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Sonderdruck aus: Thierry Luterbacher (Hrsg.) Verantwortlichkeits-, Zivilprozess- und Versicherungsrecht (Band 1 «Versicherung in Wissenschaft und Praxis») Urs Bertschinger Führung und Verantwortung in der Aktiengesellschaft Aktuelle Fragen und Perspektiven für die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2012

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Sonderdruck aus:

Thierry Luterbacher (Hrsg.)

Verantwortlichkeits-, Zivilprozess- und Versicherungsrecht(Band 1 «Versicherung in Wissenschaft und Praxis»)

Urs Bertschinger

Führung und Verantwortung in der AktiengesellschaftAktuelle Fragen und Perspektiven für die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung

Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2012

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Führung und Verantwortung in der Aktiengesellschaft

Aktuelle Fragen und Perspektiven für die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung

Urs Bertschinger1

Inhaltsübersicht

I. Einführung 4II. Klagelegitimation im Konkurs der Gesellschaft 5III. Business Judgement Rule 7IV. Haftungsbeschränkende Delegation 10V. Haftung der Muttergesellschaft im Konzern –

eine Verteidigungsstrategie der Organpersonen? 11VI. Grundstrukturen der Aktiengesellschaft und aktienrechtliche Verantwortlichkeit 13VII. Vergütung 15

A. Kompetenzfragen 15B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung und

Sorgfaltspflicht der Entscheidungsträger 16C. Konkretes zur Höhe der Vergütung an Organpersonen 19D. Abgangsentschädigungen 20E. Rückerstattung von Vergütungen 21F. Soziale Dimension der Vergütung 22

VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen – Aktuelle Entwicklungen 23A. Interessenkonflikte im Allgemeinen 23B. Verbot gegenseitiger Einflussnahme auf Entschädigungen 24C. Interessenkonflikte von Organpersonen und Verantwortlichkeit 25

IX. Die Gesellschaft in der finanziellen Krise 27A. Pflichten der Verwaltungsräte – «Reden ist Silber, Handeln ist Gold» 27B. Pflichten der Revisionsstelle 29C. Gläubigerschutz 30D. Sanierungsrecht und Sanierungspflicht 32E. Der Richter als Manager? 33

1 Der Beitrag entspricht einer überarbeiteten Fassung des Beitrages an der Tagung der AXA-ARAG vom 1. September 2010 in Zürich. Die Vortragsform wurde grundsätzlich beibehalten. Das Manuskript wurde Anfang September 2011 abgeschlossen.

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X. Finanzielle Führung in der Krise – Aktienrechtsrevision 34A. Liquiditätsplan 34B. Massgeschneiderte Sanierungsvoraussetzungen 35

XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates 35XII. «Deep pockets» der Revisoren und Griff in die Taschen von Verwaltungsräten

und Geschäfts leitungsmitgliedern 36A. Streitverkündungsklage 36B. Neuordnung der Revisionshaftung 42

XIII. Ausblick – Diskussionskultur in den Leitungsgremien der Aktiengesellschaft 45Literaturverzeichnis / Materialienverzeichnis 46

I. Einführung

Verwaltungsrat und Geschäftsleitung sind Führungs- und Verantwortungsgre-mien. Wenn Geschäfte schief gehen, werden die Schuldigen gesucht. Wirt-schaftlicher Misserfolg ist allerdings nicht per se ein Haftungsgrund. Dieses Rechtsprinzip hat volkswirtschaftliche Bedeutung, da es den Willen, ökonomi-sche Risiken einzugehen, determiniert.

Das Verantwortlichkeitsrecht ist in der Praxis der Gerichte das «lebendigste» Gebiet des Aktienrechts. Zwar sind Verantwortlichkeitsklagen bei den aufrecht-stehenden Gesellschaften eine seltene Ausnahme,2 doch spielt das aktienrecht-liche Verantwortlichkeitsrecht auch ausser Konkurs der Gesellschaft als Druck-mittel in Diskussionen, etwa zwischen unzufriedenen Aktionären und dem Verwaltungsrat, eine gewisse Rolle. Der teilweise altruistische Einschlag der Klage des Aktionärs ausser Konkurs, mit welcher ein Schaden der Gesellschaft durch Leistung an diese, nicht an den Aktionär, liquidiert werden soll,3 wirkt abschottend, ist aber systemkonform.4 Ob die Gesellschaft gegen ausgeschie-dene Organpersonen Klage führen soll, wie es im Nachgang zur Finanzkrise

2 Vgl. dazu den unter VII.C. erwähnten Fall.3 Vgl. Art. 756 OR.4 Der Versuch der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Stän-

derates, im Nachgang zur Finanzkrise von 2008/2009 die Übernahme der Kosten von Verantwortlichkeitsklagen gegen ehemalige Organpersonen der UBS durch die Eidgenossenschaft garantieren zu lassen, ist zu Recht gescheitert (vgl. Die Behörden unter dem Druck der Finanzkrise und der Herausgabe von UBS-Kundendaten an die USA, Bericht vom 30. Mai 2010 der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalra-tes und des Ständerates, Stellungnahme des Bundesrates vom 13. Oktober 2010, BBl 19. April 2011, S. 3498 ff.).

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2008/2009 bei einem systemrelevanten Unternehmen gefordert wurde, liegt in erster Linie in der Verantwortung des Verwaltungsrates. Er fällt diesen Ent-scheid im Lichte von Art. 717 Abs. 1 OR im besten Interesse der Gesellschaft.5

Solange die Gesellschaft aufrecht steht, kommt den Gläubigern kein Klagerecht zu. Zwar sind ihre Forderungen buchhalterisch unter Umständen bereits im Wert zu berichtigen, doch steht das aktienrechtliche Verantwortlichkeitsrecht nicht im Dienste des präventiven Gläubigerschutzes, was sich auch mit einer gewissen Abschottung der geschäftsführenden Organpersonen von Druckver-suchen der Gläubiger erklärt.

Im Konkurs der Gesellschaft sind Verantwortlichkeitsklagen gegen die Verwal-tungsräte und geschäftsführenden Organpersonen (sowie die Revisionsstelle6) weit verbreitet, sodass hier für die Organpersonen eine substantielle Gefahr lauert, im Falle wirtschaftlichen Misserfolgs für vermeintliches Fehlverhalten in den Strudel von Haftungsfragen gezogen zu werden. Bekanntlich ist die Ge-schäftsführungshaftung des Art. 754 OR in jeder Beziehung voll am Anschlag: Die Haftung ist zwingender Natur, greift bei jedem Verschulden, ohne dass eine Haftungslimite bestünde. Auf dieser Grundlage kann sich für das Privatvermö-gen der unter Art. 754 OR passivlegitimierten Personen – selbst bei einer Or-ganversicherung – eine düstere Perspektive ergeben.

Im Folgenden sollen aktuelle Aspekte der Haftung von Verwaltungsräten und Geschäftsleitungsmitgliedern aufgegriffen werden. Dabei wird sowohl auf As-pekte des geltenden Rechts als auch auf Fragen eingegangen, welche sich im Zuge der laufenden Aktienrechtsrevision ergeben.

II. Klagelegitimation im Konkurs der Gesellschaft

Im Konkurs der Aktiengesellschaft ist die Aktivlegitimation des Klägers ein heiss umstrittenes Thema. Weil die Gleichbehandlung der Gläubiger im Konkurs

5 Vgl. dazu den Transparenzbericht an die Aktionärinnen und Aktionäre der UBS AG, Finanzmarktkrise, grenzüberschreitendes US-Vermögensverwaltungsgeschäft, Ver-antwortlichkeitsfragen und interne Aufarbeitung, 2010, S. 55 ff.(58 ff.). Das Gesell-schaftsinteresse bildet auch die Leitlinie für den Fall, dass die Generalversammlung über die Anhebung einer Verantwortlichkeitsklage entscheiden soll, was dazu führen kann, dass der Verwaltungsrat das Traktandum zur Ablehnung empfehlen muss.

6 Art. 755 OR.

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hochgehalten wird, wurde mit BGE 122 III 176 ff. («X. Corporation») die Gel-tendmachung direkter Schäden durch die Gläubiger eingeschränkt. Diese zu-nächst heftig kritisierte Rechtsprechung, die mittlerweile eingeschliffen ist, stellt unter gewissen Umständen bei der Klagelegitimation nicht auf die Vermö-gensmasse ab, in welcher der Schaden eingetreten ist, sondern auf die Rechts-grundlage der jeweiligen Schadenersatzpflicht.

BGE 132 III 564 liefert eine Zusammenfassung der geltenden Rechtslage. Direk-ter Schaden des Klägers ist direkt ersatzfähig und kann jederzeit geltend ge-macht werden. Der indirekte Schaden bzw. Gesellschaftsschaden ist indirekt ersatzfähig. Es handelt sich um einen Reflexschaden («dommage par ricochet»), welcher als Anspruch der Gläubigergesamtheit der Klage- und Verteilungsord-nung von Art. 757 Abs. 2 und 3 OR unterliegt. Soweit gleichzeitig ein direkter und ein indirekter Schaden des Klägers vorliegt, das heisst das Verhalten einer Organperson einen direkten Gläubigerschaden sowie einen Schaden der Gesell-schaft verursacht hat, greift die bereits erwähnte Praxisschranke, wonach sich die Ersatzpflicht nach der Rechtsgrundlage der jeweiligen Schadenersatzpflicht bestimmt. In diesem Szenario kann der Gläubiger nur dann einen direkten Schaden (mit Leistung an sich selbst) geltend machen, wenn dem fehlbaren Gesellschaftsorgan ein widerrechtliches Verhalten nach Art. 41 OR, eine culpa in contrahendo oder die Verletzung einer (seltenen) Norm des Gesellschafts-rechts vorzuwerfen ist, welche ausschliesslich den Gläubigerinteressen dient. BGE 132 III 5697 präzisiert, dass sich bei ausschliesslicher Schädigung des Gläu-bigers – ohne, dass die Gesellschaft selbst einen Schaden erlitten hat – die Geltendmachung des Schadens nach den allgemeinen Regeln der zivilrechtli-chen Haftung richtet.

Der Bundesrat schlägt im Rahmen der Aktienrechtsrevision die Streichung von Art. 757 Abs. 3 OR vor, weil diese Bestimmung, welche ausdrücklich auf die SchKG-Abtretung verweist, «überflüssig (sei), da bereits in Artikel 757 Absatz 2 materiell auf Art. 260 SchKG verwiesen wird.»8 Fraglich ist, ob Art. 757 Abs. 2 OR über diesen materiellen Verweis auf das SchKG hinaus eine selbständige Bedeutung im Sinne eines Direktklagerechts der Aktionäre oder Gläubiger zu-kommt. Das Bundesgericht hat festgehalten, dass in materiellrechtlicher Hin-sicht kein Unterschied besteht zwischen dem Anspruch, den sich ein Gläubiger nach Art. 260 SchKG abtreten lässt, und dem Anspruch, den die Aktionäre oder

7 E. 3.2.1.8 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1693.

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Gläubiger direkt aus Art. 757 Abs. 1 und 2 OR erheben können.9 Ausdrücklich offen gelassen wurde die Frage, ob ein Gläubiger gestützt auf Art. 757 Abs. 2 OR ohne entsprechende Abtretung direkt klagen könnte.10 Früher hat das Bun-desgericht angedeutet, dass «es der Rechtssicherheit bzw. der Koordination unter den klageberechtigten Gläubigern halber» unter Art. 757 Abs. 2 OR «ei-ner Ermächtigung oder zumindest einer förmlichen Mitteilung der Konkursver-waltung bedarf», da die nach Art. 757 Abs. 2 OR klageberechtigten Gläubiger – wie bei Art. 260 SchKG – eine notwendige Streitgenossenschaft bilden.11 Die Voraussetzungen der Klageerhebung im Konkurs der Gesellschaft bleiben folg-lich auch nach der beabsichtigten Streichung von Art. 757 Abs. 3 OR etwas unklar.

III. Business Judgement Rule

Die aus dem angelsächsischen Rechtsraum bekannte «Business Judgement Rule» wurde vom Bundesgericht erstmals im Urteil vom 19. Juni 2002 im Kon-text der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit allgemein erwähnt,12 doch blieb diese «Rule» in der Rechtsprechung bislang ohne Kontur. Der Schweizer Gesetz-geber schickt sich nicht an, eine entsprechende Regelung zu schaffen, was für die geschäftsführenden Organpersonen allerdings kaum von Nachteil sein dürf-te. Im Schrifttum wird geltend gemacht, dass sich die Beweislastverteilung au-sserhalb des Anwendungsbereiches einer «Business Judgement Rule» grundle-gend ändern würde, da (widerlegbar) vermutet würde, dass die beklagte Or-ganperson ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist.13

Im erwähnten Bundesgerichtsentscheid ging es um die Gewährung eines Be-triebskredites durch eine Bank. Der Kredit war hypothekarisch gesichert, wobei das Grundstück zu hundert Prozent belehnt wurde. Nach Feststellung der Vor-instanz waren keine Angaben zur Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit des Schuldners verfügbar. Allerdings wurde der Kredit seitens der Bank nicht gera-

9 Bundesgericht 4A_446/2009 vom 8. Dezember 2009, E. 2.4 (nicht publiziert in BGE 136 III 107).

10 Bundesgericht, a.a.O.11 Bundesgericht 4C.263/2004 vom 23. Mai 2005, E. 1.2 (nicht publiziert in BGE 132 III

222); vgl. zum Ganzen auch Vogt/Schönbächler, S. 251 ff.12 Bundesgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.13 bahar/trigo trindade, S. 158.

