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Festk ¨ orperphysik II Studienjahr 2010/2011 Vorl.-Nr. 138.024 Silke B¨ uhler-Paschen, Institut f¨ ur Festk¨ orperphysik Peter Mohn, Institut f¨ ur Allgemeine Physik 810 Technische Physik (2002U), 3. Abschnitt, 7. Semester, 6.0 ECTS 066 461 Master Technische Physik (2006U), Master 1. Semester, 4.0 ECTS 066 434 Master Materialwissenschaften (2006U), 3.0 ECTS 860 Technische Mathematik (2002U), 3.2 ECTS 864 Mathematik i.d. Naturwissenschaften (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS 866 Wirtschaftsmathematik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS 867 Statistik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS 869 Mathematik i.d. Computerwissenschaften(Stzw, 2002U), 3. Ab- schnitt, 3.2 873 Finanz- u. Versicherungsmathematik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS 066 400-405 Master Mathematik und Varianten (2006U), 3.0 ECTS

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Festkorperphysik II

Studienjahr 2010/2011

Vorl.-Nr. 138.024

Silke Buhler-Paschen, Institut fur Festkorperphysik

Peter Mohn, Institut fur Allgemeine Physik

• 810 Technische Physik (2002U), 3. Abschnitt, 7. Semester, 6.0 ECTS

• 066 461 Master Technische Physik (2006U), Master 1. Semester, 4.0ECTS

• 066 434 Master Materialwissenschaften (2006U), 3.0 ECTS

• 860 Technische Mathematik (2002U), 3.2 ECTS

• 864 Mathematik i.d. Naturwissenschaften (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt,

3.2 ECTS

• 866 Wirtschaftsmathematik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS

• 867 Statistik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt, 3.2 ECTS

• 869 Mathematik i.d. Computerwissenschaften(Stzw, 2002U), 3. Ab-

schnitt, 3.2

• 873 Finanz- u. Versicherungsmathematik (Stzw, 2002U), 3. Abschnitt,

3.2 ECTS

• 066 400-405 Master Mathematik und Varianten (2006U), 3.0 ECTS

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Kapitel 1

Einleitung

Das Ihnen vorliegende Skriptum Festkorperphysik II baut auf den Inhalten der Vorlesun-gen Materialwissenschaften und Festkorperphysik I auf. Weiters sind zum Verstandnis desabgehandelten Stoffes Grundkenntnisse der Quantenmechanik und der Statistischen Physikvon Nutzen. Ziel der Vorlesung ist es, von diesem Grundstock ausgehend eine Brucke zur

aktuellen Festkorperforschung zu schlagen und Ihnen damit einen Einstieg in eigeneForschungsaktivitaten zu erleichtern.

Aufgrund der kleinen Abstande der Atome im Festkorper (im Vergleich zur Flussigkeitoder zum Gas) spielen Wechselwirkungen eine zentrale Rolle und sind daher auch dasKernstuck der Vorlesung. Als Beispiel sei die Bewegung eines Atoms im Festkorper genannt.Sie ist keinesfalls unabhangig von der aller anderer Atome. Die Auslenkung eines einzelnenAtoms aus seiner Ruhelage zieht auf Grund der starken Wechselwirkung der Atome miteinan-der eine Bewegung der anderen Atome im Festkorper nach sich. Man spricht von einer kollek-tiven Anregung (Phonon). Dass das Modell des freien Elektronengases (Sommerfeld-Theorie,Festkorperphysik I), das Wechselwirkungen zwischen den Elektronen vollig vernachlassigt,viele Eigenschaften einfacher Metalle relativ gut beschreibt ist eigentlich ein Wunder, denndie Wechselwirkungen zwischen den Elektronen sind keinesfalls klein. Dieses

”Wunder“ kann

mit der Landau’schen Theorie der Fermiflussigkeit (s.u.) verstanden werden. Auch magneti-sche Momente im Festkorper, die auf die Spins der Elektronen zuruckgehen, sind nicht un-abhangig voneinander. So beruht z.B. das Phanomen der magnetischen Ordnung eben geradeauf der Wechselwirkung zwischen den Momenten. Wechselwirkungen zwischen verschiedenen

”Teilchenarten“ fuhren zu einer Vielzahl von interessanten Effekten wie z.B. der konventio-

nellen Supraleitung (Elektron-Phonon-Wechselwirkung), der unkonventionellen Supraleitung(Elektron-Paramagnon-Wechselwirkung) oder dem Schwere-Fermionen-Verhalten (Elektron-Spin-Wechselwirkung). Derartige Wechselwirkungseffekte werden meist erst bei tiefen Tem-peraturen beobachtet, da die thermische Energie, die jeder Art von Ordnung entgegenwirkt,hier reduziert ist. Moderne experimentelle Festkorperphysik ist daher oft Tieftemperatur-physik. Die theoretische Beschreibung eines Ensembles wechselwirkender Teilchen, die sog.Vielteilchenphysik, stellt eine der bedeutendsten Herausforderungen der modernen Physikdar. Da die Anzahl der zu beschreibenden

”Teilchen“ im Festkorper gigantisch ist (von der

Großenordnung der Avogadrozahl NA ≈ 6×1023 mol−1), ist eine exakte quantenmechanische

iii

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iv KAPITEL 1. EINLEITUNG

Behandlung des Festkorpers ausgeschlossen. Man ist auf Naherungsmethoden oder auf Mo-dellrechnungen, in denen nur die wesentlichsten Wechselwirkungsterme behandelt werden,angewiesen.

In Kap. 2 wird ein Uberblick uber Materialien der aktuellen Festkorperforschung gege-ben. Bei der Auswahl wurde jenen Systemen der Vorzug gegeben, in denen eine bestimmteWechselwirkungen dominiert und somit gut

”greifbar“ ist. In Kap. 3 wird eines der bedeu-

tendsten Konzepte der modernen Festkorperphysik, das Quasiteilchenkonzept eingefuhrt unddessen Bedeutung fur die Entwicklung der

”Standardtheorie der Metalle“, der Landau’schen

Theorie der Fermiflussigkeit, erlautert. Bevor wir uns den Wechselwirkungen (Kap. 5) zuwen-den konnen, mussen wir genau definieren, welche

”Teilchen“ wir miteinander wechselwirken

lassen wollen. Dies geschieht im Kapitel uber elementare Anregungen (Kap. 4). Wahrend inKap. 4 und 5 einige Modell-Hamiltonoperatoren besprochen werden, sind ab initio-MethodenThema in Kap. 6.

Zur Erstellung des Skriptums wurden verschiedene Literaturquellen herangezogen. Ori-ginalliteratur wird stets im Text zitiert. Informationen, die aus Lehrbuchern stammen undsomit als

”Allgemeingut“ gelten, werden nicht im Text zitiert, jedoch unten angefuhrt. Sie

konnen auch zur weiterfuhrenden Lekture herangezogen werden.

• A Quantum Approach to Condensed Matter Physics, Philip L. Taylor & Olle Heinonen(Cambridge University Press, Cambridge, 2002, ISBN 0-521-77827-1)

• Condensed Matter Physics, Michael P. Marder (John Wiley & Sons, Inc., New York,2000, ISBN 0-471-17779-2)

• Einfuhrung in die Festkorperphysik, Charles Kittel (Oldenbourg Verlag, Munchen,1983, ISBN 3-486-32766-6)

• Festkorperphysik, N. W. Ashcroft/N. D. Mermin (Oldenbourg Verlag, Munchen, 2001,ISBN 3-486-24834-0)

• Festkorpertheorie I/II, Otfried Madelung (Springer Verlag, Berlin, 1972, ISBN 0-387-05731-5/0-387-05866-4)

• Introduction to Condensed Matter Physics, Feng Duan, Jin Guojun (World Scientific,New Jersey, 2005, ISBN 981-256-070-X)

• Quantum Theory of the Solid State, Joseph Callaway (Academic Press, Inc., Boston,1991, ISBN 0-12-1555203-9)

Silke Buhler-Paschen und Peter Mohn, Oktober 2010

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung iii

2 Materialien der aktuellen Forschung 3

2.1 Schwere-Fermionen-Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.2 Quantenkritische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

2.2.1 Quanten-Ising-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.2.2 Quantenkritische Schwere-Fermionen-Systeme . . . . . . . . . . . . . 102.2.3 Systeme mit quantenkritischem Endpunkt . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.3 Unkonventionelle Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162.3.1 Hochtemperatur-Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162.3.2 Schwere-Fermionen-Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2.4 Niedrigdimensionale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.4.1 Graphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212.4.2 Das Kuprat SrCuO2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222.4.3 Kohlenstoff-Nanorohrchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2.5 Invar-Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.5.1 Fe-Ni-Legierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.5.2 Die Verbindung YbGaGe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

3 Landau’sche Theorie der Fermiflussigkeit 31

3.1 Das Konzept der Quasiteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313.2 Spezifische Warme und Paulisuszeptibilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3.2.1 Statistische Thermodynamik der Quasiteilchen . . . . . . . . . . . . . 343.2.2 Spezifische Warme der Quasiteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363.2.3 Effektive Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383.2.4 Fermiflussigkeitsparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403.2.5 Magnetische Suszeptibilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3.3 Transporteigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443.4 Kollektive Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463.5 Eigenschaften der wechselwirkenden Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4 Elementare Anregungen 49

4.1 Uberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504.1.1 Elektronisches Quasiteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

v

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INHALTSVERZEICHNIS 1

4.1.2 Phonon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514.1.3 Soliton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534.1.4 Magnon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564.1.5 Paramagnon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594.1.6 Domain-wall- und Flipped-spin-Quasiteilchen . . . . . . . . . . . . . . 604.1.7 Spinon und Holon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624.1.8 Gebrochene valence bonds in stripes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

4.2 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664.2.1 Phononen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664.2.2 Magnonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

