürftig sind. Im Kontextder eben geschilderten Alternative könnte das ›Ringen‹ auch einRingen um Einsicht oder ein Ringen mit den eigenen Gefühlen sein.Die Akteure im Alltag wissen nicht hinreichend, worum sie – be-grifflich gesehen – ringen.Deshalb ist eine solcheAlltagsbeobachtungals solche nicht zwingend.8

Zweitens lässt sich für jeden Zustand des nicht möglichen Ver-gleichs zwischen Alternativen die Vermutung hegen, dass ein Ver-gleich durch weitere Präzisierung und Erfahrung doch noch möglichsei – der unmögliche Vergleich auf einem vorläufigen Erfahrungs-defizit beruhe.9Meist lässt sich ein besonders hoherWert Xmit einembesonders niedrigen Wert Y vergleichen, während bei Auflösung derExtreme der Vergleich immer schwieriger wird. Das verweise auf dasDefizit in der Erfahrung, nicht auf die prinzipielleUnvergleichbarkeit.Dieses Argument läuft darauf hinaus, das Überlegen zu einer Alter-

7 Vgl. Donald Regan, »Authority«, 1059.8 Das gilt natürlich auch für den umgekehrten Fall, in dem ein Alltagsbe-

wusstsein für Unvergleichbarkeit in Anspruch genommen wird: Joseph Raz,Freedom, 336; Donald Regan, »Authority«, 1058. Dennoch neigen sich, wie ichmeine, die Belege am Ende in die Richtung pro Pluralismus. – Die Monistenbeachten das in der Regel mit dem Vorschlag einer ›Zwei-Ebenen-Theorie‹(Regan, 132). Wenn die Alltagsphänomene interpretiert werden müssen, ist einzweistufiges Verfahren aber auch für den Pluralisten unausweichlich.

9 Siehe Donald Regan, »Authority«, 1060ff.; ders., »Value, Comparability andChoice«, 135.

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native in die reale Erfahrung mit der Alternative zu überführen. Undob die reale Erfahrung den Vergleich ermöglicht, bleibt offen. MeinesErachtens kann man diesem Einwand mit der Unterscheidung ide-eller und materieller Gründe auch entgegenkommen. Dazu gleichmehr.

Für alle weitere Diskussion ist allerdings zu bestimmen, in wel-chem Rahmen von Unvergleichbarkeit die Rede sein soll – insbe-sondere dann, wenn man an der sozialen Verbreitung unvergleich-barer Werte interessiert ist. Wie zahlreich sind die unvergleichbarenWerte tatsächlich? EineMöglichkeit, dieMenge der unvergleichbarenWerte spielerisch zu erhöhen, bietet der Bezug auf abstrakte Werteoder auf Dinge, die man zwar rein sprachlich miteinander in Bezie-hung setzen kann, für deren Vergleich es aber keinen praktischenBedarf gibt. Man kann sich fragen, ob Bäumewerfen besser oderschlechter ist als Mondflug, aber warum sollte man? Umgekehrtkönnte man die These verfolgen, dass nur für diejenigen Dinge einpraktischer Vergleichsbedarf besteht, für die Vergleichskriterien tat-sächlich existieren, etwa nach dem Beispiel mehr oder wenigerscharferMesser.10Es liegt abernicht auf derHand, dass sich der Bedarfin allen möglichen Fällen tatsächlich auch in Kriterien ausdrückt.Plausibel ist wohl eine mittlere Lösung, wonach ein Bedarf durchmögliche und tatsächlich zu vollziehende Handlungen entsteht, un-abhängig davon, ob es bereits Vergleichskriterien gibt oder nicht. DerStandardfall dürfte dazu die Entscheidung für Alternativen beiknapper Zeit sein: Soll ich x oder y tun?Undwas spricht für x oder füry?

Im Weiteren beschäftigen sich viele Überlegungen zum Werte-pluralismus auch tatsächlich damit, welche Problematik eine be-hauptete oder entdeckte Unvergleichbarkeit aufwirft. Auch innerhalbeines plausiblen Relevanzrahmens könnte Unvergleichbarkeit einoberflächliches Phänomen sein. Es mag an der Flüchtigkeit oderVorläufigkeit des Wertens liegen, wenn zwei Optionen unvergleich-bar erscheinen. Es mag beispielsweise an der vagen Vorstellung zu

10 Diese These vertritt etwa Elizabeth Anderson, »Practical Reason and In-commensurable Goods«, in: Ruth Chang (ed.), Incommensurability, Incompara-bility, and Practical Reason, 90–109, die bemüht ist, die Anlässe für Unver-gleichbarkeit zu minimieren.

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beidem liegen, wenn unvergleichbar erscheint, ob es besser ist, imPark spazieren zu gehen oder ein Buch zu lesen. Interessante Un-vergleichbarkeit ergibt sich hingegen dann, wenn man jede Alterna-tive anreichert und die Anreicherung dennoch keinen Vergleicherlaubt – oder die Unvergleichbarkeit sogar erhöht.11 Wenn bei-spielsweise das Spazieren im Park bei Regen, Sonne, Wind, mit se-henswerten Pflanzen etc. dennoch keinen Vergleich ermöglicht. EinVergleich zwischen Alternativen scheint unmöglich, wenn sich trotznachhaltigem Bemühen kein Grundwert findet, der die Alternativenumfasst und in Beziehung zu setzen erlaubt.

3. Was spricht für die Realität des Wertepluralismus?

Wann Wertepluralismus konkret vorliegt, ist also nicht leicht fest-zustellen. Es reicht eben nicht, einfach darauf zu verweisen, dass wirmehrere oder viele Werte kennen, denn damit ist die Frage der Re-duzierbarkeit noch nicht berührt. Ob Reduzierbarkeit möglich ist,muss diagnostiziert werden, und dazu sind einschlägige thematischeErfahrungen nötig. Chang hat beispielhaft drei Erfahrungsbereichegenannt.12

Erstens die schlichte Erfahrung von Wertekonflikten. Bei politi-schenDebatten etwamit den konkurrierendenWerten ›Freiheit‹ und›Gleichheit‹, im persönlichen Lebensbereich etwa mit den Zielen›Vergnügen‹ und ›disziplinierter Arbeit‹. Häufig schließen die ent-sprechenden Anforderungen einander aus. Wenn sich solche kon-kurrierenden Werte auf einen weiteren reduzieren lassen, wieso istuns diese Methode des Konfliktlösens dann nicht besser bekannt?Abgesehen von einem Rekurs auf die unbrauchbare Präferenztheorie

11 DiesenTest des einseitigenVerbesserns betont vielfach JosephRaz,Freedom,325f. Regan würde in diesem Punkt widersprechen, weil er alle nicht vergleich-baren Dinge nur aktuell für nicht vergleichbar hält. Tiefere Erfahrung, so Regan,würde letztlich die Vergleichbarkeit erbringen. Eine solche Behauptung ist schwerzu widerlegen, sie ist allerdings auch nicht begründet. Zu weiterer Diskussion des›Arguments kleiner Verbesserungen‹ siehe Ruth Chang, »Introduction«, 23–27und dies., »The Possibility of Parity«, in: Ethics 112:4 (2002), 659–688, hier667–673.

12 Vgl. Ruth Chang, »Value-Pluralism«.

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hat der Monist eine Verteidigung der Art zur Verfügung, dass (Mill)dabei nur verschiedeneQualitäten einesWerts im Spiel sind oder dassdie Vergleiche eben sehr komplex sind. Ich lasse den ersten Punkt aufsich beruhen, weil plausibel scheint, dass es sich bei verschiedenenQualitäten tatsächlich um verschiedene Werte handelt. Wichtiger istdie Frage der Komplexität.

Changs Beispiel (an diesem Punkt) eines Vergleichs des Wertseiner philosophischen Einsicht mit dem Wert von Käsekuchen13

verstößt gegen die genannte Bedingung der Lebensrelevanz. Warumsollte man einen solchen Vergleich anstellen? Passender wäre einVergleich zwischen dem Lesen akademischer Bücher und verfeiner-tem Kochen. Welches von beidem ist mir wichtiger, und finde ich dieAntwort in ihrem jeweiligen Wert? Hier scheint eine mögliche Ant-wort des Monisten, dass sich ein Vergleich herausstellen wird, wennman nur beides ausführlich versucht, eher unplausibel. Natürlichtrumpft auch nicht (in Mill’scher Tradition) eine ›höhere‹ Tätigkeiteine ›niedere‹. Beide Tätigkeiten erscheinen vielmehr wertend un-vergleichbar.

Chang nennt als zweite alltägliche Erfahrung die der Willens-schwäche.Wir folgen einem Vergnügen und wissen gleichzeitig, dassstattdessen Anstrengung nötig wäre. Wir sind uns bewusst, dass wirder Willensschwäche unterliegen. Gälte der Wertemonismus, wäredas nicht der Konflikt, als der er uns erscheint. Ein beispielsweise mitVergnügen/Missvergnügen ›rechnender‹ Wertemonismus würdeWillensschwäche nicht erlauben.14 Im Grunde fällt diese zweite Ka-tegorie aber mit der dritten von Chang genannten zusammen, dereinerVerlusterfahrungbeimEntscheiden vonWertekonflikten.Wennwir der Arbeit nachgehen, aber wissen, dass Vergnügen ausfällt, dannkennen wir ein Bedauern über das ausgefallene Vergnügen, undanalog im umgekehrten Fall. Ließe sich jeder Konflikt über den tie-ferliegenden Gesamtwert entscheiden, wäre eine solche Verluster-fahrung nicht sinnvoll. Sie könnte zumindest aufgelöst werden, wenn

13 Vgl. ebd., 22.14 Hare als Vertreter der Präferenzentheorie hat dementsprechend die Mög-

lichkeit von Willensschwäche auch bestritten: Richard M. Hare, Freedom andReason, Oxford 1963, Kap. 5.

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die Wertebilanz offenliegt. Eine solche Wirkung kennen wir norma-lerweise aber nicht.

Beide Belege sind für einen Moore’schen Monisten, der ebenfallsdie klassische Wertetheorie vertritt, nicht direkt überzeugend. Wil-lensschwäche ist ihm zufolge einVerstoß gegen dieWertüberzeugungin Form des Nachgebens gegenüber einem Wunsch. Damit ist keinWertekonflikt, sondern nur eine Pathologie desHandelns verbunden.Willensschwäche mit Wertekonflikt bei beiden Alternativen setzteVergleichbarkeit schon voraus, was der Pluralist aber bestreitet will.Stehen sich bei Verlusterfahrungen Werte und Wünsche gegenüber(wie bei Changs Käsekuchenbeispiel), dann handelt es sich ebenfallsum keinenWertekonflikt. Stehen sich allerdingsWerte gegenüber, sokann tatsächlich das Verlustgefühl eintreten, was vonseiten des Mo-nisten eine Erklärung erfordert. Nun könnte er sich darauf berufen,dass der eigentliche Wert häufig verborgen ist und man dem mögli-chen Verlust nachtrauert oder auch der reinen Unvereinbarkeit beigleichzeitiger Vergleichbarkeit.

Die erste Antwort würde den Monisten, machte er von ihr allzunachhaltig Gebrauch, in den Pluralismus überführen. Wenn man inder PraxisWerte nicht vergleichen kann, was hilft dann die These derprinzipiellen Vergleichbarkeit? Die zweite Antwort auferlegt ihm, dasVerlustgefühl als eines der Zwänge der Lebensumstände, meist be-grenzter Zeit, nachzuweisen. DieseGrenzenmögen eine Rolle spielen,aber zu einem Verlust werden sie doch nur dadurch, dass etwas ver-meintlich Wertvolles vorenthalten wird.

So weit sind es vorrangig Klugheits- oder ›Gute-Lebens‹-Werte,auf die sich die Hinweise zum Pluralismus stützen.15Damit man auchbei derMoral von Wertekonflikten reden kann, ist die Abhängigkeitdes Rechten vom Guten wichtig. Die Gegenthese vertritt die kantia-nische Tradition, repräsentiert beispielsweise in einer Diskussionzwischen Chang und Anderson durch Letztere.16 Ein Akteur mussentweder seine kranke Mutter pflegen oder (nein, nicht sich der Re-

15 Dass diese Art von Werten ›plural‹ ist, ist ein Gemeinplatz und wird inoberflächlicher Lesart nicht überraschen. Aber mit ›plural‹ soll hier nicht, wiebereits betont, ›vielfältig‹, sondern ›unvergleichbar‹ gemeint sein.

16 Vgl. Ruth Chang, »Against Constitutive Incommensurability«, und Eliza-beth Anderson, »Practical Reason and Incommensurable Goods«.

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sistance anschließen, sondern) die entsprechende Zeit einem Freundwidmen. Der Wert beider Personen oder beider Beziehungen müssteverglichen werden, aber sind sie nicht unvergleichbar? Im Fall desberühmten Sartre-Beispiels, wonach die Beteiligung an der Resistanceeine Alternative ist, wird das noch deutlicher. In der genannten Dis-kussion hat Anderson zwei Strategien verfolgt.

Einmal weist sie darauf hin, dass ein solches Beispiel darunterleidet, ungenau beschrieben zu sein, und dass sich die Entschei-dungsproblematik auflöst, wenn man es näher an die Lebensrealitätbringt. Das ist das inzwischen bekannte Argument der Kommensu-rabilisten. Zum anderen vertritt sie den systematischen Punkt, wo-nach Rechte und Pflichten nicht der Werte bedürfen und alle mora-lischen Konflikte über Rechte anstatt über Werte sowohl entstehenwie gelöst werden müssen. Danach hätte man es etwa bei konkur-rierenden Ansprüchen seitens einer kranken Mutter und einemFreund nicht mit konkurrierenden Werten zu tun, sondern mitkonkurrierenden Pflichten, die diesen verschiedenen Beziehungeninhärent sind. Die Reichhaltigkeit der Umstände und Beziehungenallein würde Konflikte lösen lassen, ohne dass ›Werte‹ dabei eineRolle spielten.17

Die Bürde, die eine solche kantianische These des Dualismus vonGutemundRechtenmit sich führt, liegt in der offen bleibenden Frage,wieso beides unter Normativität fällt. Die sozialen Beziehungen sollendanach keinen Wert haben, aber normative Ansprüche generieren,während die Lebensziele Wert besitzen, aber keine Ansprüche be-gründen. Auf dieseWeise entsteht aber eine willkürliche Barriere undein entsprechendoffenes Begründungsproblemdazu,wie gegenseitigeRechte und Pflichten entspringen, in einer Beziehung, die selbst nichtwertend beschrieben werden kann. Dieses Bild des notwendig Rech-ten in Verbindung mit dem kontingent Guten würde ein Grund-problem der liberalen Gesellschaft lösen. Leider beruht es auf einermetaphysischen Annahme.18

17 So derTenor vonAnderson: »There is no common scale, no ›covering value‹[…] that justifies joice. Instead, considerations of what we owe our mothers andour friends in different circumstances play a central role.« (ebd., 102).

18 In einer nicht-metaphysisch rekonstruierten Moral dienen die moralischenRegeln demWohl der Akteure, dieMoral hat eine Funktion zugunsten desWohls.

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Unter dem Strich gibt es damit durchaus starke Hinweise aufUnvergleichbarkeit, sowohl bei einer Klasse vonHandlungszielen wiebeimoralischenKonflikten.Offen ist allerdings nachwie vor, welchenUmfang die Unvergleichbarkeit dann hat. Dabei ist zunächst zu be-achten, dass viele wertende Vergleiche solche innerhalb einer Kate-gorie sind, wie die zwischen Lebensjahren, Gesundheit, Ernährung,Sicherheit, Arbeitsplatzgarantie, usw. Ein großer Teil der Sozialge-setzgebung benötigt nur solcheVergleiche für eineBegründung. Auchdie politische Diskussion zum für Gesellschaften zentralen Konfliktzwischen Freiheit und Gerechtigkeit wird sich auf solche Vergleichestützen und muss nicht bei einer pauschalen Diagnose der Unver-gleichbarkeit der allgemeinen Werte Freiheit und Gerechtigkeit ste-hen bleiben. Wenn wir allerdings nicht annehmen, dass Freiheit undGerechtigkeit instrumentell sind für vergleichbare Werte, dann wirktdie Unvergleichbarkeit zwischen ihnen immer auch in Konfliktent-scheidungenhinein.Deshalb sinddie ›großen‹moralischenKonfliktein der Gesellschaft nicht prinzipiell aufzulösen.

Grob können wir vielleicht unterscheiden zwischen ›materiellen‹Werten, die unser Leben vorrangig aufgrund unserer biologisch be-dingten Bedürfnisse betreffen, und ›ideellen‹ Werten, die der kultu-rellen Gestaltung des Lebens dienen. Eine entsprechend grobe Be-hauptung ist dann ebenfalls, dass die Unvergleichbarkeit die ideellenWerte betrifft, während bei denmateriellenVergleichbarkeit herrscht.Eine moralisch begründete Ordnung der Gesellschaft ist danndurchaus möglich, soweit sie sich auf die materiellenWerte bezieht –von denen man vermuten kann, dass sie die Lebensgrundlagen einesGroßteils der Bevölkerung betreffen und entsprechend geteilt wer-den.19

In einer metaphysisch rekonstruierten Moral gilt die Moral eigenständig. Das istein sehr pauschal formulierter Gegensatz, was durch den Einwand sichtbar wird,dass die uns geläufige Moral ›über‹ den sozialen Beziehungen und damit derFreundschaft steht, insofern man nicht zugunsten eines Freundes betrügen sollte.Für die wohlbasierte Moral muss gezeigt werden, wie in diesem Fall die Prioritätder Moral gegenüber dem Erhalten der Freundschaft vereinbar ist.

19 Als Beleg insbesondere für die Zweiteilung und das Ungenügen materiellerWerte kannman das Scheitern von Rawls’ursprünglicher Begründungsabsicht inseiner Theorie der Gerechtigkeit sehen. In dieser Theorie sollte der Wertekonfliktvon Freiheit und Gerechtigkeit präferenztheoretisch mittels der Entscheidungs-

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Diese bisherige Diagnose ist darin grob, dass sie den Werteplura-lismus einerseits zugesteht, andererseits sein Ausmaß nur ungenü-gend zu beurteilen erlaubt. Angesichts der Unterscheidung zwischenmateriellen und ideellen Werten ist insbesondere unklar, wie sichbeide zueinander verhalten. Der Wertepluralismus hätte extremeFolgen, würden die ideellen Werte alle materiellen vollständig über-formen. Derlei wird manchmal behauptet, ist aber höchst unplausi-bel.20 Andererseits zerfallen die beiden Wertschichten auch nichteinfach auf klar getrennte Weise. Wo sie sich treffen, haben sie auf-einander unterschiedlicheWirkungen.Auf einedieserWirkungenhatRaz als Bestandteil seiner Verteidigung der Unvergleichbarkeit hin-gewiesen.

4. Konstitutive Unvergleichbarkeit und Geld

Soziologen beobachten seit einigen Jahrzehnten etwas, das sie›Wertewandel‹ nennen. Eine umfangreich diskutierte These in die-sem Zusammenhang ist die von Ronald Inglehart, wonach sich inVerbindung mit steigendem Wohlstand ein Wandel von ›materia-listischen‹ hin zu ›postmaterialistischen‹Werten zuträgt.21 Die dabeiunterstellte begriffliche Unterscheidung entspricht ungefähr der ebeneingeführten zwischen materiellen und ideellen Werten. Inglehartnennt ökonomische und physische Sicherheit als beispielhaft fürmaterialistische,Autonomie und Selbstverwirklichung als beispielhaftfür postmaterialistische Werte. Ein Wandel würde sich dann bei-spielsweise so darstellen, dass Menschen zunehmend die Selbstver-wirklichung im Beruf einem hohen Einkommen durch Arbeit vor-

theorie bewältigt werden. Das ist nicht gelungen und wurde dann durch den,rational gesehen, schwächeren Bezug auf verbreitete Meinungen ersetzt.

20 DieBehauptung ist Standard inTeilen desPostmodernismus.RichardRorty,obwohl kein Postmodernist, behauptet es in Konsequenz seiner Erweiterung derSellars’schen Kritik am ›Mythos des Gegebenen‹. Eine solche Erweiterung igno-riert die Empirie.

21 Ronald Inglehardt, Modernization and Postmodernization. Cultural, Eco-nomic, and Politial Change in 43 Societies, Princeton, NJ 1997; Christian Welzel,»Werte und Wertewandelforschung«, in: Viktoria Kaina und Andrea Römmele(Hg.), Politische Soziologie. Ein Studienbuch, Wiesbaden 2009, 109–140.