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dezu blindlings erteilt. Wenngleich Betriebskredite in der Bankpraxis auch blanko gewährt werden, bestand im betreffenden Fall eine, wenn auch letztlich ungenügende Deckung und dem inhärenten Risiko wurde mit einem Zinszu-schlag Rechnung getragen. Das Bundesgericht kritisierte, dass es an einer unab-hängigen Verkehrswertschätzung der Liegenschaft mangelte, und stellte fest, dass einer Schätzung der Liegenschaft aus dem Jahre 1989 in der Höhe von CHF 7 Mio. ein Schätzungsgutachten von 1998 mit einem Liegenschaftswert von bloss CHF 6,25 Mio. gegenübersteht. Ins Gewicht fiel dabei auch, dass die Ver-kehrswertschätzung im Rahmen der Krediterteilung durch den Hauptaktionär erfolgte, was das Bundesgericht andeutungsweise unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Verkehrswertschätzung als problematisch erachtete. In seinen Erwägungen hält das Bundesgericht fest:14 «Eine finanziell gesunde Basis erlaubt allenfalls, dass ein Unternehmen in einem klar beschränkten Rahmen eher Risi-ken eingehen kann als ein anderes Unternehmen. Voraussetzung bleibt aber auch dann, dass das Risiko bewusst eingeschätzt und klar eingegrenzt wird.»

Die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit ist im Verwaltungsrat der Akti-engesellschaft ein Dauerbrenner. Der Datensatz für unternehmerische Ent-scheide ist in der Praxis stets unvollständig. Risikofreie Transaktionen gibt es kaum, jedenfalls schafft normalerweise das Risiko erst die Verdienstmöglichkeit. Es müssen deshalb auch unter Risiko Entscheide gefällt werden und zwar so-wohl auf der Stufe des Verwaltungsrates als auch der Geschäftsleitung der Gesellschaft. Von grosser Tragweite ist die Erkenntnis, dass der wirtschaftliche Misserfolg allein keinen Haftungsgrund bilden kann.15 Sobald es zu einem Scha-den kommt, rückt deshalb der Entscheidungsprozess in den Brennpunkt des Interesses. Im Rahmen der «Business Judgement Rule» schweizerischer Prägung geht es nach einer Lehrmeinung darum, dass ein bewusster und formell korrekter Entscheid gefällt wird, sich das Handeln im Rahmen des Gesellschaftszweckes bewegt, die geschäftsführenden Organpersonen unabhängig und frei von Inte-ressenkonflikten entscheiden können, der Entscheid aufgrund ausreichender Informationen und im Rahmen eines angemessenen Verfahrens erfolgt, die zwingenden gesetzlichen Vorschriften eingehalten werden und der Entscheid sich im weitesten Rahmen des Vernünftigen bewegt.16 Unter diesen Vorausset-

14 Bundesgericht 4C.201/2001, E. 2.1.2.15 Vgl. dazu schon oben unter I.16 Vgl. zum Ganzen graSS, mit der schematischen Übersicht auf S. 147 zum «Business

Judgement Rule-Test» unter schweizerischem Recht.

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zungen fällt eine Haftung der Entscheidungsträger für einen schadenstiftenden Geschäftsführungsentscheid ausser Betracht.17

Das Gesagte erhellt, dass der unternehmerische «Bauchentscheid» ex post mit rechtlichen Risiken verbunden sein kann. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass gekonntes Unternehmertum viel mit Intuition zu tun hat. Unter rechtlichem Gesichtspunkt drängt sich allerdings eine gewisse Formalisierung der Entschei-dungsfindung in der Aktiengesellschaft auf, was zum Box Ticking führt, etwa hinsichtlich der Frage, ob die wesentlichen Aspekte eines Geschäftes tangiert und dokumentiert sind.18 Dabei spielt auch eine Rolle, ob die Grenzen des eige-nen Beurteilungsvermögens der Verwaltungsräte gesprengt werden und sich deshalb der Beizug eines Beraters oder die Verstärkung des Verwaltungsrates mit einer fehlenden Kompetenz aufdrängt.

In der Praxis der Gerichte zeigt sich eine Zurückhaltung bei der richterlichen Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden, wobei eine «ernsthafte Ent-scheidungsfindung» vorausgesetzt wird.19 Das Bundesgericht bringt zum Aus-druck, dass «dieser Grundsatz auch nur für Entscheide gelten mag, die frei von Interes-senkonflikten getroffen wurden.»20 Unter praktischem Gesichtspunkt ist bedeut-sam, dass den beklagten Organpersonen die Verteidigung wegen mangelhafter Substanziierung des klägerischen Vorbringens offen steht. Die Gerichte neigen nicht dazu, im Bereich von Geschäftsführungsentscheiden die allgemeine Le-benserfahrung extensiv zum Tragen zu bringen. Entsprechend hat das Bundes-gericht einem Kläger, der geltend machte, «dass ein Personalabbau bei massiven Liquiditätsschwierigkeiten zufolge auftragsrückgangsbedingter Überkapazität ein probates Mittel sei, einen Konkurs zu vermeiden», entgegengehalten, dass darzutun gewesen wäre, «welche konkreten Personen hätten entlassen werden müssen, damit dies S. (Tochtergesellschaft) genützt und nicht vielmehr gescha-det hätte.»21

17 Kritisch böckli, Verwaltungsräte, S. 6 f., mit dem Hinweis, dass das zentrale Haftungs-risiko für die Verwaltungsräte in einer Unterlassung liege. – Damit ist insbesondere die Überwachungspflicht angesprochen, bei deren Verletzung (als Ausfluss der Verschul-denshaftung) im Rahmen des Menschenmöglichen die Haftung eintritt; vgl. dazu auch unter IV.

18 Zur Dokumentation des Entscheidungsprozesses auch Von der crone, S. 8.19 Bundesgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.1.20 Bundesgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.21 Bundesgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.

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IV. Haftungsbeschränkende Delegation

Mit den Entscheiden 4A_501/2007 und 4A_503/2007 vom 22. Februar 2008 hat das Bundesgericht die formellen Voraussetzungen der Delegation der Geschäftsführung festgelegt, unter denen die Haftungserleichterung gemäss Art. 754 Abs. 2 OR greift. Nach dieser Vorschrift haftet derjenige, der die Er-füllung einer Aufgabe befugterweise einem anderen Organ überträgt, für den von diesem verursachten Schaden, sofern er nicht nachweist, dass er bei der Auswahl, Unterrichtung und Überwachung die nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat.22 Das Bundesgericht stellt klar, dass mit der «befug-terweise» erfolgten Delegation die Voraussetzungen von Art. 716b OR ange-sprochen sind. Eine haftungsbeschränkende Delegation der Geschäftsführung verlangt folglich nach einer statutarischen Grundlage – was einer Standard-klausel in den Gesellschaftsstatuten entspricht – sowie einem Organisations-reglement. Dabei setzt das Bundesgericht zumindest einen protokollierten Mehrheitsbeschluss des Verwaltungsrates voraus, der die Ordnung der Ge-schäftsführung regelt, die hierfür erforderlichen Stellen bestimmt, deren Aufgaben umschreibt sowie die Berichterstattung an den Verwaltungsrat re-gelt. Geschäftskorrespondenz oder bloss mündliche Aussagen sind für eine haftungsbeschränkende Delegation unzureichend.23 Eine unbefugte Delegati-on, das heisst eine Delegation, welche nicht die erwähnten formellen Voraus-setzungen erfüllt, schliesst nach Auffassung des Bundesgerichts auch das Ar-

22 Kritisch zur Wirksamkeit von Art. 754 Abs. 2 OR böckli, Verwaltungsräte, S. 5 f., mit Verweis auf die Überwachungspflicht (Aufsichts- und Eingriffspflicht); vgl. auch Bun-desgericht 4C.358/2005 vom 12. Februar 2007, E. 5.2.1 (nicht publiziert in BGE 133 III 116): «Es gehört zu den unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben des Verwal-Es gehört zu den unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben des Verwal-tungsrats, die Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen wahrzunehmen, namentlich im Hinblick auf die Befolgung der Gesetze, Statuten und Weisungen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR). Der nicht geschäftsführende Verwaltungsrat ist zwar nicht verpflichtet, jedes einzelne Geschäft der mit der Geschäftsführung und Vertretung Beauftragten zu überwachen, sondern darf sich auf die Überprüfung der Tätigkeit der Geschäftsleitung und des Geschäftsganges beschränken. Dazu gehört, dass er sich laufend über den Geschäftsgang informiert, Rapporte verlangt, sie sorg-fältig studiert, nötigenfalls ergänzende Auskünfte einzieht und Irrtümer abzuklären versucht. Ergibt sich aus diesen Informationen der Verdacht falscher oder unsorgfälti-ger Ausübung der delegierten Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnisse, ist der Verwaltungsrat verpflichtet, sogleich die erforderlichen Abklärungen zu treffen, nö-tigenfalls durch Beizug von Sachverständigen (…). Verdachtsmomente können Grund für erhöhte Aufmerksamkeit sein».

23 A.M. noch bertSchinger, Organisationsreglement, S. 190 f.

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gument des rechtmässigen (aber nutzlosen) Alternativverhaltens aus.24 Nach dieser allgemeinen Figur des Haftpflichtrechts haftet nicht, wer geltend ma-chen kann, dass der Schaden selbst bei sorgfältiger Auswahl, Instruktion und Überwachung nicht hätte verhindert werden können bzw. gleichwohl einge-treten wäre.25

Nach dem Gesagten erweist sich die laufende Anpassung des Organisationsregle-mentes in einer lebendigen Organisation als ein Muss. Das Organisationsregle-ment sollte deshalb sowohl ein Standard- als auch ein Ad hoc-Traktandum des Verwaltungsrates darstellen,26 damit die tatsächliche Organisation mit der for-mell dokumentierten Organisation übereinstimmt und sich die Delegation im Rahmen des Abweichungsgrades nach der Rechtsprechung nicht als unwirksam erweist. Die vom Bundesgericht erkannte Beweismittelbeschränkung für die arbeitsteilige Organisation27 setzt einen weiteren Akzent im formellen Spiel der Aktiengesellschaft.

V. Haftung der Muttergesellschaft im Konzern – eine Verteidigungsstrategie der Organpersonen?

Die Haftung der Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für fehlbares Verhalten in der Tochtergesellschaft stellt ein heikles Thema der Haftung im Konzern dar. Auf der Suche nach Haftungssubstrat tendieren Kläger dazu, Ar-gumente einzubringen, welche nicht bloss auf die Haftung natürlicher Personen aus Art. 754 OR zielen, sondern die Muttergesellschaft aus faktischer Organ-schaft ins Recht fassen wollen. Im Urteil 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010 hat das Bundesgericht die bisherige Rechtsprechung zusammengefasst. Juristische Personen fallen als faktische Organe in Betracht, wobei eine dauernde Zustän-digkeit erforderlich ist und ein Handeln im Einzelfall nicht genügt.28 In Anleh-nung an BGE 128 III 92 bestätigt das Bundesgericht, dass eine blosse Einfluss-nahme bzw. Einmischung die Organstellung nicht zu begründen vermag, son-dern die Bildung übertragener oder usurpierter Zuständigkeiten erforderlich

24 Bundesgericht 4A_501/2007 und 4A_503/2007, E. 3.3.25 Vgl. allgemein roberto, S. 49 f., sowie Bundesgericht 9C_330/2010 vom 18. Januar

2011, E. 3.2.26 Vgl. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 2 OR.27 Vgl. bei Fn. 23.28 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.1.

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ist. Nach den Erwägungen des Bundesgerichts fällt die faktische Organschaft einer Muttergesellschaft bei Doppelorganschaft von Personen in der Mutter und der Tochter in Betracht. Dabei müssen sich diese Personen «in der Eigen-schaft als Organ der Muttergesellschaft in die Verwaltung und Geschäftsführung der Tochtergesellschaft einmischen und dieser dabei einen Schaden verursachen.» Das Bun-desgericht hält allgemein fest: «Nimmt die Muttergesellschaft direkt durch Weisun-gen auf das Verhalten des Doppelorgans Einfluss, kann sie selber zum faktischen Organ der Tochtergesellschaft und somit nach Art. 754 OR für Pflichtverletzungen haftbar werden.»29 Allerdings lässt sich eine Pflichtverletzung der Muttergesellschaft nicht schon dadurch dartun, dass ein Doppelorgan einen Entscheid der Ober-gesellschaft mitträgt, beispielsweise den Beschluss, der Untergesellschaft weni-ger Aufträge zu erteilen. In diesem Fall handelt es sich nicht um einen Entscheid im Rahmen der Geschäftsleitung der Untergesellschaft und eine Haftung liefe nach Auffassung des Bundesgerichts darauf hinaus, «die Muttergesellschaft für jeden in ihrem Interesse gefällten Entscheid, der sich zulasten der Tochtergesellschaft auswirkt, wegen des blossen Umstands, dass daran Doppelorgane mitwirken, haftbar zu machen, ohne dass eine haftungsbegründende Verletzung von organschaftlichen Pflichten der Obergesellschaft als faktisches Organ der Untergesellschaft darzutun wäre.»30 Illustrativ ist die Erwägung des Bundesgerichts, wonach die Haftung der Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft denkbar wäre, «wenn die Mutter-gesellschaft gegenüber der Tochtergesellschaft eine Bezugsverpflichtung für IT-Dienst-leistungen eingegangen wäre und das Doppelorgan es auf Weisung der Muttergesell-schaft hin unterlassen hätte, diese Verpflichtung bzw. diesen Anspruch als Organ der Tochtergesellschaft durchzusetzen.»31

Die Entwicklung, welche die Muttergesellschaft stärker in den Fokus der fakti-schen Organschaft rückt, ist – bei vertiefter Reflexion – bedauerlich. Schaden-stiftendes Fehlverhalten in der Aktiengesellschaft entspringt stets einem Wil-lensentschluss und der Willensbetätigung durch natürliche Personen, wofür diese Personen nach der Ordnung des Gesetzes persönlich haften sollen. Die Geschäftsführungshaftung des Art. 754 OR sollte deshalb auch weiterhin in erster Linie auf den fehlbaren Einzelnen zielen, ansonsten das Fehlverhalten einer natürlichen Person unter Umständen eine grosse Gesellschaft ins Verder-ben stürzen kann. 32 Damit würde das Fehlverhalten eines Einzelnen quasi kol-

29 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.2.30 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.31 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.32 Vgl. auch bertSchinger, Verantwortlichkeit, N 315.