5 Wechselwirkungen 81

5.1 Elektron-Phonon-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815.1.1 Auswirkung auf die Dispersionsrelation der Phononen . . . . . . . . . 855.1.2 Der Peierls-Ubergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875.1.3 Der Jahn-Teller-Ubergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895.1.4 Auswirkungen auf die Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

5.2 Elektron-Spin-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955.2.1 Anderson-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965.2.2 Von der Verunreinigung zum lokalen Moment . . . . . . . . . . . . . 995.2.3 Skalentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

5.3 Elektron-Photon-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6 Materialspezifische Methoden der Festkorperphysik 123

6.1 Elektronen im Kristall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236.1.1 Die tight-binding-Naherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236.1.2 Hartree und Hartree-Fock-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

6.2 Dichtefunktional-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406.2.1 Das Hohenberg-Kohn-Sham-Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406.2.2 Lokale Dichtefunktional-Naherung (LDA) . . . . . . . . . . . . . . . . 142

6.3 Starke elektronische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436.3.1 Hubbard-Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1446.3.2 Korrelationskorrekturen in der LDA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1466.3.3 Dynamische Molekularfeld-Theorie (DMFT) . . . . . . . . . . . . . . 148

A Das freie Fermigas 149

A.1 Quantenstatistik der Fermionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149A.2 Die Freie Energie des Fermigases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152A.3 Zustandsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

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2 INHALTSVERZEICHNIS

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Kapitel 2

Materialien der aktuellen Forschung

Ein Großteil der aktuellen Festkorperforschung beschaftigt sich mit Materialien, die mit denbisher beschriebenen Modellen (Skripten Materialwissenschaften und Festkorperphysik I)nicht oder nur sehr unzureichen beschrieben werden konnen. Einige dieser Materialien sollenhier beispielhaft vorgestellt werden.

2.1 Schwere-Fermionen-Verbindungen

1975 wurde mit CeAl3 die erste Schwere-Fermionen-Verbindung entdeckt. Diese fur das For-schungsgebiet der elektronisch hochkorrelierten Systeme wesentliche Entdeckung wurde beider im Juli 2005 an der TU Wien abgehaltenen Konferenz

”The International Conference on

Strongly Correlated Electron Systems“ im Rahmen der Plenarsitzung”30 Years of Heavy

Fermion Physics“ gefeiert.Das paramagnetische Metall CeAl3 kristallisiert in der hexagonalen Ni3Sn-Struktur.

Bei hohen Temperaturen zeigt die magnetische Suszeptibilitat Curie-Weiss-Verhalten [χ =C/(T − Θp)], mit einem fur Ce3+ charakteristischen effektiven magnetischen Moment.Die wichtigsten experimentellen Ergebnisse der Originalveroffentlichung von 1975 sind inAbb. 2.1, 2.2 und 2.3 dargestellt. Die spezifische Warme C (Abb. 2.1) steigt bei Temperaturenunterhalb von 150 mK linear mit der Temperatur T an: C = γT . Der Proportionalitatsfaktorγ betragt 1620 mJ/(mol K2). Die magnetische Suszeptibilitat (Abb. 2.2) ist bei tiefen Tem-peraturen nur schwach temperaturabhangig und sattigt unterhalb von 100 mK bei einemWert von 0,036 emu/mol (SI: 4, 52 · 10−7 m3/mol). Der spezifische elektrische Widerstand(Abb. 2.3) variiert unterhalb von 100 mK quadratisch mit der Temperatur: ρ = ρ0 + AT 2.Der Proportionalitatsfaktor A betragt 35 µΩcm/K2.

Die spezifische Warme von einfachen Metallen ist bei Temperaturen weit unterhalb derDebyetemperatur durch C = γT + βT 3 gegeben. Der erste Term ist der elektronische, derzweite der phononische Beitrag. γ wird auch als der Sommerfeld-Koeffizient der spezifischenWarme bezeichnet. Einfache Metalle haben γ-Werte von der Großenordnung 1 mJ/(mol K2),was im Einklang mit der Sommerfeld-Theorie freier Elektronen ist: γ = (π2Nk2

B)/(2EF )(N ist die Anzahl der Leitungselektronen pro Mol, kB die Boltzmannkonstante und EF

die Fermienergie). Beispiel Au: N = NA, EF = 5, 53 eV =⇒ γtheor = 0.63 mJ/(mol K2);

3

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4 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Abbildung 2.1: Spezifische Warme von CeAl3 als Funktion der Temperatur im Nullfeld (•,) und bei 10 kOe () [Andres et al., Phys. Rev. Lett. 35 (1975) 1779].

T [K]

Abbildung 2.2: Magnetische Suszeptibilitat von CeAl3 als Funktion der Temperatur in ver-schiedenen Magnetfeldern [Andres et al., Phys. Rev. Lett. 35 (1975) 1779].

γexp = 0.67 mJ/(mol K2) (Ashcroft/Mermin).Die Pauli-Suszeptibilitat der Leitungselektronen ist in einfachen Metallen bei Temperatu-

ren weit unterhalb der Fermitemperatur konstant und von der Großenordnung 10−10 m3/mol,wiederum in Ubereinstimmung mit der Sommerfeld-Theorie freier Elektronen: χPauli =

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2.1. SCHWERE-FERMIONEN-VERBINDUNGEN 5

Abbildung 2.3: Elektrischer Widerstand von CeAl3 als Funktion des Quadrats der Tempe-ratur [Andres et al., Phys. Rev. Lett. 35 (1975) 1779].

(3µ0µ2BN)/(2EF ) (µ0 ist die Induktionskonstante, µB das Bohr’sches Magneton). Beispiel Na:

N = NA, EF = 3, 24 eV =⇒ χPauli,theor = 1, 88 ·10−10 m3/mol; χPauli,exp = 2, 0 ·10−10 m3/mol(Kittel).

Der elektrische Widerstand folgt in einfachen Metallen (Edelmetalle, Alkalimetalle) beiTemperaturen wesentlich unterhalb der Debyetemperatur einem T 5-Gesetz: ρ = ρ0 +aT 5. ρ0

ist der durch elastische Streuung an Verunreinigungen bedingte Restwiderstand, der TermaT 5 ist durch Streuung an Phononen bedingt. In Ubergangsmetallen wird hingegen wie inCeAl3 eine T 2-Abhangigkeit beobachtet, die durch Elektron-Elektron-Streuung bedingt ist.

Ein Vergleich des Verhaltens von CeAl3 mit dem einfacher Metalle zeigt also, dass γ undχPauli in CeAl3 um drei Großenordnungen erhoht sind. Mit Hilfe der obigen Beziehungen derSommerfeld-Theorie freier Elektronen kann das auf eine um drei Großenordnungen reduzier-te (

”renormalisierte“) Fermienergie zuruckgefuhrt werden. Andererseits entspricht es wegen

EF = ~2k2

F /(2m) (h = 2π~ ist die Plank’sche Konstante, kF der Fermi-Wellenvektor) einerErhohung der Elektronenmasse m um drei Großenordnungen, was der Ursprung des Begriffs

”Schwere Fermionen“ ist. Der normale T 5-Term im elektrischen Widerstand ist in CeAl3

durch eine wesentlich starkere T 2-Abhangigkeit uberdeckt. Der Proportionalitatsfaktor Adieses Terms ubertrifft den in Ubergangsmetallen gefundenen um sechs Großenordnungen.

Ahnliche Eingeschaften wie in CeAl3 wurden bis heute an einer Vielzahl verschie-denster binaren und ternarer Verbindungen gefunden. Eine interessante Beobachtung ist,dass die Verhaltnisse A/γ (Kadowaki-Woods-Verhaltnis) und γ/χPauli (Sommerfeld-Wilson-Verhaltnis) fur viele dieser Verbindungen annahernd konstant sind, obwohl die A-, γ- undχPauli-Werte selbst um Großenordnungen variieren (Abb. 2.4). Das ist ein starker Hinweis

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6 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

dafur, dass die Renormalisierung aller drei Parameter eine gemeinsame Ursache hat. Wiewir in Kapitel 3 sehen werden, entspricht das Tieftemperatur-Verhalten

C/T = const (2.1)

χ = const (2.2)

ρ = ρ0 + AT 2 (2.3)

genau den Vorhersagen der Landau’schen Theorie der Fermiflussigkeit.

0.01 0.1 1 10 100

0.01

0.1

1

10

0.02 0.1 1 20.01

0.1

1

10

100

YbRh2Si

2

ba

CePd2

Al3

UBe13

CeAl3

CeCu6

CeCu2Si

2

UPt3

UPd2

Al3

CeB6

UNi2

Al3

CeNi2Ge

2

UAl2

UPt2

UPt3

UIn3

χ0 (10 −6 m3 /mole f-atom)

γ 0 (J m

ol −

1 K

−2 )

UGa3

Kadowaki-WoodsRatio

A (

µΩcm

K −

2 )

γ0 (J mol −1 K −2 )

4 f

5 fSCMag.none

Sommerfeld-WilsonRatio

YbRh2Si

2

CeAl3

CeCu6

CeCu2Si

2UBe

13

UPt3

YbCuAl

CeAl3

UAl2

CeRu3Si

3

α− U

α− Ce

YbAl2

Abbildung 2.4: Charakteristische Parameter A, γ und χPauli fur verschiedene Schwere-Fermionen-Verbindungen. Die Linien entsprechen A/γ2 = 10 µΩcm(mol K/J)2 und R =χPauli/γ · π2k2

B/µ2eff = 1 [J. Custers, Dissertation, TU Dresden, 2004].