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ziehen. In unserem Zusammenhang ist die dabei implizierte Theseinteressant, dass die materiellen Werte monetär ausgedrückt werdenkönnen,während dasselbe für die postmateriellen bzw. ideellenWertenicht möglich ist. Raz hat auf diesen Unterschied bezogen eine zu-gespitzte Behauptung formuliert, die ich im Folgenden prüfen will.22

Wie gesehen, vertritt Raz generell die Unvergleichbarkeit vielerWerte im Sinn von WP. Konkret heißt das, dass Vergleichsversuchemit einem ›Überwert‹ scheitern müssen. Für eine besondere Teil-klasse von Werten verweist er nun außerdem auf das Empfinden beivielen Menschen, wonach bereits der Versuch, einen Vergleichüberhaupt anstellen zu wollen, wertdestruktive Wirkung zeigt. FüreineZahl vonWerten, in denen sich dasmenschlicheWohl ausdrückt,gilt insofern eine ›konstitutive Unvergleichbarkeit‹, als die Unver-gleichbarkeit konstitutiver Bestandteil bestimmter Projekte undBeziehungen ist.23 Der Glaube an bestimmte Arten von Unver-gleichbarkeit ist demzufolge ein wesentlicher Bestandteil der ent-sprechenden Projekte und Beziehungen.24 Raz belegt diesen Hinweismit den Beispielen des Werts intimer Beziehungen, etwa dem Wertvon Kindern für Eltern oder von Liebespartnern füreinander. Es isteinigermaßen klar, dass die Idee, ein Kind zu verkaufen oder eine

22 In der mir bekannten soziologischen Literatur spielt die Unvergleichbarkeitvon Werten keine Rolle. Anders als in der Ökonomie ist in der Soziologie aller-dings der normative Charakter von Werten weitgehend präsent. So insbesondereaufgrund der einflussreichen Definition von Clyde Kluckhohn (»Value Orienta-tions in theTheory ofAction. AnExploration inDefinition andClassification«, in:Talcot Parsons and EdwardA. Shils (eds.),Toward a General Theory of Action, 2nd

ed. Cambridge,MA 1951, 388–464, hier 395): »A value is a conception, explicit orimplicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable,which influences the selection from available modes, means, and ends of action.«Wenn es darum geht, den Einfluss von Werten auf das Verhalten zu beurteilen,greifen Soziologen – beispielsweise Milton Rokeach – allerdings ebenfalls aufPräferenzhaltungen zurück.Dann resultiert dieVergleichbarkeit vorrangig ausderverhaltensbasierten Prämisse als der Absicht, das Verhalten rational darzustellen,und nicht aus dem inneren Nachvollzug der Handlungsmotive. ZuWerten in derSoziologie siehe Steven Hitlin und Jane A. Piliavin, »Values: Reviving a DormantConcept«, in: Annual Review of Sociology 30 (2004), 359–393; H. Thome,»Values, Sociology of«, in: International Encyclopedia of the Social & BehaviouralSciences, 2nd ed., Vol. 25, 2015, 47–53.

23 Vgl. Joseph Raz, Freedom, 348.24 Vgl. ebd., 352.

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Freundschaft zu erwerben, die Beziehung zu dem Kind oder demFreund grundsätzlich in Frage stellt. Nicht ›in Geld aufgewogen‹werden zu können, ist Bestandteil der Werte von Elternschaft oderFreundschaft. Ähnlich hatte auch bereits Kant argumentiert, als er inBezug auf die moralische Achtung zwischen Wert und (ökonomi-schem) Preis unterschied.

Diese Beobachtungen sind deshalb interessant, weil sie über dasbloßeRationalproblemderUnvergleichbarkeit hinaus gehen und eineArt vonKonflikt betreffen, der indermodernenGesellschaft aufgrundihres ökonomischen Kerns eine weitreichende empirische Bedeutunghat. In der Analyse und Begründung der Moral spielt die Verein-barkeit von moralischer (altruistischer) Motivation und Selbstinter-esse eine große Rolle. Und sicher ließen sich Raz’ Beobachtungeneinfach nur unter Bezug auf Selbstinteresse formulieren. Aber diesoziale Form ›Warentausch mit Geld‹ stellt den wirksamen sozialenRahmen für diese Art von Konflikt bereit und ist deshalb wichtig.Ohne diesen Rahmen hätten diese Beispiele nicht die soziale Bedeu-tung, die sie tatsächlich haben.25UnvergleichbarkeitmitGeld ist sozialrelevanter als die Unvergleichbarkeit zwischen verschiedenen Lite-raturgenres, denn ein Leben ohne Geld ist schwer vorstellbar, einesohne Literatur durchaus verbreitet. Soziale Beziehungen und Geldsind ein fortwährendes Minenfeld, wohingegen Proust und John leCarré nur unter jeweiligen Liebhabern in Konflikt geraten.

Auf der Gegenseite zu Geld entsteht der Erklärungsbedarf, wasbestimmte Beziehungen zu der fragilenWerthaftigkeit bringt, die Razihnen zuschreibt. Da alle genannten Beispiele aus dem Alltag unsererwestlichen Kultur entstammen, liegt die Bezeichnung ›heiligeWerte‹

25 Darin führen sie natürlich auch zu einer Hypothesenbildung, die derjenigenInglehardts diametral gegenüber steht: der Kommerzialisierung von ideellenWerten. Die entsprechende Vermutung hat eine lange marxistische Tradition,beginnend mit Marx’ ›Fetischcharakter‹ der Ware. Weitgehend vergessenscheinen Simmels Kulturanalysen zur Verbreitung des geldökonomischenTauschs: Georg Simmel, Philosophie des Geldes, München/Leipzig 1907. JürgenG.Backhaus hebt unter ihnenKonflikte hervor, die sichmit den hier angesprochenendecken: siehe Tausch und Geld: Georg Simmels Philosophie des Geldes, Maastrich1998.

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für bestimmte Dinge durchaus nahe.26 Wir haben uns angewöhnt,eher von ideellen als vonheiligenWerten zu sprechen.Dennoch ist dieKategorie der heiligen Werte aus zwei Gründen interessant. Erstensdeshalb, weil mit ihr der Grad von Fragilität beim Konflikt vonHandlungszielen ausgedrückt wird, die beispielsweise in der bloßenRede von lexikalischer Ordnung unberücksichtigt bliebe.27 Zweitensdeshalb, weil das religiöse Attribut ›heilig‹ einen historisch-kultu-rellen Hinweis auf die Herkunft dieser Handlungsziele gibt. Nebendem religiösen kennen wir auch den säkularen Gebrauch des Worts:Etwas ist uns ›heilig‹, wenn es uns, und zwar auch unsnicht-religiösenMenschen, auf bestimmte Weise sehr wichtig ist.

Für die weitere Diskussion scheinen mir nun zwei Fragen wichtig.Erstens, stimmt die Diagnose der konstitutiven Unvergleichbarkeitüberhaupt? Und zweitens, angenommen, sie würde stimmen, lassensich heiligeWerte auf eine säkulareWeise erklären? Müssen sie nichtmit dem Schwund des religiösen Glaubens ebenfalls schwinden?

Ein Ökonom wird gegen die Unvergleichbarkeit mit Geld auf denUmstand hinweisen, dass unser Leben unausweichlich immer mate-riellen Bedingungen unterliegt und deshalb unausweichlich immerKompromisse getroffen werden müssen.28 Viele Paare entscheidenzwischen ihrem Kinderwunsch und der beruflichen Karriere, wobeiim Rahmen Letzterer auch das Einkommen eine Rolle spielt. Ver-gleichen sie damit nichtKindermit Einkommen?VieleArbeitnehmerpendeln wochenmäßig zu einem vorteilhaften Arbeitsplatz zu Lastendes täglichen Familienlebens. Vergleichen sie damit nicht das Fami-

26 Darauf hat in derUnvergleichbarkeits-Diskussionmit Bezug aufDurkheimsReligionssoziologie als erster Steven Lukes hingewiesen: »Comparing the In-comparable: Trade-offs and Sacrifices«, in: Ruth Chang (ed.), Incommensurabi-lity, Incomparability, and Practical Reason, 187ff.

27 Deshalb glaube ich, dass Regans (»Authority«) und Changs (»Against«)Kritik an Raz nicht zutrifft, wonach eine lexikalische Ordnung hinreichend wie-dergibt, warum Freundschaft wichtiger ist als Geld. Siehe ähnlich Steven Lukes,»Comparing the Incomparable«, 186f. Lukes subsummiert die lexikalische Ord-nung als Variante von ›Kommensurabilität‹, was allerdings der Annahme einesGrundwerts widerspricht. Der ist bei lexikalischer Ordnung nicht gegeben.

28 Darin argumentiert er subtiler als der Mafioso im Film, der die bewährteErfahrung vertritt, wonach ›sich jeder kaufen lässt‹, ist der Betrag nur hoch genug.Diese pathologische Seite menschlicher Eigenschaften widerspricht natürlichnicht der konstitutiven Unvergleichbarkeit.

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lienleben mit dem höheren Einkommen? Jeder Autohersteller musseinen bestimmten Kostenrahmen für die Sicherheit in seinem Pro-dukt festlegen. Muss er damit nicht einen Preis für menschlichesLeben bekräftigen? Vergleicht er den Wert menschlichen Lebensnicht unausweichlich implizit, selbst wenn er, anders als im be-rühmten Ford-Pinto-Fall, das nicht geplant durchrechnet?29Generellwill der Ökonom sagen: Den Preis so gut wie aller unserer Ent-scheidungen zuberücksichtigen ist unvermeidbar, denn so gutwie alleEntscheidungen finden in einem ökonomischen Kontext statt.

Träfe der Einwand des Ökonomen zu, fiele nicht nur Raz’ These,sondern die Unvergleichbarkeit generell weg. Statt Unvergleichbar-keit gäbe es zwischen (so gut wie) allen Entscheidungen sogar einebesonders starke, nämlich kardinale Vergleichbarkeit. Der Einwandberuht allerdings – in einfachster Form – auf dem bereits ange-sprochenen Missverständnis des Bewertens menschlicher Handlun-gen. Dass sich diese Handlungen in einen auferlegten Präferenzrah-men bringen lassen, bedeutet nicht, dass dieser die Eigenmotivationder Handlungen wiedergibt. Und die wertbildende Funktion derMotivation ist ein wesentlicher Aspekt des Handelns bei heiligenWerten. Wird sie berücksichtigt, stellt sich Unvergleichbarkeit ein.Freilich bleibt damit der Nachweis der Heiligkeit – also des de-struktiven Konflikts im Bewusstsein beider Arten vonWerten – nochoffen.30

Um diesem Einwand zu begegnen, spricht Raz vom ›symboli-schen‹ Gebrauch eines Werts.31 Man könnte alternativ auch von di-rekter und indirekter Verbindung zwischen ideellen und materiellenWerten sprechen. Worauf es ankommt, sind die Motive, die manmit

29 Im Pinto-Fall hat Ford die Kosten für einen aufprallsicheren Tank mit denstatistisch erwartbaren Anwaltskosten bei Unfällen mit Todesfolge gegengerech-net und sich gegen den Einbau des Tanks entschieden.

30 Setzt ein destruktiver Konflikt nicht bereits eine Vergleichbarkeit voraus? Ersetzt sicher denVersuch deswertendenVergleichens voraus, ohne dass er gelingenmuss.

31 Vgl. Joseph Raz, Freedom, 349. Raz bettet seine Interpretation außerdemerhellend in den Kontext notwendig vorauszusetzender sozialer Konventionenein. Konventionen ermöglichen viele soziale Beziehungen überhaupt erst, deter-minieren sie aber nicht vollständig. Die Akteure können mehr oder wenigerDistanz zu den Konventionen herstellen.

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einemHandlungsziel oder Produkt verbindet. Sich eine Freundschaftabkaufen zu lassen, was als Absicht schon unsinnig ist, aber alsGrenzfall gelten mag, wäre eine direkte materielle und darin ›sym-bolische‹ Bewertung eines ideellen Objekts. Demgegenüber bewertetder im Ausland tätige Ehemann seine Ehe indirekt materiell, wenn ervorübergehend dort arbeitet. Analog wäre es eine indirekte materielleBewertung von Menschenleben, wenn die Autofirma ihre Sicher-heitsstandards den Bedürfnissen der Kunden offen entsprechendanpasst, im Unterschied zum direkt rechnenden Pinto-Fall. DieÜbergänge bei diesen Fällen sind fließend, aber das widerlegt nichtden grundsätzlichenUnterschied in zweierleiMotivation: direkte undbewusste materielle Bewertung einerseits und die Kompromissbil-dung in Form der bewusst akzeptierten materiellen Einschränkungandererseits.

Damit fällt auch die häufig mit ›deontischen‹ oder ›absoluten‹Werten verbunden geglaubte ausnahmslose Geltung weg. Eine Ent-scheidung zugunsten des Geldes in einem Wert/Geld-Konflikt mussnicht als symbolisch (direkt) zugunsten eines Gelderwerbs gelten.Beispielsweise sind Umstände denkbar, in denen man ein Kind kauftoder verkauft, etwa weil das in der Situation immer noch die besteLösung zugunsten des Kindes und damit Ausdruck der altruistischenHaltung ihm gegenüber ist. Ein Kind kaufen oder verkaufen ist alsonicht prinzipiell ausgeschlossen, glaubt man an den heiligenWert derBeziehung mit einem Kind. Oder anders gesagt: Weil der Umgangvon Geld motivational gesehen prinzipiell offen ist, sind ideelle Ver-wendungen von Geld durchaus möglich, wenn auch nicht der Re-gelfall.

Kritiker der Unvergleichbarkeit bringen den Einwand vor: Belegtder symbolische Ausdruck einer Handlung zugunsten des ideellenWerts nicht einfach nur, dass dieser Wert im Vergleich klar höher istals der Preis? Und würde das Bewusstsein der Unvergleichbarkeitnicht fordern, dass bei einer solchen Entscheidung auch gewürfeltwerden könnte, was aber alle Beteiligten in einer existenziell quälen-den Entscheidung sicher ablehnten? Eine solche Verweigerung lässtsich allerdings dadurch erklären, dass bei der Entscheidung eineKlärung des Gewichts des je einen Motivs nötig ist, auch ohne dassbeide verglichen werden können. DasWürfeln würde die Vorstellungdes aktiven Motivbildens stören, unabhängig vom Vergleichen. Für

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die Unvergleichbarkeit spricht weiter der schlichte Punkt, dass dasübergreifende ›Gute‹ in solchen Konflikten nicht materialisierbar ist.Es gleichsam, wie Regan, transzendental zu postulieren, ist nur eineandere Variante der Unvergleichbarkeit.

Aussteht die zweite Frage: Wie lassen sich heilige Werte erklären?Muss es nicht, mit dem Schwund der Religion, auch einen kulturellenÜbergang zur Vergleichbarkeit und vielleicht sogar zur durchgängi-gen ökonomischen Bewertung geben? Gibt es in unserer Kultur tat-sächlich die Ressourcen für heiligeWerte, und warum gibt es sie? DerBegriff ›heiligeWerte‹ auferlegt uns dieAufgabe, die ungewöhnlichenKonsequenzen ans Licht zu bringen, die mit vielen ideellen Werteneinhergehen. Dazu gehören insbesondere die starke Betonung vonGewissheit, Stärke, Kompromisslosigkeit, Reinheit u. ä. sowie derdaraus entspringende Widerstand gegen alternative Werte. Vermut-lich ist ein solchesWertverständnis nurmöglich vor demhistorischenHintergrund einer Religion, die in Gestalt der Idee eines einzigenGottes eine mehr oder weniger anschauliche Vorstellung von Abso-lutheit in die Alltagskultur eingeführt hatte. In der europäischenKultur ist diese Idee in verschiedenste Einzelwerte eingedrungen oderhat sich in sie übersetzt. Wir westlichen Alltagsmenschen haben sieauf das, was im Leben wichtig ist, zur wertmäßigen Steigerung desLebens übertragen. Ob das auch ohne den Gottesgedanken möglichgewesen wäre, ist schwer zu sagen.

DenKonflikt zwischen heiligen undmateriellenWerten kannmananhand der betrachteten Beispiele vor allem als Konflikt verstehenzwischen Phänomenen, die wertvoll sind aufgrund ihres Einem-zu-Fallens, und solchen, die wertvoll sind aufgrund ihrer Kontrollier-barkeit. Warum ist es nicht möglich, Freundschaft zu kaufen? Waseinem zufällt, ist nicht in demmaximalen Sinn kontrollierbar, in demGeld anwendbar ist, umGüter zu erwerben.DiejenigenGüter, die sichdem beliebigen Erwerb entziehen, sind wertvoll, gerade weil sie sichentziehen. Von daher ist auch verständlich, warum es keinenGrundwert gibt, mit dessenHilfe siemitWertenmaximaler Kontrollevergleichbar werden. Wie wollte man das Unkontrollierbare und dasKontrollierbare wertend auf einen Nenner bringen?

Dass einem etwas in den Folgen Positives ›zufällt‹, wäre dann eineErklärung dafür, dass es wertvoller ist, als wenn es kontrolliert her-beigeführt werden kann. Dieser Unterschied gilt überwiegend bei den

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›existenziellen‹Güternwie Leben, Gesundheit, Familie, Freundschaft,Glaube, Vernunft, Natur und setzt sich fort in einer Zahl von gesell-schaftlichen Praktiken und Gewohnheiten, mit denen wir Ehrfurchtverbinden. Denken wir dabei an den ladenöffnungsfreien Sonntag,das öffentliche Tabuisieren des Tierschlachtens, den Umgang mitmenschlichem Blut und Organen, den Umgang mit Sterbenden undLeichen, die Ordnung auf Friedhöfen, Verbot von öffentlichem SexundVadalisieren derNatur. Bei vielen dieser Praktikenwirkt der Sinnfür heiligeWerte in Gestalt religiösen Glaubens nach, auch bei denen,die nicht-religiös sind. Könnten sie durch die Erfahrung der unver-gleichlichen Wertes des ›zufallend Guten‹ ersetzt werden?32

Sicher: Unser je einzeln individuelles Leben haben wir so wenigerzeugt, wie wir die uns umgebende Natur nicht kollektiv geschaffenhaben. Aber trotz dieser Ausnahmen drängt die Praxis des geplantenHerstellens das Zufallen doch mehr und mehr zurück. Nicht nurGesundheit und Lebenszeit werden zunehmend kontrollierbar, auchdas zu zeugende Leben von Kindern, die Art der Partnerschaft undFamilie, die Qualität der Natur durch eine genetische Industrie.Künstliche Intelligenz könnte die menschliche Intelligenz als Vor-aussetzung für moralische Achtung entkräften. Ob sich Freundschaftund Liebe einstellen, ist nicht planbar, aber vorteilhafte Bedingungenfür beides sind es sehr wohl. Wenn die Nichtkontrollierbarkeit des-halb die einzige säkulare Erklärung für heiligeWerte sein kann, ist imVerlauf der weiteren Entwicklung der Schwund konstitutiver Un-vergleichbarkeit vorhersehbar.Die genanntenGüter sinddann immernoch sehr wertvoll, rücken aber in den Bereich des Kontrollierbarenund damit tendenziell auch der Präferenzen.

32 Bei vielen dieser Praktiken ist seit Jahrzehnten eine Diskussion über dieGrenzen ihrer Ökonomisierung im Gang, so vorrangig bei der Verteilung vonmedizinischen Gesundheitsmitteln und der Kosten-Nutzen-Bewertung der na-türlichen Umwelt. Beiden Themenbereichen liegt die konstitutive Unvergleich-barkeit zugrunde. Damit ist nicht zwingend, dass eine ›Heiligkeit des menschli-chen Lebens‹ jede Kontrolle ausschließen muss, wie etwa durch künstlicheZeugung. Insofern erweisen sich die Motive wiederum als entscheidend.

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5. Unvergleichbarkeit, Rationalität und Autonomie

Ist man kein rigoroser Vertreter der formenden Wirkung ideellerWerte, wonach alle materiellenWerte vollständig durch ideelleWertegeformt und interpretiert würden, dannwerden die ideellenWerte biszu einem bestimmten Punkt ihrerseits von den materiellen beein-flusst. Das ideelle Motiv beispielsweise, Künstler zu werden, wirdeingeschränkt durch den Zwang, überhaupt etwas zum Lebensun-terhalt zu verdienen.Wäre das Ausüben von Kunst mit einemVerbotjeden Einkommens verbunden, hätte kaum jemand die Absicht,Künstler zu werden. In der Regel verfolgen wir aber gemischteWerte,und dann beginnen von einem bestimmtenWohlstandsniveau an dieideellen Werte die materiellen zu dominieren.33 Ist dieser Zustandaber eingetreten, nimmt die Unvergleichbarkeit überhand. Parado-xerweise scheinen wir dann aus einem rational zu kontrollierendenZustand materieller Not in einen rational unkontrollierten Zustanddes ideell geformten Überflusses überzugehen.

Der eigenartige Befund ist der folgende. Wie Raz betont,34 sind dieEntscheidungen bei unvergleichbaren Werten nicht irrational, weilaufgrund der Unvergleichbarkeit der Alternativen keine Gegen-gründe gegen die je getroffene Entscheidung möglich sind. Wenn ichmich entscheiden soll, entweder Musik oder Jura zu studieren, dannist meine Entscheidung fürMusik nicht irrational, weil sich vonseitendes Jurastudiums (und seiner Folgen) kein zwingender Gegengrundentwickeln lässt. Musik und Jura sind einfach nicht wertend zu ver-gleichen.35 Dasselbe gälte, würde ich mich für Jura entscheiden. Daszeigt aber auchbereits, dass, obwohl nicht irrational, die Entscheidungdennoch in keinem stärkeren Sinn rational ist. Wir haben in diesenSituationen keine hinreichend positiven Gründe, um das eine oderandere zuwählen.WährendRaz das für problemlos hält, wirft es docheinige Fragen auf.