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lektiviert, was den Organpersonen ermöglichen könnte, die Verantwortlichkeit auf die juristische Person «abzuschieben», sofern die natürliche Person auf-grund ihres vergleichsweise geringen Haftungssubstrates gar nicht in den Ver-antwortlichkeitsprozess einbezogen wird.33 Im Ergebnis kann sich infolge der Haftung der Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für den Verantwort-lichkeitskläger nach der hier vertretenen Auffassung ein tendenziell überschies-sender Schutz zu Lasten einer Vielzahl von Stakeholders ergeben.

VI. Grundstrukturen der Aktiengesellschaft und aktienrechtliche Verantwortlichkeit

Der Bundesrat hat im Gesetzesentwurf zur Revision des Aktienrechts vom Dezember 2007 ein neues Element für die Kompetenzordnung der Aktienge-sellschaft vorgeschlagen, indem aufgrund eines bedingt notwendigen Statuten-inhaltes Entscheide des Verwaltungsrates der Genehmigung durch die General-versammlung unterworfen werden könnten.34 Konkret hätten sich Entscheide, welche die Oberleitung der Gesellschaft und die Erteilung der nötigen Weisun-gen sowie die Festlegung der Organisation betreffen,35 der Genehmigung durch die Generalversammlung unterwerfen lassen.36 Die Entscheide des Verwal-tungsrates nach Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3-7 OR sollten gemäss Art. 716b Abs. 1 E-OR von dieser Ordnung ausgenommen sein. Als praktische Anwendungsfälle für die Genehmigung durch die Generalversammlung konnte man sich den Beschluss über das Organisationsreglement, Investitionsentscheide, die der Genehmigung des Verwaltungsrates unterliegen, den Erwerb oder die Veräu-sserung einer sachlich festgelegten Beteiligung sowie die Geschäftsausweitung

33 Vgl. Art. 759 Abs. 2 OR.34 Art. 627 Ziff. 14 E-OR.35 Vgl. Art 716a Abs. 1 Ziff. 1 und 2 OR.36 Mit der Botschaft Abzockerei (vom 5. Dezember 2008) wurde der Bereich der zulässi-

gen Genehmigungsvorbehalte seitens der Generalversammlung auf die Ziffern 3 und 5 bis 7 von Art. 716a Abs. 1 OR eingeschränkt. Damit sollte im Rahmen von Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR der statutarische Genehmigungsvorbehalt für die Vergütungen von mit der Geschäftsführung betrauten Personen ausgeklammert werden (Art. 627 Ziff. 4 E-OR; Botschaft Abzockerei, S. 320 f.). Im Vergleich dazu hätte der allgemeine Genehmigungsvorbehalt zu Gunsten der Generalversammlung betreffend Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR auch die Genehmigung von Personalentscheiden für das oberste Mana gement ermöglicht. Die Botschaft zur Abzockerei hat in dieser Hinsicht eine Ein-schränkung gebracht.

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innerhalb des statutarischen Zweckes auf einen sachlich bestimmten Geschäfts-bereich vorstellen. Bemerkenswert ist, dass gemäss Art. 716b Abs. 3 E-OR die Genehmigung durch die Generalversammlung die Haftung des Verwaltungsra-tes nicht einschränken sollte. Der Bundesrat hatte also quasi einen «free lunch» für die Aktionäre im Auge.

Der Ständerat hat am 9. Juni 2009 die Streichung dieser Bestimmungen be-schlossen, weil sie das aktienrechtliche Paritätsprinzip durchbrechen würden und die erforderlichen Informationen für die Generalversammlung im Hinblick auf den Genehmigungsbeschluss auch Geschäftsgeheimnisse betreffen könn-ten. Bundesrätin Widmer-Schlumpf hat damals für den Vorschlag des Bundesra-tes gekämpft und geltend gemacht, dass es sich um einen liberalen Ansatz handle, welcher für Familienunternehmen eine interessante Gestaltungsmög-lichkeit darstelle. Zudem hat sie eingebracht, dass die Bestimmung keinen zwingenden Charakter habe und die Haftung des Verwaltungsrates im Falle der Genehmigung durch die Generalversammlung, wie erwähnt, nicht ausgeschlos-sen werde.37 Darin liegt nach Auffassung des Schreibenden denn auch einer der wunden Punkte.38 Dass die Botschaft des Bundesrates festhält, dass «in Ausnah-mefällen die an der GV teilnehmenden Aktionärinnen und Aktionäre zu faktischen Organen im Sinne der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit werden können, wenn sie Aufgaben des VR übernehmen und funktional an dessen Stelle treten»,39 macht die Sache keineswegs besser, sondern setzt vielmehr den Stachel für leidvolle Dis-kussionen um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit der Aktionäre im Grenz-bereich zur faktischen Organschaft.

Die Aktiengesellschaft besticht mit dem Paritätsprinzip durch ein im Wesentli-chen klares und damit marktfähiges Konzept. Bewegungen in den Grundstruk-turen der Aktiengesellschaft, welche in die bislang als unübertragbar und un-entziehbar bezeichneten Organkompetenzen40 eingreifen, stellen deshalb einen Malus dieses Institutes dar, was auch im internationalen Standort-Wettbewerb für die Schweiz negativ ins Gewicht fallen kann. Es ist deshalb zu hoffen, dass der Vorschlag des Bundesrates, den Aktionären gestützt auf eine statutarische Grundlage die Genehmigung von Entscheiden des Verwaltungsrates aus dem Kompetenzbereich des Art. 716a Abs. 1 OR zu ermöglichen, im Zuge der wei-

37 Stenographisches Bulletin StR vom 9. Juni 2009, S. 620.38 Vgl. dazu schon bertSchinger, Generalversammlung, S. 314 f.39 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.40 Art. 716a Abs. 1 OR.

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teren Diskussionen um die Revision des Aktienrechts keine Wiederbelebung erfährt.

VII. Vergütung

A. Kompetenzfragen

Nach heute wohl herrschender Meinung kann die Generalversammlung über die Vergütung von Organpersonen nicht bindend, sondern lediglich konsultativ entscheiden. Der Entscheid des Verwaltungsrates über seine eigene Entschädi-gung entspricht einem Insichgeschäft, sodass die Entscheidungsträger einem potentiellen Interessenkonflikt unterliegen. Der Bundesrat hat deshalb im Ge-setzesentwurf vom Dezember 2007 den Entscheid der Generalversammlung über die Entschädigung des Verwaltungsrates als bedingt notwendigen Statu-teninhalt etabliert (Art. 627 Ziff. 4 E-OR). In Analogie zu Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR, welcher die Ernennung und Abberufung der mit der Geschäftsführung und Vertretung betrauten Personen durch den Verwaltungsrat betrifft und die Entschädigung dieser Organpersonen einschliesst, lässt sich allerdings die Zu-ständigkeit der Generalversammlung für die Entschädigung des Verwaltungs-rates schon unter dem geltenden Recht mit der Wahlkompetenz der General-versammlung gemäss Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2 OR verbinden.41

Nach der Volksinitiative minder (gegen die Abzockerei) soll die Generalver-sammlung jährlich über die Gesamtsumme aller Vergütungen der Geschäftslei-tung abstimmen. Diese Kompetenz der Aktionäre kann sich im Hinblick auf eine angemessene Flexibilität in der Anstellung von Mitgliedern der obersten ope-rativen Führungsebene als problematisch erweisen. Es unterliegt nun der sich hinziehenden politischen Ausmarchung, ob die Kontrolle seitens der Aktionäre

41 So schon forStmoSer, Entschädigung, S. 147, Fn. 12; böckli, § 13, N 239b mit Verweis auf Art. 677 OR zur Tantieme; leu, S. 113; iSler, S. 278; a.M. Watter/roth pellanda, Art. 716a OR, N 47, wonach Entschädigungssysteme für den Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung als wichtiger Teil des Anreizsystems von strategischer Bedeutung seien und deshalb unter die Oberleitungspflicht des Verwaltungsrates fallen. Hinsicht-lich der Entschädigung des Verwaltungsrates fällt in Betracht, dass grundsätzlich nicht davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber eine zwingende Kompetenzordnung schaf-fen wollte, die im Kern auf einem Interessenkonflikt basiert, sodass der bindende Ent-scheid der Generalversammlung schon unter dem geltenden Recht möglich sein muss.

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in der Entschädigung von Organpersonen im aktienrechtlichen Organisations-recht verankert werden soll oder es bei der Ex post-Kontrolle durch das Verant-wortlichkeitsrecht bleibt.

B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung und Sorgfaltspflicht der Entscheidungsträger

Mittlerweile ist aufgrund gewisser Vergütungs-Übertreibungen und im Fahr-wasser der Volksinitiative minder (gegen die Abzockerei) ein nicht leicht über-blickbares Gezänk um verschiedene Fragen der Entschädigung von Organper-sonen – Zuständigkeit,42 Höhe von Entschädigungen, Sanktionen bei Fehlver-halten – entstanden, wobei die direkten und indirekten Gegenvorschläge zur Volksinitiative minder mit etwelcher Hektik aufeinander folgten.43 Unbestreit-bar scheint dem Schreibenden, dass im Hinblick auf den Stellenantritt einer Organperson bei der Entschädigung ein breites Ermessen der Entscheidungs-träger bestehen muss. Der Anstellungsvertrag entspricht – wirtschaftlich be-trachtet – einer Option zu Gunsten der Gesellschaft, von der in diesem Zeit-punkt niemand weiss, ob und in welchem Mass sie einmal «in the money» sein wird und sich als Triebfeder für Erträge der Gesellschaft erweist. Das verbreite-te Misstrauen gegen «Golden Hellos», die bei richtiger Handhabung als Investiti-onen in fähige Führungskräfte zu verstehen sind, erscheint deshalb nicht als gerechtfertigt.44

Auch die Forderung nach der «marktüblichen» Entschädigung vermag als Leitlinie nicht ohne Weiteres zu überzeugen,45 da sie einer Nivellierung Vorschub leistet. Selbst eine im Branchenvergleich «unüblich» hohe Entschädigung zu Gunsten einer Organperson sollte für die Entscheidungsträger im Falle eines wirtschaft-lichen Misserfolges nicht per se zu einem Haftungsrisiko werden. Wichtiger als die Höhe einer Entschädigung ist deren Ausgestaltung mit Blick auf die (risiko-

42 Vgl. dazu schon unter VII.A.43 Vgl. dazu die jeweilige Übersicht in GesKR zum Verlauf der Revision des Aktien- und

Rechnungslegungsrechts.44 Die Richtlinien zur Ausübung der Stimmrechte 2011 von ethos (www.ethosfund.ch)

sehen in Anhang 2 zur Struktur von Vergütungssystemen vor, dass die Arbeitsverträ-ge der Mitglieder von Führungsinstanzen keine Anstellungsprämien (Golden Hellos) ohne Leistungskriterien vorsehen sollen, stehen derartigen Prämien also nicht generell entgegen.

45 Vgl. dazu auch unter VII.C.

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gewichtete) Anreizwirkung.46 In diesem Rahmen unterliegt die Festlegung von Vergütungen den allgemeinen Kautelen der «Business Judgement Rule» schwei-zerischer Prägung.47

Die Diskussion um die Vergütung hat sich in den eidgenössischen Räten weiter entwickelt. Gestützt auf einen Vorschlag des Bundesrates als Reaktion auf die «Abzocker»-Initiative48 wurde schliesslich ein neuer Art. 717 Abs. 1bis E-OR ins Spiel gebracht. Danach müssen die Art. 717 Abs. 1 OR unterliegenden Personen insbesondere bei der Festlegung der Vergütungen dafür sorgen, dass diese so-wohl mit der wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des Unternehmens im Einklang stehen und sich ein angemessenes Verhältnis zu den Aufgaben, Leistungen und der Verantwortung der Empfänger ergibt.

Zu Recht wurde bereits vor den Gefahren einer erhöhten Sorgfaltspflicht der Ver-waltungsräte für die Festlegung von Vergütungen gewarnt.49 Wie bei jedem anderen Geschäftsführungsentscheid muss auch bei der Festlegung einer Vergütung eine konsequente Ex ante-Betrachtung greifen, welche durch das urteilende Gericht im Rahmen der objektiv nachträglichen Prognose zu beachten ist.50 Die in Art. 717 Abs. 1bis E-OR aufgeführten Kriterien – wirtschaftliche Lage, dauerndes Gedeihen des Unternehmens, Aufgaben, Leistungen und Verantwortung – ent-sprechen den Leitlinien, denen sich verantwortungsbewusste Entscheidungsträ-ger in Unternehmen ohnehin verpflichtet fühlen. Sie dürften bei richtiger Lesart das grundsätzlich breite Ermessen der Entscheidungsträger bei der Festsetzung der Vergütung also kaum beschränken. Da stets das «Humankapital» das Ge-schäft treibt, macht es volkswirtschaftlich keinen Sinn, für die Investitionen in die personellen Ressourcen des Unternehmens Kautelen aufzustellen, welche das unternehmerische Verhalten im Kampf um die besten Talente einschränkt.51 Selbstverständlich fällt – als Ausfluss der Natur der aktienrechtlichen Verant-

46 forStmoSer, Entschädigung, S. 157.47 Vgl. dazu schon oben III.48 Vgl. Botschaft Abzockerei, S. 344, betr. Art. 717 Abs. 1a E-OR.49 böckli, Gesetzgeber, S. 36 f., zum Vorschlag des Bundesrates, dass der Verwaltungs-

rat bei der Festlegung der Vergütungen dafür sorgen muss, dass diese sowohl mit der wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des Unternehmens im Einklang stehen.