Eine mikroskopische Theorie fur Schwere-Fermionen-Systeme gibt es bis heute nicht.Die Ingredienzien fur eine solche Theorie konnen wir aber leicht zusammenstellen. Schwere-Fermionen-Systeme sind Metalle. Daher wird man die Leitungselektronen berucksichtigenmussen. Weiters besetzt in all diesen Verbindungen ein Element der Seltenen Erden oderder Aktiniden einen der Gitterplatze. Diese Elemente haben unvollstandig gefullte innereSchalen (4f oder 5f) und somit lokale magnetische Momente. Ein Gitter aus magnetischen

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2.1. SCHWERE-FERMIONEN-VERBINDUNGEN 7

Momenten muss also in der Theorie berucksichtigt werden. Es ist naheliegend anzunehmen,dass das unkonventionelle Verhalten von Schwere-Fermionen-Systemen durch die Wechsel-wirkung dieser beiden Untersysteme bedingt ist. In Kapitel 5 werden wir einen Hamiltonope-rator kennenlernen (Anderson-Hamiltonoperator), der haufig zur theoretischen Formulierungdes Problems verwendet wird. Eine exakte Losung dieses komplexen Vielteilchenproblemsist allerdings nicht moglich.

Viel zum derzeitigen Verstandnis dieser Materialklasse haben Analogien zu Metallen mitsehr wenigen magnetischen Verunreinigungen beigetragen (z.B. Au mit 0.01% Fe, LaB6 mit0.5% Ce): Auch hier werden bei tiefen Temperaturen stark renormalisierte Werte fur γ undχPauli und ein anomales Widerstandsverhalten beobachtet. Die theoretische Beschreibungvon diesen sog. Kondo-Systemen ist wesentlich einfacher als die von Schwere-Fermionen-Systemen, sodass erstere heute als

”verstanden“ gelten. 1964 erklarte Kondo das in Kondo-

Systemen beobachtete Minimum im elektrischen Widerstand theoretisch. Es ruhrt von derStreuung der Leitungselektronen an den magnetischen Momenten der Verunreinigungen her.Dieser Prozess fuhrt bei nicht zu tiefen Temperaturen zu einem −ln(T )-Term im elektrischenWiderstand. In Kombination mit dem oben beschriebenen normalen ρ = ρ0 +aT 5-Verhaltenergibt sich das beobachtete Widerstandsminimum (Abschnitt 5.2). Das bei den tiefsten Tem-peraturen beobachtete ρ = ρ0 − AT 2-Verhalten wird auf die Ausbildung eines kollektivengebundenen Zustandes zwischen dem lokalen Spin der magnetischen Verunreinigung und denLeitungselektronen zuruckgefuhrt (Kondo-Effekt). Der lokale Spin wird dabei vom Kollektivder Spins der Leitungselektronen kompensiert. Ein solcher Zustand entspricht in der elektro-nischen Zustandsdichte einer Resonanz am Ferminiveau (Kondo-Resonanz). Das experimen-tell beobachtete Tieftemperaturverhalten lasst sich mit dieser veranderten Zustandsdichteerklaren.

In Schwere-Fermionen-Systemen sind die Abstande zwischen den lokalen Momenten we-sentlich kleiner als in Kondo-Systemen. Daher kann die Wechselwirkung zwischen ihnenhier nicht vernachlassigt werden. Zwar kommt es wegen der stark lokalisierten Wellen-funktionen der f -Elektronen nicht zu einem direkten Austausch, doch spielt der indirek-te Austausch uber die Polarisierung der Leitungselektronen (RKKY-Wechselwirkung, vgl.Festkorperphysik I) eine wesentliche Rolle. Wahrend die RKKY-Wechselwirkung magneti-sche Ordnung der lokalen Momente begunstigt, favorisiert die Kondo-Wechselwirkung dieKompensierung der lokalen Momente und einen unmagnetischen Grundzustand. Tatsachlichgibt es sowohl Schwere-Fermionen-Systeme mit magnetisch geordnetem (meist antiferroma-gnetischem) als auch mit paramagnetischem Grundzustand. Einen großen Fortschritt furdas Gebiet bedeutete die Entdeckung, dass man gewisse Schwere-Fermionen-Verbindungendurch Variation eines nicht-thermischen Parameters wie Druck oder Magnetfeld kontinuier-lich vom magnetisch geordneten in den paramagnetischen Zustand uberfuhren kann. SolcheVerbindungen werden in 2.2 vorgestellt.

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8 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

2.2 Quantenkritische Systeme

In diesem Abschnitt werden wir verschiedene Materialklassen kennenlernen, in denen Quan-tenphasenubergange auftreten.

Im Gegensatz zu klassischen Phasenubergangen wie dem Schmelzen von Eis bei 0C oderdem ferromagnetischen Ubergang von Eisen bei 770C verlaufen Quantenphasenubergangeam absoluten Temperaturnullpunkt als Funktion eines nicht-thermischen Parameters wieDruck, chemische Zusammensetzung oder Magnetfeld. Abbildung 2.5 zeigt ein schemati-sches Phasendiagramm in der Umgebung eines quantenkritischen Punktes. Die dicke durch-

| | |

|

Magnetfeldes, auftritt, ist die thermische Energie immerexakt Null,und die Quantenfluktuationen dominieren selbstden Übergangspunkt. Daher die Bezeichnung Quanten-phasenübergang.

Der aufmerksame Leser wird jetzt sicher fragen:Warumsind Quantenphasenübergänge mehr als ein akademischesProblem? Der absolute Temperaturnullpunkt ist unerreich-bar. Jedes Experiment wird bei einer endlichen Temperaturdurchgeführt,bei der,wie gerade erklärt,das asymptotischekritische Verhalten klassisch ist. Um dies zu beantworten,wollen wir noch einmal zu der Bedingung (4) zurückkom-men: Falls die Übergangstemperatur sehr klein ist, ist auchdie thermische Energieskala sehr klein,und deshalb werdenQuantenfluktuationen bis zu sehr kleinen Abständen vomkritischen Punkt wichtig bleiben. Nur in einer sehrschmalen Umgebung des kritischen Punktes werden dieklassischen Fluktuationen dominieren. Während also dasasymptotische kritische Verhalten bei jeder endlichenTemperatur klassisch ist, wird der Bereich, in dem es gültigist, mit sinkender Temperatur immer kleiner. Bei genügendtiefer Temperatur kann der klassische Bereich so schmalwerden, dass er im Experiment nicht zugänglich ist.

Die Konkurrenz zwischen thermischen und Quanten-fluktuationen in der Nähe eines quantenkritischen Punktesführt zu einer sehr reichen Struktur des Phasendiagramms.Dabei muss man prinzipiell zwei Fälle unterscheiden, jenachdem,ob eine geordnete Phase auch bei endlichen Tem-peraturen existiert.Ein schematisches Phasendiagramm derUmgebung des quantenkritischen Punktes für den einfa-cheren Fall,bei dem makroskopische Ordnung nur am Tem-peraturnullpunkt existiert, ist in Abbildung 3 gezeigt.Dabeisteht B für den Parameter,der den Quantenphasenübergangsteuert (Magnetfeld,Druck,chemische Zusammensetzung).In einem fiktiven Experiment, in dem B am Temperatur-

nullpunkt variert wird, würde man am quantenkritischenPunkt bei B = Bc einen Quantenphasenübergang von dergeordneten in die (durch Quantenfluktuationen) ungeord-nete Phase beobachten. In jedem realen Experiment beivon Null verschiedener Temperatur,wie beispielsweise ent-lang Pfad (a), kann man dagegen keinen wirklichen Pha-senübergang beobachten, weil sich das System immer inder ungeordneten Phase befindet. Die ungeordnete Phasezerfällt jedoch in drei Regionen mit sehr verschiedenenphysikalischen Eigenschaften, je nachdem,ob Quanten- oderthermische Fluktuationen dominieren und je nachdem, inwelcher Phase sich der zugehörige Grundzustand befindet.Diese drei Regionen sind nicht durch scharfe Phasenüber-gänge,sondern durch allmähliche „Crossover“ bei kBT w

|B – Bc| z getrennt (in der Abbildung 3 durch die gestri-chelten Linien gekennzeichnet). In der quantenmechnischungeordneten Region dominieren die Quantenfluktuatio-nen,und thermische Effekte sind unwichtig.Das System be-sitzt im wesentlichen die Eigenschaften des ungeordnetenGrundzustandes. Die Eigenschaften der thermisch unge-ordneten Region sind bestimmt durch thermische Fluktua-tionen um den geordneten Grundzustand.Zwischen diesenbeiden Regionen befindet sich die quantenkritische Region.Der Name der Region erscheint zunächst etwas irreführend,denn der Charakter der Fluktuationen ist wegen kBT > wthermisch. Die Eigenschaften des Systems in dieser Regionwerden jedoch durch den quantenkritischen Grundzustandim Zusammenhang mit der Temperatur bestimmt. In einemExperiment entlang Pfad b beobachtet man die Divergenzder Fluktuationen des Ordnungsparameters mit der Tem-peratur und erhält folglich Aussagen über das Skalenver-halten mit der Temperatur am quantenkritischen Punkt.