33 Das scheint eben das Thema der empirischen Studien Ingleharts zu sein.34 So Joseph Raz, Freedom, 339 und 388f.35 Das wird von Raz und anderen meist einfach behauptet. Berechtigt ist die

Behauptung aber wohl darin, dass die geistigen und sozialen Funktionen vonKunst und Recht so verschieden sind, dass sich kein aussagekräftiger überbrü-ckender Wert finden wird, der einen Vergleich erlaubt.

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Dieselbe Situation gilt bei sozialpolitischen Entscheidungen, so-wohl individueller wie kollektiver Art. Ob ich eine sozialdemokrati-sche oder eine liberale Partei wähle, also eher Solidarität oderSelbstverantwortung bevorzuge, lässt sich nicht aus einem Vergleichder beiden Werte rational herleiten – zumindest nicht unter ›nor-malen‹ Umständen, in denen keine materiellen Werte die Entschei-dung erleichtern. Ob eine Gesellschaft eher sozialdemokratisch ge-prägt ist, wie Schweden, oder eher libertär, wie die USA, lässt sichnicht allgemeingültig beurteilen.36WelchesUrteil wir je als einzelne indiesen Fällen treffen, ist nicht rational zu widerlegen, aber es ist auchnicht rational begründet.

Der eigenartige Befund ist nun dieser: Obwohl tatsächlich ein ra-tionales Defizit in allen diesen wichtigen Entscheidungen und Ur-teilen zu bestehen scheint – und zwar nicht vorübergehend, sondernanhaltend –, warum ist uns das im Allgemeinen nicht als Problembewusst? Die wenigsten Menschen haben ein Bewusstsein des ratio-nalen Defizits, sofern mit dem Defizit ein Gefühl des ärgerlichenMangels und Bedarfs einherginge. Und diemeisten glauben vielmehr,dass ihr Urteil völlig berechtigt ist, beispielsweise ihre Gesellschaftwäre begründet besser als viele andere Gesellschaften weltweit (»TheUSA are the greatest country in the world!«). Die meisten befindensich durchaus in Einklang mit ihren gewählten Lebenszielen undleiden nicht unter der Vorstellung, sie beruhten auf einer willkürli-chen Lotterie. Das Ausmaß dieses falschen Bewusstseins ist erstaun-lich und erklärungsbedürftig.

In Anschluss an den Kontrast zwischen ideellen und materiellenWerten lassen sich diese Beispiele noch durch solche erweitern, indenen sich jemand im Konflikt bewusst und klar für die materiellenWerte entscheidet. Jemand hat Musik und Jura studiert, und nimmtein Berufsangebot als Jurist allein des höheren Einkommens wegenan. Der Fußballstar verlässt den hochrangigen Club zugunsten einesSöldnervereins, allein des höher dotierten Vertrags wegen. Ein Poli-tiker vertritt nach erfolgreicher politischer Karriere ein ausländisches

36 Dabei kann offen bleiben, ob im Fall der gegenwärtigen USA die materiellenWerte eine rationale Entscheidung erleichtern könnten. Es lassen sich aber leichtgemäßigter libertäre Gesellschaften finden, die dennoch einen klaren Kontrast zuSchweden bilden.

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Unternehmen, ohne dass eine ideelle Begründung für diese Kombi-nation einsichtig wäre. Diesen individuellen Beispielen lassen sich,wenn auch weniger klare, ebenfalls kollektive Beispiele zur Seitestellen. In einer Gesellschaft entscheidet sich dieMehrheit derWählerfür einen libertären, im Unterschied zum bisherigen sozialen Kurs.37

Bei Unvergleichbarkeit zwischen ideellen und materiellen Wertensind diese Entscheidungen nicht rational zu kritisieren. Es scheint,dass sie der Kritik damit ganz entzogen werden.

Zu beachten ist auch, dass eine in der liberalen Theorie üblicheUnterscheidung, die zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹, nicht ge-eignet ist, das rationale Defizit in seiner möglichen Wirkung ein-zugrenzen. Das betrifft insbesondere, gegenüber den bisherigenBeispielen gesteigert, sozialpolitische Entscheidungen mit der Be-teiligung heiliger Werte. Bei ihnen herrscht ›konstitutive Unver-gleichbarkeit‹ und also ein rationales Entscheidungsdefizit, das abernicht in den privaten Bereich abgeschoben werden kann. Tretenökonomisch motivierte Kritiker des ladenöffnungsfreien Sonntagsauf, so haben sie im Vergleich ebenso rationale Gründe wie dieBewahrer des aktuellen Zustands. Rational, scheint es, kann dieserund könnten alle anderen möglichen Konflikte nicht entschiedenwerden.

Sowohl die Erklärung des als paradox geschilderten Umstands,dass ein rationales Defizit weitgehend unbemerkt bleibt, wie eineDiagnose der Möglichkeit, dem zuletzt beschriebenen ›rationalenPatt‹ zu begegnen, benötigt als Basis die eingangs angesprocheneklassische Wertetheorie und dabei insbesondere die Unterscheidungvon Werten und Wünschen. Unsere faktisch gegebenen Wünschesind in unterschiedlichem Ausmaß durch Werte ›vermittelt‹, durchsie begründet oder in der Vergangenheit korrigiert oder gestützt. Inder Regel sind uns unsere Wünsche präsenter als unsere Wertüber-zeugungen – letztere treten nur dann vor uns, wenn unsereWünschein Konflikt geraten. Wünsche werden unmittelbar und ohne An-strengung gefühlt, Wertüberzeugungen müssen abstrahiert und ko-

37 Ich binmir nicht sicher, ob sich für diesen Fall reale Belege finden lassen. Dadie Mehrheit bei dem libertären Kurs Nachteile hat, sind solche Tendenzen meistNebenfolgen einer ideell-wertgesteuerten Entscheidung, vor allem nationalisti-scher Art.

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gnitiv erarbeitetwerden.Wertüberzeugungen sind anstrengenddarin,dass sie abstrakt sind, sie gelten für eine unbegrenzte Zahl von ver-gleichbaren Situationen (sie sindUrteile). Deshalb handelnwir in derRegel ausWunsch- und seltener ausWertmotiven heraus. Außerdembilden wir unsere persönliche Identität vorrangig in Verbindung mitunseren typischenWünschen undGefühlen und nur indirektmithilfeunserer Wertüberzeugungen. Sicher werden sich Wünsche undWerte meist weitgehend in Übereinstimmung befinden, weil Wert-überzeugungen längerfristig nicht ›überleben‹, werden sie nichtdurch Wünsche aktualisiert. Aber im Konfliktfall sind es die Wün-sche, die als lebendig fühlbares Zentrum des Selbstverständnisses denAusschlag geben.

Dieses komplexe Wechselverhältnis zwischen Werten und Wün-schen hat Folgen für die Selbsterfahrung der eigenen Einstellungen alsmehr oder weniger rational. Nennen wir die Begründung von Ent-scheidungen aus (unklar wertbegründeten) Wünschen ›wunschra-tional‹ und die aus Wertüberzeugungen ›wertrational‹, dann trittentsprechend das wunschrationale Selbstverständnis in den Vorder-grund. Wir entscheiden in der Praxis vorrangig wunschrational undnur im Widerspruch und Konflikt möglicherweise wertrational.Ersteres ist vertraut und üblich, Letzteres unüblich und seltener. Dassdie Unvergleichbarkeit von Werten nicht bewusst in den Vorder-grund tritt und nicht fortwährend als existenzielles Problem auf-scheint, lässt sich dann mit der überwiegend wunschrationalen Be-gründung erklären. Wünsche sind nach Dringlichkeit vergleichbarund damit hierarchisierbar. Im Konflikt werden wir damit automa-tisch zu Ökonomen unseresWunschvorrats. Weil dieWünsche starkmit unserem Selbstverständnis verbunden sind, geht die Identifika-tion mit den getroffenen Entscheidungen meist stillschweigend ein-her. Wer sich aus Heimatgefühl für ein Urteil über sein Land ent-scheidet, bringt seine ganze, über Jahre aufgebaute Identifikation indie Entscheidungmit ein. Sie scheint ihmdeshalb völlig natürlich undvertraut, ein Defizit ist nicht fühlbar.

Es benötigt ein bewusstes Umschalten auf die Wertediskussion,damit die Unvergleichbarkeit ein Problem wird. Dabei sind zweiArten von Konflikt möglich. Als erste Art die Verweigerung desWertediskurses, als zweite die unbegründete Entscheidung für deneinenWertetyp.DerDiskursverweigerer beharrt auf demVorrang der

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Wunschbegründung. Er könnte entweder bestreiten, dass Werteüberhaupt relevant sind, oder behaupten, dassWünsche selbst Wertesind oder solche erzeugen. Der Diskursverweigerer (in diesem Sinnvon ›Diskurs‹) verweigert die Verallgemeinerbarkeit seinerWünscheauf andere. Weil er sich damit der Diskussion seines Standpunktsprinzipiell entzieht, hat er sozial gesehen zumindest in einer diskus-sionsfreudigen Umgebung einen schweren Stand. Um sich der so-zialen Marginalisierung zu entziehen, wird er stattdessen eher denWeg der Präferenztheorie einschlagen und den Wertecharakter vonWünschen behaupten. Er müsste dann von den Vorzügen der klas-sischen Wertetheorie erst überzeugt werden.

Interessanter ist dann die – aufgrund von Unvergleichbarkeit alssolcher nicht zu behebende – unbegründete Entscheidung für einenWert inÜbereinstimmungmit den einfach gegebenenWünschen. Einbestimmter Verteidiger derWerte seines Landes könnte sagen: ›Nun,meine Gefühle für mein Land sind eben meine Gründe für die Wertedieses Landes, und was ist dagegen zu sagen?‹ Ist dieser Verteidigeretwa ein erfolgreicher Unternehmer, wird er sich für eine starke Be-tonung von Freiheit als Wert entscheiden. Dabei kann er dem be-dürftigen Arbeitslosen durchaus zugestehen, dass dieser sein Be-dürfnis zurVerteidigung desWerts Solidarität erhebt, nurwird er ihmdarin nicht folgen. Die Differenz in den Wünschen wird sich in derDifferenz in den Werten fortsetzen.

EinenHinweis auf diemöglicheAntwort gibt hier derUnterschied,in welchemAusmaß einWert sich als Urteil von einem kontingentenZustand des Wunsches unterscheidet. Wie bereits betont, gilt derWert für unbegrenzt viele Fälle, während derWunsch derjenige von jeeinem ist. Warum sollte das aber ein Grund für den Wert, im Ge-gensatz vielleicht zum bequemen Wunsch, sein? Warum sollte ichaufgrund dieses abstrakten Unterschieds meinen lieb gewordenenWunsch aufgeben? Die Antwort liegt in dem, wofür ›Autonomie‹steht. Autonomie ist dabei nicht einfach einweitererWert, denn dannwäre dieserHinweis als Begründung zirkulär. Vielmehr liegt sie in derspeziellen Funktion von Autonomie, der eigenen Person gegenüberDistanz und Kontrolle zu gewinnen, was nur durch das Bewusst-

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werden oder gar Bekräftigen der eigenenWünsche nichtmöglich ist.38

Die Kontrolle ist im ersten Schritt eine kognitive Kontrolle, denn dieeigenen Wünsche werden durch eine wertende Konfrontation in ih-rem Zusammenhang und in ihren Folgen erst sichtbar. Ob man siedann akzeptiert oder ändert und ob man entsprechend handelt, istoffen. Ohne ein Bedürfnis nach Autonomie ist aber bereits der ersteSchritt nicht möglich. In den beschriebenen Auseinandersetzungenverhilft der Hinweis auf autonomes Werten zum Übergang in denWertediskurs bei denen, die ein Bedürfnis nach Autonomie spüren.Denen gegenüber, die ein solches Bedürfnis nicht wahrnehmen(können), bewirkt der Hinweis natürlich nichts.

Die positive Folge des Punktensmit Autonomie ist deshalb, dass ineiner die Autonomie schätzenden Gesellschaft Wertediskurse an derTagesordnung sind und der schlichte Bezug aufWünsche verpönt ist.Die fatale Kehrseite ist allerdings, dass dann durch das Überwiegender Werte- gegenüber den Wunschgründen die Anlässe für Unver-gleichbarkeit steigen und zunehmend Entscheidungen auf zwar nichtirrationale, aber doch ungenügend rationale Weise getroffen werdenmüssen. Schematisch ersetzt deshalb die autonome Lebensweise dierationale. Den autonomwerdenden Entscheidernwird dann zwar dasrationale Defizit bewusst, aber sie erhalten gleichzeitig das Geschenkder Autonomie. Will man es positiv sehen, ersetzen sie rationalenZwang durch spielerische Wahl, will man es negativ einordnen, sosetzen sie sich derWillkür einer Zukunft aus, die es im Rahmen ihrerplanbaren Wünsche bisher nicht gab. Und natürlich ist die Kombi-nation offen, die von den meisten instinktiv gewählt wird: die mate-riellen Ziele aufgrund ihrerWünsche zu planen, aber die ideellenZielewillkürlich und spielerisch zu ermitteln.

Im eben geschilderten Gedankengang ist ein bestimmtes Ver-ständnis von Autonomie entscheidend. Dabei entstehen vor allemzwei Hürden, erstens die Bindung von Autonomie an Werte alsEntscheidungsobjekte und zweitens die Frage des Eigenwerts von

38 Autonomie ist deshalb nicht einfach einWert, vielmehr ein dasWerten ersterzeugendes Selbstverhältnis. Das ist in der kantianischen Tradition immer schonberücksichtigt worden, indem die praktische Vernunft als Autonomie gefasstwurde. Damit wird freilich die Differenz von Vernunft und Autonomie nicht, wiebei Kant üblich, aufgehoben.

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Autonomie im Rahmen der klassischen Wertetheorie. Wer von derklassischen Wertetheorie nicht überzeugt ist, wird die Bindung vonAutonomie an Werte nicht unbedingt akzeptieren. Tatsächlichherrscht die Vorstellung vor, dass Autonomie vor allem darin besteht,unter den eigenenWünschen und Gefühlen diejenigen zu finden, dieam stärksten die ›eigenen‹ sind, und von ihnen her Entscheidungenzu treffen. Stimmen sie entsprechend überein, wären es autonome. Sowürde auch ein dezidierter Verfechter der Präferenzentheorie argu-mentieren. Tatsächlich lässt sich die Vermutung dieses Verfechters,wonach nicht in Wünschen fundierte ›Werte‹ äußerlich und darinunfrei auferlegte Zwänge sind, nicht entkräften, ohne das Heraus-bilden von Werten ausführlicher darzustellen – wozu hier nicht dieGelegenheit ist. Um diese weitere Aufgabe hier zu umgehen, reicht esvielleicht anzuerkennen, dass einwertendesKontrollieren der eigenenWünsche erweiterten Entscheidungsspielraumgibt, wie immerWerteselbst erzeugt werden. Damit ist aber eine selbst nur auf Gefühlenbasierende Autonomie ausgeschlossen.

Der Eigenwert von Autonomie gerät darin in Konflikt mit derklassischen Wertetheorie, dass nach ihm auch eine Wahl vonSchlechtem wertvoll wäre, hingegen die klassische Wertetheorie dasals pathologisch einstuft. Daraus scheinen sich zwei Auswege zu er-geben. Entweder Autonomie hat keinen Selbst-, sondern nur instru-mentellen Wert; oder die Wahl von Schlechtem ist per se nicht au-tonom.WennmanAutonomie nicht von vornhereinmit moralischerAutonomie gleichsetzt, scheidet die zweite Alternative aus. Autono-mie erhält ihrenWert deshalb nur dadurch, dass sie zu einerWahl vonAlternativen führt, die ohne sie verschlossen wären. Das ist sehrplausibel, wenn man es genauer betrachtet, was hier aber unmöglichist.39

39 Siehe Joseph Raz, Freedom, 392: »The change to marriage as a self-chosenpartnership increased personal autonomy. But it did not by superimposing anexternal ideal of free choide on an otherwise unchanged relationship. It did so bysubstituting a relationship which allows much greater room for individual choicein determining the character of the relationship for one which restricted its scope.«Eine solche Veranschaulichung der Eigenart autonomen Wählens lässt vielleichtauch bereits die Stärke in der Behauptung erkennen: »The value of personalautonomy is a fact of life.« (394), soll heißen, das Ausmaß der Möglichkeit zur

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6. Pluralismus und Konformität?

Was ergibt sich nun insgesamt durch diesen Gedankengang, der mitzwei gegensätzlichen Beobachtungen begonnen hatte, der notwen-digen Wahl zwischen unvergleichbaren Werten und der erheblichenKonformität des Verhaltens im Alltag? Die klassische Wertetheorieerweist sichmeines Erachtens als ein unverzichtbarer Schlüssel für dieErklärung dieses Gegensatzes, der ansonsten seine paradoxe Qualitätnicht aufgäbe. Soweit wir sozial konform handeln, tun wir das vor-rangig im Bereich der materiellen Werte und des Handelns aufgrundunserer Wünsche. Dem entspricht in der Gesellschaft vermutlichweitgehend das ›ökonomische System‹ oder die ›kolonialisierte Le-benswelt‹ (JürgenHabermas).Weder dieGesellschaft insgesamt nochdie individuelle Lebensplanung werden aber, zumindest aktuell, vondiesenWerten vollständig erfasst. In der Tradition unserer religiösenwestlichen Kultur sind wir uns der Gefahr eines durchgängig vonWünschen bestimmten Systems durchaus bewusst. In der Konfron-tation unserer wichtigsten Güter, darunter der engen persönlichenBeziehungen, mit Geld wird dieser Kontrast auch emotional leichtfühlbar.

Dennoch ist der zweite Teil unserer sozialen und individuellenWelt nicht von harmonischenWerten geprägt, sondern vielmehr vonWertekonflikten mit unvergleichbaren Elementen. Aus verschiede-nen Gründen sind uns diese Konflikte nicht dramatisch bewusst,sondernwerden als unweigerlich oder akzeptabel hingenommen. IhreEigenart als unvergleichbar steigert sich insbesondere, je bewusstereine Entscheidung getroffen werden muss. Je genauer wir Wertal-ternativen studieren, je unversöhnlicher scheinen sie uns entgegen.Rational sind sie nicht zu entscheiden. Paradox scheint wiederum,dass wir durch sie gewinnen, was wir ohne sie nicht haben, Autono-mie. Nur über autonom gewählteWerte können wir der Konformitätentkommen. Dieses Wählen ist nicht irrational, weil sich aus denjeweiligen Alternativen ja Gründe ergeben und weil mangels Ver-gleichbarkeit Gegengründe nicht ignoriert werden müssen.

Autonomie ist in einer Gesellschaft gegeben oder nicht gegeben, und persönlichkann sie nur ergriffen werden, wenn sie möglich ist.

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Dennoch ist diese Autonomie vielleicht nicht das, was sich vieleunter ihr vorstellen: ein kontrolliertes Übergehen in eine planbareZukunft. Vielleicht liegt es daran, dass autonomes Leben eher seltenund ein konformes eher die Normalität ist. Das gilt individuell wiekollektiv. Die sozialdemokratische Gesellschaft bietet eine möglicheKombination von beidem, Konformität undAutonomie, diesseits derExtreme eines konformenMarktes sowie Nationalismus, Sozialismusund Faschismus oder eben dem Leben von Sokrates, der endlos dieAlternativen zu wägen versucht. Autonomie als ein offenes Spiel ist indieser Kombination jedenfalls das einzige, was der Wertepluralismusund die von ihm geprägte Gesellschaft anzubieten haben.

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Christine Abbt

Mit anderen AugenZum Verhältnis von Perspektivität und Pluralismusaus differenzanalytischer Sicht

Die Veränderung der eigenen Sichtweise ist häufig das Resultat einerelementaren Erfahrung. Etwas ist passiert und lässt einen dieWeltmitanderen Augen sehen. Dabei ist in der deutschen Sprache die um-fassendeWirkung des Ereignisses in dieser Redeweise angedeutet. DieAugen sehen nicht nur verändert, die Augen selbst sind andere ge-worden. ImFolgenden steht diese Transformation von gewohntem zuneuem Sehen imZentrumder Aufmerksamkeit. »Gewohnt« bedeutetdabei hier die Fähigkeit, einen Gegenstand oder eine Sache aus ver-schiedenen Perspektiven zu betrachten, »neu« umfasst hier darüberhinaus auch die Anerkennung von Perspektivität als normativenWert. Die Frage, die im Folgenden diskutiert wird, lautet: Unterwelchen Bedingungen erwächst aus dem Vollzug von Perspektiven-wechseln und der Anerkennung von Perspektivität eine Haltung, dieder Perspektivität auch normativen, sozialen und politischen Wertzuspricht und also eine Form von Pluralismus bejaht? Die Frage nachdemVerhältnis zwischen Perspektivität und Pluralismus beschäftigtedie Philosophen und Philosophinnen der Aufklärung und fordertauch heute innerhalb der Pluralitätsforschung Antworten. Im Fol-genden wird die Frage mit besonderer Berücksichtigung der Überle-gungen von Denis Diderot reflektiert.

Begriffsverwendungen und Fragestellung

Vier Begriffe werden in den nachfolgenden Ausführungen häufigverwendet. Zur Klärung werden diese vorab erläutert.– Perspektive: Wenn nachfolgend von »Perspektive« gesprochenwird, dann wird darunter eine Sichtweise verstanden, die aufgrundbestimmter Bedingungen und Umstände zustande kommt. Dabeikann es sich 1. um eine Sichtweise handeln, die sich aufgrund eines

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unterschiedlichen Standpunkts in Bezug auf einen Gegenstandergibt, oder 2. um eine Sichtweise, die aufgrund eines bestimmtenInteresses oder Bezugs zum Gegenstand zustande kommt undandere Sichtweisen ergänzen oder konkurrieren kann, oder 3. umeine Sichtweise, die auf einer unterschiedlichen Deutung und In-terpretation desselben Sachverhalts basiert und mit anderengrundlegend in Konflikt stehen kann.