50 Dazu allgemein bertSchinger, Verantwortlichkeit, N 29.51 Zu Recht hält die Botschaft Abzockerei, S. 319, die Selbstverständlichkeit fest, dass

«auch Situationen denkbar (sind), in denen es trotz schlechter wirtschaftlicher Lage angezeigt sein kann, attraktive Löhne zu gewähren, um hoch qualifizierte Führungs- und Fachkräfte halten oder rekrutieren zu können.»

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wortlichkeit als Verschuldenshaftung – eine Erfolgshaftung der Entscheidungs-träger, welche eine Vergütung gesprochen haben, bei wirtschaftlichem Misser-folg ausser Betracht. Zudem limitiert der Grundsatz, dass (Arbeits-)Verträge einzuhalten sind, die Verantwortlichkeit von Organpersonen, die in guten Treu-en über eine Vergütung für eine angemessene Dauer entschieden haben. Es gehört allerdings zu den Sorgfaltspflichten von Organpersonen, ein Vergü-tungspaket möglichst flexibel auszugestalten, um unter geänderten Verhältnis-sen bei der Vergütung Anpassungen vornehmen zu können. In diesem Sinne ist die Äusserung in den Materialien zu verstehen, dass es unsorgfältig wäre, wenn der Verwaltungsrat oder die mit der Geschäftsführung befassten Personen Vergütungssysteme einführen würden, die selbst in Verlustsituationen den da-für verantwortlichen Personen noch eine «leistungsabhängige» zusätzliche Vergütung gewähren.52

Der Verwaltungsrat muss die erforderlichen Massnahmen ergreifen, um Inter-essenkonflikte bei der Entschädigung von Organpersonen angemessen zu handhaben.53 Zu diesem Zweck hat sich bei den börsenkotierten Gesellschaften die Bildung von Compensation Committees etabliert, die im Wesentlichen durch nicht-exekutive und unabhängige Mitglieder des Verwaltungsrates besetzt sein sollten.54 Der Verwaltungsrat kommt damit seiner Organisationspflicht nach.

Gemäss Lehre und Rechtsprechung muss ein Verwaltungsratsmitglied in den Ausstand treten, wenn über Verträge zwischen ihm oder einer ihm nahe stehen-den Person und der Gesellschaft entschieden wird.55 Freilich schützt im Falle einer pflichtwidrigen Handlung der Ausstand ein Mitglied nicht vor Verant-wortlichkeit, etwa bei einer geldwerten Leistung der Aktiengesellschaft ohne Gegenleistung des Empfängers, der sich im Ausstand befindet.56

52 Botschaft Abzockerei, S. 318.53 Vgl. BGE 130 III 219; siehe auch Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance,

N 16.54 Vgl. Swiss Code of Best Practice, N 25/26 sowie Anhang 1: Empfehlungen zu den Ent-

schädigungen für Verwaltungsrat und Geschäftsleitung vom September 2007.55 Bundesgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6.3 (in BGE 136 III 322 nicht ver-

öffentlicht).56 Bundesgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6 (in BGE 136 III 322 nicht veröf-

fentlicht).

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C. Konkretes zur Höhe der Vergütung an Organpersonen

Die Höhe von Entschädigungen einzelner Organpersonen, insbesondere in börsenkotierten Gesellschaften, ist in breiten Bevölkerungskreisen auf Interesse gestossen. Illustrativ ist das Urteil des Kantonsgerichts Graubünden vom 10. Juni 2008, wenngleich es lediglich kleine Verhältnisse betrifft.57 Das Gericht führt aus, dass bei der Festlegung des Honorars von Verwaltungsräten ein «re-lativ weiter Ermessungsspielraum» besteht. Die Grenze liegt im offensichtlichen Missverhältnis zur Gesamtleistung des Verwaltungsrates gemäss Art. 678 Abs. 2 OR. Nach Auffassung des Gerichts darf «das Mass der Marktüblichkeit nicht über-schritten werden». Im Einzelnen hält das Gericht zur Höhe der Entschädigung des Verwaltungsrates folgendes fest: «Die Festsetzung des Honorars erfolgt insbesonde-re nach den Kriterien der Beanspruchung bzw. des Umfangs der geleisteten Arbeit, des Erfolgs der Geschäftsführung, der Bedeutung und der finanziellen Situation der Gesell-schaft sowie der Verantwortung. Das Verwaltungsratshonorar muss angemessen sein, wobei die Angemessenheit im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Umstän-de zu beurteilen ist. Die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft spielt dabei eine wichtige Rolle.»

Im erwähnten Fall geht es um eine Confiserie mit Mietwohnungen, also den Alltag eines KMU. Der Verwaltungsratspräsident bezog CHF 2000 pro Monat und zwar CHF 1500 als Honorar sowie CHF 500 für Spesen. Die beiden weiteren Mitglieder des Verwaltungsrates erhielten je CHF 600 pro Monat bzw. CHF 400 als Honorar und CHF 200 für Spesen. Sowohl das erst- als auch das zweitins-tanzliche Gericht hielten die Vergütung für den Verwaltungsratspräsidenten für überhöht. Zwar wurden die Zusatzaufgaben des Verwaltungsratspräsidenten hinsichtlich der Einberufung und Vorbereitung der Sitzungen des Gremiums sowie der Vertretung der Gesellschaft nach aussen anerkannt. Allerdings wurde auch dafür gehalten, dass die Verantwortung von allen drei Verwaltungsräten gemeinsam zu tragen war, was als Hinweis aufzufassen ist, dass die Spannweite der Entschädigungen der verschiedenen Mitglieder des Verwaltungsrates ein nach den konkreten Umständen angemessenes Verhältnis nicht überschreiten sollte. Und schliesslich wurde auch angemerkt, dass sich die finanzielle Situation der Gesellschaft in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert hatte, sodass der Gesellschaft sogar Hypothekarkredite gekündigt wurden.

57 Urteil ZF 08 19/20, verfügbar auf www.gr.ch/Entscheidungen ab 2003.

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Das Kantonsgericht reduzierte die monatlichen Bezüge des Verwaltungsrats-präsidenten auf CHF 600 und zusätzlich CHF 250 für Spesen. Daraus resultierte für den Verwaltungsratspräsidenten eine Vergütung von gesamthaft CHF 850, statt der ursprünglichen CHF 2000 pro Monat. Die Haftung der Verwaltungs-räte aus Art. 754 OR im Umfang der überhöhten Bezüge wurde bejaht, nach-dem Aktionäre in einem seltenen Fall auf Leistung an die Gesellschaft geklagt hatten (Art. 756 OR).

Das Urteil lässt erahnen, womit als Verwaltungsrat eines KMU vor einem Land-gericht zu rechnen ist. Bei den Grossgesellschaften besteht aus verschiedenen Gründen ein anderes Kalkül, sei es, dass die Prozesskosten zu hoch oder die mediale Aufmerksamkeit zu gross ist. Hier ergeben sich unter dem geltenden Recht Impulse durch die Konsultativabstimmungen über den Entschädigungs-bericht, der im Anhang zum Swiss Code of Best Practice vom September 2007 empfohlen wird.58

D. Abgangsentschädigungen

Im Abgangsstadium ist für jegliche Zahlungen und sonstigen geldwerten Leis-tungen der Gesellschaft, die erst vereinbart werden, nachdem sich das Ausschei-den einer Führungskraft abzeichnet oder gar beschlossene Sache ist, grundsätz-lich kein Spielraum vorhanden. Derartige Leistungen lassen sich in der Regel nur mit dem Agency-Konzept der Aktiengesellschaft erklären, sind also durch den Umstand begünstigt, dass die Verwaltungsräte mit fremdem Geld umgehen. Immerhin kann nicht a priori ausser Betracht fallen, dass sich eine Abgangsent-schädigung in einem konkreten Fall aufgrund einer Anreizwirkung für die ver-bleibenden und potentiellen Organpersonen einer Gesellschaft rechtfertigen lässt.59 Man darf sich allerdings nicht wundern, wenn Leistungen mit Entschä-digungscharakter ohne vorgängige vertragliche Vereinbarung an eine scheiden-de Führungskraft als wirtschaftlich unvernünftig taxiert werden, was zur Haf-

58 Vgl. dazu die Ethos Studie Vergütungen 2010 der Führungsinstanzen, Unternehmen der Börsenindizes SMI und SMIM: 48 grösste in der Schweiz kotierte Unternehmen, Juni 2011, Ziff. 4, S. 27 ff.

59 Vgl. dazu den deutschen (Straf-)Fall «Mannesmann», Urteil des Landgerichtes Düssel-dorf vom 22. Juli 2004, XIV. Grosse Strafkammer, XIV 5/03, Ziff. V.1 (wiedergegeben in NJW 2004, S. 3279), wo eine Anreiz- oder Werbewirkung einer «Anerkennungsprä-mie» für andere potenzielle Vorstandsmitglieder verneint wurde.

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tung der Entscheidungsträger aus Art. 754 OR führen kann.60 Haftungsfragen könnten sich auch stellen, falls eine entsprechende Anpassung des Arbeitsver-trages erfolgt, nachdem sich das Ausscheiden einer Führungskraft aus der Ge-sellschaft abzeichnet, sofern sich für diese Vertragsanpassung kein sachlicher Grund findet.61

E. Rückerstattung von Vergütungen

Im Zuge der Revision des Aktienrechts soll die Ex post-Kontrolle über Leistun-gen an Organpersonen im Rahmen von Art. 678 E-OR verstärkt werden, indem auf die durch den Begünstigten «erbrachte» Gegenleistung Bezug genommen wird.62 Selbst im Falle, wo eine überschiessende Vergütung nach Art. 678 OR zurückzuerstatten, aber vom Betroffenen nicht einbringlich ist, besteht auch weiterhin nicht zwangsläufig eine Haftung derjenigen Organpersonen, welche den Entscheid über diese Vergütung getroffen haben.63 Eine Vergütung ist unter Art. 754 OR nur haftungsbegründend, wenn das Missverhältnis bereits im Zeitpunkt des Vergütungsentscheides als gegeben erscheint, was (in einem wohl seltenen Fall) aufgrund einer im Voraus absehbar inadäquaten Gegenleis-tung des Empfängers zutreffen könnte. Das «angemessene Verhältnis (der Vergütung) zu den Aufgaben, Leistungen und der Verantwortung der Empfän-ger», wie es die neue Sorgfaltspflicht des Art. 717 Abs. 1bis E-OR verlangt,64 kann

60 Vgl. dazu auch unter III. bei Fn. 16.61 Vgl. dazu die Empfehlung V der Übernahmekommission vom 23. August 2005 i.S. öf-

fentliches Kaufangebot von Sumida Holding für die Aktien der Saia-Burgess Electro-nics Holding AG, wo vor der Voranmeldung des Kaufangebotes die Kündigungsfristen in den Arbeitsverträgen der Mitglieder der Gruppenleitung verlängert wurden, was sowohl die Übernahmekommission in der erwähnten Empfehlung als auch die Über-nahmekammer der Eidg. Bankenkommission mit Verfügung vom 19. September 2005 als Verstoss gegen das Aktienrecht (Art. 717 OR) qualifizierten, weil diese Bestim-mung das Eingehen von Geschäften ohne adäquate Gegenleistung verbietet.

62 Botschaft Abzockerei, S. 316, wonach durch die Verbesserung der Rückerstattungskla-ge auch die Rückforderung von «exzessiven Vergütungen» erleichtert werden soll; vgl. auch bertSchinger, Berichterstattung, S. 585.

63 Zur umgekehrten Situation Botschaft Abzockerei, S. 318, wonach marktkonforme Vergütungen des Managements, die aufgrund des fehlenden Missverhältnisses zur erbrachten Gegenleistung nicht der Rückerstattungsklage nach Art. 678 Abs. 2 E-OR unterliegen, trotzdem zu einer Haftung des Verwaltungsrates führen können, wenn diese Vergütungen nicht mit der wirtschaftlichen Lage und dem dauernden Gedeihen des Unternehmens im Einklang stehen (vgl. dazu bei Fn. 48).

64 Dazu oben unter VII.B. bei Fn. 48.

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ex ante als erfüllt erscheinen und ex post gleichwohl ein «(offensichtliches) Missverhältnis» im Sinne von Art. 678 Abs. 2 E-OR vorliegen. Die mit dem be-treffenden Vergütungsentscheid befassten Organpersonen unterliegen in die-sem Fall nicht der Haftung des Art. 754 OR.