Falls das System nicht nur am Temperaturnullpunkt ma-kroskopische Ordnung aufweist, sondern auch bei endli-chen Temperaturen, wird das Phasendiagramm noch rei-cher. Ein derartiges Phasendiagramm, gültig etwa für unser

|

klassischkritisch

quantenmech.ungeordneta

b

quantenkritisch

kT - ωc

T

0

Bc

QCP

B

geordnet

thermischungeordnet

|~

Abbildung 2.5: Schematisches Phasendiagramm in der Umgebung eines quantenkritischenPunktes (QCP), fur den Fall, dass makroskopische Ordnung bei endliche Temperaturenexistiert [Vojta, Physik in unserer Zeit 32 (2001) 38].

gezogene Linie stellt die Phasengrenze zwischen einer geordneten und einer ungeordnetenPhase dar. Die Phasenumwandlung zwischen diesen beiden Phasen verlaufe kontinuierlich(Phasenubergang 2. Ordnung). B steht fur den Parameter, der den Quantenphasenubergangsteuert. Mit steigendem B werde die Temperatur des Ubergangs in die geordnete Phasekontinuierlich reduziert und schließlich beim kritischen Wert Bc ganzlich unterdruckt. Einkontinuierlicher Phasenubergang kann ublicherweise durch einen Ordnungsparameter (z.B.Magnetisierung im Falle eines ferromagnetischen Ubergangs) charakterisiert werden. DerOrdnungsparameter ist eine thermodynamische Große, deren thermodynamischer Mittel-wert in der ungeordneten Phase verschwindet, wahrend dieser in der geordneten Phase vonNull verschieden ist. Die Abweichungen vom Mittelwert bezeichnet man als Fluktuationendes Ordnungsparameters. Es gibt klassische thermische Fluktuationen mit der typischenEnergie kBT und Quantenfluktuationen mit der Frequenz ω und Energie ~ω. Ein einfa-ches Beispiel fur eine thermische Fluktuation ist die Uberquerung eines Potentialbergs. DasDurchtunneln dieses Bergs entspricht einer Quantenfluktuation. Am Temperaturnullpunktgibt es keine thermischen Fluktuationen. Daher wird ein Phasenubergang hier durch Quan-

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2.2. QUANTENKRITISCHE SYSTEME 9

tenfluktuationen getrieben. Im hell schraffierten Bereich in Abb. 2.5 dominieren thermischeFluktuationen um den geordneten Grundzustand, im hellen Bereich dominieren Quantenf-luktuationen. Im quantenkritischen Bereich werden die Eigenschaften des Systems durch denquantenkritischen Grundzustand in Zusammenhang mit der Temperatur bestimmt. Experi-mente werden ublicherweise entweder bei konstanter (endlicher!) Temperatur als Funktioneines Kontrollparameters B gemacht (Weg a in Abb. 2.5) oder bei konstantem Kontrollpa-rameter als Funktion der Temperatur (Weg b in Abb. 2.5).

2.2.1 Quanten-Ising-Systeme

Als Quanten-Ising-Systeme bezeichnet man Materialien, in denen sich magnetische Momentenur entlang einer bestimmten Achse im Raum ausrichten konnen. Ein solches System ist derIsolator LiHoF4. Das Selten-Erd-Element Holmium tragt einen Spin, der sich nur paralleloder antiparallel zur c-Achse des Kristalls ausrichten kann. Ohne Magnetfeld ordnet dasSystem unterhalb der Curie-Temperatur TC = 1, 53 K ferromagnetisch (Abb. 2.6). Dabei

| | |

|

voll polarisierter Ferromagnet. Theoretisch lässt sich ein solches System durch das Ising-Modell beschreiben (Abbil-dung 1, siehe „Ising-Modell im transversalen Magnetfeld“).

Im Jahre 1996 untersuchten Bitko, Rosenbaum undAeppli [1] die magnetischen Eigenschaften von LiHoF4 alsFunktion der Temperatur und eines äußeren Magnetfeldes,das im rechten Winkel zur Achse der Spins zeigte. Abbildung2 zeigt das experimentell bestimmte Phasendiagramm. AmTemperaturnullpunkt und ohne Magnetfeld ist das System,wie bereits erwähnt, ein voll polarisierter Ferromagnet.Erhöht man die Temperatur, werden zunächst einige Spinsumklappen. Mit weiter steigender Temperatur nehmen diethermischen Fluktuationen zu. Die Bereiche mit umge-klappten Spins werden immer größer bis die gleiche Anzahlvon „auf“- und „ab“-Spins erreicht ist. An diesem Punktverschwindet die spontane Magnetisierung. Dies ist einkonventioneller kontinuierlicher Phasenübergang voneinem Ferromagneten zu einem thermischen Paramagne-ten, getrieben ausschließlich durch thermische Fluktua-tionen.

Wie das Phasendiagramm in Abbildung 2 zeigt, kannman die ferromagnetische Ordnung in LiHoF4 aber auchauf ganz andere Weise zerstören. Ein Magnetfeld senkrechtzur Achse der Spins induziert quantenmechanischesTunneln zwischen den „auf“- und „ab“-Zuständen der Spins.Erreicht die Feldstärke einen kritischen Wert, werden dieseQuantenfluktuationen so stark, dass sie die ferromag-netische Ordnung sogar am Temperaturnullpunkt zerstören.Das System durchläuft einen Quantenphasenübergang voneinem Ferromagneten zu einem Quantenparamagneten,getrieben ausschließlich durch Quantenfluktuationen.

Die Eigenschaften eines solchen Quantenparamagnetensind qualitativ sehr verschieden von denen des thermischenParamagneten. Im Falle des thermischen Paramagneten

fluktuieren die Spins mit der Zeit zwischen „auf“ und „ab“,so dass der Mittelwert der Magnetisierung verschwindet. ImFalle des Quantenparamagneten gibt es dagegen eineeindeutige quantenmechanische Wellenfunktion.Sie ist eineSuperposition aus „auf“- und „ab“-Zuständen und führtdeshalb zu einer verschwindenden Magnetisierung,präzise:zu einem verschwindenden quantenmechnischen Erwar-tungswert.

Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischenthermischen und Quantenphasenübergängen besser zuverstehen,wollen wir zunächst einige grundlegende Faktenzusammentragen [2]. Ein kontinuierlicher Phasenübergangkann üblicherweise durch einen Ordnungsparametercharakterisiert werden, ein Konzept, das von Landaueingeführt wurde. Ein Ordnungsparameter ist einethermodynamische Größe, die in der ungeordneten Phaseverschwindet, während sie in der geordneten Phase vonNull verschieden ist. Sehr häufig ist die Wahl einesOrdnungsparameters für einen bestimmten Phasenüber-gang offensichtlich, wie im Falle des ferromagnetischenÜberganges, bei dem die Magnetisierung ein Ordnungs-parameter ist. Manchmal kann es aber auch schwierig sein,einen geeigneten Ordnungsparameter zu finden, wie fürden unordnungsinduzierten Metall-Isolator-Übergang indotierten Halbleitern.

In der ungeordneten Phase verschwindet der thermo-dynamische Mittelwert des Ordnungsparameters,aber seineFluktuationen – die Abweichungen vom Mittelwert an

thermischer

Paramagnet

FerromagnetQuanten-

Paramagnet

0 20 40 60 80

transversales Magnetfeld (kOe)

0

0,5

1,0

1,5

2,0

Temperatur (K)

Bc

||

Abbildung 2.6: Phasendiagramm von LiHoF4 in der Temperatur-Magnetfeld-Ebene [Bitkoet al., Phys. Rev. Lett. 77 (1996) 940].

zeigen alle Spins in die gleiche Richtung, entweder”auf“ oder

”ab“ (parallel oder antiparallel

zur c-Achse). Der klassische Phasenubergang bei der endlichen Temperatur TC (bei B = 0)ist ein Phasenubergang 2. Ordnung. Ein solcher Ubergang ist durch eine bei TC divergie-rende Korrelationslange und -zeit charakterisiert. Die Korrelationslange gibt die Große derwahrend der Korrelationszeit bestehenden ferromagnetisch geordneten Clustern an. Bei derAnnaherung (von hohen Temperaturen her kommend) an TC wachsen diese Cluster an undbleiben fur langere Zeit bestehen, d.h., Korrelationslange und -zeit wachsen an. Bei TC diver-gieren Korrelationslange und -zeit und ein Cluster erstreckt sich uber die ganze Probe. DieMittelung der Fluktuationen uber große Volumina ist fur das Phanomen der Universalitatverantwortlich: das kritische Verhalten von sehr unterschiedlichen physikalischen Systemen

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10 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

kann identisch sein. Die Magentisierung (der Ordnungsparameter) nimmt im geordneten Zu-stand einen von Null verschiedenen Wert an. Die magnetische Suszeptibilitat divergiert beiTC , was einer extremen Empfindlichkeit des Systems auf ein externes Magnetfeld entspricht.

Wird nun ein Magnetfeld senkrecht zur c-Achse angelegt, so wird die ferromagnetischeOrdnung sukzessive geschwacht und beim kritischen Wert des Magnetfelds Hc = 49, 3 kOeganzlich unterdruckt, wie in Abb. 2.6 gezeigt. Die Phasengrenze wurde mit Messungen dermagnetischen Suszeptibilitat als Funktion der Temperatur und des Magnetfelds bestimmt.Mittels dieser Daten wurde auch das kritische Verhalten sowohl im klassischen Grenzfall(H = 0, T ≥ Tc) als auch im Quanten-Grenzfall (T = 100 mK, H ≥ Hc) untersucht. In bei-den Fallen variiert der Realteil der Suszeptibilitat χ′ als Funktion des normierten Abstandesvom kritischen Punkt t = (T − Tc)/Tc bzw. h = (H − Hc)/Hc mit einem einfachen Potenz-gesetz: χ′ ∼ t−γ (bzw. χ′ ∼ h−γ), wie dies fur kritisches Verhalten typisch ist. γ wird alskritischer Exponent bezeichnet. Die Tatsache, dass eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Ma-terialien das selbe kritische Verhalten (den gleichen kritischen Exponenten) zeigen, wird alsUniversalitat bezeichnet. In LiHoF4 ist γ ≈ 1. Dieses Verhalten entspricht den Vorhersagender Molekularfeldtheorie. Die auf den beiden Seiten des Quantenphasenubergangs relevantenelementaren Anregungen werden wir in Abschnitt 4.1.6 behandeln.

Die Situation wird komplizierter, wenn zusatzlich zu lokalisierten magnetischen Momen-ten Ladungstrager vorhanden sind. Derartige Systeme werden im Folgenden behandelt.