– Perspektivenwechsel: Unter Perspektivenwechsel wird hier einVerfahren verstanden, in dem jemand eine andere Sichtweise ein-zunehmen versucht. Diese Bewegung weg von der eigenen, ge-wohnten Perspektive hin zu einer neuen oder anderen kann auchals Dezentralisierung vorgestellt werden. Da die Sichtweisen vonkonkreten Menschen auf Gegenstände und Problemstellungenvielschichtig bedingt und hochkomplex verfasst sind, gelingt derPerspektivenwechsel in Bezug auf Sichtweisen anderer Personennur approximativ.

– Perspektivität: Der Begriff Perspektivität bezeichnet die Tatsache,dass jedes Sehen und Wahrnehmen perspektivisch verfasst undentsprechend an einen Standort gebundenund vielfältig bedingt ist.Mit der Verwendung des Begriffs wird angedeutet, dass es er-kenntnistheoretisch keinen absolut neutralen Standpunkt gibt, vondemaus einGegenstandbetrachtet und in seinerGesamtheit erfasstwerdenkönnte.Gemeinsam ist denTheorien vonPerspektivität dieAnerkennung, dass es nicht eine Theorie gibt, die alle Phänomenezu erklären vermag, und dass Theorien, die für die Erklärung ge-wisser Phänomene fruchtbar gemacht werden können, inkom-mensurabel sind mit anderen konkurrierenden Theorien.1

1 Paul Feyerabend etwa forderte ausgehend von der Anerkennung der Per-spektivität auch die Anerkennung pluraler Gesellschaftsordnungen ein. Dabeistand Feyerabend klar vor Augen, dass weder die Bereitschaft zum Perspekti-venwechsel noch die erkenntnistheoretische Anerkennung von Perspektivitätnotwendig auch die Wertschätzung pluraler Ordnungen inkludiert. Diese würdeeine Haltung beinhalten, die der anderen Perspektive grundsätzlich einen Wertzum Beispiel in Bezug auf die Generierung von Wissen oder angemessenen po-litischen Lösungen beimisst. Der methodologische Pluralismus bedeutet über-tragen auf ein pluralistisches Gesellschaftsmodell, dass verschiedene und auchnicht-rationale Traditionen gleichberechtigt anerkannt werden. Vgl. dazu Paul K.Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a.M. 1979, 170ff.; ders.,

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– Pluralismus: Zunächst erscheint der Begriff in deutscher SpracheEnde des 18. Jahrhunderts bei ChristianWolff und bezeichnet dorteine philosophische Position, die sich dem Monismus entgegen-setzt und von der Vielheit statt von der Einheit aus denkt.2 Heutebegegnet man dem Begriff Pluralismus vorwiegend in Texten derpolitischen Philosophie, insbesondere der Demokratietheorie.Pluralismus beschreibt dabei einerseits die Verfasstheit einer Ge-sellschaft, die Vielfalt zulässt und stärkt, darüber hinaus bezeichnetder Begriff andererseits Positionen,welche diese pluraleVerfassungvon Gesellschaften normativ auch fordern. Zwei Aspekte sind fürpluralistische Gesellschaften konstitutiv: Vielfalt und Differenzzum einen und eine oder mehrere gemeinsame identitätsstiftendeReferenzordnung zum anderen.3

Die Frage nach dem Verhältnis von Perspektivität und Pluralismus,die imFolgenden insbesonderemitBezug zuÜberlegungen vonDenisDiderot diskutiert wird, fokussiert den Zusammenhang zwischen denBegriffen 1– 3 und 4: Wie ist es möglich, dass aus dem Perspekti-venwechsel und der Anerkennung von Perspektivität auch eineHaltung erwächst, die der Perspektive des anderen zudem allgemei-nen normativen Wert zum Beispiel in erkenntnistheoretischer Hin-sicht oder mit Blick auf die Lösung anderer Probleme zusprechenlässt?

Diese Frage lässt sich orientierend deutlich abgrenzen von anderenFragestellungen der praktischen Philosophie wie etwa:Wie undwannist jemand überhaupt bereit, die Sicht eines anderen einzunehmen?Hierin liegt ein zentrales Problem. Wie kann mit jemandem ein Ge-spräch geführt werden, der partout nicht bereit ist, sich auf die

Realism, rationalism and scientific method. Philosophical papers. Volume 1, NewYork/Cambridge 1981, 139ff.; ders., Problems of empiricism. Philosophical papers.Volume 2, New York/Cambridge 1981, 65ff.; ders., Wider den Methodenzwang,Frankfurt a.M. 1986, 67ff.

2 ChristianWolff,Vernünftige Gedanken. Von Gott, der Welt und der Seele desMenschen, auch allen Dingen überhaupt (1751), Hildesheim/Zürich/New York1983 (Vorrede zu der anderen Auflage).

3 Vgl. Bert van den Brink, »Pluralismus, Wahrheit, Toleranz«, in: Hans-GeorgBabke (Hg.), Pluralismus, Wahrheit, Toleranz, Frankfurt a.M. 2011, 14ff.

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Sichtweise eines anderen auch nur ansatzweise einzulassen?4 Umge-kehrt, so die hier zur Diskussion gestellte Annahme, wird in moral-theoretischen und ethischen Ansätzen häufig zu schnell einUmkehrschluss vorgenommen: Wer seinerseits bereit ist, Perspekti-venwechsel zu vollziehen, wer bereit ist, erkenntnistheoretisch Per-spektivität anzuerkennen, der, so die Annahme, spricht unter-schiedlichen Perspektiven gleichzeitig auch normativ Wert undBerechtigung zu.An einer Stelle in derAnthropologie in pragmatischerHinsicht könnte auch Immanuel Kant so interpretiert werden. Er gehtdarin auf ein auch heute noch grundlegendes Problem ein und legtdar, wie aus einem Egoisten eine pluralistisch denkende Person wird,die sich als eine Person neben vielen anderen begreift, mit denselbenAnsprüchen und denselben Limitierungen in Bezug auf Wahrheit.Kant übernimmt den Begriff Pluralismus von Christian Wolff5, aberprägt ihn neu. Stand die pluralistische Position bei Wolff der mo-nistischen gegenüber, profiliert Kant seinerseits, wie eben erwähnt,den Gegensatz zwischen pluralistisch und egoistisch. Der Pluralistrepräsentiert dabei die favorisierte Denkungsart.

Der einäugige Egoist

DerEgoist entspricht in denAusführungen vonKant einer Person, dieihr Urteil, ihren Geschmack und ihre Zielsetzungen nicht an denenanderer prüft.6 Eine solche Person wird bei Kant als »Zyklop« be-schrieben,7 dem »noch ein Auge nöthig [ist], welches macht, dass er

4 Zum sogenannten Fundamentalismusproblem vgl. etwa Thomas Wagner,Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017; Thomas Meyer,Theorie der Sozialen Demokratie, Wiesbaden 22011, 123ff.

5 ChristianWolff,Vernünftige Gedanken. Von Gott, der Welt und der Seele desMenschen, auch allen Dingen überhaupt (1751), Hildesheim/Zürich/New York1983 (Vorrede zu der anderen Auflage).

6 Kant nennt das logischen, ästhetischen oder praktischen Egoism; vgl. Im-manuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werke in sechsBänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie,Geschichtsphilosophie, Politik undPädagogik, Darmstadt 1964, 399–690, hier 409.

7 Zum Bild des Zyklopen bei Immanuel Kant siehe Antonio Falduto, TheFaculties of Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, Berlin/Boston 2014, 76–83.

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seinen Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschensieht«.8 Genau das vermag der Pluralist. Der, um im Bild zu bleiben,zweiäugige Pluralist besitzt das Vermögen, auch die Sichtweisen an-derer miteinzubeziehen und diese in logischer, ästhetischer undmoralischer Hinsicht in Rechnung zu stellen:

»Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d.i. dieDenkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend,sondern als einen blossenWeltbürger zu betrachten und zu verhalten.«9

Egoismus und Pluralismus stehen bei Kant für zwei grundlegendverschiedene Zugänge zurWelt. Der Egoist genügt sich voll und ganz.Seine Weltwahrnehmung erschöpft sich in der eigenen, das heißt,diese totalisiert sich ihm fortlaufend.10 Die Trennung zwischen Sub-jekt und Objekt wird dabei ununterbrochen unterlaufen. Der Egoistkann insofern weder ein Verhältnis zur Welt noch zu anderen Men-schen, noch zu sich selbst aufbauen. Bemerkenswerterweise sprichtKant in Bezug auf den Egoismus an keiner Stelle von einer »Den-kungsart«. Zwar werden in derAnthropologie verschiedene Arten desDenkens vorgestellt. Ihnen allen gemeinsam allerdings ist eine Formvon Dezentralisierung, Selbsterkenntnis und intensivierte Bewusst-heit, welche dem Egoisten abgeht. Der Egoist verwirklicht, so ließesichmit HannahArendt an Kant anknüpfend formulieren, die in ihmangelegte »Signatur der Pluralität« nicht, weil ihm jede Distanz zumeigenen Lebensvollzug fehlt.11 Der Pluralist hingegen bemerkt seineStellung in der Welt. Er begreift sich als relativ zu anderen, kann sichselbst als einen unter vielen betrachten und sich entsprechend auchverhalten. Der Pluralist zeichnet sich durch eine »Denkungsart« aus,

8 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 759.9 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 410.10 Es ist diese eingeschränkte Sicht, dieÖdönvonHorváth in demMotto, das er

seinem dreiteiligen Volksstück »Geschichten aus demWienerWald« voran stellt,benennt: »Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dumm-heit.«

11 »Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Wesen im Plural, sietragen die Signatur dieser Pluralität in sich.« (Hannah Arendt, Sokrates. Apologieder Pluralität, Berlin 2016, 26).

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die je nach Betrachtungsweise als eine bescheidene12 oder als eineerweiterte13 bestimmt werden kann. Als »bescheiden« kann dieDenkungsart vorgestellt werden, insofern diese eigene Unzuläng-lichkeiten und Grenzen des Zugriffs ins Denken und Urteilen mit-einbezieht. Als »erweitert« ist diese Denkungsart zu definieren, in-sofern sie sichnicht nur vonden eigenenLimitierungen, sondern auchdurch die Fremdheitserfahrungen mit anderen und mit der anderenPerspektive herausfordern lässt. Die Denkungsart des Pluralisten istvon Erfahrungen der Vielheit geprägt, und zwar im Umgang mit sichselbst, in der Interaktion mit anderen und mit der Welt. Der ver-bindliche Pluralist anerkennt einerseits, dass solche Grenz- oderDifferenzerfahrungen für die Herausbildung seiner Persönlichkeitunabdingbar sind, und andererseits, dass diese Erfahrungen für dieDeutungendesVerhältnisses zwischen Subjekt, Gesellschaft undWeltals elementar zu begreifen sind.

Mit anderen Augen sehen

Die Fähigkeit, mit zwei Augen zu sehen und verschiedene Perspek-tiven einzunehmen, wird bei Kant in der Anthropologie sinnbildlichdamit gleichgesetzt, eine pluralistische Weltsicht zu generieren. Al-lerdings ist es gerade Immanuel Kant, der in seinen Überlegungenimmer wieder auf die grundlegende und unverzichtbare, aber ebenauch anspruchsvolle und diffizile Transformation hinweist, die einenMenschen erst kritisch, verantwortlich und urteilsfähig werden lässt.Die Fähigkeit zu Perspektivenwechsel und Perspektivität geht nichtnotwendig einher mit einer Anerkennung und Aufwertung vonPluralität als einem allgemeinen Wert. Die erkenntnistheoretischeEinsicht in Perspektivität bedeutet nicht auch gleichzeitig die nor-mative Anerkennung der anderen Perspektive als eine wünschens-werte und ernst zu nehmende.

12 Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politi-schen Denken I, hrsg. von Ursula Ludz, München 1994, 298.

13 Vgl. Selya Benhabib,Gleichheit und Differenz. DieWürde desMenschen unddie Souveränitätsansprüche der Völker im Spiegel der politischen Moderne, hrsg.von Volker Drehsen, übers. von Stefan Eich und Paul S. Peterson, Tübingen 2014.

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Mit anderen Augen zu sehen, setzt so verstanden die Herausbil-dung einer grundlegend neuen (allenfalls auch körperlich verwan-delten)Verfasstheit voraus. Dabei geht es umnichtweniger als umdieHerausbildung einer »zweiten Natur«, wie es in Texten der Aufklärerim 18. Jahrhundert heißt. Dabei gilt das Interesse etwa von DavidHume, Immanuel Kant oder Denis Diderot weniger der Frage, ob dieangestrebte Transformation empirisch tatsächlich immer stattfindetoder wie oft sie sich realisiert; es interessiert hingegen ganz grundle-gend, welche Realisierungsbedingungen für eine solche erwünschteTransformation als ambesten geeignet geltenkönnen. ZurDiskussionstehen die Bedingungen und Kriterien, etwa die Quantität, Qualitätoder Beschaffenheit des Perspektivenwechsels.

In den SittenlehrenundMoraltheorien des 18. Jahrhunderts gibt eseinen weitgehenden Konsens darüber, dass »Sittlichkeit« als Her-ausbildung einer »zweiten Natur« zu bestimmen ist. Einig ist mansich in der Folge auch darüber, dass Sittlichkeit nicht ohne einenBruch mit der Gewohnheit auskomme und dass das geeignete Mitteldazu Verfahren der Dezentralisierung umfasst wie etwa Perspekti-venwechsel, Anteilnahme, Einfühlung, Abstraktion oder Deduktion.Bemerkenswerterweise gab es bei Aufklärern wie etwa Hume, Kantoder Diderot bereits ein unterschiedlich ausgeprägtes Verständnis fürden Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik. Die Herausbil-dung einer zweiten, sittlichen Natur galt ihnen wenigstens auch alsästhetisches Verfahren bzw. künstlerisches Vermögen.14

Damit nicht-eigene Perspektiven und Ansprüche grundsätzlichebenso ernstgenommen werden etwa wie eigene, sind verschiedene,aufwendige Prozesse, Verfahren und Techniken der Dezentralisie-rung in Gang zu bringen, so der aufklärerische Tenor. Das Gewohnte,Vertraute, Eigene bildet dabei einerseits den Ausgangspunkt für dieerwünschte Transformation, andererseits aber vor allem auch einHindernis dazu. Insbesondere Kant nimmt gegenüber den Gewohn-heiten und Gewöhnungen eine abschätzige Haltung ein. Aus Ge-wohnheit gut zu handeln, ist bei Kant in der Folge auchnichtmöglich.Die Gewohnheit stellt sich der freien Urteilsbildung in denWeg.Wergewohnheitsmäßig Gutes tut, kann dafür ebenso wenig Verantwor-

14 Vgl. dazu ausführlich Thomas Khurana, Das Leben der Freiheit: Form undWirklichkeit der Autonomie, Berlin 2017.

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tung übernehmen, wie wenn jemand gewohnheitsmäßig Schlechtestut. Gedankenlose Wiederholung, so Kant, hat keinen moralischenWert:

»Aber die Angewohnheit (assuetudo) ist eine physische innere Nöthi-gung nach derselben Weise ferner zu verfahren, wie man bis dahinverfahren hat. Sie benimmt den guten Handlungen eben dadurch ihrenmoralischenWerth, weil sie der Freiheit desGemüthsAbbruch thut undüberdem zu gedankenlosen Wiederholungen ebendesselben Acts (Mo-notonie) führt und dadurch lächerlich wird.«15

Gewohnheit gefährdet, sofern sie eine Form mechanischer, physi-scher Notwendigkeit ist, sowohl die Freiheit als auch dieMoralität derfreien Handlung. Das Verharren in einer ersten, gegebenen Natur,belässt einen Menschen im strengen Sinne im außermoralischenRaum. Es wird deutlich, welche grundlegende Bedeutung Kant derHerausbildung einer zweiten Natur, die bei ihm eine übersinnlichevorstellt, zuspricht. AuchHume undDiderot, auf die ich imWeitereneingehe, teilen diese Sichtweise. Die zweite Natur gilt ihnen alsgrundlegend für das Sittliche, allerdings wird in ihren Texten derBedeutung der Sinnlichkeit bei der Herausbildung neuer Augen einenoch größere Rolle zugesprochen als bei Kant.

Perspektivenwechsel und die Herausbildung neuer Augen

Der Übernahme einer fremden Perspektive wird sowohl bei DavidHume als auch bei Denis Diderot eine wichtige moralische bzw.ethische Rolle zugeschrieben. Die Frage, wie sich solche Perspekti-venwechsel gestalten und vollziehen sollen, wird hingegen divergentbeantwortet. Ausgehend von diesen beiden Philosophen geht es imFolgenden um eine Systematisierung zweier gegensätzlicher Ant-worten auf die Frage, wie Perspektivität und Pluralismus zusam-mengedacht werden können und sollen. Während Hume oder auchRichard Rorty eine emotionale Identifikation mit dem anderen for-

15 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 439 und 440.

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dern, verlangen Diderot und jene Denker und Denkerinnen, die sichin seiner Nachfolge verstehen, eine Vertiefung der Differenz.

In beiden Varianten kommt der Kunst respektive den Künstle-rinnen und Künstlern bei diesen Verfahren eine grundlegende Rollezu. Die Kunstschaffenden sind es, die am treffendsten, am einfühl-samsten und in jeder Hinsicht radikalsten in der Lage sind, einefremde Sichtweise oder noch viel mehr, eine fremde Lebenswirk-lichkeit vorzuführen, sie sichtbar und gegenwärtig werden zu lassen.Der Schriftsteller oder die Schauspielerin etwa sindprädestiniert dazu,andere loyal darzustellen.16 Das heißt, sie sind meisterhaft darin,sichtbar zu machen, was es heißt, als ein anderer in der Welt zuexistieren. Loyal bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Per-spektive nicht verraten, bloßgestellt oder positiv oder negativ beur-teilend vorgestellt wird, sondern dass alles daran gesetzt ist, das Be-dingungsgefüge, das zu dieser Perspektive und diesem Lebensvollzugführte, kenntlich und nachvollziehbar zu machen. Es bedeutet, ver-ständlich zu machen, wie jemand zu dem Verhältnis zu den eigenenHandlungen gekommen ist. Dazu ist eine aufwändige Recherche undAnalyse all jener Faktoren, Ursachen, Einflüsse, Erfahrungen undHintergründe notwendig, aufgrund derer eine konkrete Person zu derPerson geworden ist, die sie jetzt ist.

Kunstschaffende dieser Art sind Virtuosen der Dezentralisierungund laden ihrerseits zuDezentralisierungsverfahren ein. Ihre Romaneoder Stücke oder Werke ermöglichen den Lesenden oder Zuschau-enden einen Perspektivenwechsel. Sie laden das Publikum dazu ein,sich die Perspektive eines anderen anzueignen. Je konziser, je »echter«die Inszenierung, umso besser und leichter gelingt der Einstieg in diePerspektive eines anderen, so ein Konsens. In beiden Varianten wirddavon ausgegangen, dass das Gelingen eines Perspektivenwechsels

16 Michael Hampe führt im Nachwort zu Das vollkommene Leben. Vier Me-ditationen über dasGlück, München 2009, denBegriff der »loyalen Beschreibung«ein und bezieht ihn auf das Tun der Hauptfigur Kolk: »Kolks Beschreiben ge-schieht aus einer Einstellung, die einerseits eine praktische ist und gleichzeitig sehrwohl als eine philosophische charakterisiert werden kann. Sie führt zu einer Tä-tigkeit, die sich selbstzweckhaft in der Betrachtung und Beschreibung allerStandpunkte ergeht, dabei jedoch vermeidet, einen bestimmten einzunehmen.Mankönnte dieseHaltung eine derLoyalitätmitden vielen Individuen in derWeltnennen […].« (ebd., 278).

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von der Genauigkeit einer Darstellung oder Beschreibung begünstigtwird. Je präziser, differenzierter und lebenswirklicher die Perspektiveeines anderen gestaltend nachgezeichnet wird und Ausdruck findet,umso besser kann sich die erwünschte Dezentralisierung bei einemDritten vollziehen. Dabei geht es in beiden Varianten darum, einenvorher unsichtbaren Zusammenhang zu stiften oder erkennbar wer-den zu lassen zwischen Beobachtendem und Betroffenem. Erst dieEinsicht in die Zusammenhänge, in denen die Involvierten gemein-sam stehen, stiftet, so die Vorstellung, auch so etwas wie die Aner-kennung von Gleichberechtigung, von gegenseitiger Verantwortungund Solidarität.