Eine intensive Diskussion dreht sich um die Frage, ob ein blosses Missverhältnis zur Begründung des Anspruches auf Rückerstattung genügen soll oder ob das Missverhältnis zwischen der Leistung des Empfängers und der Gegenleistung der Gesellschaft unter Art. 678 Abs. 2 OR weiterhin «offensichtlich» sein muss. Nach der Botschaft von 2007 ist das Erfordernis eines offensichtlichen Missver-hältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung «materiell begründet, weil die Preisbildung gerichtlich nicht überprüft werden soll, solange sie Marktgrundsätzen folgt».65 Falls ein blosses Missverhältnis genügt, würde sich der Spielraum für die Rückforderung wohl etwas erhöhen, wenngleich die entsprechende Botschaft diesen Eindruck zu zerstreuen versucht.66 Diese Diskussion ist mit Blick auf die Geschäftsführungshaftung insofern relevant, als sich im Umfang der Unein-bringlichkeit des Rückerstattungsbetrages vom Leistungsempfänger – im Rah-men der objektiv nachträglichen Prognose67 – die Frage nach der Geschäftsfüh-rungshaftung der Organpersonen stellen kann, welche die Vergütung geneh-migt haben.

F. Soziale Dimension der Vergütung

Eine unter Umständen brisante Frage ist, inwiefern der Verwaltungsrat bei der Entschädigung von Organpersonen das Empfinden breiterer Bevölkerungs-schichten ins Kalkül einbeziehen sollte. Die Frage stellen, heisst gleichzeitig sie zu bejahen, da sich die Gesellschaft nach dem anschaulichen Schalenmodell auch in einem sozialen Umfeld befindet, in welches sie sich angemessen einbet-ten muss.68 Es vermag denn auch nicht zu erstaunen, dass der Umgang mit dem Geld durch die Organpersonen nicht nur im Aktionariat sondern auch in den

65 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1664.66 Gemäss Botschaft Abzockerei, S. 316, bringt bereits das blosse «Missverhältnis» ein

«beträchtliches Ungleichgewicht» zwischen Leistung und Gegenleistung zum Aus-druck und es muss «der Wert der Gegenleistung der Empfängerin … schon aufgrund der Voraussetzung eines Missverhältnisses weiterhin klar und zweifelsfrei unter dem Wert der Leistung der Gesellschaft liegen»; kritisch böckli, Gesetzgeber, S. 35 f.

67 Vgl. bei Fn. 50.68 Vgl. die schematische Darstellung bei minder, S. 36.

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Medien und der Politik zu Diskussionen führt, da das Geld die Leute schlicht und einfach interessiert. Unabhängig von einer allfälligen Empörung Aussenste-hender muss unter rechtlichem Gesichtspunkt der Entscheidungsprozess, wel-cher zu einer bestimmten anreizorientierten Vergütung führt, massgeblich bleiben.69 Die Komponenten einer Vergütung sollten für einen unvoreingenom-menen Dritten nachvollziehbar sein.

VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen – Aktuelle Entwicklungen

A. Interessenkonflikte im Allgemeinen

Schon vor einiger Zeit hat das Bundesgericht entschieden, dass strenge Mass-stäbe anzulegen sind, wenn Verwaltungsräte nicht im Interesse der Gesellschaft, sondern im eigenen Interesse, in demjenigen von Aktionären oder von Dritt-personen handeln.70 Dieser Grundsatz fliesst unter geltendem Recht aus der Treuepflicht der Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung gegenüber der Gesellschaft, wie sie in Art. 717 Abs. 1 OR niedergelegt ist. Da allgemeine Grundsätze im modernen Wirtschaftsrecht zunehmend verdrängt werden, hat der Bundesrat mit Art. 717a E-OR für die Interessenkonflikte einen spezifischen Akzent gesetzt.71 Nach diesem Gesetzesentwurf informieren die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung den Präsidenten des Verwaltungsrates unverzüglich und vollständig über Interessenkonflikte. Befin-det sich der Präsident in einem Interessenkonflikt, wendet er sich an den stell-vertretenden Präsidenten. Der Präsident oder der stellvertretende Präsident informiert, soweit erforderlich, den Verwaltungsrat. Gestützt darauf ergreift der Verwaltungsrat diejenigen Massnahmen, die zur Wahrung der Interessen der Gesellschaft nötig sind. Der Vorschlag des Bundesrates sieht zudem vor, dass die von einem Interessenkonflikt betroffene Person bei der Beschlussfas-sung über die entsprechenden Massnahmen in den Ausstand tritt.

69 Vgl. bei Fn. 46.70 BGE 113 II 52, E. 3.a.71 Heute orientiert sich die Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corpo-Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corpo-

rate Governance.

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Die Botschaft betont, dass es sich bei Art. 717a E-OR um eine «wichtige Neuerung für eine gute Corporate Governance» handelt.72 Vergleichbar der Regelung bei den Revisoren73 müssen die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftslei-tung tatsächlich sowie dem Anschein nach in ihrer Entscheidungsfindung unab-hängig sein bzw. keinem tatsächlichen oder potentiellen Interessenkonflikt unterliegen. Die «independence in fact» und die «independence in appearance» ge-hören zum Anforderungsprofil der Organpersonen in der Aktiengesellschaft. Das Vertrauen in die Unternehmensführung würde auch untergraben, wenn die Unabhängigkeit der Verwaltungsräte oder der Geschäftsleitungsmitglieder bloss dem Anschein nach beeinträchtigt wäre.74 Wer einem Interessenkonflikt unterliegt, ist in den Angelegenheiten der Gesellschaft nicht mehr frei in seiner Entscheidungsfindung, womit die Interessen der Gesellschaft potentiell beein-trächtigt sind. Entscheidungsträger sollten sich des rechtlichen Gehaltes von Interessenkonflikten bewusst sein, da – wie sogleich darzulegen ist – in einer konfliktträchtigen Entscheidungsfindung unter Umständen eine hohe verant-wortlichkeitsrechtliche Sprengkraft liegen kann.75

B. Verbot gegenseitiger Einflussnahme auf Entschädigungen

Art. 717b E-OR des bundesrätlichen Entwurfes zur Aktienrechtsrevision schreibt vor, dass bei Gesellschaften, deren Aktien an der Börse kotiert sind, ausgeschlos-sen sein muss, dass Mitglieder des Verwaltungsrates oder der Geschäftsleitung, die zugleich dem Verwaltungsrat oder der Geschäftsleitung einer anderen Ge-sellschaft angehören, gegenseitig Einfluss auf die Festsetzung ihrer Vergütun-gen haben. Sofern bei der Beschlussfassung über Vergütungen gegen diesen Grundsatz verstossen wird, ist der Beschluss nichtig. Die Art der Beeinflussung von Entschädigungen ist nach der Botschaft irrelevant.76

Bei der kreuzweisen Mitgliedschaft, insbesondere in Entschädigungsausschüs-sen von börsenkotierten Gesellschaften, handelt es sich um einen spezifischen potentiellen Interessenkonflikt, der dem Bundesrat eine spezielle Norm wert

72 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.73 Vgl. Art. 728 Abs. 1 OR und Art. 729 Abs. 1 OR.74 In Analogie zur Unabhängigkeit der Revisionsstelle; vgl. Botschaft Revisionsrecht,

S. 4018.75 Vgl. unten VIII.C.76 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.

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ist.77 Das Bundesgericht hat schon verschiedentlich festgehalten, dass es im schweizerischen Arbeitsrecht über alle Stufen einer Aktiengesellschaft hinweg lediglich eine Kategorie von Arbeitnehmern gibt.78 Da Art. 717b Abs. 2 E-OR einen Gehalt als Sonderarbeitsrecht für Topkaderleute aufweist, sollte der Norm-verstoss mit der Nichtigkeitsfolge einer tendenziell restriktiven Handhabung unterliegen.

C. Interessenkonflikte von Organpersonen und Verantwortlichkeit

Die Botschaft des Bundesrates zur Revision des Aktienrechts verweist darauf, dass Organmitglieder, welche die Gesellschaft aufgrund eines fehlerhaften Umgangs mit einem Interessenkonflikt schädigen, gestützt auf Art. 754 OR haftbar werden können.79 Ein Interessenkonflikt, der sich zum Schaden der Gesellschaft auswirkt, stellt eine Pflichtverletzung dar. Unter Art. 717a E-OR erwähnt die Botschaft den Fall, dass ein Organmitglied in einer engen Bezie-hung zu einem Dritten steht, der mit der Gesellschaft geschäftliche Beziehun-gen pflegt.80 Ein Interessenkonflikt kann seitens eines Verwaltungsrates auch darin bestehen, dass aufgrund substantieller Beratungsmandate von einer wirt-schaftlichen Abhängigkeit auszugehen ist. Bei den Revisionsgesellschaften hat sich im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit ein Schwellenwert von 10% für das jährliche Honorar aus Revisions- und anderen Dienstleistungen für eine einzelne Gesellschaft und die mit ihr durch einheitliche Leitung verbundenen Gesellschaften (Konzern) etabliert.81 Was für die Revisionsstelle als Sekundär-organ der Gesellschaft82 gilt, muss grundsätzlich auch für die primären Gesell-schaftsorgane (Verwaltungsräte)83 anwendbar sein. Allerdings wird man die Konfliktträchtigkeit bzw. die (potentielle) Beeinflussung der Entscheidungsfrei-heit eines Organträgers, welche sich aus substantiellen Aufträgen seitens der

77 Watter, S. 296, macht geltend, dass es sich um eine sehr seltene Konstellation handle.78 BGE 130 III 213, E. 2.1; Bundesgericht 4C.39/2005 vom 8. Juni 2005, E. 2.79 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688 f.; vgl. auch Watter, S. 295.80 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.81 Vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a des Revisionsaufsichtsgesetzes (RAG) sowie die Unabhängig-

keitsrichtlinien der Treuhand-Kammer 2007 (in der Fassung vom 6. Dezember 2010), Ziff. IX.

82 Bundesgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.83 Auf der Stufe der Geschäftsleitungsmitglieder dürften Zusatzaufträge eine seltene

Konstellation darstellen.

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Gesellschaft ergeben kann, stets im Einzelfall beurteilen müssen. Gegen eine starre Anwendung von Schwellenwerten ist bei den Verwaltungsräten die glei-che Vorsicht geboten, wie sie das Bundesgericht bereits bei den Revisoren zum Ausdruck gebracht hat. In BGE 131 III 44 hat das Bundesgericht unter Bezug-nahme auf eine ältere Version der Unabhängigkeitsrichtlinien der Treuhand-Kammer Folgendes festgehalten: «eine unzulässige wirtschaftliche Abhängigkeit (lässt) sich nicht derart mit einem ziffernmässig festgelegten Anteil der Honorareinnah-men verknüpfen, dass bei einem Wert, der geringfügig unterhalb der Limite liegt, die Unabhängigkeit per se gegeben und bei einem Wert geringfügig darüber per se eine Abhängigkeit anzunehmen wäre. … Vielmehr ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob die Höhe des Anteils der aus einem Revisionsmandat fliessenden Honorare die Unabhängigkeit der Revisionsstelle beeinträchtigt.»

Unter verantwortlichkeitsrechtlichem Gesichtspunkt stellt der Beweis des Kau-salzusammenhangs zwischen dem bestehenden Interessenkonflikt bzw. der Pflichtverletzung seitens einer geschäftsführenden Organperson einerseits und der Entstehung des Schadens anderseits das eigentliche «pièce de résistance» dar. Allerdings wird eine Organperson, sofern sich im Verantwortlichkeitspro-zess ein Interessenkonflikt durch den Kläger substantiieren lässt, einer starken Darlegungs- und Gegenbeweislast ausgesetzt.84 Mit Blick auf die Kautelen unter der hiesigen Business Judgement Rule85 kann ein Interessenkonflikt bzw. die damit verbundene mangelnde Unabhängigkeit einen gewissen Spielraum für die richterliche Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden eröffnen. Damit kann sich im Falle des Fehlschlagens eines Geschäftsführungsentscheides alsbald ein substantielles Haftungsrisiko für die unter einem tatsächlichen oder potentiellen Interessenkonflikt handelnden Entscheidungsträger ergeben.

Verschiedene Entscheide des Bundesgerichts befassen sich mit der Bedeutung des Wahlentscheides der Generalversammlung im Falle eines Interessenkonflikts der gewählten Organperson. Ohne Weiteres nachvollziehbar ist die Argumentati-on, dass die der Generalversammlung bei der Wahl eines Mitgliedes des Ver-waltungsrates bekannt gegebenen Informationen dem Anspruch aus aktien-rechtlicher Verantwortlichkeit gegen diesen Verwaltungsrat seitens der (zustim-

84 So Watter/rampini, Art. 728 OR, N 67, für den Fall der mangelnden Unabhängigkeit der Revisionsstelle, was analog bei den geschäftsführenden Organpersonen gelten dürfte.

85 Vgl. graSS, S. 147, wonach der Beklagte im Zeitpunkt seiner Entscheidung unbefangen und unabhängig sein muss; zum Ganzen auch oben unter III.