2.2.2 Quantenkritische Schwere-Fermionen-Systeme

Wie bereits in Abschnitt 2.1 erwahnt, tritt quantenkritisches Verhalten in vielen Schwere-Fermionen-Systemen auf. Ein prototypisches Beispiel ist CePd2Si2, das unterhalb der Neel-Temperatur TN ≈ 10 K antiferromagnetisch ordnet (Abb. 2.7). Unter Druck wird die Neel-Temperatur reduziert. Mit einer linearen Extrapolation von TN (p) wird der kritische Wertdes Drucks, bei dem TN verschwindet, zu 28 kbar (2,8 GPa) bestimmt. In einem kleinenBereich um diesen kritischen Druck tritt Supraleitung unterhalb der kritischen TemperaturTc auf. Auf diese werden wir in Abschnitt 2.3 noch weiter eingehen. Das Teilbild in Abb. 2.7zeigt, dass der elektrische Widerstand beim kritischen Druck oberhalb Tc nicht dem T 2-Gesetz einer Landau’schen Fermiflussigkeit folgt, sondern annahernd proportional zu T 1.2

ansteigt, also der Beziehung

ρ = ρ0 + AT α (2.4)

mit α = 1.2 gehorcht.

Ahnliches Verhalten wird auch in anderen Schwere-Fermionen-Systemen beobachtet. InAbb. 2.8 sieht man am Fall von YbRh2Si2, dass die Abweichungen vom T 2-Gesetz nur imquantenkritischen Bereich des Phasendiagramms (Abb. 2.5) auftreten. Der gemaß Glg. (2.4)bestimmte Exponent α ist in Abb. 2.8 als Helligkeit (bzw. Farbung) dargestellt. Im Null-feld ordnet YbRh2Si2 unterhalb von 70 mK antiferromagnetisch. Die Neel-Temperatur wirdmit steigendem Magnetfeld reduziert und verschwindet beim kritischen Feld von 0.7 T. Beidiesem Feld wird bis zu den tiefsten Temperaturen ein in T linearer Widerstand (α = 1)beobachtet.

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2.2. QUANTENKRITISCHE SYSTEME 11

0

5

10

0 10 20 30 40

Tem

pera

ture

(K

)

Pressure (kbar)

TN

3Tc

anti-ferromagnetic

state superconductingstate

0

20

40

0 20 40

T1.2 (K1.2)

28 kbar

Tc

ρ (µ

Ω c

m)

Abbildung 2.7: Phasendiagramm von CePd2Si2 in der Temperatur-Druck-Ebene. Teilbild:Elektrischer Widerstand als Funktion von T 1.2 [Mathur et al., Nature 394 (1998) 39].

Neben dem elektrischen Widerstand haben auch anderen Messgroßen im quantenkri-tischen Bereich einen ungewohnlichen, vom Verhalten einer Landau’schen Fermiflussigkeit(Glgn. (2.1-2.3)) abweichenden Temperaturverlauf. Der Koeffizient aus spezifischer Warmeund Temperatur bleibt im quantenkritischen Bereich temperaturabhangig. Dies ist am Bei-spiel von CeCu6−xAux, das bei der Dotierung xc = 0.1 quantenkritisch ist (Abb. 2.9), inAbb. 2.10 gezeigt. Bei x = 0.1 (und bis zu den hier gemessenen Temperaturen auch beix = 0.05) wird das Verhalten

C/T ∼ − ln T (2.5)

beobachtet. Bei x = 0 wird C/T bei tiefen Temperaturen sehr flach, was dem Ubergang zumFermiflussigkeitsverhalten nach Glg. (2.1) entspricht. Bei x = 0.05 wird ein solcher Ubergangbei tieferen Temperaturen erwartet. Die Schultern fur die Verbindungen mit x ≥ 0.15 ruhrenvom antiferromagnetischen Phasenubergang her, das Abflachen der Kurven bei tieferen Tem-peraturen ist wiederum Zeichen fur Fermiflussigkeitsverhalten in der antiferromagnetischenPhase.

Die Ursache fur das im quantenkritischen Bereich auftretende sog. Nicht-Fermiflussigkeitsverhalten ist noch nicht geklart. Ein Erklarungsansatz geht davon aus, dassQuantenfluktuationen die Ursache sind. In Schwere-Fermionen-Systemen mit antiferroma-

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12 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

B (T)

Abbildung 2.8: Phasendiagramm von YbRh2Si2 in der Temperatur-Magnetfeld-Ebene inForm des Widerstand-Exponenten α (hier mit ǫ bezeichnet) [Custers et al., Nature 424

(2003) 524].

Abbildung 2.9: Phasendiagramm von CeCu6−xAux in der Temperatur-Dotierungs-Ebene [v.Lohneysen et al., J. Phys. Condens. Matter 8 (1996) 9689].

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2.2. QUANTENKRITISCHE SYSTEME 13

Abbildung 2.10: Temperaturabhangigkeit des Quotienten aus spezifischer Warme und Tem-peratur von CeCu6−xAux [von Lohneysen et al., J. Phys. Condens. Matter 8 (1996) 9689].

gnetischem Ordnungsparameter dominieren meist antiferromagnetische Spinfluktuationen(auch Paramagnonen genannt, vgl. Abschnitt 4.1.5). Ihre Anwesenheit macht sich dadurchbemerkbar, dass nahe am quantenkritischen Punkt dauernd kleinere und großere antifer-romagnetische Bereiche entstehen und wieder verschwinden. Mit abnehmender Temperaturwachst die typische Große dieser Bereiche und damit auch die Wechselwirkung zwischenden Elektronen, die durch den Austausch von Spinfluktuationen bedingt ist. Dies wurdedas anomale Widerstandsverhalten qualitativ erklaren. Andererseits beeinflussen die ma-gnetischen Fluktuationen, die als Quasiteilchen aufgefasst werden konnen, naturlich auchdie Energiebilanz und damit die spezifische Warme. Der Anstieg von C/T mit abnehmen-der Temperatur bedeutet in diesem Bild, dass mit abnehmender Temperatur immer mehrSpinfluktuationen erzeugt werden. Verschiedene experimentelle Beobachtungen insbes. anCeCu6−xAux und YbRh2Si2 deuten aber darauf hin, dass zumindest nicht alle quantenkriti-schen Schwere-Fermionen-Systeme auf diese Art verstanden werden konnen. Ganzlich neueAnsatze ziehen in Betracht, dass es die Quasiteilchen der Fermiflussigkeit beim quantenkriti-schen Punkt uberhaupt nicht mehr gibt, sondern dass sie am quantenkritischen Punkt

”aus-

einanderbrechen“. Auf der paramagnetischen Seite ware ein Komposit-Teilchen aus lokalemmagnetischem Moment und einer das Moment abschirmenden Elektronenwolke ein plausiblesQuasiteilchen. Dieses wurde am quantenkritischen Punkt in ein von den Leitungselektronenunabhangiges lokales magnetisches Moment und einfache elektronische Quasiteilchen aufbre-

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14 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

chen.

2.2.3 Systeme mit quantenkritischem Endpunkt

In Abb. 2.5 ist der Fall dargestellt, wo am quantenkritischen Punkt eine geordnete Phasegerade unterdruckt wird. Es gibt aber auch quantenkritische Punkte, an denen kein Symme-triebruch auftritt. Ein Beispiel dafur ist das Ruthenat Sr3Ru2O7, das das typische Verhalteneines itineranten Metamagneten zeigt: Als Funktion des Magnetfeldes nimmt die Magnetisie-rung in einem schmalen Feldbereich sehr rasch zu. Das Magnetfeld, bei dem der metamagne-tische Ubergang in Sr3Ru2O7 auftritt, hangt einerseits von der Temperatur ab, andererseitsvom Winkel zwischen Magnetfeld und kristallographischer ab-Ebene (Abb. 2.11). Der schat-

kritischer Endpunkt für 0° (2. Ordnung)

T (B,0°) (1. Ordnung)mm

quantenkritischerEndpunkt

Abbildung 2.11: Dreidimensionales Phasendiagramm von Sr3Ru2O7 erstellt aus Messungender komplexen Suszeptibilitat χ = χ′ + iχ′′. Bei den Ubergangen erster Ordnung tretenHysteresiseffekte und ein nichtverschwindendes χ′′ auf [Grigera et al., Phys. Rev. B 67 (2003)214427].

tierte Bereich stellt die Flache metamagnetischer Phasenubergange erster Ordnung dar. Siewird zu hohen Temperaturen hin von einer Linie kritischer Temperaturen (kritischer End-punkte) begrenzt. Jeder kritische Endpunkt stellt einen Phasenubergang zweiter Ordnungdar. Der quantenkritische Punkt tritt auf, wo die Linie kritischer Endpunkte die T = 0-Ebene schneidet, also in Abb. 2.11 bei ca. 90 und 7.8 T. Dies wird etwas anschaulicher,wenn wir einen Schnitt durch das dreidimensionale Phasendiagramm, z.B. die Ebene zumWinkel 0, betrachten. Hier wird die Abhangigkeit der kritischen Temperatur des metama-gnetischen Ubergangs Tmm als Funktion des Magnetfeldes dargestellt. Bei einem Magnetfeld

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2.2. QUANTENKRITISCHE SYSTEME 15

von ca. 5 T ist Tmm zu Null unterdruckt. Mit steigendem Feld steigt Tmm steil an. Die Pha-senubergangslinie erster Ordnung Tmm(B) endet schließlich in einem kritischen Endpunktzweiter Ordnung. In der entsprechenden Ebene zum Winkel 90 befindet sich nur noch dieserkritische Endpunkt, und zwar eben bei einem Feld von ca. 7.8 T bei T = 0. Da hier also einPhasenubergang zweiter Ordnung bei T = 0 passiert, handelt es sich um einen quantenkriti-schen Punkt, eben einen sog. quantenkritischen Endpunkt. Wie bei den Schwere-Fermionen-Systemen zeigen verschiedene physikalische Eigenschaften in der Umgebung dieses quan-tenkritischen Punktes Abweichungen vom Fermiflussigkeitsverhalten. Abbildung 2.12 zeigtden gemaß Glg. (2.4) bestimmten Exponenten α. Auch hier tritt ein großer quantenkriti-

Abbildung 2.12: Widerstandsexponent α von Sr3Ru2O7 in der Temperatur-Magnetfeld-Ebene, fur einen Winkel zwischen Magnetfeld und ab-Ebene von 90 [Grigera et al., Science294 (2001) 330].

scher Bereich mit α ≈ 1 auf. Genaue Untersuchungen an hochreinen Proben haben gezeigt,dass unterhalb von 1 K in einem schmalen Feldbereich um das kritische Magnetfeld eineneue Phase bisher unbekannter Natur existiert, auf die wir hier aber nicht weiter eingehenmochten.