Pragmatische Variante: konkrete Ähnlichkeit,abstrakte Ähnlichkeit

In der pragmatischen Variante interessiert besonders jene Kunst undjenes Kunstschaffen, welche beim Publikum in meisterhafter WeiseSympathie auszulösen vermögen. Die loyale Darstellung der Le-benswirklichkeit und Perspektive einer Person ermöglicht es unterdiesen Vorzeichen im besten Fall, Ähnlichkeit zwischen den Men-schen kenntlich zumachen oder eineWahrnehmung vonÄhnlichkeitherzustellen. Die in dieserWeise gelungene Erzählung etwa schafft esnach Richard Rorty, in den Lesenden einen Prozess in Gang zubringen, in dessen Verlauf »[…] wir allmählich andere Menschen als›einen von uns‹ sehen statt (als) ›jene‹«17. Nicht allein der Romansteht dabei in der Pflicht, aber der Roman insbesondere, so Rorty.»Das ist eine Aufgabe nicht für Theorie, sondern für Sparten wieEthnographie, Zeitungsberichte, Comic-Hefte, Dokumentarstückeund vor allem Romane.«18

Ähnlichkeit zwischen den Menschen festzustellen, ist nach Rortykeine abstrakte Idee, sondern etwas konkret Erlebbares. Der Prozessließe sich in etwa so beschreiben: Jemand liest zum Beispiel einenRoman von Charles Dickens und fühlt sich dabei dem Protagonisten

17 Richard Rorty,Kontingenz. Ironie, Solidarität, übersetzt vonChrista Krüger,Frankfurt a.M. 1989, 310.

18 Ebd., 16.

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nahe. Dieser tut demLeser Leid. Das bedeutet, der Leser versteht beimLesen, warum die Hauptfigur im Roman etwa leidet. Er kann sichvorstellen, in dieselbe Situation zu geraten und dann entsprechend zuempfinden oder genauso zu reagieren. Anteilnehmend erkennt derLeser sich im anderen und umgekehrt und baut damit eine Verbin-dung zwischen sich und dem anderen auf. Kunst ist unter diesenpragmatischen Vorzeichen dann besonders gelungen, wenn sie eineemotionale Annäherung an andere ermöglicht, wenn sie Sympathieauslöst und Anteilnahme vermittelt und so die Etablierung von Ge-meinsamkeit unterstützt.

Bereits David Hume bezeichnete in der Untersuchung über diePrinzipien der Moral Sympathie, Mitgefühl (nicht Mitleid) als einVermögen des Menschen, das sich einstellt.19 Diese Sympathie brichtdie gewohnteUnterscheidung zwischen EigenemundNicht-Eigenemauf und vermittelt eine Beziehung. Sie ist Voraussetzung dafür, sichmit anderen zu solidarisieren. Humes Ausführungen machen aller-dings gleichzeitig auch deutlich, dass die Bedingungen für das Her-stellen von Ähnlichkeitsbezügen, für das Vermögen von Sympathie,auch bereits einmoralisches Urteil mit einschließt. Das bedeutet, dasssich jemand vorstellen könnenmuss, an der Stelle der anderen Personzu sein, um solidarisch zu empfinden. Ich muss tatsächlich einekonkrete Ähnlichkeit ausmachen können, damit ich den anderen inseinem Leid wahrnehme. Hume stellt das moralische Urteil über eineSituation, in welcher der andere sich befindet, als Voraussetzung fürdas Aufkommen von Mitgefühl und das Erkennen von Ähnlichkeitdar. Nur wenn wir meinen, dem anderen geschieht tatsächlich Un-recht, dann leiden wir mit.

Rorty ist in diesemPunkt optimistischer als Hume.Menschen sindfähig, einander als Leidensgenossenwahrzunehmenund festzustellen,dass andere ebenso verletzlich sind und schmerzempfindendwiemanselbst. Ähnlichkeit wird von Rorty nicht als etwas bestimmt, dasentdeckt wird oder sich einfach einstellt, sondern als etwas, das her-gestellt werden muss und kann. Der Sinn für Solidarität erwächst der»einfühlsamen Identifikation mit den Einzelheiten im Leben ande-

19 Siehe David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral,übersetzt und hrsg. von Manfred Kühn, Hamburg 2003.

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rer«20. Dieser Sinn ist bei Rorty gleichzeitig schon da und muss aberauch gebildet und gepflegt werden, damit sich das Verbindendezwischen Menschen ausdehnen und wachsen kann.

Was aber, wenn Jugendliche ein Buch wie etwaOliver Twist21 lesenund sich über den Jungen ernsthaft lustig machen, der um etwas Brotbittet und dafür in den Keller gesperrt wird? Die Vertreter und Ver-treterinnen der pragmatischen Variante sind zu Recht angetretengegen ein zunegatives, nur egoistischesMenschenbild und auch gegeneine zu abstrakte, wahrnehmungsferne Idee von Gleichheit, die eskonkret nicht gibt. Aber wenn die Etablierung von Ähnlichkeitsbe-ziehungen nur gelingt, wo bereits ein Zusammenhang wahrgenom-menwird,wo eine gewissemoralischeNähebesteht, wirft das inBezugauf Sittlichkeit,Moral und Ethik grundlegende Fragen auf.Wie lassensich Gleichberechtigung aller Menschen, Recht auf eine Stimme undAnhörung verteidigen, auch etwa jene von Terroristinnen, von Kin-derschändern und spätmodernen Sklavenhaltern? Was lässt sich ge-gen eineRassistin ins Feld führen, die keineÄhnlichkeit zwischen sichund einer anderen Person wahrnimmt? Wie kann für Grundrechtealler Menschen argumentiert und plädiert werden gegenüber Perso-nen, die sich moralisch eindeutig und ohne jeden Zweifel im Rechtwähnen und eine Ähnlichkeit mit bestimmten, anders denkendenund anders handelnden Personen ausschließen? Greift die pragma-tische Variante in Bezug auf die Herstellung konkreter Ähnlichkeitnicht zu kurz, und zwar gerade dort, wo ein Zusammenhang zwischenMenschen zu erkennen, zu denken und einzubeziehen dringendnotwendig wäre?

Die pragmatische Variante begreift den Prozess der Dezentrali-sierung gleichzeitig als einen Prozess der Annäherung oder sogarIdentifikation. In diesem Kurzschluss der beiden Prozesse gründengrundlegende Probleme, die von Hume oder Rorty meines Erachtensauch nicht gelöst werden können. Zugunsten einer Solidarität zwi-schen Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschichten, Schicksa-len, Erfahrungen und Deutungsmustern wären stattdessen folgendeFragen zu stellen: Wie lässt sich der Perspektivenwechsel als Dezen-tralisierung vorstellen, ohne dass eine Identifikationmit dem anderen

20 Richard Rorty, Kontingenz. Ironie, Solidarität, 34.21 Charles Dickens, Oliver Twist, London 1839, 15ff.

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als einem Ähnlichen vorausgesetzt wird? Wie lassen sich Dezentra-lisierung und Identifikation sinnvoll auseinanderhalten, statt diesezusammenzudenken? Ein Verfahren der Dezentralisierung, das keineIdentifikationsforderung aufstellt, kann in vielen moralisch undethisch heiklen Situationen angemessener und zielführender sein. Diedifferenzanalytische Variante, die bereits bei Diderot vorgeschlagenwird, zielt in diese Richtung.

Differenzanalytische Variante: konkrete Differenz,abstrakte Gleichheit

Die differenzanalytische Variante rückt ebenso wie die pragmatischedie Qualität eines Perspektivenwechsels in den Fokus und fragt,welche Form von ästhetischer Vermittlung besonders geeignet wäre,den Blick eines Menschen nicht nur vorübergehend zu verändern,sondern die Augen nachhaltig in neue zu transformieren. Für dieHerausbildung einer zweiten Natur bzw. eines Sehens mit anderenAugen ist der künstlerisch strukturierte Perspektivenwechsel wichtig.Auch in dieser Variante gilt der Künstler bzw. die Künstlerin als jeneInstanz, die meisterhaft dazu in der Lage ist, sich die Lebenswirk-lichkeit einer Person beinahe vollständig anzueignen und anschaulichzu machen. Eine Ähnlichkeit zwischen dem Künstler und der dar-gestellten Person oder zwischen dem Dargestellten und den Rezi-pierenden ist dabei in dieser Variante kein Kriterium. Es muss keineÄhnlichkeitsbeziehung bestehen. Im Gegenteil geht es dem Künstlerdarum, dem anderen in seiner Andersartigkeit so loyal wie möglichAusdruck zu verleihen. Der Künstler, die Schriftstellerin oder derSchauspieler sindVirtuosenderAneignung anderer PerspektivenundLebensvollzüge. Sie können alles sein. Sogar auch ein Gegenstand, einTier oder eine Temperatur, ein Gefühl oder ein einzelner Körperteil.Anders als bei der Kunst, welche auf Ähnlichkeitsbezüge abzielt, gehtes in diesem ästhetischen Verfahren darum, Differenz ganz ins Rechtzu setzen.

In einem kurzen Text von RobertWalser mit der Überschrift »DerSchriftsteller« wird dieses spezifische Vermögen des Schreibenden,alle Arten von Perspektiven und Existenzweisen übernehmen zu

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können, sich jede Lebensform aneignen zu können, wunderbar ein-gefangen:

»Er [der Schriftsteller] erlebt alles in seinen Empfindungen, er ist Kar-renschieber, Wirt, Raufbold, Sänger, Schuster, Salondame, Bettler, Ge-neral, Banklehrling, Tänzerin, Mutter, Kind, Vater, Betrüger, Erschaf-fener, Geliebte. Er ist der Mondschein, und er ist dasBrunnengeplätscher, der Regen, die Hitze in den Strassen, der Strand,das Segelschiff. […] Er ist das Erröten auf derWangeder Frau, diemerkt,dass sie liebt, er ist der Hass eines kleinlichen Hassers, kurz, er ist allesundmuss alles sein. Für ihn gibt es nur eine Religion, nur einGefühl, nureineWeltanschauung: In die Anschauung, in das Gefühl, in die Religionanderer, womöglich aller, liebend aufpassend unterzuschlüpfen. Er istmit sich jedesmal fertig, wenn er das erste schreibt, und wenn er denersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht mehr. Ich meine, das allesdarf ihn empfehlen…« 22

Der Schriftsteller wird bei Walser als einer vorgestellt, der schreibendnicht weiß, wer er ist, aber (und gerade deshalb) die Fähigkeit besitzt,sich alle möglichen Perspektiven einzuverleiben, diesen scheinbar›echten‹ Ausdruck zu verleihen. Sein Metier ist die verblüffend au-thentisch wirkende Beschreibung des Nicht-Eigenen. InWalsers Textdarf dieses Tun den Schriftsteller empfehlen, so heißt es am Ende.Dabei ist dieses Subjekt keines, das sich dezentralisiert, um dabeiÜberschneidungen mit der fremden Perspektive aufzudecken oderherzustellen, sondern eines, das sich dezentralisierend weitestgehendentleert, um das andere möglichst ganz nachzuahmen. In WalsersText wird anschaulich gemacht, was Hegel schlechthin als Merkmaldesmodernen Subjekts ausmacht, nämlich ein »subjektloses Subjekt«zu sein.23Die Faszination für diese Vorstellung des Künstlers wird seitDiderot und oft mit Verweis auf ihn in verschiedenen Spielarten re-flektiert und kommentiert: etwa als widersprüchliche Doppelnatur

22 Robert Walser, »Der Schriftsteller«, in: ders., Feuer. Unbekannte Prosa undGedichte, Frankfurt a.M. 2003, 26.

23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Vorlesungen über die Ästhetik II«, in:Werke. Bd. 14, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, 232ff.

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(Baudelaire)24, alsMenschohne Inhalt (Agamben)25, als leeres Subjekt(Lacoue-Labarthe)26, als eine nicht festgelegte Person (Marchart)27.Diderot hat diese paradoxe Situation des Künstlers (und des Men-schen überhaupt) kritisch in den Blick genommen und sie nicht nurals ästhetische, sondern vor allem als moralisch und ethisch interes-sante Form vorgestellt und reflektiert.

Die Fähigkeit des Schauspielers zur perfekten ästhetischen Nach-ahmung, die ein eigentümlich subjektloses Subjekt verlangt, findetetwa in der Schrift »Le paradoxe sur le comédien« (1773)28 eine be-merkenswerte Würdigung. Der Schauspieler kann nur in dem Maßalles sein, wie er selber nichts ist, heißt es dort. Die Unbestimmtheiteines subjektlosen Subjekts, das sich erst in der und durch Nachah-mung je neu bildet, wird in den Ausführungen von Diderot als eineArt Modell der Menschlichkeit vorgeführt. Wie ist das zu verstehen?

Die differenzanalytische Variante gründet in der Vorstellung, dassdie Anerkennung der Gleichheit zwischen denMenschen nicht durchWahrnehmung oder Empathie bekräftigt oder erreicht werden kann,sondern durch Prozesse der sinnlich angestoßenen Rationalisierung,Reflexion und Abstraktion. Diderot und nach ihmTheaterschaffendewie etwa Bertolt Brecht oder Elfriede Jelinek oder Schreibende wieRobert Walser zielen nicht auf eine Identifikation mit dem anderen,

24 Charles Baudelaire, »Vom Wesen des Lachens und allgemein von demKomischen in der bildenden Kunst«, in: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. vonFriedhelm Kemp und Claude Pichois, Band I, München 1977, 291ff.

25 »DerKünstler ist derMensch ohne Inhalt. Er hat keine andereRealität als dieeines unablässigen Auftauchens aus dem Nichts des Ausdrucks und keine andereKonsistenz als seine unverständliche Lage jenseits seiner selbst.« (Giorgio Ag-amben, Der Mensch ohne Inhalt, Frankfurt a.M. 2012, 74).

26 »[…] nur ein Wesen ohne Eigen- und Besonderheiten, das Subjekt ohneSubjekt (entfernt und abgezogen von sich selbst), ist in der Lage, überhaupt sich zuzeigen (présenter) oder herzustellen.« (Philippe Lacoue-Labarthe, »Paradox undMimesis«, Vortrag, gehalten am 1. November 1979 in Berkeley, University ofCalifornia, in: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, übers. vonThomas Schestag, Basel 2003, 11–33, 25).

27 OliverMarchart, »BeingAgitated –AgitatedBeing.Art and activism in timesof protest«, in: Robin Celikates, Regina Kreide, Tilo Wesche (eds.), Transforma-tions of Democracies: Crisis, Protest, Legitimation, London 2015, 107–127.

28 Vgl. Denis Diderot, »Das Paradox des Schauspielers«, in: ders., ÄsthetischeSchriften, Band 1, Berlin/Weimar 1967, 481–538.

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sondern auf eineRadikalisierung derDifferenz ab. DieAneignung desanderen unterliegt nicht dem Verfahren einer moralischen Annähe-rung, der Verschmelzung oder Überschneidung, sondern einemVerfahren umfassender Beobachtung und konzentrierter Nachah-mung. Das ästhetische Ziel von Beobachtung, Recherche, Analyse,Nachahmung, Aneignung und Übung ist es, das Bedingungsgefügeeines je konkreten Lebensvollzugs in den Fokus zu nehmen und dieseswiederholendmöglichst treffend zu artikulieren, hör- und sichtbar zumachen.

Diderot lässt in dem erwähnten Text über das »Paradox desSchauspielers« verschiedene Figuren über diese besondere Meister-schaft des Künstlers diskutieren. Nicht Einfühlung, so wird dort re-flektiert, sondern höchste Konzentration sei die Voraussetzung dafür,eine andere Person, ihre Art des Fühlens, des Denkens und Urteilens,ihre Gestik, Mimik, Stimme und Körpersprache möglichst loyal undtreffend in Szene zu setzen. Dezentralisierung von sich weg und An-eignung einer anderen Persönlichkeit und Perspektive ist bedingt voneiner intensiven bewussten Auseinandersetzung mit Differenz unddem nicht-eigenen Bedingungsgefüge, das eine konkrete Person zueiner anderen und fremden macht. Hinzu kommt aber noch einweiterer zentraler Aspekt. Der paradoxe Künstler, wie er bei DiderotimText über das Schauspiel als Ideal entworfenwird, ist sich in jedemMoment bewusst, nicht der andere zu sein, sondern diesen zu spielen,ihn nachzuahmen. Der Schauspieler nach Diderot vergisst sich nicht,sondern ist sich der eigenen Bedingungslage stets bewusst. Er spielteinen anderen, er ist nicht der andere. Er führt vor, was es heißt, einanderer zu sein, und auf paradoxe Weise macht er dadurch auchsichtbar, dass zwischen dem Nicht-Eigenen und dem Eigenen dieGrenze nicht absolut oder eindeutig zu ziehen ist. Radikalisierung undZuspitzung von Differenz lassen paradoxerweise die als selbstver-ständlich vorgestellte Differenz zwischen unterschiedlichen Men-schen und Lebenswirklichkeiten fragwürdig werden.

In der differenzanalytischen Variante führt Kunst nicht nur dieandere Perspektive vor, sondern sie macht darüber hinaus durchVerfahren der Verfremdung auch dieses Verfahren selbst zum Ge-genstand der Inszenierung. Dabei kommt den Formen der strategi-schen Enttäuschung des Publikums, wie etwa dem Bruch, der Zäsuroder der Verzögerung, eine bedeutsame künstlerische und auch mo-

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ralische bzw. ethische Funktion zu. Der Schauspieler bei Diderot, dernie aus dem Bewusstsein verliert, dass er nur spielt, zeigt auch demPublikum jeweils mindestens an einer Stelle, dass er soeben nur eineRolle einnimmt, dass er der andere nicht ist, sondern diesen aus-schließlich glaubhaft darstellt. Das heißt, der Spielende führt demPublikumnicht nur die anderePerspektive loyal vor, sondern auchdieparadoxe Situation, in die er sich begibt. Er macht diese paradoxeSituation, ein anderer zu sein unddieser nicht zu sein, sich zu sein undsich nicht zu sein, explizit und unübersehbar.

Der Künstler derNicht-Identität bzw. die ästhetischen Formen desNicht-Identischen, wie ich diese zusammenfassend nenne, radikali-sieren Differenz. Dies geschieht gezielt und konzentriert. Der in die-sem Verständnis gute Schauspieler strebt danach, andere täuschendecht nachzuahmen, macht dann diese Täuschung zum Gegenstandder Erfahrung und gibt damit Anlass zur Reflexion. Auf diese Weiseführt der Spielende dem Zuschauenden inmehrfacherWeise vor undlässt ihn erfahren, dass der Mensch als Mensch konkret verschiedenerscheint, dass diese wahrnehmbare Ungleichheit allerdings mitVorbehalt zu betrachten und zu problematisieren ist. Auf der Bühnewird der andere loyal dargestellt und gleichzeitig auch die Bedin-gungen reflektierend kenntlich gemacht, die jemanden zu dem wer-den lassen, was er oder sie in der Welt je ist. So wird ästhetisch beimBetrachtenden eine Erfahrung stimuliert, die auf einer ersten Ebeneauf die Eigenschaft vonMenschen hinweist, gestaltetund gestaltbar zusein, unddie auf einer zweiten undabstrakterenEbeneEinsicht in eineuniversale Unbestimmtheit des Menschseins vermittelt.

Die Erfahrung der Brüchigkeit der Grenze zwischen Ich und Du,zwischen Wir und Ihr, die der ideale Schauspieler bei Diderot denZuschauenden im Theater vermittelt, lässt sich in zweierlei Hinsichtfassen: Durch die Paradoxie zwischen Darsteller und Dargestelltemund durch jene zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer. DerSchauspieler ist er selbst und auch der andere, den er darstellt.Gleichzeitig ist der Schauspieler auch Zuschauer, der er im Theaternicht ist. Der Schauspieler muss ein guter Zuschauer sein, sonst kanner nichts zeigen. Allerdings darf er im Theater nicht Zuschauer sein,sonst gelingt seine Darstellung nicht. In denMomenten, in denen derSchauspieler dem Publikum diese Paradoxien zu erkennen gibt,macht er auf Spielräume der Gestaltung aufmerksam. Identität als

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eindeutige oder fixiertewird problematisiert. Darin artikuliert sich einzentrales emanzipatorisches Potential, welches in vielfältiger Weiseauch auf den Zuschauenden übergreifen kann und die selbstreflexiveFrage nach demVerhältnis von EigenemundNicht-Eigenem virulentwerden lässt. Wo dies passiert, etabliert sich ein Selbstverhältnis,welches Kritik und Veränderung, Verantwortung ermöglicht.

Die konkret vermittelte, künstlerisch zugespitzte Differenz zwi-schen Personen führt paradoxerweise die Gleichheit aller Menschenvor. Die konkreten Unterschiede werden als Ergebnis von konkretenBedingungen,VoraussetzungenundGestaltungswillen kenntlich.DasOffensichtliche wird in seiner Unschärfe deutlich. Gleichheit undDifferenz werden in der ästhetischen Erfahrung als eng aufeinanderbezogene Kategorien sichtbar. Der Zuschauende wird getäuscht undenttäuscht.DasOffenlegen der Bedingungen vonKunst stimuliert zurselbstkritischen Reflexion sinnlicher Annäherung oder Distanz. DerKünstler führt vor, dass jeder Einzelne gestaltet und gestaltbar ist,verletzlich und veränderlich, endlich und beeinflussbar und damitstets in einem Bezug zu allen anderen Menschen steht. Zeigen undVerbergen sind in dieser Konstellation wechselseitig aufeinander be-zogen. Es gibt sie imparadoxenRaumdesTheaters nur in der Strukturdes »sowohl als auch« oder in der Struktur des »weder noch«. Inbeiden Fällen wird eine Gleichheitsbeziehung zwischen Verschiede-nem hergestellt.