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menden) Aktionäre und der Gesellschaft entgegenstehen können.86 Dem Gläubigeranspruch wird man schadensrelevante Informationen, die der Gene-ralversammlung bei der Wahl eines Verwaltungsrates vorlagen, höchstens entgegenhalten können, sofern der klagende Gläubiger87 im Zeitpunkt des Er-werbs der Gläubigerstellung davon Kenntnis hatte. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht zu allgemein festgehalten, dass nicht ersichtlich sei, wie die Muttergesellschaft als faktisches Organ einer 100%-igen Tochtergesell-schaft bloss «dadurch hätte organschaftliche Verpflichtungen im Rahmen der Verwaltung und Geschäftsleitung dieser Gesellschaft verletzen können, wenn sie keine interessenkonfliktfreie Verwaltungsratsmitglieder als Gegengewicht zu N. (Organ von Mutter- und Tochtergesellschaft) ernannte.»88 Lapidar hält das Bundesgericht in diesem Zusammenhang fest, dass die Wahl von Mitglie-dern des Verwaltungsrates zu den unübertragbaren Befugnissen der General-versammlung gehört, die nicht der Haftung nach Art. 754 OR unterliegt.89

IX. Die Gesellschaft in der finanziellen Krise

A. Pflichten der Verwaltungsräte – «Reden ist Silber, Handeln ist Gold»

In wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist der Verwaltungsrat hart gefordert; das Bundesgericht hat als Ausfluss von Art. 717 Abs. 1 OR formuliert: «Il lui appar-tient notamment de contrôler de manière régulière la situation économique et financière de la société.»90 Wenn Schönwetter-Kapitäne in ein Sturmtief geraten, wird oft-mals zu lange geredet und zu wenig energisch gehandelt. Gemäss BGE 132 III 564 haben die Verwaltungsräte den Präsidenten des Gremiums über Jahre auf die sich verschlechternde Finanzlage hingewiesen und den Verwaltungsratsprä-sidenten regelmässig befragt, was seine Absichten für die Zukunft der Gesell-schaft sind. Das zögerliche Verhalten des Verwaltungsrates führte mangels

86 Vgl. Bundesgericht 4A_317/2009 vom 1. Oktober 2009, E 2.3, betreffend den ver-meintlichen Interessenkonflikt aufgrund einer Doppelorganschaft bei einer Immobi-lien- und einer Betreibergesellschaft.

87 Vgl. Art. 757 OR.88 Bundesgericht 4A_306/2009, E 7.2.3.1.89 Bundesgericht a.a.O.90 BGE 132 III 564, E. 5.1.

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Rückstellungen für Mietzinsverpflichtungen zu einer verspäteten Bilanzdepo-nierung; aufgrund zweier offener Mietzinsrechnungen war die Überschuldung eingetreten. Die Verwaltungsräte hatten fälschlicherweise Rückhalt bei der Revisionsstelle gesucht, was nicht zu einem pflichtgemässen Ergebnis führte.91 Das Bundesgericht hielt unter Art. 725 Abs. 2 OR fest: «Les défendeurs, qui exerçaient parallèlement la profession d’avocats, devaient maîtriser cette procédure».92

Die Unterbilanz und die in Art. 725 Abs. 1 OR vorgesehenen Verhaltenspflich-ten des Verwaltungsrates – unverzügliche Einberufung einer Generalversamm-lung mit Beantragung von Sanierungsmassnahmen – erfahren in der Praxis oftmals eine ungenügende Beachtung. Zu oft ist Art. 725 Abs. 1 OR blosses «law in the books»; die Sanierung der Gesellschaft wird aufgeschoben. Dabei wird immer wieder übersehen, dass der Aufschub der Sanierung aufgrund der ein-hergehenden Verschlechterung der Sanierungs- bzw. Finanzierungskonditionen – selbst wenn die Sanierung später noch gelingt – einer Pflichtwidrigkeit der Verwaltungsräte entspricht.93 Im Zuge der Verschleppung einer Sanierung ent-steht ein zunehmender Handlungsdruck, der zu einer Verschiebung von Ver-mögenssubstanz und Upside-Potential des Unternehmens von den Altaktionä-ren zu den sanierungswilligen Finanzgläubigern und weiteren Kapitalgebern führen kann. Die Sorgfaltspflicht der Verwaltungsräte verlangt ein vorausschau-endes Agieren, um die Interessen der Gesellschaft mit möglichst günstigen Fi-nanzierungskosten zu wahren. Zwar belässt die Oberleitungspflicht gemäss Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR dem Verwaltungsrat auch in der Sanierung ein grundsätzlich breites Ermessen für das «reasonable business judgement» und der adäquate Kausalzusammenhang zwischen einer verschleppten Sanierung (als Pflichtverletzung) und den daraus für die Gesellschaft bei den Finanzgläu-bigern resultierenden zusätzlichen Sanierungskosten (als Schaden der Gesell-schaft) dürfte nicht leicht zu erbringen sein. Scheitert die Sanierung, ergibt sich nach Auffassung des Bundesgerichts bei einer verspäteten Überschuldungsan-zeige eine natürliche Vermutung für die schadensstiftende Wirkung, was im Rahmen von Art. 42 Abs. 2 OR bei der richterlichen Bestimmung der Schadens-

91 BGE 132 III 564, E. 5.2: «se satisfaisant de l’avis émis par l’organe de révision selon lequel une simple note en pied de bilan mentionnant cette créance était suffisante».

92 BGE 132 III 564, E. 5.2.93 Da die Gesellschaft in diesem Szenario aufrecht stehen bleibt, wären allenfalls einzelne

Aktionäre und die Gesellschaft selbst klageberechtigt (Art. 756 OR).

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höhe bedeutsam sein kann.94 Ähnlich könnte es sich bei einer verschleppten, aber schliesslich doch noch gelungenen Sanierung verhalten, falls ein Aktionär95 die Zusatzkosten aus verzögerter Sanierung als Schaden der Gesellschaft gel-tend machen will.

B. Pflichten der Revisionsstelle

Sobald die offensichtliche Überschuldung der Gesellschaft eintritt, greift die Ersatzvornahme der Revisionsstelle; sie muss den Richter benachrichtigen, so-fern der Verwaltungsrat die Anzeige unterlässt.96 Selbst wenn die Revisionsstel-le abberufen wird, bleibt sie zur Benachrichtigung des Richters legitimiert und zwar zumindest solange, wie die Revisionsstelle noch im Handelsregister einge-tragen ist.97 Damit wird der Gefahr Rechnung getragen, dass die Ersatzvornah-me durch die Revisionsstelle vereitelt werden könnte. Nimmt die Revisionsstel-le dem Verwaltungsrat die Bilanz «aus der Hand», um sie beim Richter zu depo-nieren, bedeutet dies für den Verwaltungsrat oftmals auch ein Sesselrücken vom «Driver Seat» auf die «Anklagebank». Die Revisionsstelle sitzt dem Verwal-tungsrat mit zunehmender Dauer der Sanierungsbemühungen fester «im Na-cken» und wird schliesslich, falls der Konkurs nicht noch aufgeschoben werden kann,98 mit der Bilanzdeponierung zum «Totengräber» der Gesellschaft. Nach der hier vertretenen Auffassung muss für den Verwaltungsrat auch im Falle der Bilanzdeponierung durch die Revisionsstelle die Möglichkeit zum Antrag auf Konkursaufschub bestehen,99 da man in Bezug auf die Wirksamkeit von Sanie-rungsbemühungen unter Umständen in guten Treuen unterschiedlicher Auffas-sung sein kann.100/101

94 BGE 136 III 322, E. 3.4.5.95 Vgl. Art. 756 OR.96 Art. 728c Abs. 3 OR bzw. Art. 729c OR.97 Obergericht Zürich, ZR 2009, Nr. 14.98 Art. 725a OR.99 Gl.M. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt LL.100 Vgl. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt JJ bis LL.101 Vgl. zum Meinungsstand WüStiner, Art. 725a OR, N 5. Ziltener, S. 191, Einzelrichter

am Bezirksgericht Zürich, vertritt die Auffassung, dass nicht auf ein Aufschubbegeh-ren des Verwaltungsrates einzutreten ist, welches erst in seiner Stellungnahme zur Überschuldungsanzeige der Revisionsstelle gestellt wird. Als Begründung hält dieser Autor fest, dass ein derartiges Aufschubbegehren und der Sanierungsplan eines Ver-waltungsrates, welcher die grundlegende Pflicht der Überschuldungsanzeige im Falle einer offensichtlichen Überschuldung nicht wahrnimmt, von «vornherein kein Ver-

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C. Gläubigerschutz

Der Volksmund sagt, «wes Brot ich ess, des Lied ich sing». Wenngleich die Ver-waltungsräte in erster Linie dem Gesellschaftsinteresse verpflichtet sind,102 werden sie sich zwangsläufig der Interessen von Aktionären vergewissern, die ihnen zur Wahl in den Verwaltungsrat verholfen haben. In der finanziellen Krise der Gesellschaft ist allerdings vor «falschen» Loyalitäten zu warnen. Sobald Ansprüche der Gläubiger auszufallen drohen, erhalten ihre Interessen ein hö-heres Profil und die primäre Risikoabsorptionsfunktion des Aktienkapitals lässt die Interessen der Aktionäre entsprechend zurücktreten. Die Wahrung von Aktionärsinteressen stösst in der Sanierung der Gesellschaft zunehmend an enge Grenzen.103

Bei der Planung konkreter Sanierungsmassnahmen ist auf allfällige «Nebenwir-kungen» lebenserhaltender Sofortmassnahmen zu achten. Das schnell verfüg-bare Geld von Gläubigerbanken zur Überbrückung eines finanziellen Engpasses der Gesellschaft kann zum virulenten Verantwortlichkeitsrisiko für den Verwal-tungsrat werden. Das Bundesgericht hat festgehalten, dass eine Gefährdung von Gläubigerinteressen nicht schon deshalb ausgeschlossen sei, weil die Ban-ken die Sanierungsbemühungen mit einer Überbrückungsfinanzierung mittra-

trauen verdient». ZR 1995, Nr. 50, S. 152 ff., hat die Legitimation des Verwaltungs-rates zum Aufschubbegehren nach unterlassener Bilanzdeponierung zwar ebenfalls verneint. Allerdings handelt es sich um einen Extremfall, wo die Sanierung erst über zwei Jahre nach festgestellter und unverändert bestehender Überschuldung in Angriff genommen werden sollte. Die vorstehende Auffassung von Ziltener erscheint je nach den konkreten Umständen als zu absolut.

102 Art. 717 Abs. 1 OR. 103 Anschaulich Schenker, S. 496: «Damit ein Sanierungsplan Aussicht auf Erfolg hat, sollte

er – im Sinne einer ‹Opfersymmetrie› allen Beteiligten eine ihrer Position als Eigenka-pital- bzw. Fremdkapitalgeber entsprechende angemessene Sanierungsleistung abfor-dern, ohne einzelne Beteiligte gegenüber den anderen zu benachteiligen. Opfersym-metrie bedeutet in der Sanierung allerdings nicht ‹Gleichbehandlung› aller Beteiligten. Es muss vielmehr den unterschiedlichen rechtlichen Positionen der Beteiligten Rech-nung getragen werden: Da die Aktionäre mit dem Eigenkapital das Unternehmensri-siko tragen, sind von ihnen die grössten Beiträge zu erwarten. Bei einer überschulde-ten Gesellschaft müssen sie deshalb damit rechnen, ihre gesamte Rechtsposition im Rahmen einer Kapitalherabsetzung aufzugeben, wenn sie nicht bereit sind, der Gesell-schaft neues Kapital zuzuführen. Bei den Gläubigern muss dagegen gemäss dem Ver-lustrisiko im Konkursfall, d.h. nach konkursrechtlicher Rangordnung und Sicherheit, differenziert werden – je schlechter die Position eines Gläubigers ist, desto grössere Leistungen können vom ihm erwartet werden.»

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gen. Falls mit einem Kredit die erforderliche Liquidität für die Fortführung des Unternehmens geschaffen wird, beurteile sich eine Gefährdung der Forderun-gen der Gläubiger nach den Gewinn- oder Verlustaussichten aus der weiteren Geschäftstätigkeit. «Zu prüfen ist, ob das Risiko, das mit dem Versuch einer Sanierung naturgemäss verbunden ist, durch den ökonomischen Wert der Chance einer erfolgrei-chen Sanierung aufgewogen wird.»104

Pauschalurteile, wie man habe «praktisch keine Wahl mehr» gehabt, helfen bei fortschreitender Überschuldung nicht.105 Erforderlich ist die Evaluation konkre-ter Sanierungsmassnahmen, der allgemeine Glaube genügt nicht, was das Bundesgericht schon mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte: «Davon, dass allein aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen werden könne, dass man auch bei der X.CH ‹das Geld nicht einfach freiwillig zum Fenster hin-auswarf, sondern ... tatsächlich an einen langfristigen Erfolg der X.I glaubte›, kann zu-dem keine Rede sein. Abgesehen davon, dass sich ein solcher Schluss nicht aus der allge-meinen Lebenserfahrung ergibt, ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer nicht entscheidend, woran die Organe der X.CH glaubten, sondern ob die von ihnen zu ver-antwortenden Mittelabflüsse angesichts der nach den konkreten Umständen objektiv gerechtfertigten Erwartungen hinsichtlich der Gesellschaft X.I getätigt werden durften.»106 Der Verwaltungsrat kann bei der sanierungsbedürftigen Gesellschaft also nicht einfach weiterwirtschaften und auf ein Wunder hoffen, sondern muss die Sanierungsbemühungen ex ante einem kritischen Chancentest unterziehen.

D. Sanierungsrecht und Sanierungspflicht

Nach der volkswirtschaftlichen Logik sollte der Verwaltungsrat an der Sanierung einer überschuldeten Gesellschaft solange arbeiten können, als begründete Aussicht auf eine zeitnahe, erfolgreiche Sanierung besteht. Gemäss einem als Leitentscheid aufzufassenden Urteil des Bundesgerichts vom 19. Juni 2001 bleiben Sanierungsmassnahmen zulässig, sofern die Forderungen der Gesell-schaftsgläubiger nicht durch eine neuerliche Verschlechterung der finanziellen Lage gefährdet werden. Es müssen die Voraussetzungen für einen Konkursauf-müssen die Voraussetzungen für einen Konkursauf-schub nach Art. 725a OR gegeben sein, da die Gläubiger nicht schlechter gestellt

104 Bundesgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 5.a.aa.105 Bundesgericht 4A_391/2009 vom 12. Februar 2010, E. 2.2.106 Bundesgericht, a.a.O.