Ahnliches, wenn auch noch wesentlich komplizierteres Verhalten wird fur URu2Si2 be-obachtet, wo die Bildung von gleich drei Phasen mit der Existenz eines metamagnetischenquantenkritischen Punktes zusammenzuhangen scheint. Eine weitere, supraleitende Tieftem-peraturphase, die in unmittelbarer Umgebung eines quantenkritischen Punktes auftritt, ha-ben wir bereits am Beispiel von CePd2Si2 in Abschnitt 2.2.2 kennengelernt. Auch wennein kausaler Zusammenhang zwischen diesen Tieftemperaturphasen und einem quantenkriti-schen Punkt noch nicht bewiesen werden konnte, so scheint die Annahme, dass die Vielzahlniederenergetischer Anregungen in der Umgebung eines quantenkritischen Punktes die Ent-stehung neuer Phasen begunstigt, zumindest plausibel.

Es gibt noch etliche weitere Materialklassen, die derzeit im Zusammenhang mit Quan-

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16 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

tenkritikalitat diskutiert werden, so z.B. die Manganate, Kobaltate, Kondoisolatoren,Spinglaser, organische Ladungstransfer-Komplexe und auch die Hochtemperatur-Supraleiter.Und es gibt sogar Hinweise darauf, dass Quantenkritikalitat auch ausserhalb der traditio-nellen Festkorperphysik von Bedeutung ist, z.B. in Quanten-Punkt-Systemen oder in Multi-lagen aus He3-Atomen. Faszinierend – wenn auch noch etwas spekulativ – ist die derzeitigeDiskussion uber Parallelen mit der Physik Schwarzer Locher.

2.3 Unkonventionelle Supraleiter

Supraleitung ist ein makroskopisches Quantenphanomen, bei dem die beweglichen Elektro-nen eines Metalls unterhalb einer kritischen Temperatur sog. Cooper-Paare bilden und ineinen gemeinsamen Grundzustand

”kondensieren“. Die Paarbildung ist erforderlich, da nur

Teilchen mit ganzzahligem Spin (Bosonen) den gleichen Zustand einnehmen konnen, wahrenddies fur Teilchen mit halbzahligem Spin (Fermionen) wie Elektronen nach dem Pauliprinzipverboten ist. Fur konventionelle Supraleiter basiert der Paarungsmechanismus auf der Wech-selwirkung mit den Gitterschwingungen (Phononen), wie sie die BCS-Theorie beschreibt. Esgibt aber auch Materialien, in denen dieser Paarungsmechanismus unwahrscheinlich ist. Ei-nige solche Systeme wollen wir im Folgenden behandeln.

2.3.1 Hochtemperatur-Supraleiter

Seit der Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung in der Familie der Kuprate im Jahre1986 durch Bednorz und Muller bleibt trotz einer Fulle an experimentellen Ergebnissen der zuGrunde liegende mikroskopische Mechanismus unklar. Ein auch nur halbwegs vollstandigerUberblick uber den Stand der Forschung an Hochtemperatur-Supraleitern wurde eine ganzeVorlesung fullen. Hier wurde daher eine Auswahl nur weniger Aspekte getroffen.

In Abb. 2.13 ist die Struktur des typischen Hochtemperatur-Supraleiters La2−xSrxCuO4

zu sehen. Charakteristisch sind die CuO2-Ebenen, die fur die Supraleitung in den Kupra-ten eine entscheidende Rolle spielen. Die bisher hochste kritische Temperatur von 133.5 Kwurde in dem System HgBa2Ca2Cu3O8+x gefunden, in dem gleich drei CuO2-Ebenen proEinheitszelle vorhanden sind. Die Schichtstruktur fuhrt zu extrem anisotropem Verhaltenim normalleitenden Zustand. Der elektrische Widerstand senkrecht zu den CuO2-Ebenenkann bis zu tausend Mal großer sein als der entlang der Ebenen.

Das phanomenologische Phasendiagram der Elektron- und Loch-dotierten (n- und p-Typ) Hochtemperatur-Supraleiter ist in Abb. 2.14 am Beispiel von Nd2−xCexCuO4 undLa2−xSrxCuO4 gezeigt. Ohne Dotierung (x = 0) sind beide Verbindungen antiferroma-gnetische Isolatoren. Bereits dieser Zustand ist ungewohnlich, da die Systeme gemaßBandstrukturrechnungen Metalle sein sollten. Er ruhrt von starken Elektron-Elektron-Wechselwirkungen her und wird als Mott-Isolator bezeichnet. (In einem Mott-Isolator istjeder Gitterplatz mit einem Elektron besetzt. Fur eine Bewegung der Elektronen mussteein Gitterplatz zeitweise doppelt besetzt werden. Dieser Prozess wurde wegen der starkenCoulomb-Abstoßung zwischen den Elektronen zu viel Energie kosten und findet daher nichtstatt.) Mit zunehmender Dotierung wird die antiferromagnetische Phase unterdruckt und

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2.3. UNKONVENTIONELLE SUPRALEITER 17

Abbildung 2.13: Tetragonale Hochtemperatur-Struktur von La2−xSrxCuO4 [Damascelli etal., Rev. Mod. Phys. 75 (2003) 474].

Abbildung 2.14: Phanomenologisches Phasendiagramm der Hochtemperatur-Supraleiter amBeispiel von Nd2−xCexCuO4 und La2−xSrxCuO4 [Damascelli et al., Rev. Mod. Phys. 75

(2003) 473].

schliesslich eine supraleitende Phase stabilisiert. Der supraleitende Ordnungsparameter (dieEnergielucke) hat nicht wie bei konventionellen Supraleitern s-Wellen-Symmetrie, sondern

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18 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

d-Wellen-Symmetrie. Das heißt, dass die Energielucke an bestimmten Orten der Fermiflacheverschwindet. Hier sind elektronische Anregungen beliebig kleiner Energie moglich. Pro-ben mit maximaler Sprungtemperatur werden als

”optimal dotiert“ (optimally doped) be-

zeichnet, solche mit kleinerer bzw. großerer Dotierung als”unterdotiert“ (underdoped) bzw.

”uberdotiert“ (overdoped). Im wesentlich genauer untersuchen Loch-dotierten Fall gibt es

eine weitere Linie im Phasendiagramm. Unterhalb dieser oft mit T ∗ bezeichneten charakteri-stischen Temperatur verschwinden niederenergetische Spin-Fluktuationen mit abnehmenderTemperatur, was auf eine (Pseudo-)Energielucke (pseudogap) der Breite kBT ∗ im elektro-nischen Anregungsspektrum zuruckgefuhrt wird. Innerhalb diesem pseudogap-Bereich kannes je nach Material und Probenqualitat weitere Phasen mit lokaler oder inkommensura-bler (nicht gitterperiodischer) magnetischer Ordnung geben, z.B. einen Spin-Glas-Zustandoder einen als

”Streifen“ (stripes) bezeichneten Zustand mit inhomogener Spin- und La-

dungsordnung, der statisch oder zeitlich fluktuierend sein kann (vgl. Abschnitt 4.14). Inuberdotierten Proben scheinen magnetische Korrelationen hingegen vernachlassigbar zusein. Damit drangt sich ein Vergleich mit Schwere-Fermionen-Supraleitern wie dem in Ab-schnitt 2.2.2 besprochenen CePd2Si2 auf. Die Rolle der Neel-Temperatur spielt im Fallder Hochtemperatur-Supraleiter die pseudogap-Temperatur T ∗. Es wird spekuliert, dass eseinen quantenkritischen Punkt gibt, an dem T ∗ verschwindet und dass die Cooper-Paaredurch den Austausch kritischer Spinfluktuationen gebildet werden. Tatsachlich wird auchin Hochtemperatur-Supraleitern in der Umgebung dieses hypothetischen quantenkritischenPunktes Nicht-Fermiflussigkeitsverhalten beobachtet (Abb. 2.15), so z.B. ein mit der Tempe-ratur linear ansteigender elektrischer Widerstand (Abb. 2.16). Es muss aber betont werden,dass es fur diese Erklarung derzeit keinen breiten Konsens gibt, ebensowenig wie fur irgendeinen anderen Erklarungsansatz.

Abbildung 2.15: Schematisches Phasendiagramm der Hochtemperatur-Supraleiter [Orensteinund Millis, Science 288 (2000) 468].

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2.3. UNKONVENTIONELLE SUPRALEITER 19

Abbildung 2.16: Elektrischer Widerstand von La1.85Sr0.15CuO4, gemessen entlang den CuO2-Ebenen, als Funktion der Temperatur [Takagi et al., Phys. Rev. Lett. 69 (1992) 2975].

2.3.2 Schwere-Fermionen-Supraleiter

In einigen Schwere-Fermionen-Verbindungen (z.B. CeIn3, CeRh2Si2, CeNi2Ge2) wird wie furCePd2Si2 (Abschnitt 2.2.2) in der unmittelbaren Umgebung des quantenkritischen PunktesSupraleitung beobachtet. Die kritische Temperatur ist niedrig (ca. 0.4 K fur CePd2Si2). Zu-dem tritt Supraleitung nur in sehr reinen Proben (Proben mit niedrigem Restwiderstand)auf. Es wird davon ausgegangen, dass diese Supraleitung nicht wie in konventionellen Supra-leitern durch den Austausch von Phononen bedingt ist, sondern durch den Austausch vonSpinfluktuationen (vgl. Abschnitt 2.2.2 und 4.1.5). Theoretische Modelle, die den quantenkri-tischen Punkt als Spindichtewellen-Instabilitat beschreiben, sagen tatsachlich Supraleitungmit obigen Eigenschaften vorher. Dies ist auch mit der Beobachtung konsistent, dass inSchwere-Fermionen-Verbindungen wie YbRh2Si2 oder CeCu6−xAux, in denen die magneti-sche Orndung auf lokalisierte magnetische Momente zuruckgefuhrt wird (und nicht auf eineSpindichtewelle der Leitungselektronen), bisher keine Supraleitung gefunden wurde.