Was ist derVorteil dieses differenzanalytischenVerständnisses vonPerspektivwechsel bzw. von dieser ästhetischen Vorstellung undVermittlungsweise? Sie ist nicht davon abhängig, dass sichMenschenkonkret als Ähnliche anerkennen oder empfinden. Auch als ganzVerschiedene und Fremde gehen wir uns als Menschen alle etwas an,sind uns gegenseitig verpflichtet.

Dezentralisierung und Etablierung eines Selbstverhältnisses, wel-che als unverzichtbare Voraussetzungen für selbst-reflexive ProzesseGeltung beanspruchen können, sind in dieser Vorstellung nichtgleichgesetzt mit emotionaler Annäherung oder Verschmelzung.Empathie, verstanden als Solidarität mit anderen, ist hier das Resultateines sinnlichen, aber vor allem auch rationalen Vorgangs. Kunst, diediesbezüglich besonders interessiert, zielt darauf ab, die gewohntenPerspektiven des Zuschauenden, so viele Sichtweisen es auch seinmögen, aufzubrechen und als problematisch erfahrbar und denkbar

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werden zu lassen. »Rational compassion is enough«, heißt es aktuelletwa bei Paul Bloom.29 In einer langen differenzanalytischen Tradi-tion wird dies bereits ausführlich und in vielfältiger Weise ausfor-muliert und erläutert undgegen eineMoral undEthik ins Feld geführt,die ungebrochene emotionale Empathie als Grundlage der Sittlichkeitvorstellt.30 Neben Diderot wären hier u. a. Theodor W. Adorno, Ro-bert Walser, Jacques Derrida, Elfriede Jelinek oder Judith Butler zunennen.DieHerausbildung einer zweitenNatur, eineTransformationder Augen, die nicht nur Perspektiven einnehmen, sondern plura-listisch werden, ist nicht allein sinnlich, sondern nur im Zusam-menspiel mit einer gesteigerten Rationalität und Aufmerksamkeit,einer fortgesetzten selbst-kritischen Prüfung zu erreichen und zubegründen.

29 Paul Bloom, Against Empathy. The case for rational compassion, London2016; Fritz Breithaupt, Kultur der Empathie, Frankfurt a.M. 2017.

30 Vgl. Nel Nodding, Caring. A Feminine Approach to Ethics and Moral Edu-cation, Los Angeles/Berkeley 2003; Michael Slote, A Moral Sentimentalism, Ox-ford 2013.

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Dieter Thomä

Perspektivismus und politische StörungÜberlegungen im Anschluss an Friedrich Nietzscheund John Stuart Mill

1. Wandlungen des Perspektivismus bei Nietzsche

Ein populäres Modell des Perspektivismus – ich nenne ihn Per-spektivismus 1.0 – besagt: Jeder hat seine Sicht der Dinge, es gibt eineVielfalt von Perspektiven – und die Herausforderung besteht darin,sich mit dieser Vielfalt zu arrangieren, den Austausch und die An-näherung, vielleicht auch die »Verschmelzung«1 von Horizonten zuorganisieren. In diesem Pluralismus richtet man sich ein, wenn manan der subjektiven, transzendentalphilosophischen Wende der Er-kenntnistheorie teilnimmt und noch den weiteren Schritt vollzieht,dass die transzendentale Instanz, die die Dinge sieht, kein neutrales,reines »Ich«, sondern ein reales, unreines »Ich« ist: das Individuum.

Der frühe Nietzsche, also der Autor von »Ueber Wahrheit undLüge im aussermoralischen Sinne«, steht für diese Schlussfolgerung.Er kritisiert den Schritt vom »Intellekt«, den er – nicht anders alsHobbes – »als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums« ansieht(KSA 1, 876),2 zu einer allgemeinen Wahrheit, mit der die Vielheitdieser Intellekte durchgestrichen wird. Diese Wahrheit hat nachNietzsche – wieder nicht anders als nach Hobbes – den Zweck, dass»das allergröbste bellum omnium contra omnes […] verschwinde«(KSA 1, 877). Diese Fixierung von verallgemeinerbaren Wahrheitenführt nach Nietzsche aber keineswegs zur Wahrheit, sondern nur zueiner Lüge, zu »festen Conventionen« (KSA1, 877, vgl. 881), in denensich die Menschen häuslich einrichten. Dagegen bietet der früheNietzsche den Perspektivismus auf, der Konvention und Konsens

1 Hans-Georg Gadamer,Wahrheit und Methode [1960], Tübingen 1990, 311.2 Hier und im Folgenden zitiere ich mit dem Kürzel »KSA« Friedrich Nietz-

sche, SämtlicheWerke. Kritische Studienausgabe, hrsg. Giorgio Colli undMazzinoMontinari, München/Berlin/New York 1988.

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vermeidet sowie die Ablösung des Begriffs vom »einmalige[n] ganzund gar individualisirte[n] Urerlebniss«, »von zahlreichen indivi-dualisirten, somit ungleichen Handlungen«, von »plötzliche[n] Ein-drücke[n]« verweigert (KSA 1, 879, 881): »Nur dadurch, dass derMensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjektvergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz.« (KSA1, 883) Gegen das »Uebersehen des Individuellen und Wirklichen«(KSA 1, 880) stehen demnach die Anerkennung der schöpferischenFähigkeit von Individuen und die sich damit ergebende Vielfalt vonPerspektiven,mit denen alles, was gesagt wird, »ein höchst subjectivesGebilde« bleibt (KSA 1, 885). Man beachte, dass der frühe Nietzschedie transzendentalphilosophische Wende durchaus mitvollzieht undbeibehält, aber zu einer radikalen Pluralisierung subjektiver, indivi-dueller Weltsichten voranschreitet. Der späte Nietzsche hat dieseVersion des Perspektivismus hinter sich gelassen.

Anders als Nietzsche dies vorsieht, ergibt sich aus dem Perspekti-vismus 1.0 nicht notwendigerweise ein Programm, wonach sich dieMenschen als »künstlerisch schaffende Subjekte« betätigen.Vielmehrkann sich eine neue Bequemlichkeit einschleichen. Sie besteht nichtmehr im Sich-Einrichten in dem festen Haus der Konvention, son-dern – wie eingangs angedeutet – im Sich-Gewöhnen daran, dassjeder seine persönliche Sichtweise hat. Darin liegt weniger die Einla-dung zur Kreativität als vielmehr die Ausbreitung von Behäbigkeitund Borniertheit: Ich bin befangen, bringemich ein und sage: ›Das isteben meine Sicht der Dinge!‹ Ein solches Sich-Einrichten geht einhermit dem Anlegen von Scheuklappen. Es ergibt sich ein konstrukti-vistischer modus vivendi, ein pluralistischer Comment. Doch diesstellt nicht das Schlussbild des Perspektivismus dar, denn damit wirdman weder dem Gegenstand, den man sieht, noch der subjektivenInstanz, die sieht, gerecht. Um diesem doppelten Defizit abzuhelfen,empfiehlt sich die Hinwendung zu einer Position, die als Perspekti-vismus 2.0 zu bezeichnen ist.

Dem Gegenstand wird man mit dem bislang entworfenen Per-spektivismus nicht gerecht, weil man zu seinen vielen Facetten keinenZugang gewinnt, wenn es bei einem Arrangement zwischen indivi-duellen, jeweils begrenzten Sichtweisen bleibt. Der Perspektivismusdarf nicht nur – sozialtheoretisch – in einer Akzeptanz solcher ver-schiedener Sichtweisen bestehen, die sich mehr oder minder tolerant,

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gleichgültig oder interessiert zueinander verhalten. Mit dem Per-spektivismus verbindet sich – erkenntnistheoretisch – die Forderung,ein Ding auf vielerlei Art und von verschiedenen Positionen aus zusehen. Diese Pluralisierung ist nur durch eine eigene, innere An-strengung der erkennenden Instanz selbst zu leisten. Hier kommt nunwieder Nietzsche ins Spiel – aber der späte Nietzsche:

»Seienwir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solcheresolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen,mit denen der Geist allzulange scheinbar freventlich und nutzlos gegensich selbst gewüthet hat: dergestalt einmal anders sehn, anders-sehn-wollen ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seinereinstmaligen ›Objektivität‹, – letztere nicht als ›interesselose An-schauung‹ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist),sondern als das Vermögen, sein Für undWider in der Gewalt zu habenund aus- und einzuhängen: so dassman sich gerade die Verschiedenheitder Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnissnutzbar zu machen weiss. […] Es giebt nur ein perspektivisches Sehen,nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr Affekte wir über eineSache zuWorte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wiruns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wirdunser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein.« (KSA 5, 364f.)

Wichtig an diesen Bemerkungen ist zweierlei. Zum Ersten liegt indiesem ambitionierten Perspektivismus die Aufforderung an das In-dividuum, von sich aus viele Sichtweisen einzunehmen, sich also nichtauf eine eigene Weltsicht zu kaprizieren und sie allenfalls durch äu-ßere Rücksichten zu ergänzen. ZumZweiten geht Nietzsche an einementscheidenden Punkt über seine frühe Position hinaus: Er lässtnämlich – anders als in seiner frühenRede vom »subjectivenGebilde«– den Begriff der »Objectivität« nicht fallen, sondern nimmt ihnoffensiv für sich in Anspruch und pocht auf die Möglichkeit desZugangs zum »Objekt«. Es liegt gewissermaßen eine eigene Bor-niertheit darin, sich mit der Unerreichbarkeit eines Objekts, welchesjenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt, abzufinden. Beibehaltenwird also derKampf gegen das festeHaus vonKonventionen, aber derAusbruch aus diesem Haus führt nicht zur Feier des »künstlerischschaffenden Subjects«, sondern zu einem neuen Zugang zur Welt.

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Nicht nur dem Objekt, das man sieht, wird man nicht gerecht,wenn man sich im Perspektivismus 1.0 einrichtet, auch der Instanz,die sieht, ergeht es in diesem Modell schlecht. Wer sich nämlich inseinerWeltsicht einrichtet, tut so, als hätte er eben dies – eine einzigeWeltsicht. Oder anders gesagt: Er tut sich dies an, nur eineWeltsichtzu haben. Damit wird eine Unterstellung gemacht, die Nietzsche aufsSchärfste attackiert: die Unterstellung, der Mensch verfüge über soetwas wie eine festgefügte Identität. Der späte Nietzsche schreibt:

»Das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren (Triebe, Ge-danken usw.) sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigenKräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als egound nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen undbestimmenden Außenwelt, hinsieht. […] [Wir] machen […] instinktivdas Überwiegende momentan zum ganzen ego und alle schwächerenTriebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzesDu oder ›Es‹. Wir behandeln uns als eine Mehrheit […]. Wir verstellenuns, setzen uns in Angst, machen Parteiungen, führen Gerichtsscenenauf, überfallen uns, martern uns, verherrlichen uns, machen aus demund jenem in uns unseren Gott und unseren Teufel und sind so un-redlich und so redlich als wir es in Gegenwart der Gesellschaft zu seinpflegen. […] Was will also Egoismus sagen! Wir können innerhalbunser selber wieder egoistisch oder altruistisch, hartherzig, großmüthig,gerechtmilde verlogen sein,wehe thunoder Lustmachenwollen:wie dieTriebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort,wo gerade das Übergewicht ist.« (KSA 9, 211– 213)

Nietzsche koppelt die herkömmliche Auffassung des Ego an denEgoismus und richtet gegen diesen Egoismus den Einwand, dass esdas Ich, welches genau weiß, was für es gut ist, nicht gibt. Vielmehrzeigen sichmir immer wieder andere Seitenmeiner selbst – und diesejeweils neuen Seiten verdanken sich nicht der Schaffenskraft desSubjekts, welches kritisiert wird, sondern einer mannigfaltigen Affi-ziertheit meiner selbst durch äußere Anregungen und Aufregungen.

Die objektive und die subjektive Seite dieses revidierten Perspek-tivismus – des Perspektivismus 2.0 – greifen ineinander. So wie einDing viele Seiten hat, die ich objektiv besser erkenne, wenn ich dieinnere Bereitschaft aufbringe, Perspektiven zu wechseln und zu ver-

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vielfachen,3 so hat die Welt viel im Repertoire, was mich dazu bringtoder sogar zwingt, jeweils andere Seiten von mir zu zeigen. Ich haltedie Weiterentwicklung des Perspektivismus von der Version 1.0 zurVersion 2.0 für einen großen systematischen Fortschritt.4Mankönntediese Entwicklung auch als Internalisierung des Pluralismus be-schreiben: Man richtet sich nicht mit seiner kleinen Sicht auf dieDinge in der gesellschaftlichen Pluralität von Perspektiven ein, son-dern stößt auf diePluralität in sich selbst, steigert sie undkostet sie aus.

2. Perspektivismus, herrschender Diskurs und Abweichung

Nunwill ich einenEinwandgegendiesenPerspektivismus 2.0 erheben– und er bringtmich zumVerhältnis zwischenOrdnungund Störung,also auch zur Figur des Störenfrieds. Der Einwand besteht – kurzgesagt – darin, dass dieser Perspektivismus ungeachtet der Tatsache,dass Nietzsche ein Fanatiker des agonalen Vokabulars ist, auf einerfragwürdigen Prämisse beruht, die man pazifistisch nennen könnte.Manwandert herum, schaut etwas von hier und von dort aus an.Mantrifft mal diesen, mal jenen und zeigt jeweils andere Seiten seinerselbst. Um all dies auszukosten und zu genießen, bedarf es eines Be-

3 In diesemPunkt schließt KarlMannheim der Sache nach bei Nietzsche an. Erbemerkt, dass »es gegeneinander sich bewegende Denksysteme gibt, die letztenEndes schon im Wirklichkeitserleben auseinandergehen«, und kommt zu demSchluss, dass »dadurch […] die ›Wirklichkeit‹ immer reichhaltiger sichtbar«wird: »Nurwennmandie Teilhaftigkeit aller Standorte sieht und sie immerwiederherausstellt, ist man zumindest auf dem Wege zur gesuchten Totalität. […] To-talität bedeutet Partikularsichten in sich aufnehmende, diese immer wiedersprengende Intention auf das Ganze, die sich schrittweise im natürlichen Prozeßdes Erkennens erweitert und als Ziel nicht einen zeitlos geltenden Abschluß,sondern eine für uns mögliche maximale Erweiterung der Sicht ersehnt«; KarlMannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 2015, 87, 90, 92f.

4 Ich folge hier James Conant, Friedrich Nietzsche. Perfektionismus & Per-spektivismus, Konstanz 2014, 179–333. Bei dieser Neufassung des Perspektivis-mus greifen intra- und intersubjektiver Perspektivenwechsel ineinander. Insofernbasiert die Gegenüberstellung, die Niko Strobach in diesem Band mit Bezug aufMarkus Wilds gleichfalls hier erscheinenden Aufsatz skizziert, m.E. auf einemScheinproblem.

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wegungsspielraums. Man muss sich unbedroht bewegen können.Nochmals Nietzsche:

»Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungsloseNeugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt undPerspektive geben könnte […]. Aber ich denke, wir sind heute zumMindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrerEcke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektivenhaben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ ge-worden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sieunendliche Interpretationen in sich schliesst.« (KSA 3, 626 f.)

Diese Unendlichkeit basiert auf der Möglichkeit, eine Vielzahl vonPerspektiven einzunehmen. Sie geht einher mit einer Entspan-nungspolitik im Umgang mit dieser Vielfalt, einer Bereitschaft, sichgegenseitig zum Positionswechsel anzustiften und anzustacheln.Diese entspannte Situation deckt sichnichtmit der Standardsituation,die in sozialen und epistemischen Diskursformationen vorherrscht.Hier gibt es hegemoniale Strukturen, dominante Lesarten, mitSanktionen bewehrte Auffassungen und Verfassungen der Lebens-führung. Man weicht nicht ungestraft ab. Man kann auch nichtleichtfüßig seinen Standort wechseln – und zwar deshalb nicht, weilman von jenen Formationen im Innersten beeindruckt und geleitetist. Man hat Konventionen internalisiert. Nun ließe sich natürlichmitNietzsche sagen, dass es eben darauf ankomme, sich mit diesenKonventionen anzulegen – imGeiste derUnendlichkeit derWelt, derinnerenPluralisierungdes Ichs. Tatsächlich kommt es zudiesemSich-Anlegen mit Konventionen und zum Bruch derselben. Aber dies er-folgt nicht imModus liberaler, friedlicher Dynamisierung, sondern ineinem agonalen Modus – im Modus der Störung.

Damit gelangt man zu einem Perspektivismus 3.0. In ihn ist eineAsymmetrie eingebaut: eine Asymmetrie zwischen herrschendemDiskurs und Abweichung. Durch die Abweichung wird überhaupterst denkmöglich, dass der herrschende Diskurs nicht selbstver-ständlich ist, dass also an ihm das Perspektivische entlarvt wird, dasihm innewohnt. Man kann etwas so sehen – oder auch anders. Dieseandere Sicht steht aber unter Druck – unter dem Druck der Verfol-gung als Ausnahme- und Außenseiterposition und unter dem Druckder Rechtfertigung, mit der sie sich in dieser Position behaupten und

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den Status quo unter Druck setzen will. Es geht hier – anders als imPerspektivismus 2.0 – nicht darum, spielerisch und großzügig eineVielfalt von Perspektiven einzunehmen und die eigene Identität zuverflüssigen. Anders als im Perspektivismus 1.0 gefällt man sich aberauchnicht in der Einnahme einer persönlichenSichtweise, die in einerpluralen Welt ihren Platz hat. Vielmehr kommt es zu einer Kon-frontation, in der durchaus Entschiedenheit und Einseitigkeit gefragtist – und zwar eine Einseitigkeit, die in der Auseinandersetzung stehtund auch von der Gefährdung der eigenen Position gezeichnet ist. Esist unvermeidlich, dass damit erkenntnistheoretische und sozialphi-losophische Gesichtspunkte ineinandergreifen: Die Einnahme ver-schiedener Perspektiven steht nicht nur im Dienst einer umfassen-deren Auffassung der Objektivität, sondern führt zugleich auch zueinem Streit zwischen verschiedenen Sichtweisen, deren jeweiligeBerechtigung in Frage steht.

Verdeutlichen lässt sich die agonale Konstellation, die dem Per-spektivismus 3.0 zugeordnet ist, anhand jener großartigen Szene ausSophokles’ Tragödie Antigone, in der die Titelheldin mit ihrerSchwester Ismene darüber streitet, ob es richtig war, ihren Bruder zubegraben.Nach derVorgabe desGesetzes, das in der Stadt herrscht, istdies ausgeschlossen, denn ein Feind der Stadt Theben hat in dieserselbst nichts zu suchen, noch nicht einmal als Leiche, die in ihrenGrund versenkt wird. Dagegen ruft Antigone einen anderenWert auf– denWert derGeschwisterliebe, die Treue zumBruder über denTodhinaus. Zwei Werte, zwei Wertordnungen treffen aufeinander. Dieeine Seite ist mit politischerMacht gekoppelt, die andere Seite hat nureine einzelne, einsame Fürsprecherin. Die brave Schwester Ismenesagt: »Ich füge mich der Obrigkeit.« Antigone hält ihr den großarti-gen, paradoxen Satz entgegen, der meist so (oder ähnlich) übersetztwird: »Fromm hab ich gefrevelt«.5 Der Frevel besteht im Verstoßgegen das Gesetz der Stadt, die Frömmigkeit in der Einhaltung desGesetzes der Familie. Der Frevel steht gewissermaßen in Anfüh-rungszeichen, Antigone selbst denkt natürlich nicht, sie würde fre-veln, sondern bezeichnet damit nur, dass ihre Tat unter den herr-schenden Verhältnissen so eingestuft wird.

5 Sophokles,Antigone, übersetzt vonWilhelmKuchenmüller, Stuttgart 1955, 7,Verse 74 und 67.

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DasgriechischeOriginal nenntAntigonesTunpanourgein, also ein›Alles-tun‹. Üblicherweise wird dieses Wort – wie gerade erwähnt –mit »Freveln« übersetzt, also auf einen Schurken bezogen, der ohneRücksicht auf moralische Kriterien handelt und sich das Recht her-ausnimmt zu tun, was ihm beliebt. Thomas Hobbes schildert einsolches Verhalten anhand des natürlichen Menschen, der sich fürberechtigt hält, nach Gutdünken zu handeln.6 In dieser Rücksichts-losigkeit liegt demnach nur indirekt etwas Frevelhaftes. Die Ablösungund Befreiung von dem moralischen Urteil gegen denjenigen, dermeint, alles tun zu können, kann aber noch weiter gehen. Demnachlässt sich dieses Alles-tun nicht nur als blinde Willkür verstehen,sondern als eine Fähigkeit, sich aus vorgespurten Handlungsmusternzu befreien und all jene Optionen zu berücksichtigen und zu erwägen,die außerhalb der Region des Zulässigen liegen. Darin liegt eineenormeAufwertung des Status desHandelnden – so wie dies eben beiAntigone, die natürlich keineswegs dem Hobbes’schen Typus desnatürlichen Menschen entspricht, der Fall ist. Einige wenige Sopho-kles-Übersetzer haben deshalb darauf verzichtet, ausdrücklich vonFrevel zu sprechen: »Wenn Heiligs ist vollbracht«, heißt es bei demBerühmtesten aus dieser Gruppe, nämlich bei Friedrich Hölderlin.7

Hält man sich an die übliche Übersetzung, die immerhin für sichgeltend machen kann, der alltäglichen Bedeutung von panourgein zuentsprechen, so werden in Antigones Satz zwei Perspektiven zusam-mengepresst, die ihn zum Sprengsatz aufladen, der explodierenmuss.Es geht nicht beides: Man kann nicht freveln und dabei doch das, wasman tut, zu etwas Frommem oder Heiligem erklären. In der Tragödieist schon klar, dass diese Unvereinbarkeit ausgehalten, ausgetragenwird bis zum bitteren Ende. Zwar geht es um eine Auseinanderset-zung zwischen institutioneller Macht und individueller Entschie-denheit, aber dieWerte, die auf beiden Seiten vertretenwerden, gehenjeweils auf starke Begründungen zurück. In den meisten gesell-schaftlichenKonflikten tritt diese Spannung zwischen Institution undIndividuum gleichfalls auf, aber in ihnen ist – anders als in der Tra-

6 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. von Irving Fetscher, Frankfurt a.M. 1984,94f., 112.