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werden dürfen, als wenn der Richter benachrichtigt würde.107 Unzulässig sind nach dieser Rechtsprechung «Massnahmen, welche auf Kosten der Gläubiger lediglich den Zusammenbruch des Unternehmens hinauszögern, wenn eine Sanierung nicht ernst-haft in Aussicht steht. … Sind erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten der Sanierung angebracht oder ist diese für die Gläubiger mit einem erhöhten Risiko verbunden, hat der Verwaltungsrat gemäss Art. 725 OR den Richter zu benachrichtigen und ihm den Entscheid über die Fortführung der Gesellschaft zu überlassen.» Im Einklang mit den Kriterien der Business Judgement Rule108 schliesst ein Sanierungsmisserfolg unter den erwähnten Voraussetzungen die Haftung der Verwaltungsräte aus.109

In der Praxis hat sich schon die Frage gestellt, ob der Verwaltungsrat zur Sanie-rung der Gesellschaft verpflichtet ist, falls und solange es am Horizont noch einen Silberstreifen für das Überleben der Gesellschaft gibt, der bei richtiger Optik für den Verwaltungsrat erkennbar sein müsste. In einem schon etwas älteren Urteil hat das Bundesgericht zumindest von einer «moralischen Pflicht» gesprochen, drohenden Schaden soweit möglich zu verhindern oder zu begren-zen; es gilt nach Auffassung des Bundesgerichts «für die Betroffenen zu retten, was noch zu retten ist. Dazu können insbesondere auch geeignete Massnahmen zur Erhaltung des Betriebes dienen.»110 In diesem Fall schützte das Bundesge-richt den unter normalen Umständen durch die Vertretungsmacht des Verwal-tungsrats nicht gedeckten Verkauf eines ganzen Unternehmens, da die Höhe der Überschuldung ein weiteres Zuwarten nicht mehr zuliess und die Käufer, die bereit waren, den Betrieb fortzuführen, ihr Übernahmeinteresse zeitlich befris-tet hatten. Im jüngeren Schrifttum findet sich eine grosse Anzahl von Stimmen, welche bei gegebenen Sanierungsaussichten von einer Sanierungspflicht des Verwaltungsrates ausgehen.111 Diese Auffassung fliesst aus der Oberleitungs-

107 Bundesgericht 4C.366/2000, E. 4.b.108 Vgl. dazu schon III.109 Bundesgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.110 BGE 116 II 323.111 Vgl. bühler, S. 33; Senn, S. 89: «Ist die Gesellschaft fortführungsfähig, ist er (VR) ver-

pflichtet, Sanierungsmassnahmen zu ergreifen. … Der Verwaltungsrat ist also auch im Falle der Überschuldung verpflichtet, eine sanierungsfähige Gesellschaft zu retten. Demnach kann sich der Verwaltungsrat im Falle der Sanierungsfähigkeit der Gesellschaft nicht mittels Benachrichtigung des Richters aus der Verantwortung stehlen. Eine Bilanzde-position aus Trotz ist damit pflichtwidrig, aber ebenso die voreilige Benachrichtigung aus Angst, namentlich wenn zu lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen und Krisenanzeichen beschönigt wurden und die Notwendigkeit, das Vorliegen einer Krise nun doch einzugestehen, eine grosse Schockwirkung entfaltet»; forStmoSer, Richter, S. 276 ff. (286); garbarSki, S. 175 f.

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pflicht des Verwaltungsrates, die auch und gerade in der finanziellen Krise der Gesellschaft greift.112

Kommt es zur Überschuldungsanzeige und zum Konkurs der Gesellschaft, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Verantwortlichkeitsklage.113 In einem Verantwort-lichkeitsprozess könnte es sich für die Verwaltungsräte sowohl unter dem Kri-terium der Pflichtverletzung als auch des Verschuldens 114 als problematisch er-weisen, sofern sie keine Unterlagen vorlegen können, welche intensive Bemü-hungen zur Rettung der Gesellschaft belegen, um die (schliesslich gescheiterte) Sanierung zu bewerkstelligen und die (tatsächlich erfolgte) Bilanzdeponierung abzuwenden. Die Überschuldungsanzeige stellt im Lebenszyklus einer Gesell-schaft einen tragischen Schritt dar, der auf einem «informed judgement» des Verwaltungsrates basieren sollte, wozu es einer entsprechenden Dokumenta-tion bedarf. Dieses Erfordernis leitet sich grundsätzlich aus der allgemeinen Lebenserfahrung ab, dass sich die Verwaltungsräte die tatsächliche finanzielle Lage der Gesellschaft und die verbleibenden Handlungsoptionen wohl nur gestützt auf eine schriftliche oder sonst durch Text nachweisbare Dokumenta-tion ausreichend vergegenwärtigen können.

E. Der Richter als Manager?

Bestehen erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten einer Sanierung oder ist diese für die Gläubiger mit einem erhöhten Risiko verbunden, hat der Verwal-tungsrat nach der Rechtsprechung gemäss Art. 725 OR den Richter zu benach-richtigen «und ihm den Entscheid über die Fortführung zu überlassen.» 115 Diese For-mulierung kann Missverständnisse erzeugen. Wenngleich das Bundesgericht die Vorschriften über das Vorgehen und die Obliegenheiten der Organe sowie des Richters bei Kapitalverlust und Überschuldung einer Gesellschaft als ein aufei-nander abgestimmtes Ganzes auffasst, woraus sich nach Auffassung des Bun-desgerichts ableitet, dass der Konkursrichter gegenüber der Gesellschaft und den Gläubigern in ähnlichem Umfang Verantwortung übernimmt wie die Gesellschaftsorgane, 116 obliegt es nicht dem Richter, die Sanierungschancen bei

112 Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR i.V.m. Art. 725 und 725a OR.113 Dazu schon unter I.114 Vgl. Art. 759 Abs. 1 OR.115 Bundesgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.116 BGE 127 III 379.

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einer überschuldeten Gesellschaft zu beurteilen. Der Richter ist ein weitgehend durch die Vorarbeiten des Verwaltungsrates gesteuertes Wesen. Legt der Ver-waltungsrat dem Richter im Rahmen von Art. 725a OR kein ausgearbeitetes Sanierungskonzept vor, bleibt dem Richter unter praktischem Gesichtspunkt wohl nur die Konkurseröffnung.117 Diese Auffassung leitet sich aus dem Wort-laut von Art. 725a Abs. 1 OR ab, wonach der Richter den Konkurs auf Antrag des Verwaltungsrates oder eines Gläubigers aufschieben kann, falls Aussicht auf Sanierung besteht. Zwar kann der Richter gemäss Art. 173a Abs. 2 SchKG den Entscheid über den Konkurs von Amtes wegen aussetzen, wenn Anhaltspunkte für das Zustandekommen eines Nachlassvertrages bestehen. Allerdings er-scheint auch ein derartiger Aufschub ohne detailliertes, nachvollziehbares Dossier des Verwaltungsrates zur erfolgreichen Sanierung der Gesellschaft als wenig wahrscheinlich. Der Verwaltungsrat ist und bleibt der zentrale Treiber der Sanierung.

X. Finanzielle Führung in der Krise – Aktienrechtsrevision

A. Liquiditätsplan

«Cash is king», auch in der Unternehmenskrise. Nach diesem Credo will der Bundesrat den Verwaltungsrat nach Art. 725a E-OR zur Erstellung eines Liqui-ditätsplans verpflichten, sofern begründete Besorgnis der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft besteht. Der Liquiditätsplan soll die aktuelle Liquidität sowie die Zahlungseingänge und Zahlungsausgänge der nächsten zwölf Monate ent-halten. Der Verwaltungsrat muss den Liquiditätsplan durch einen zugelassenen Revisor prüfen lassen und der Revisor unterliegt der Anzeigepflicht der Revisi-onsstelle. Ist die Gesellschaft zahlungsunfähig, muss der Verwaltungsrat unver-züglich eine Generalversammlung einberufen und ihr Sanierungsmassnahmen beantragen (Art. 725a Abs. 3 E-OR). Eine Pflicht des Verwaltungsrates, im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, be-steht nicht.118 Der Ständerat hat dieser Regelung im Juni 2009 nur mit Stichent-

117 Vgl. zu den formellen und materiellen Voraussetzungen des Konkursaufschubes auch Ziltener, S. 192, wonach zum erforderlichen Sanierungsplan auch ein Zeitplan gehört, in welchem dargelegt wird, bis wann die Überschuldung vollständig beseitigt werden kann.

118 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1690.

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scheid des Präsidenten zugestimmt, wenngleich die Liquidität in vielen Sanie-rungsfällen ein zentrales Thema darstellt.

B. Massgeschneiderte Sanierungsvoraussetzungen

Mit Art. 725b E-OR soll im Zuge der Aktienrechtsrevision die Grundlage für gesellschaftsspezifische statutarische Voraussetzungen zur Einberufung einer Generalversammlung im Hinblick auf Sanierungsmassnahmen geschaffen wer-den. Betroffen sind lediglich Verschärfungen des Sanierungsregimes, nicht je-doch Erleichterungen. Beispielsweise könnte für den Verwaltungsrat die Pflicht zur Beantragung von Sanierungsmassnahmen bereits dann bestehen, wenn die Nettoaktiven einen Viertel des Aktienkapitals und der Reserven nicht mehr decken. Es bestünde auch die Möglichkeit, statutarisch zusätzliche Parameter zu normieren. Nach seiner systematischen Stellung muss sich Art. 725b E-OR sowohl auf Aspekte des Kapitalverlusts (Art. 725 E-OR) als auch auf Liquidi-tätsaspekte (Art. 725a E-OR) beziehen.119

XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates

Gemäss den allgemeinen Vorgaben in Art. 716a Abs. 1 OR bildet ein funktions-fähiges internes Kontrollsystem (IKS) eine unübertragbare und unentziehbare Aufgabe des Verwaltungsrates.120 Teilweise ist den Verwaltungsräten diese wichtige Organisationspflicht erst aufgrund des revidierten Revisionsrechts121 richtig bewusst geworden. Bei der ordentlichen Revision hat die Revisionsstelle gemäss Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3 OR die Existenz eines internen Kontrollsystems zu prüfen. Die Treuhand-Kammer hat das Vorgehen des Revisors im Schweizer Prüfungsstandard (PS) 890 konkretisiert. Damit wird das Verhalten des Verwal-tungsrates bei der Erstellung und fortlaufenden Überprüfung des internen Kontrollsystems nun auch indirekt über das Revisionsrecht reguliert.

119 bühler, S. 21 f., schlägt in Ergänzung zum bundesrätlichen Gesetzesentwurf vor, dass den Gesellschaften ausdrücklich ermöglicht werden sollte, in den Statuten weitere Kennzahlen vorzusehen.

120 Vgl. peyer, S. 87 ff.121 In Kraft getreten am 1. Januar 2008.

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Ein adäquates Kontrollklima stellt zweifellos eine grosse Chance zur Verminde-rung von Haftungsrisiken für die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung dar. Gemäss Art. 754 Abs. 2 OR haftet der Delegierende für das Fehlverhalten eines Delegierten nicht, sofern er nachzuweisen vermag, dass er bei der Auswahl, Unterrichtung und Überwachung die nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat. Ein adäquates IKS bildet den zentralen Baustein eines angemessenen Überwachungsapparates. Wahrscheinlich lässt sich letztlich jeder Schaden auf eine Schwäche im unternehmensinternen Kon-trollsystem zurückführen. Da die Revisoren bei den volkswirtschaftlich bedeut-sameren Gesellschaften zur Prüfung der Existenz eines internen Kontrollsys-tems gehalten sind, könnten die Verwaltungsräte der Versuchung unterliegen, sich im Verantwortlichkeitsprozess aus mangelhafter Geschäftsführung mit Verweis auf ein Fehlverhalten der Revisionsstelle unter Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3 OR zu verteidigen. Diesem Vorgehen dürfte allerdings kaum Erfolg beschieden sein, da – als Ausfluss des aktienrechtlichen Paritätsprinzips – die verschiedenen Gesellschaftsorgane – Verwaltungsrat einerseits und Revisionsstelle anderer-seits – die vom Gesetz normierten Pflichten selbstständig erfüllen müssen und sich im Rahmen ihres eigenen Aufgabenbereiches grundsätzlich nicht auf ein Fehlverhalten eines anderen Organes berufen können.122 Mit anderen Worten, einer Verteidigung der Verwaltungsräte unter Art. 754 OR aufgrund der vorbe-haltlosen Berichterstattung zum unternehmensinternen Kontrollsystem durch die Revisionsstelle123 dürfte kaum Erfolg beschieden sein.

XII. «Deep pockets» der Revisoren und Griff in die Taschen von Verwaltungsräten und Geschäfts-leitungsmitgliedern

A. Streitverkündungsklage

Im Kontext der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit ist augenscheinlich gewor-den, dass die Mitglieder des Verwaltungsrates und der Geschäftsleitung, welche an der Entstehung des Schadens in der Regel die Hauptverantwortung tragen, mangels ausreichenden Haftungssubstrates oder aus sonstigen Gründen oft-

122 Bundesgericht 4A_65/2008 vom 3. August 2009, E. 8.3, zur Haftung der Revisions-stelle einer Bank, wenn auch unter vertragsrechtlichen Grundsätzen.