Auf die Existenz eines weiteren, neuen Paarungsmechanismus scheinen Ergebnissean der Verbindung CeCu2Si2 hinzuweisen. In Abb. 2.17 ist das Phasendiagramm furCeCu2(Si1−xGex)2 dargestellt. Mit zunehmender Unordnung durch Dotierung wird die Su-praleitung, die sich in reinem CeCu2Si2 (punktierte und strichpunktierte Kurven) undCeCu2Ge2 (dunkle durchgezogene Kurve) uber das ganze Phasendiagramm erstreckt, ge-schwacht und zerfallt bei x = 0.1 (dunkle Bereiche) in zwei voneinander getrennte supra-leitende Phasen: Eine Phase in der Umgebung des quantenkritischen Punktes, bei dem dieNeel-Temperatur verschwindet und die mit Spinfluktuationen erklart wird und eine zweitePhase mit maximalem Tc bei 4 GPa. Verschiedene Experimente deuten darauf hin, dass beidiesem Druck ein Valenzubergang des Ce auftritt (ein Teil des lokalisierten f -Elektrons des

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20 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Abbildung 2.17: Phasendiagramm von CeCu2(Si1−xGex)2 in der Temperatur-Druck-Ebene[Yuan et al., Science 302 (2003) 2104].

Ce wird itinerant). Damit Supraleitung durch den Austausch kritischer Valenzfluktuatio-nen als Paarungsmechanismus in Frage kommt, musste der Valenzubergang bei T = 0 einquantenkritischer Punkt und somit ein kontinuierlicher Ubergang sein. Im Allgemeinen sindValenzubergange allerdings Phasenubergange erster Ordnung. Daher musste es sich hier umeinen quantenkritischen Endpunkt (vgl. Abschnitt 2.2.3) handeln.

Unkonventionelle Supraleitung tritt noch in weiteren Materialklassen, wie z.B. in Einfach-Lagen-Perovskit-Ruthenaten (z.B. Sr2RuO4) und in quasi-zweidimensionalen organischenLeitern (z.B. BEDT-TTF) auf. Es handelt sich also um ein relativ weit verbreitetesPhanomen. Ob die 2008 mit La(O1−xFx)FeAs (x = 0.05 − 0.12) entdeckten

”Pniktid“-

Supraleiter (Kamihara et al., J. Am. Chem. Soc. 130 (2008) 3296), die seither in großemMaßstab untersucht werden, auch zu den unkonventionellen Supraleitern gehoren, ist nochnicht abschließend geklart. Auf jeden Fall weisen einige Vertreter dieser Klasse, deren hochsteSprungtemperatur derzeit 56 K betragt (Gd1−xThxFeAsO), gewisse Ahnlichkeiten sowohl mitden Hochtemperatur-Supraleitern als auch mit den Schwere-Fermionen-Supraleitern auf.

2.4 Niedrigdimensionale Systeme

In dreidimensionalen Leitern wird abgesehen von der Umgebung von Quantenpha-senubergangen im Allgemeinen Fermiflussigkeitsverhalten beobachtet. Das liegt daran, dasshier die freien Elektronen im Zusammenspiel mit den positiv geladenen Ionen des Kristall-gitters fur eine effektive Abschirmung der langreichweitigen Coulomb-Felder sorgen. In re-

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2.4. NIEDRIGDIMENSIONALE SYSTEME 21

duzierten Dimensionen wird diese Abschirmung weniger effizient. Im Grenzfall eindimen-sionaler Leiter ist die Abschirmung so schwach, dass das Bild der Fermiflussigkeit ganzlichzusammenbricht. Das experimentell beobachtete Verhalten ist vielmehr im Einklang mit dentheoretischen Vorhersagen fur eine sog. Luttinger-Flussigkeit. Im Folgenden werden einigeniedrigdimensionale Materialien vorgestellt.

2.4.1 Graphen

Das zweidimensionale Graphen besteht aus einer einzigen Monolage von Kohlenstoffatomen.Wie in einer Schicht von Graphit ist jedes Kohlenstoffatom in Graphen von drei weiterenumgeben, wodurch sich eine bienenwabenformige Struktur ausbildet (Abb. 2.18).

Abbildung 2.18: Die hexagonale Anordnung von Kohlenstoffatomen in Graphen kann mansich durch Ineinandersetzen von zwei trigonalen Untergittern (A: rote mit strichlierten Li-nien verbundene Punkte, B: grune, mit dunnen durchgezogenen Linien verbundene Punkte)entstanden denken [Drut und Lahde, Phys. Rev. B 79 (2009) 165425].

Konstantin Novoselov und Andre Geim von der Universitat Manchester gelten als dieEntdecker von Graphen – sie praparierten 2004 erstmals freistehende einschichtige Gra-phenkristalle (Novoselov, Geim et al., Science 306 (2004) 666, Abb. 2.19, links unten). 2010erhielten sie fur ihre Arbeiten an Graphen den Physik-Nobelpreis.

Die Quasiteilchen-Eigenschaften der Ladungstrager in Graphen, die uns hier ja besondersinteressieren, sind in Abb. 2.20 im Vergleich mit denen anderer Quasiteilchen beschrieben.Allerdings hat sich gezeigt, dass diese Beschreibung nur auf Graphen, das auf der Oberflacheeines anderen Materials (z.B. SiO2) adsorbiert ist, gilt. Freistehendes Graphen ist hingegengemaß Bandstrukturrechnungen ein Halbleiter (Abb. 2.19).

Eine auch fur Anwendungen (z.B. Transistoren mit hoher Taktrate) besonders interes-sante Eigenschaft von Graphen ist die extrem hohe elektrische Leitfahigkeit. Mobilitaten vonmehr als 25 m2/(Vs) wurden gemessen.

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22 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Abbildung 2.19: Oben links: Graphene auf SiO2, Aufnahme mit optischem Mikroskop. Un-ten links: Freistehendes Graphen, Aufnahme mit Transmissions-Elektronenmikroskop. Diejeweilige Bandstruktur ist rechts gezeigt. Freistehendes Graphen ist ein Halbmetall mit koni-scher Dispersion. Freistehendes Graphen ist ein Halbleiter mit endlicher Energielucke [CastroNeto, Physics 2 (2009) 30].

2.4.2 Das Kuprat SrCuO2

Die Struktur von SrCuO2 ist in Abb. 2.21 dargestellt. Jedes Cu-Atom ist von vier in ei-ner Ebene liegenden O-Atomen umgeben. Diese sog. CuO4-Plaketten sind uber gemeinsameKanten so angeordnet, dass sich entlang der c-Achse zickzackformige CuO2-Ketten erge-ben. Die Wechselwirkung zwischen Cu2+-Ionen entlang dieser Ketten ist wesentlich starkerals jene zwischen den Ketten, was zu quasi-eindimensionalem Verhalten fuhrt. Die Spinsder Cu2+-Ionen ordnen in einem weiten Temperaturbereich antiferromagnetisch. Ein starkvereinfachtes Modell fur SrCuO2 ist ein System aus voneinander unabhangigen antiferroma-gnetischen Ketten aus Elektronen mit Spin 1/2. Wenn ein Elektron aus einer solchen Ketteentfernt wird, werden gemaß der Luttinger-Theorie zwei Anregungen erzeugt, ein Holon(tragt die Ladung des Elektrons bzw. Lochs) und ein Spinon (tragt den Spin des Elektronsbzw. Lochs) (vgl. Abschnitt 4.1.7).

Experimentell konnen Anregungen, bei denen ein Elektron entfernt wird, mit Photo-emissionsspektroskopie untersucht werden. In Abb. 2.22 sind ARPES (angle-resolved photo-emission spectroscopy)-Spektren fur verschienede k-Positionen entlang der Kettenrichtungvon SrCuO2 gezeigt. Mit Hilfe von Modellrechnungen im Rahmen des sog. t − J-Modells (t

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2.4. NIEDRIGDIMENSIONALE SYSTEME 23

H = p 2 / 2m*ˆˆ H = c σ • pˆ H = vF σ • pˆ

“Schrödinger

fermions”

ultra-relativistic

Dirac particles

massless

Dirac fermions

E

ky

kx

A B C D

Abbildung 2.20: Quasiteilchen im Vergleich. (A) Ladungstrager mit der effektiven Masse m∗

und dem Impulsoperator p, die mit der Schrodinger-Gleichung beschrieben werden. (B) Re-lativistische Teilchen werden im Limes verschwindender Ruhemasse mit der Dirac-Gleichungbeschrieben. c ist die Lichtgeschwindigkeit und ~σ die Pauli-Matrizen. (C) Ladungstrager inGraphen werden masselose Dirac-Fermionen genannt. Sie werden mit einem 2-dimensionalenAnalogon der Dirac-Gleichung beschrieben, wobei die Fermigeschwindigkeit vF ≈ 1×106 m/sdie Rolle von c spielt und ~σ eine 2-dimensionale Pseudospin-Matrix ist, die die beiden Un-tergitter des hexagonalen Gitters beschreibt [Geim, Science 324 (2009) 1530].

steht fur einen sog. hopping-Term, J fur die Austausch-Wechselwirkung) konnte der Peak,der zwischen k = π/2 und π auftritt (rechtes Teilbild) als Holon identifiziert werden, der Peakzwischen k = 0 und π/2 (linkes Teilbild) als Gemisch aus Spinon- und Holon-Anregung. Diestarke Dispersion (k-Abhangigkeit der Peak-Position) ist typisch fur quasi-eindimensionaleAnregungen.