7 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Martin Knaupp,München/Wien 1992, Bd. 2, 321.

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gödie – nicht klar, wie stark die jeweiligen Begründungen sind, die insFeld geführt werden.

Was von demjenigen, der die Macht herausfordert, zu halten ist,hängt auchdavon ab,wie die Spielregeln beurteilt werden, an denen ervorbeilebt oder gegen die er verstößt. Nicht erst seit Émile Durkheimweiß man: »Indessen genügt es nicht, daß es Regeln gibt; dennmanchmal sind dieRegeln selbst dieUrsache desÜbels.«8Es gibt nichtnur das tragischeAufeinanderprallen von Perspektiven, sondern auchdie Möglichkeit, den Konflikt zwischen ihnen auszuhandeln undauszutragen. Dabei sind verschiedene Ergebnisse denkbar. Es gibt dieMacht der Ordnung und die Ohnmacht der Störung – aber auch dieMöglichkeit, dass die Ordnung auf tönernen Füßen steht und dieStörung daran geht, den Ton, aus demdiese Füße sind, zu zerschlagenund die Ordnung zum Einsturz zu bringen. Der Störenfried kann ausdem Nichtmitspielen eine Tugend machen: eine Verweigerung vonKollaboration und Komplizenschaft, die die Hegemonie der herr-schenden Perspektive infrage stellt. Der Störenfried kann vernichtet,gestraft, ruhig gestellt werden. Er kann aber auch einbezogen werdenoder bereit sein mitzuspielen – ohne dabei automatisch klein beizu-geben und sein Störfeuer zu löschen. Vielmehr kann er auch versu-chen, Bedingungen für sein Mittun zu formulieren und durchzuset-zen, also eine Verwandlung der Ordnung anzustrengen. Wenn erdenn am Ende dazugehört, verschwindet er vielleicht nicht unbe-merkt in der Menge, sondern verändert deren Gesicht.

3. Perspektivismus und politische Störungnach Nietzsche und Mill

Ich möchte diese verschiedenen Varianten im asymmetrischenKampf von Perspektiven nun anhand einer ideengeschichtlichenKonstellation illustrieren, in der wiederumNietzsche eine Hauptrollespielt – aber nicht nur er, sondern auch John StuartMill. Der LiberaleMill und der Demokratieverächter Nietzsche sind, so scheint es, um

8 Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisationhöherer Gesellschaften [1893], Frankfurt a.M. 1992, 443.

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Abgründe voneinander getrennt,9 bekannt ist Nietzsches Ausspruch,Mill sei ein »typische[r] Flachkopf« (KSA 12, 362). Und doch gibt esbeim Umgang mit Abweichungen überraschende Überschneidungenzwischen beiden Autoren – und auch einen wirkungsgeschichtlichenZusammenhang. Ihn möchte ich kurz skizzieren.10

So wie Nietzsche – wie bereits zitiert – die »Conventionen« mitVerachtung straft, so attackiert Mill den »Konformismus«. Interes-santerweise verwenden sie sogar das gleiche Bild für diesen kläglichen,beklagenswerten Zustand der Gesellschaft: Es ist das Bild von den»chinesischen Verhältnissen«. Dieses Bild mag heute kurios wirken,lag aber damals nahe, denn der Westen hatte gerade mit enormemErfolg sein technologisches, kulturelles, politisches Überholmanövervollzogen und China hinter sich gelassen – ein China, das gerade imStrudel derOpiumkriege steckte.Nietzsche undMillmachen sichnunaber Sorgen darüber, dass diese chinesischen Verhältnisse auf denWesten übergreifen. Bei den Chinesen sei die »Fähigkeit der Ver-wandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben«, bemerkt Nietz-sche inDie fröhlicheWissenschaft (KSA 3, 399). Inzwischen habe sichdieses »Chinesentum« weltweit eingenistet: »Ein kleines, schwaches,dämmerndes Wohlgefühlchen«, das sich »über Alle gleichmäßigverbreitet«, sei vielleicht »das letzte Bild, welches die Menschheitbieten könnte« (KSA 9, 73; vgl. 9, 452f., 458, 547, 626; 5, 220 f., 278).

Wie kommtNietzsche auf das »Chinesentum«? Er bezieht das Bildvon John Stuart Mill. Dieser beklagt, dass »Servilität« und »chinesi-sche Erstarrung« (Chinese stationariness) auch in westlichen Gesell-schaften um sich gegriffen hätten (GW 11, 46; CW 18, 188).11 Zu

9 Vgl. z.B. David Mikics, The Romance of Individualism in Emerson andNietzsche, Athens 2003, 7–15; Louise Mabille, Nietzsche and the Anglo-SaxonTradition, London/New York 2009, 106–127; Dieter Thomä, Vom Glück in derModerne, Frankfurt a.M. 2003, 169.

10 Im Folgenden stütze ichmich teilweise auf die Darstellung in Dieter Thomä,Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, 276–288.

11 Um die Verbindung zwischen Nietzsche und Mill historisch sauber zu re-konstruieren, weise ich die Mill-Zitate nach jener Ausgabe nach, die auch Nietz-sche benutzt hat, und ergänze die Stellenangaben aus den Collected Works. Mit»GW« wird verwiesen auf John Stuart Mill, Gesammelte Werke, Leipzig1869–1886. Mit »CW« wird verwiesen auf ders., Collected Works, Toronto/London 1963–1991. – Die Warnung, dass Europa ein »zweites China« werdenkönnte, findet sich auch an anderen Stellen bei Mill; vgl. GW 1, 72, 74f.; CW 18,

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finden ist diese Klage inMills Besprechung vonAlexis de TocquevillesWerk Über die Demokratie in Amerika, das in zwei Bänden 1835/40erschien. Nietzsche hat Mills Besprechung in der deutschen Ausgabevon dessen Gesammelten Werken gelesen und mit zahllosen An-streichungen versehen – unter anderem eben an der Stelle, an der vonden chinesischen Verhältnissen die Rede ist. Ebenso genau liestNietzsche auch Mills Abhandlungen Civilisation von 1836 und OnLiberty von 1859.12

Wenn Nietzsche die Ausbreitung chinesischer Verhältnisse imWesten geißelt, verschweigt er seine Quelle, unterschlägt also dieunbequeme Verwandtschaft mit einem Liberalen. Hinzuzufügen ist,dass beide –Nietzsche undMill – sich dabei auf eine Beobachtung desgenannten Alexis de Tocqueville stützen. In China herrsche, so sagtTocqueville, eine »merkwürdige Erstarrung«, die auf ein Erlahmendes geschichtlichen, generationalenWandels, einenVerlust kritischenPotentials und eine blinde Anhänglichkeit an die bestehende Ord-nung zurückzuführen sei. Nach Tocqueville sind »die Menschen derDemokratien« dabei, zu »Chinesen« zu werden: »Ihre Jugendkraftschwindet und ihre Einbildungskraft verkümmert […]; und sind sieendlich einmal so weit, außerordentliche Dinge tun zu können, sohaben sie die Lust dazu verloren«. Er gelangt damit zu einer Gegen-überstellung zwischen »kleinmütigen und schlaffen Bürgern« auf dereinen Seite und einem »tatkräftigen Volk« (peuple énergique) auf deranderen Seite.13

In dieser Gegenüberstellung ist das Schema des asymmetrischenPerspektivismus vorgebildet, das nun von John Stuart Mill und

271, 274. Er wettert gegen diejenigen, die sich damit begnügen, »Gehorsam gegendie Gesetze und die Regierung« zu pflegen und als »eine Heerde Schafe […], diefriedlich neben einander weiden«, zusammenzuleben; GW 8, 50; CW 19, 412.Diese Stelle ausConsiderations on Representative Government, die Nietzsche nichtgekannt hat, passt zu dessen bösem Bild vom »Weide-Glück der Heerde«; KSA 5,61 (Jenseits von Gut und Böse).

12 Nietzsche Leseexemplare der Gesammelten Werke Mills sind über den Ka-talog der Klassik Stiftung Weimar online zugänglich. Zum China-Bild bei Toc-queville, Mill und Nietzsche vgl. Maria Cristina Fornari, Die Entwicklung derHerdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill, Wiesbaden 2009, 216–232.

13 Alexis de Tocqueville,Über die Demokratie in Amerika [1835/1840], Zürich1987, Bd. 2, 71, 362, 480.

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FriedrichNietzsche auf unterschiedlicheWeiseweiterentwickeltwird.Es wird sich zeigen, dass beide Autoren ein gutes Stück Weges ge-meinsam gehen und an einem springenden Punkt zu unterschiedli-chen Schlüssen kommen – nämlich an dem Punkt, an dem es um dieBeurteilung der abweichenden, dissidenten Perspektive kommt. Umdiese Konstellation wirkungsgeschichtlich und philologisch saubernachzuzeichnen, halte ich mich im Folgenden nur – oder fast nur,nämlichmit einer gleich zu erwähnendenAusnahme – anMill-Zitate,die in Nietzsches Ausgabe von dessen Gesammelten Werken ange-strichen worden sind.

In On Liberty beklagt Mill das Verschwinden jener »Männer vonstarkem Körper und Geist«, die in »frühen Stadien der menschlichenEntwicklung« kaum im Zaum zu halten waren und deren »Aufleh-nung« (rebellion) von der »Macht« des »gesellschaftliche[n] Prin-cip[s]« mit »Gesetz und Zucht« in »hartem Kampf« besiegt werdenmusste (GW 1, 62; CW 18, 264). Mill stattet diese »Männer« nichtnur mit einem »starken Körper«, sondern auch mit einem »starkenGeist« aus. (ImHintergrund steht hier eine umfangreiche GeschichtedesUmgangs der politischen Philosophiemit demStörenfried, die ichin meinem Buch Puer robustus rekonstruiert habe. Die Titelfigurdieses Buches bezieht ihren Namen von Thomas Hobbes, der denStörenfried eben als puer robustus, als Mann von gefährlicher Kraft,aber einem kindischen Sinn oder einem »Mangel an Vernunft« be-zeichnet.14 Wenn John Stuart Mill nun dem Rebellen einen »starkenGeist« zuschreibt, wendet er sich der Sache nach gegen Hobbes, derim Regelbruch nur eine Dummheit sehen kann.)15

Die Rebellion von altem Schrot und Korn ist nach Mill durch ein»Nachlassen individueller Thatkraft« zum Erliegen gekommen –»oder vielmehr« durch »ihre ausschließliche Beschränkung auf denengen Kreis derjenigen Bestrebungen des Individuums, die auf

14 Thomas Hobbes, VomMenschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, hrsg. Günter Gawlick, Hamburg 1994, 69.

15 Mill erwähnt den puer robustus, wenn auch nur beiläufig, in der französi-schen Zusammenfassung einer Vorlesung »Traité de Logique«, die er als Vier-zehnjähriger in Montpellier gehört hat (CW 26, 188). Bei Tocqueville wird derpuer robustus an mehreren zentralen Stellen diskutiert; vgl. Dieter Thomä, Puerrobustus, 250, 266.

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Gelderwerb gerichtet sind« (GW 10, 14 f.; CW 18, 129).16 Die kapi-talistische Gesellschaft hat den Störenfried also gezähmt und einge-bürgert, und dagegen legt Mill Protest ein. Die träge gewordenenMenschen tun allerlei, »weil es gewöhnlich gethanwird«, handeln alsoeigentlich gar nicht, sondern funktionieren als »Automate[n] inMenschengestalt«. Sie pflegen nach Mill die »Gleichförmigkeit«(conformity) und meiden die »Excentricität« wie ein »Verbrechen«(GW 1, 59 f., 62 f.; CW 18, 262 f., 265):17 »Daß heutzutage so wenigeMenschen es wagen, excentrisch zu sein, deutet auf die Richtung hin,in welcher die Hauptgefahr für unser Zeitalter liegt.« – »Allein dieseWenigen sind das Salz der Erde; ohne sie würde das menschlicheLeben einem stehenden Sumpfe gleichen. […] Wenn sie […] einenstarken Charakter besitzen und ihre Fesseln sprengen«, so mag dieGesellschaft warnen vor deren »wilder Verwirrung« (›wild,‹ ›erratic,‹and the like), dies tut sie aber »mit demselben Recht, mit dem mansich über den Niagara beklagen könnte, daß er nicht gleich einemholländischenCanal ruhig in seinemBett dahinfließt«.Mill hält nichtsvon den »Reformatoren der Gesellschaft« (social reformers), die inden Exzentrikern nur ein »störrisches Element des Widerstands«(rebellious obstruction) erblicken (GW 1, 69, 66 f., 58; CW 18, 269,267 f., 261).

Im Anschluss an die Kritik des Konformismus wendet sich Millnun der Störung als politischem Akt zu. Mills Überlegungen sindimponierend, kommen dann aber ihrerseits an eine Grenze, über dieNietzsche hinausgeht. Der politische Störenfried legt sich mit demStaat an. Als Exzentriker hadert er nicht nur mit sich selbst oderirgendwelchen Zeitgenossen, sondern mit dem Zentrum. (Um diese

16 Die Menschen sind, wie Mill in einem handschriftlichen Zusatz zu seinenPrinciples of Political Economy schreibt, befangen in der »Leidenschaft derer, diesonst keine andere haben […] – dem Bedürfnis, reicher zu werden« (CW 2, 104).

17 Mills Rede vom Menschen als Automaten hat einen privaten Hintergrund.In seinerAutobiography und in den Entwürfen dazu berichtet er, in jungen Jahrenhabe man in ihm »a ›made‹ or manufactured man«, also eine Marionette seinesrigide erziehenden Vaters, gesehen. Er sei willig gewesen »to follow the lead ofothers«, ihm habe es an »spontaneity« gemangelt und er sei nicht als »energetic«Charakter aufgetreten; vgl. CW I, 163, 613, 39; vgl. Terence Ball, »The Formationof Character. Mill’s ›Ethology‘ Reconsidered«, in: Polity 33:1 (2000), 25–38, hier34f.

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Position Mills zu verdeutlichen, halte ich mich an seine Schrift Uti-litarianism von 1861 und verwende – das ist nun die gerade erwähnteAusnahme, die ich mir erlaube – Zitate, die von Nietzsche nichtangestrichen worden sind.) »Das Gesetz […] kann ein schlechtesGesetz sein«, bemerktMill – unddies fordert zumWiderstandheraus.Zu denken ist dabei etwa an die Rechte des Ehemanns über dieEhefrau, gegen die Mill zusammen mit seiner Freundin und späterenFrau Harriet Taylor angeht. Mill kritisiert aber auch die Eigentums-rechte im Kapitalismus, die zu »socialen Ungleichheiten« führen,deren »Ungerechtigkeit« er als »tyrannisch« bezeichnet. Umgekehrtheißt dies, dass die »Geschichte des socialen Fortschritts« in»Uebergängen« besteht, in denen Grundsätze, die als selbstver-ständliche, »elementare Bedingung des socialen Daseins« gelten, an-gegriffen undüberwundenwerden.Dies ist nunder Punkt, an demdieKonfrontation zwischen verschiedenen Perspektiven nicht nur tra-gisch verstanden wird, sondern in eine dynamische Betrachtung ge-sellschaftlicher Veränderung mündet. Der Fortschritt kommt nachMill gerade auch durch die »Gesetzesverletzung« in Gang. Dies istdeshalb bemerkenswert, weil in ihr nicht nur ein Affront gegen denStaat liegt, vielmehr müssen sich dadurch auch Individuen, die sub-jektiv für sich bestimmte Rechte oder Vorrechte beanspruchen, ver-letzt fühlen. Die Verteidigung der »Gesetzesverletzung« steht also ineinem Spannungsverhältnis zu Mills liberalistischem Gebot, anderenicht zu verletzen. Gleichwohl meint er: Gegen »verderbliche Insti-tutionen« ist der Rechtsbruch oft die »einzige Waffe«, die »einigenAussicht auf Erfolg« hat; gerade die »ausgezeichnetsten Wohlthäterder Menschheit« haben sie eingesetzt (GW 1, 199, 176; CW 10, 258,242). Wie Mills Beispiele zeigen, können solche Störungen auch ineinerOrdnung auftreten, die sich demokratisch nennt, sie richten sichgegen den Despotismus in all seinen Formen, auch gegen die »Ty-rannei der Gewohnheit«, der »Mehrheit« und der öffentlichen»Meinung« (GW 1, 4, 69, 73; CW 18, 219, 272, 274).18 (Hier und beiallen folgenden Zitaten halte ich mich wieder an Passagen, dieNietzsche angestrichen hat.)

18 Dass Mill die Wendung »Tyrannei der Mehrheit« von Tocqueville über-nimmt, wird in der Rezension von dessenDemokratie-Buch deutlich (GW 11, 32;CW 18, 177).

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Mill will den politischen Raum nicht als »Republik ohne Kampf«(Tocqueville)19 ruhigstellen, sondern tritt an die Schwelle zurück, vonder aus Regeln infrage gestellt werden können. Dort findet nicht nurein Ritual zum Eintritt in eine geordnete Gesellschaft statt, sondern esergibt sich eine immer wieder neu zu durchlaufende Schlaufe derKritik und der Konfrontation. Wenn »nothing was ever yet donewhich some onewas not the first to do«, wenn »noch nie etwas gethanward, ohne daß Jemand damit den Anfangmachte«, wieMill schreibt(was Nietzsche wiederum zur Anstreichung veranlasst; GW 1, 67;CW 18, 268), dann ist jeder Regel- oder Rechtsbruch ein Schritt ohneSeilschaft. Es liegt im Wesen dieses antichinesischen Neuerers, Re-bellen oder Störenfrieds, dass er über die Stränge schlägt, ausbrichtund nicht schon gleich aufbaut. Dies macht ihn fehlbar und angreif-bar, schützt ihn aber auch vor der Anmaßung, sich zum Bauchrednereiner besseren Welt aufzuschwingen, die es noch gar nicht gibt undvon der er keine sichere Vorstellung hat.

WeilMill den Störenfried so großzügig willkommen heißt,muss ersich fragen, wiemit demStörenfried impolitischenRaumumzugehensei. Mills Antwort auf diese Frage erfolgt in zwei Schritten: einergroßen Willkommensgeste und einer Einschränkung. Zunächstwünscht er sich einen Vertrauensvorschuss für den Störenfried, dersich von jeder schulmeisterlichen Beurteilung frei hält : »Das bloßeBeispiel einer Eigenartigkeit [nonconformity], die bloße Weigerung,vor der Gewohnheit das Knie zu beugen, [ist] schon an sich einVerdienst.« (GW 1, 69; CW 18, 269) Statt die konformistischen»Automaten«, die als moralische Wesen abgedankt haben, zu Rich-tern über den Störenfried zu befördern, will Mill ihn großzügig miteinem Gütesiegel versehen. Die Konformisten müssen den Stören-fried nicht nur aushalten, sondern willkommen heißen.

Bei dieser pauschalen Öffnungsklausel wird es Mill aber ein biss-chen unheimlich – und zwar deshalb, weil damit die Unterscheidungzwischen destruktiver und konstruktiver »Weigerung« eigentlichunter den Tisch fällt. Dabei lehrt ihn die Erfahrung, dass es nur»Wenige« gibt, deren »Versuche [experiments] sich als eine Verbes-serung bestehender Uebungen zur Annahme empfehlen können«

19 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, 592.

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(GW 1, 66; CW 18, 267).20 So beeilt er sich, seine Willkommensgesteeinzuschränken und einKriteriumanzugeben, an demmanden gutenStörenfried erkennen kann. Es besteht am Ende doch in der – wieauch immer zögerlichen oder verspäteten – Annahme oder Aner-kennung durch andere.21DerNonkonformist muss sich irgendwie alsnützlich für die Gesellschaft erweisen. Mill liegt daran, ihn zu reha-bilitieren und zugleich dessen Verhältnis zur gesellschaftlichen Ord-nung zu entspannen.

Hier eben stößtman beiMill auf eine Unschlüssigkeit. Es stellt sichkurz gesagt die Frage, wer wen über den Tisch zieht. Wird der Kon-formist durch die »Annahme« oder Aufnahme exzentrischer Anre-gungen zu einer Veränderung seines eigenen Lebens bewegt, beweister damit also seine Bereitschaft, sich selbst aufzustören? Oder werdendie Exzentriker von irgendwelchen Vertretern des Establishmentsschulmeisterlich auf den Prüfstand gestellt, so dass manche Experi-mente großzügig akzeptiert, andere totgeschwiegen oder verbotenwerden? Mill lässt diese Alternative in der Schwebe.

Es gibt ein Modell des Störenfrieds, das über Mills Schwankenzwischen Einbeziehung und Ausgrenzung hinausgeht und mit demmoralischen Konsens bricht, den er immer wieder neu herstellen will.Vertreten wird dieses radikaleModell von FriedrichNietzsche. Er war– wie gesagt – bislang schon im Spiel, weil ich mich fast nur auf Mill-Zitate gestützt habe, die er in seinem Leseexemplar angestrichen hat.Nun ist es Zeit, Nietzsche selbst zu Wort kommen zu lassen.

Nietzsche liest Mill keineswegs nur mit spitzen Fingern, vielmehrgibt es zu vielen der hier angeführten Mill-Zitate Entsprechungen inNietzsches Schriften. Als prominentes Beispiel taugt, wie bereits er-wähnt, die These von der Ausbreitung chinesischer Verhältnisse im

20 Vgl. zur Kritik DavidMikics, The Romance of Individualism in Emerson andNietzsche, 11: »For Mill, profit can only be assessed in terms of the eventualprospect of broad social acceptance. InMill extremes must be policed, rather thanfostered as in Emerson andNietzsche […]. But without injury difference becomesindifferent.«

21 Mill sagt an einer Stelle, die Nietzsche nicht anstreicht, »daß es von Wich-tigkeit sei, den nicht gewohnheitsmäßigen Dingen einen möglichst freien Spiel-raum zu gewähren, damit sich im Laufe der Zeit herausstellen könne, welche vonihnen es verdienen, in Gewohnheiten verwandelt zu werden« (GW 1, 69; CW 18,269).

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Westen. So wie Mill den chinesischen Verhältnissen die »individuelleThatkraft« der Männer von starkem Geist und Körper entgegensetzt,so konfrontiert nun Nietzsche die »schwachen, ihrer selber nichtmächtigen Charaktere« mit den »volle[n], mit Kraft überladene[n],folglich nothwendig aktive[n] Menschen«, den »zauberhaften Un-fassbaren und Unausdenklichen« (KSA 3, 530f.; 5, 272, 121): »DerMensch verändert sich noch – ist im Werden.« (KSA 9, 458) Dieseswerdende Leben wird von Nietzsche – genau wie von Mill! – als»Experiment« ausgelegt und ausgelebt (KSA 3, 274; vgl. 13, 492).22 Esenthält eine Spitze gegen die Moral des Status quo: »Der gefährlicheund unheimliche«, für Nietzsche aber anziehende »Punkt ist erreicht,wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alteMoralhinweg lebt« (KSA 5, 216). Der Störenfried schickt sich an, die Herdeder letzten Menschen auseinanderzujagen.

Es ist klar, wie dieser Störenfried vom Status quo aus moralisch zubewerten ist: Wer »eine neue Strasse« einschlägt, muss mit »höch-lichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte« rech-nen. Ihnen gilt er als »böse« (KSA 3, 23; vgl. 5, 274). Der erste derfolgenden zwei Sätze – er stammt von Mill und wird von Nietzscheangestrichen – klingt fast identisch wie der zweite aus NietzschesFeder:

»Wenn […] das Leben auf einen nahezu gleichförmigen Typus zu-rückgeführt ist, dann werden alle Abweichungen von diesem Typusbereits auch als ruchlos, immoralisch, ja sogar als ungeheuerlich undnaturwidrig erscheinen.« (GW 1, 77; CW 18, 275)

»Jemehr dasGefühl derEinheitmit denMitmenschenüberhandnimmt,um somehrwerdendieMenschenuniformirt, um so strengerwerden siealle Verschiedenheit als unmoralisch empfinden.« (KSA 9, 73)

Wer sich auf die Seite des Störenfrieds stellt, ist versucht, den Spieß derBeurteilung einfach umzudrehen und ihn – mit einem über-

22 Dass Nietzsches Leben als Experimentieren mit Mills »experiments of liv-ing« übereinkommt, aber eigentlich auf Emersons »I am only an experimenter«zurückgeht, sei hier wenigstens erwähnt; vgl. Dieter Thomä, »Jeder ist sich selbstder Fernste. Zum Zusammenhang zwischen personaler Identität und Moral beiNietzsche und Emerson«, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), 316–343, hier 335.

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schwänglich gestimmten Mill – als Wohltäter zu begrüßen. Die fol-gendePassage ausNietzschesMorgenröthewirkt (nur!) auf den erstenBlick gleichfalls wie eine Variante auf Mill :

»Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mitder die Menschen alle Jene bedacht haben, welche durch die That denBann einer Sitte durchbrachen, – im Allgemeinen heissen sie Verbre-cher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerstimmer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam,hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zu-frieden gab, so veränderte sich das Prädicat allmählich; – die Geschichtehandelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutge-sprochen worden sind!« (KSA 3, 33; vgl. 2, 413; 3, 532 f.; 5, 274)

Aus dieser Passage ergibt sich aber die entscheidende Differenz zwi-schen Mill und Nietzsche. Letzterer freut sich nicht über die nach-trägliche Gutsprechung, sondern will das Misstrauen an diesemWechselspiel der Urteile insgesamt wecken. Weder gönnt er einerbestehenden Ordnung das Gütesiegel der Moral, noch lässt er denAußenseiter dieses Gütesiegel erwerben. Es geht ihm nicht nur umeineUmdeutung des Bösen ins Gute, sondern um eine grundsätzlicheInfragestellung des Einsatzes moralischer Prädikate. In Zur Genea-logie der Moral heißt es: »Wir haben eine Kritik der moralischenWerthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Fragezu stellen.« (KSA 5, 253)

Der zentrale Punkt dieser »Kritik« bezieht sich auf das Verhältniszwischen Moral und Macht. Nietzsche macht darauf aufmerksam,dass die Moral als Gesamtheit von Geboten und Gesetzen nicht alsHort desGuten neben der kaltenWelt derMacht steht, sondern an ihrselbst teilhat. DieMacht zeigt sich in diesem Fall in der Allgemeinheitvon Gesetzen und überhaupt von »Begriffen«, die für Gleichmachereioder »Gemeinheit« sorgen (KSA 5, 221). Es wird eine »Maschinerie«der »Generalisation« in Betrieb genommen, die »eine grosse gründ-liche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung« produziert (KSA5, 324; 3, 593).

Diese Moralmacht, die alle Menschen zum Gehorsam zwingt, hatden paradoxen Effekt, dass sich die Menschen in passive Befehls-empfänger, in Opfer verwandeln und damit als moralische Instanzenverschwinden. Unabhängig vom Inhalt irgendeines Gesetzes liegt

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demnach in dessen Form selbst ein moralisches Problem: ein »Hassgegen das Menschliche«, ein »Widerwillen gegen das Leben« (KSA 5,412). »Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte,dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Per-sönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr« (KSA 3, 577). Mitdiesem Mangel an Person wird letztlich die »Moral mit abgeschafft«(KSA 5, 123). Die Gesellschaft verwandelt sich in einen »Staat«, der»das kälteste aller kalten Ungeheuer« ist und »wo der langsameSelbstmord Aller – ›das Leben‹ heisst« (KSA 4, 61 f.).

Man beachte die Pointe von Nietzsches Argument: Es geht ihmnicht um die Geste der Desillusionierung, dass hinter derMoral dochnur die Macht steckt. Er beschreibt vielmehr ein spezielles Junktimvon Macht und Moral, das an den Anspruch auf Allgemeinheit oderGemeinheit gebunden ist, und zeigt, dass dieses Junktim denwahrhaftHandelnden demontiert und damit auch die Moral kollabieren lässt.Der Vorwurf gegen den Außenseiter, er sei unmoralisch, wird damitganz kraftlos, denn diejenigen, die sich an die Regeln halten, sindselbst nicht moralisch, sondern leben als gut funktionierende Auto-maten vor sich hin. Keineswegs lacht Nietzsche dieser sich abschaf-fenden Moral nur hämisch hinterher. Bei allen martialischen Tönenist Nietzsche, wie er in Ecce homo beteuert, »kein Moral-Ungeheuer«(KSA 6, 257). Wichtig ist seine Moralkritik nicht, weil sie die Moralerledigt, sondern weil sie sie unter Druck setzt. Ich verstehe – undverteidige – seine Position als immanente Kritik, als Anspruch aufeine andereMoral. So bezeichnet er die »Heerdenthier-Moral« als eine»Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der vieleandere, vor Allem höhere Moralen möglich sind und sein sollten«(KSA 5, 124). »Die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und bes-serer Sitten entgegen: sie verdummt.« (KSA3, 32)Die andere Sitte, die»moralinfreie Tugend« (KSA 13, 21), für die der Störenfried steht,bewährt sich darin, dass sie das Individuumnicht im reaktivenModusdes Gehorsams festhält, sondern dessen Macht schätzt. Gesucht isteine Alternative zur »Entselbstungs-Moral«, die sich an »das Gesetzund die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam« klammert(KSA 13, 604; 3, 532).

Es liegt nahe, der »Entselbstung« einfach »Selbstverherrlichung«entgegenzusetzen. Leider kommt Nietzsche tatsächlich zu diesemSchluss: »Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend,

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sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen […]: eine solche Moralist Selbstverherrlichung« (KSA 5, 209). Diese Herrlichkeit sollte manfreilich mit Vorsicht genießen. Wie der Mensch nicht an einer an-deren »Person« oder an einem »Vaterlande hängen bleiben« darf, sodarf er nach Nietzsches eigenem, von ihm selbst nicht immer be-folgten Hinweis aus Jenseits von Gut und Böse »nicht an seiner eignenLoslösung hängen bleiben« (KSA 5, 59). Das heißt: Der Vertretereiner anderen Sitte protzt nicht damit, auf der sicheren Seite zu seinund über eine Sonderstellung oder einen Sonderwillen zu verfügen.Damitwürde er demüberindividuellen Einvernehmennur plumpmitindividueller oder egozentrischer Selbstgefälligkeit entgegentreten –also sich mit der eingangs geschilderten Position des Perspektivismus1.0 zufrieden geben.Weil sich darin immer auch einWiderwille gegenandere verbirgt, droht hier die verkappte Abhängigkeit von ihnen,also das in Zur Genealogie derMoral sezierte »Ressentiment« (KSA 5,311).

An die Stelle der missverständlichen »Selbstverherrlichung« sollteman lieber jene »Selbstüberwindung« setzen, die Nietzsche als seine»stärkste Eigenschaft« hervorhebt (KSA 10, 112). Erst dann nämlichist eine plausibleGegenposition zurMoral desGesetzes bezogen:Manverzichtet darauf, als Gesetzgeber seiner selbst aufzutreten, man be-gibt sich an die Seite des von Nietzsche bedichteten »ColumbusNovus«, der als »Heimatlose[r]«, als Vertreter des »geistigen No-madenthum[s]« unterwegs bleibt (KSA 10, 34; 3, 628; 2, 469).23

Man könnte meinen, hier werde das romantische Bild einesMenschen gezeichnet, »der das Meer, das Abenteuer und den Orientkennt« (KSA 3, 532) und seine Extravaganzen genießt. Doch in derMorgenröthe zerstörtNietzsche dieses Bild undbenennt denPreis, derfür dieses Leben zu entrichten ist: Es ist nicht nur von äußerer Un-sicherheit, sondern auch von innerer Verunsicherung gezeichnet:

»Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregtSchauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, aus-gesuchteren, ursprünglicherenGeister imganzenVerlauf derGeschichtedadurch gelitten haben müssen, daß sie immer als die bösen und ge-

23 Zur Theorie des Nomadentums bei Nietzsche und Emerson vgl. DieterThomä, »Jeder ist sich selbst der Fernste«, 335–342.

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fährlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden.«(KSA 3, 24)

»Allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahinzog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zugeben, blieb,wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, Nichts übrig, alssich wahnsinnig zu machen oder zu stellen, – und zwar gilt diess für dieNeuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen undpolitischen Satzung.« (KSA 3, 27)

Nimmt man diese Verunsicherung des Außenseiters ernst, so ist das»Jenseits des Rechts« nicht nur, wieNietzsche nahelegt, ein »Vorrechtdes Mächtigsten« (KSA 5, 309), sondern es bezeichnet den Ort des-jenigen, der mit seiner Randstellung immer auch die Selbstpreisgaberiskiert. Er kann durchdrehen. Solange dies ihm erspart bleibt, richtetNietzsches Außenseiter seine Spitze gegen den Status quo – und dieseSpitze ist schärfer, als dies bei Mill vorgesehen ist. Sie wird nicht, wiebei Mill, als positiver Faktor in den Fortschritt integriert. Der mora-lische und politische Wert des Außenseiters besteht nach dieserNietzsche-Lesart nicht darin, dass von ihm inhaltlich wertvolle An-stöße ausgehen würden, sondern darin, dass er eine kritische Funk-tion erfüllt.24 Seine Botschaft an die Ordnung lautet: Du hast es nurverdient, moralisch genannt zu werden,wenn du dich mit mir anlegst,wenn du dich mir aussetzt. Sonst bist du nichts als eine gut geölteMaschine.

4. Zur Aktualität des agonalen Perspektivismus. Ein Ausblick

Nicht der Nonkonformist ist verpflichtet, sich als nützlich für dieOrdnung zu erweisen, sondern die Ordnung ist aufgefordert, sichselbst in Frage zu stellen und in Bewegung zu versetzen. Nietzscheschlägt ihr die Moral als »Vertheidigungsmittel« aus der Hand (KSA12, 415). Die Macht ist nur moralisch, wenn sie geschichtlich wird.

24 Vgl. Wendy Brown, Politics Out of History, Princeton/Oxford 2001, 133:»What if instead of defending politics anddemocracy againstNietzsche’s critiques,[…] we […] attempted to discern how they might enrich democratic politicalprojects?«

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Diesen Schluss zieht der wichtigste Nietzsche-Schüler des 20. Jahr-hunderts, Michel Foucault. Er beschreibt den Konformismus, gegenden Nietzsche sich zur Wehr gesetzt hat, als »Normalisierungsge-sellschaft« und bietet dagegen den unscheinbaren, aber ergiebigenBegriff des »politischen Historismus« auf. Dieser enthält eine Pointegegen die Ruhigstellung oder Abschließung der Geschichte und be-zeichnet eine Dynamik von »Machtbeziehungen«, »unbestimmten,unbestimmt dichten und vielfältigen […] politischen Kämpfen«, diesich mit offenem Ende fortsetzen.25

Nietzsches (und auch Foucaults) Beitrag zur Theorie des Stören-frieds ist ergiebig unddoch auch enttäuschend. Er findet sichnichtmitder Unschlüssigkeit ab, bei der Mill stehenbleibt: ob eine bestehendeOrdnung sich zum Richter über willkommene Innovationen undschädliche Invektivenmachendarf oder ob sie Störungen vorbehaltloshinnehmen muss. Nur die zweite Haltung kommt für Nietzsche inFrage. Daraus ergibt sich die prinzipielle – ausmeiner Sicht richtige –Kritik an der Selbstverständlichkeit des Status quo. Doch Nietzschelässt denjenigen im Stich, dem die Frage unter denNägeln brennt, wiedie Streitfälle im Spiel von Ordnung und Störung konkret zu ent-scheiden sind. Dies betrifft sowohl die Art der Störung (wie weit kannder Rechtsbruch gehen?) wie auch den Ausgang des Konflikts (wohinführt die Selbstüberwindung?).

Nietzsche lädt zu diesem Streit ein, aber er beteiligt sich nichtwirklich daran. Dies mag an seinen übergroßen Vorbehalten gegenmögliche Gegner, aber auch gegen mögliche Mitstreiter liegen. DieVertreter der Ordnung, mit denen er sich anzulegen hätte, hält er garnicht für satisfaktionsfähig, und für einen freienGeist ergibt die Suchenach Mitstreitern keinen Sinn, denn »jede Gemeinschaft macht, ir-gendwie, irgendwo, irgendwann – ›gemein‹« (KSA 5, 232). So radikalder Störenfried, den Nietzsche aufbietet, auch ist, so gelassen könnendie Verteidiger der bestehenden Ordnung mit ihm umgehen. Siewerden von ihm kaum je belästigt werden. Die »sublime Bosheit«(KSA 5, 336), die in ihm steckt, bleibt seltsam entrückt.

25 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen amCollège deFrance (1975–76), hrsg. vonMauroBertani undAlessandro Fontana, Frankfurt a.M. 1999, 49, 131.

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Wennman sich damit nicht begnügen will, bleibt nichts anderes –aber das ist immerhin etwas! –, als im Sinne einer pragmatistischenAuffassung gesellschaftlichen Wandels26 auf die Aushandlungspro-zesse zu setzen, die in politischen Konflikten durchlaufen werden. Siesind kein notwendiges Übel, sondern eine Sternstunde des Politi-schen. Wenn eine abweichende Perspektive anerkannt wird, danndarf dies nicht imModus derVereinnahmung erfolgen, sondernmussmit einer Selbstveränderung des herrschenden Diskurses einherge-hen. Zu diesem politischen Perspektivismus gehört die Bereitschafteiner Ordnung, sich dem Blick von außen auszusetzen, ihren inte-gralen Anspruch zurückzunehmen, aber auch die Bereitschaft desStörenfrieds, sich nicht rechthaberisch in seinem Eigensinn zu son-nen, sondern sich dem Druck der Rechtfertigung zu stellen.

Der agonalePerspektivismus 3.0, den ich imAnschluss anMill undNietzsche rekonstruiert habe, geht anders als der Perspektivismus 1.0nicht von einer gleichgültigen Koexistenz verschiedener Sichtweisenaus, behauptet aber auch nicht – wie der Perspektivismus 2.0 – einefruchtbare Komplementarität solcher Sichtweisen. Vielmehr wirdangenommen, dass es zumStreit zwischen verschiedenen Sichtweisenkommt. Dieser Streit verläuft asymmetrisch, weil die Pluralität vonPerspektiven von derHegemonialität bestehender Konventionen undDiskurse durchkreuzt wird. Daraus leitet sich die Verteilung der Be-gründungslasten für die jeweils eingenommenen Perspektiven ab.Von der hegemonialen Sichtweise ist zu erwarten, dass sie ihre ver-meintliche Selbstverständlichkeit und Integrität zurDisposition stellt.Von der dissidenten Sichtweise ist zu erwarten, dass sie sich nicht inihrer Idiosynkrasie gefällt, sondern die Beziehung zum Status quoaushält, sichmit ihmauseinandersetzt und rechtfertigt. Bei demdamitin Gang kommenden Aushandlungsprozess wird darüber entschie-den, ob Sichtweisen weiterhin unversöhnlich nebeneinander stehenoder ob der Streit geschlichtet werden kann – sei es im Sinne der neugerechtfertigten Bevorzugung einer der konfligierendenPerspektiven,

26 Vgl. zum pragmatistischen Umgang mit der Spannung zwischen den »criesof the wounded« (William James) und dem Staat als »Genehmigungsbehörde«Michael Festl, Gerechtigkeit als historischer Experimentalismus. Gerechtigkeits-theorie nach der pragmatistischen Wende der Erkenntnistheorie, Konstanz 2015,388.

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sei es im Sinne einer neu zu bildendenVereinbarkeit. Entscheidend isthier nicht nur deren bestimmter Inhalt, sondern die Form der Aus-einandersetzung, also die Streitkultur zwischen den beteiligten Par-teien.

An aktuellen Schauplätzen, auf denen eine solche Streitkultur er-wünscht, aber leider schlecht entwickelt ist, mangelt es nicht. In derWissenschaft gibt es eine derzeit an Heftigkeit zunehmende Debatteüber den Konformismus, der sich durch Evaluationsverfahren inwissenschaftlichenZeitschriften ausbreitet (Stichwort: Zitierkartelle).In der Wirtschaft tut man sich schwer damit, funktionierende Pro-zeduren fürWhistleblowing zu etablieren. Im sozialen Leben wird dieKommunikation durch die Etablierung von segregierten Räumen derSelbstbestätigung unterlaufen (Stichwort: Echokammern). In derPolitik wird die öffentliche Sphäre durch die Krise der traditionellenMedien und die Offensive kollektivistischer Ideologien ausgedünnt(Stichwort: Populismus).

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Angaben zu den Autorinnen und Autoren

Christine Abbt: SNF-Förderungsprofessorin für Philosophie an der Univer-sität Luzern.

Johanna Breidenbach: Assistentin am Lehrstuhl für Systematische Theologieder Universität Zürich.

Anton Leist: Emeritierter Professor für Praktische Philosophie an der Uni-versität Zürich.

Andreas Mauz: Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religions-philosophie der Universität Zürich.

Hartmut von Sass: Privatdozent für Systematische Theologie und Religions-philosophie an der Universität Zürich und stellv. Direktor des CollegiumHelveticum.

Niko Strobach: Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Logik undSprachphilosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Holm Tetens: Emeritierter Professor für Theoretische Philosophie an derFreien Universität Berlin.

Dieter Thomä: Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen.

DavidWeberman:Associate Professor an der Central European University inBudapest.

Markus Wild: Professor für Theoretische Philosophie an der UniversitätBasel.

Véronique Zanetti: Professorin für Praktische Philosophie an der UniversitätBielefeld und Direktorin des dortigen Zentrums für interdisziplinäreForschung.

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