2.4.3 Kohlenstoff-Nanorohrchen

Kohlenstoff-Nanorohrchen kann man sich wie eine zu einem Zylinder aufgerollte und naht-los verschweißte Graphitschicht vorstellen. Je nach der Richtung, um die die Graphitschichtgekrummt ist, entstehen unterschiedliche Strukturen (Abb. 2.23). Rohrchen vom Armsessel-Typ (schrager Pfeil in Abb. 2.23) sind metallisch, solche vom Zickzack-Typ (waagerechterPfeil in Abb. 2.23) sind uberwiegend halbleitend. Chirale Rohrchen, die entlang einer belie-bigen anderen Richtung aufgerollt sind, konnen metallisch oder halbleitend sein. Diese Un-terschiede konnen mit Bandstrukturrechnungen erklart werden. Neben diesen einwandigenNanorohrchen gibt es auch mehrwandige Nanorohrchen. Diese scheinen aber nicht

”eindi-

mensional genug“ zu sein, um mit der Theorie der Luttinger-Flussigkeit beschrieben werdenzu konnen. Bisher konnten noch keine Messungen an einzelnen einwandigen Nanorohrchengemacht werden. Es konnen aber Bundel von einwandigen Nanorohrchen hergestellt werden,

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24 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Abbildung 2.21: Schematische Kristallstruktur von SrCuO2. Schraffiert: Sr, schwarz: Cu,weiss: O [Motoyama et al., Phys. Rev. Lett. 76 (1996) 3212].

in denen der elektronische Transport durch eine einzige metallische Nanorohre dominiertwird.

Abbildung 2.24 zeigt die Ergebnisse eines Tunnelexperiments an einem solchen Bundel,das auf zwei Metallkontakte gelegt wurde (Skizze in Abb. 2.24). Die differentielle LeitfahigkeitdI/dV wurde bei verschiedenen Temperaturen als Funktion der Spannung zwischen den Kon-takten gemessen. Bei kleinen Spannungen ist dI/dV konstant. Dieses ohmsche Verhalten wirdin Tunnelexperimenten zwischen zwei normalen Metallen beobachtet. Wie das lineare Verhal-ten in doppelt-logarithmischer Darstellung zeigt, steigt bei hoheren Spannungen dI/dV abernach einem Potenzgesetz dI/dV ∼ V α an. Zudem fallen die Messkurven bei verschiedenenTemperaturen in einer Auftragung (dI/dV )/T α gegen eV/(kBT ) auf eine universelle Kurve(Hauptteil von Abb. 2.24). Beides ist im Einklang mit der Theorie der Luttinger-Flussigkeit.In einer Luttinger-Flussigkeit zieht die Bewegung eines Elektrons eine wellenformige Anre-gung des gesamten Elektronensystems, eine sog. Plasmaschwingung nach sich. Die Quantendieser Schwingung sind die Plasmonen. Wahrend eine Tunnelbarriere von einzelnen Elektro-nen passiert (durchtunnelt) werden kann, ist sie fur Plasmonen undurchlassig. Die Injektioneines einzelnen Elektrons in eine Luttinger-Flussigkeit kostet Energie, da das zusatzlicheElektron in der Luttinger-Flussigkeit nicht stabil ist und in Plasmonen zerfallen muss. DieEnergie, die zur Anregung dieser Plasmonen notig ist, wird von der Spannungsquelle geliefertund fuhrt zu dem experimentell beobachteten Potenzgesetz.

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2.5. INVAR-MATERIALIEN 25

Abbildung 2.22: ARPES-Spektren von SrCuO2 [Kim et al., Phys. Rev. Lett. 77 (1996) 4054].

2.5 Invar-Materialien

Die (normale) thermische Ausdehnung eines Festkorpers (Isolators, elektronische Beitragewerden hier nicht betrachtet) ist eine Folge der Anharmonizitat der Bindungsenergie. Einunsymmetrischer Verlauf des Potentials zwischen benachbarten Atomen fuhrt dazu, dass mitsteigender Temperatur nicht nur die Amplitude der Schwingungen der Atome wachst, son-dern auch der mittlere Atomabstand; das Material dehnt sich aus. Dieses normale Verhaltenwird durch das Gruneisen-Gesetz beschrieben, gemaß dem der thermische Ausdehnungskoef-fizient annahernd proportional zur spezifischen Warme ist. Diese folgt der Debye-Funktion,die mit steigender Temperatur S-formig zunimmt und bei hohen Temperaturen in Sattigunggeht.

2.5.1 Fe-Ni-Legierungen

Bereits im Jahr 1897 entdeckte Ch. E. Guillaume (Comp. Rend. Acad. Sci. Paris 125 (1897)235), dass eine Legierung der Zusammensetzung Fe65Ni35 in einem Temperaturbereich rundum Raumtemperatur einen verschwindend kleinen thermischen Ausdehnungskoeffizientenhat (Abb. 2.25). 1920 erhielt er fur diese Entdeckung den Physiknobelpreis. Dieses anomaleVerhalten wird als Invar-Effekt bezeichnet. Dieser Effekt ist von praktischem Interesse, daMaterialien mit sehr geringem Ausdehnungskoeffizienten durch Temperaturschocks mecha-

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26 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Zickzack-

struktur

Chirale

Struktur

Armsessel-

struktur

Abbildung 2.23: Graphit und verschiedene Arten von Kohlenstoff-Nanorohrchen [C. Strunk,Physik in unserer Zeit 36 (2005) 176; nach Chemie in unserer Zeit 39 (2005) 17 ].

nisch kaum beansprucht werden. Heute kennt man auch Materialien mit besonders großemAusdehnungskoeffizienten (z.B. fcc Eisen); in diesem Fall spricht man vom anti-Invar-Effekt.Der Invar-Effekt tritt auf, wenn der normale positive Beitrag zur thermischen Ausdehnung,der von den thermischen Anregungen der Gitterschwingungen (Phononen) herruhrt, gera-de duch einen negativen Beitrag kompensiert wird. Da alle Invar-Materialien magnetischsind, liegt es nahe, dass die magnetische Ordnung an diesem Effekt beteiligt ist. Dies um-somehr, als es oberhalb der Curie-Temperatur keinen Invar-Effekt gibt. Da der Invar-Effektkein isoliertes Phanomen ist, sondern in einer großen Anzahl von Legierungen, jedoch immerbei bestimmter Zusammensetzung, gefunden wird, muß der entsprechende Machanismus einfundamentaler sein. Invar-Verhalten tritt sowohl in Systemen mit itineranten magnetischenMomenten (z.B. Fe und seinen Legierungen), als auch in solchen mit lokalisierten Momen-ten (Legierungen, die Selten-Erd-Atome enthalten) auf. Als mogliche Anregungen werdenderzeit Magnonen und Spinfluktuationen (Abschnitte 4.1.4/4.2.2 und 4.1.5) diskutiert. Mankann zeigen, dass diese Anregungen unter bestimmten Umstanden stark an das Volumenkoppeln und somit die Temperaturabhangigkeit der Magnetostriktion (Volumenanderungim Magnetfeld) steuern.

2.5.2 Die Verbindung YbGaGe

Fur das Invar-Verhalten der Verbindung YbGaGe wird ein anderer Mechanismus verantwort-lich gemacht. Messungen der magnetischen Suszeptibilitat zeigen (Abb. 2.26), dass das effek-

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2.5. INVAR-MATERIALIEN 27

Abbildung 2.24: Differentielle Leitfahigkeit dI/dV eines Metall/Bundel einwandigerKohlenstoff-Nanorohrchen/Metall-Tunnelkontakts (Skizze). Die Rohdaten des Teilbildes sindim Hauptbild skaliert dargestellt [Bockrath et al., Nature 397 (1999) 598].

tive magnetische Moment mit steigender Temperatur zunimmt. Dies wird so interpretiert,dass mit steigender Temperatur mehr und mehr Yb-Atome vom diamagnetischen Valenz-zustand Yb2+ in den paramagnetischen Valenzzustand Yb3+ ubergehen (effektives Momentvon freiem Yb3+-Ion: 4,54 µB). Da das Volumen von Yb3+ wesentlich kleiner ist als jenes vonYb2+ bedingt dieser Effekt eine Volumenverkleinerung mit steigender Temperatur (negati-ve thermische Ausdehnung). Kombiniert mit der normalen (Phononen-bedingten) positiventhermischen Ausdehnung ergibt sich insgesamt der experimentell beobachtete Invar-Effekt(Abb. 2.27). Die elementaren Anregungen dieses Valenzubergangs sind Valenzfluktuationen.

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28 KAPITEL 2. MATERIALIEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Abbildung 2.25: Oben: Thermischer Ausdehnungskoeffizient von Fe-Ni-Invar im Vergleichzu normalem Stahl. Fur hohe Temperaturen folgt der Ausdehnungskoeffizient wieder demGruneisengesetz. Unten: Thermischer Ausdehnungskoeffizient von Fe-Ni-Invar bei 300 K alsFunktion der Ni-Konzentration.

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2.5. INVAR-MATERIALIEN 29

Temperature (K)

Abbildung 2.26: Magnetische Suszeptibilitat (links) und ihr Inverses (rechts) als Funktionder Temperatur von YbGaGe [Salvador et al., Nature 425 (2003) 702].

Temperature (K)

Abbildung 2.27: Temperaturabhangigkeit des Einheitszellenvolumens von zwei leicht unstoi-chiometrischen YbGaGe Verbindungen YbGa1+δGe1−δ (oben) und YbGa1−δGe1+δ (unten)[Salvador et al., Nature 425 (2003) 702].