123 Vgl. Art. 728b OR.

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mals für einen zu geringen Anteil des Schadens haften. In diesen Fällen findet die Schadensregelung insbesondere mit den Revisoren statt und richtet sich weniger nach dem Verursacherprinzip als vielmehr nach der Solvenz, was als stossend erscheint. Im Hinblick auf eine Schadensregelung nach dem Verursa-cherprinzip kommt Bestrebungen für ein Gesamtverfahren grosse Bedeutung zu. Ein erster Schritt in diese Richtung erfolgte mit Art. 759 Abs. 2 OR bereits im Rahmen der Aktienrechtsrevision von 1991. Nach dieser Bestimmung kann der Kläger mehrere Beteiligte gemeinsam für den Gesamtschaden einklagen und verlangen, dass der Richter im gleichen Verfahren die Ersatzpflicht jedes einzel-nen Beklagten festsetzt. Mit der Streitverkündungsklage der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO)124 – Art. 81 und Art. 82 ZPO – wird dieses Recht auf den Gesamtprozess auch dem Beklagten gewährt.125 Zum Beispiel kann die Revisionsstelle als einzige Beklagte des Hauptprozesses ein vitales Interesse daran haben, die geschäftsführenden Organpersonen, welche die primären Ursachen der Schadensentstehung gesetzt haben, in die gerichtliche Beurtei-lung einzubeziehen. Ähnlich kann es sich bei einer vermögenden Verwaltungs-rätin verhalten, welche infolge des Hauptprozesses aus Bilanzmanipulation den Chief Financial Officer (CFO) der Gesellschaft mittels Streitverkündungsklage in ein Gesamtverfahren einbeziehen will. Die blosse Streitverkündung (Art. 78 ff. ZPO) greift in diesen Fällen zu kurz.

Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterlie-gens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen (Art. 81 Abs. 1 ZPO; Art. 16 ZPO). Der Streitverkündungsbeklagte wird nach Art. 81/82 ZPO zur Partei des Ver-ZPO zur Partei des Ver-zur Partei des Ver-fahrens. Diese Stellung rechtfertigt sich aufgrund des Sachzusammenhangs der Streitverkündungsklage mit dem Hauptprozess, welcher im Rahmen der diffe-renzierten Solidarität126 mehrerer Schadensverursacher gegeben ist. Die Bot-schaft zur ZPO streicht den Vorteil eines solchen «Gesamtverfahrens» heraus, der in der Prozesseffizienz gesehen wird, da sich das bereits mit der Hauptsache befasste Gericht auch unmittelbar mit dem Folgeprozess beschäftigt. Infolge der Aktenkenntnis des Gerichts werden Synergien genutzt, sodass sich dadurch

124 Die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) datiert vom 19. Dezember 2008 und ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten.

125 Vgl. zum Ganzen den Beitrag von urS bertSchinger in der Festschrift für Ivo Schwander, 2011.

126 Art. 759 Abs. 1 OR.

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insgesamt «eine namhafte Kosten- und Ressourcenersparnis für die Parteien und das Gericht ergeben» kann.127

Dass die Streitverkündungsklage eine ausgewogene Beurteilung der aktien-rechtlichen Verantwortlichkeit begünstigt, zeigt ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahre 1996. Vor einem Genfer Gericht wurde zunächst ausschliesslich die Revisionsstelle eingeklagt. In der Folge hat die Revisionsstelle gegen zwei Verwaltungsräte sowie die Buchhalterin der Gesellschaft Streitverkündungskla-ge (appels en cause) erhoben.128 Im konkreten Fall resultierte eine Schadenstra-gung von einem Viertel durch die Revisionsstelle und drei Viertel durch die geschäftsführenden Personen,129 was im betreffenden Fall dem angemessenen Verhältnis von Führung und Kontrolle in der Aktiengesellschaft entsprach. Die Rechtsprechung im Zusammenhang mit den einstigen kantonalrechtlichen Streitverkündungsklagen (appels en cause)130 veranschaulicht, dass aufgrund dieser Klage(n) beim Gericht eine Aktenlage geschaffen werden kann, welche eine umfassende Beurteilung der einzelnen Schadensbeiträge ermöglicht.

Die Streitverkündungsklage soll – im Sinne der Corporate Governance – ge-währleisten, dass die Schadensregelung in der aktienrechtlichen Verantwort-lichkeit unter Einbezug der wesentlichen Schadensverursacher erfolgt. Der Bundesgesetzgeber trägt mit dieser Regelung zur Verwirklichung des Verursa-cherprinzips in der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit bei. Ein Beklagter des Hauptprozesses soll in Streitigkeiten aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit das Gericht dazu bewegen können, erst zur Entscheidung zu kommen, wenn es dessen Aktenkenntnis über die einzelnen Aspekte der Schadensverursachung

127 Botschaft ZPO, S. 7284; Bundesgericht 4A_431/2009 vom 18. November 2009, E. 2.3.

128 Bundesgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, faits B.129 Bundesgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, E. 9: «La cour cantonale a évalué à

trois quarts – un quart la mesure dans laquelle le dommage à réparer pouvait être imputé, respectivement, à la lésée et à la défenderesse. Elle a considéré, à juste titre, que les circons-Elle a considéré, à juste titre, que les circons-tances imputables à la demanderesse – agissements de l’aide-comptable et négligence des ad-ministrateurs – avaient contribué de manière nettement prépondérante à la survenance de ce dommage, quand bien même les omissions de la défenderesse n’y étaient pas étrangères. Quant à la proportion retenue dans l’arrêt attaqué, elle repose essentiellement sur le pouvoir d’appréciation du juge du fait, auquel la juridiction fédérale de réforme n’a pas à substituer le sien propre lorsque, comme c’est ici le cas, l’autorité cantonale n’a pas laissé de côté des cir-constances pertinentes pour l’application du droit et ne s’est pas non plus fondée sur des faits qu’elle n’avait pas à prendre en considération sous cet angle.»

130 In den kantonalen Zivilprozessordnungen war die Streitverkündungsklage (appel en cause) nur vereinzelt verankert, nämlich in den Kantonen Genf, Waadt und Wallis.

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durch die verschiedenen involvierten Akteure erlaubt.131 Damit ermöglicht das Prozessrecht, das System der Aktiengesellschaft abzubilden und knüpft an die Corporate Governance-Diskussion an, in welcher das Zusammenspiel der ver-schiedenen Organpersonen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die isolierte Beurteilung einzelner Schadensverursacher im Prozess steht im krassen Wider-spruch zu den Strukturen der Aktiengesellschaft, die auf ein Zusammenwirken der verschiedenen Organpersonen ausgelegt sind. Die Streitverkündungsklage ist deshalb eine logische Antwort des Prozessrechts auf den gestiegenen Reife-grad der Corporate Governance-Diskussion in der Schweiz.

Die Zulassung der Streitverkündungsklage ist mit der Klageantwort (oder der Replik im Hauptprozess) zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streit-verkündende Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, sind zu nennen und kurz zu begründen (Art. 82 Abs. 1 ZPO). Gemäss Art. 82 Abs. 2 ZPO gibt das Gericht der Gegenpartei des Hauptprozesses und der streitberu-fenen Person Gelegenheit zur Stellungnahme. Im Rahmen dieses Zulassungs-verfahrens können Verwaltungsräte, welche zum Beispiel durch die Revisions-stelle in ein Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gezogen werden sollen, ihre Argument vorbringen, welche die Ablehnung der Streitver-kündungsklagen rechtfertigen. Da das Zulassungsverfahren kein summarisches Vorprüfungsverfahren ist, dürfte einer Argumentation der Verwaltungsräte, wel-che die Zulassung der Streitverkündungsklagen abwenden will, lediglich in Ausnahmefällen Erfolg beschieden sein. Die Stellungnahmen der Gegenpartei des Hauptprozesses sowie der streitberufenen Partei gemäss Art. 82 Abs. 2 ZPO dienen nicht einer vertiefenden, materiellen Plausibilitätsprüfung der potenti-ellen Ansprüche des Streitverkündungsklägers. Es ist deshalb ausreichend, wenn ein nachvollziehbares Interesse an der Streitverkündungsklage im Sinne eines potentiellen Regressinteresses gegenüber dem Streitverkündungsbeklagten aufgezeigt werden kann.132 Das Bundesgericht hat auf der Grundlage einer kantonalen Prozessbestimmung schon von der «vraisemblance suffisante» ge-

131 Botschaft ZPO, S. 7284.132 morf, Art. 82 ZPO, N 6.

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sprochen133 und scheint eine summarische Begründung genügen zu lassen.134 Die spezifischen Nachweise sind erst Gegenstand des Schriftenwechsels, wie er vom Gericht nach Art. 82 Abs. 3 ZPO angeordnet wird.135 An einer «genügen-den Wahrscheinlichkeit» zur Zulassung einer Streitverkündungsklage könnte es zum Beispiel fehlen, wenn der Streitverkündungsbeklagte – etwa die Konzern-muttergesellschaft im Verantwortlichkeitsprozess gegen Organpersonen der Tochtergesellschaft136 – nur diffus als faktisches Organ der Tochtergesellschaft dargestellt wird und gleichwohl für einen Teilschaden zur Verantwortung gezo-gen werden soll.137 Wenngleich die faktische Organschaft als Haftungskonzept

133 In diesem Sinne auf der Grundlage von Art. 104 Abs. 1 der (einstigen) Genfer Zivilprozessordnung (Une partie peut appeler un tiers en cause si elle a un intérêt direct à contraindre un tiers à intervenir au procès: (a) soit qu’elle puisse faire valoir contre lui, si elle succombe, une prétention récursoire ou en dommages-intérêts; (b) soit qu’elle entende lui opposer le jugement; (c) soit enfin qu’elle fasse valoir contre lui des prétentions connexes à celles qui sont en cause) Bundesgericht 4A_462/2010 vom 17. November 2010, E. 2.2: «Pour que l’appel soit recevable à la forme, il suffit dès lors que les prétentions de l’appelant soit alléguées avec une vraisemblance suffisante. Autrement dit, le juge de l’incident ne doit pas préjuger le droit litigieux (en l’occurrence, les prétentions de l’intimé contre la recourante), mais se satisfaire d’une vraisemblance»; Bundesgericht 4P.116/2006 vom 6. Juli 2006, E. 3.4.2: «Il ne s’agissait donc pas de se prononcer sur le bienfondé matériel des prétentions à la base de l’action, mais il fallait seulement se demander si les motifs invoqués par l’organe de contrôle étaient suffisamment pertinents pour justifier la recevabilité des appels en cause»; wohl strenger hahn, Art. 82 ZPO, N 5, wonach der Streitberufene geltend machen könne, der Streitverkündungskläger habe die Ansprüche «nicht glaubhaft gemacht».

134 Bundesgericht 4D_81/2007 vom 17. März 2008, E. 3.4 (nicht publiziert in BGE 134 III 379), wonach die Streitverkündungsklage durch im Hauptprozess beklagte Ver-waltungsräte der Gesellschaft gegen einen weiteren Verwaltungsrat nach Auffassung des Bundesgerichts durch die Vorinstanz zu Unrecht abgelehnt wurde, obwohl die Beschwerdeführer etwas unspezifisch begründet hatten. Die kantonale Instanz hatte den Beschwerdeführern hingegen noch vorgeworfen, sie hätten keine «motifs spéci-fiques» zur Begründung des «appel en cause» vorgetragen.

135 Botschaft ZPO, S. 7285 (Hervorhebung durch den Verfasser): «Erst nach Abschluss des Zulassungsverfahrens ist eine einlässliche Klageschrift einzureichen»; vgl. auch frei, Art. 82 ZPO, N 8.

136 Vgl. dazu auch unter V.137 Vgl. Chambre de recours, Waadt, JdT 2002 III S. 151 ff., wo der Streitverkündungs-

kläger eine Drittgesellschaft als faktisches Organ auffasste, aber die Verwaltungsräte der Drittgesellschaft ins Recht fassen wollte, sodass das Gericht eine Solidarität (als Grundlage eines Regressverhältnisses) zwischen den Organpersonen der konkur-siten Gesellschaft und den Organpersonen der Drittgesellschaft unter Art. 759 OR verneinte. Zur faktischen Organschaft der Drittgesellschaft hielt das Gericht fest: «même s’il ressort des procès verbaux du Conseil d’administration de cette société

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in der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit längst eingeschliffen ist, bleiben die Konturen im Einzelfall oftmals etwas unscharf, was unter Umständen gegen die Zulassung einer Streitverkündungsklage sprechen kann, mit welcher faktische Organpersonen in einem Gesamtverfahren erfasst werden sollen.138

Indem Art. 81 Abs. 2 ZPO den Kettenappell untersagt, hat der Bundesgesetzgeber eine feste Schranke gegen das umfassende Gesamtverfahren errichtet; eine streitberufene Person kann deshalb keine weitere Streitverkündungsklage erhe-ben. In der Vernehmlassung wurde diese Regelung noch kritisiert.139 Zudem enthält Art. 82 Abs. 3 ZPO einen Vorbehalt zu Gunsten von Art. 125 ZPO. Danach steht den Gerichten die Möglichkeit offen, gemeinsam eingereichte Klagen zu trennen, was dem Gesamtprozess in der aktienrechtlichen Verant-wortlichkeit abträglich sein könnte, wenngleich Haupt- und Streitverkündungs-klage am selben Gericht anhängig bleiben.140

Streitverkündungsklagen führen zu einer Ausweitung des Prozessstoffes, wes-halb sie auch zur Verfahrensverschleppung missbraucht werden können. Jede Partei muss sich im Prozess nach Treu und Glauben verhalten (Art. 2 ZGB; Art. 52 ZPO). Streitverkündungsklagen, welche offensichtlich lediglich der Prozessver-schleppung dienen, müssen schon im Zulassungsverfahren141 scheitern. Aller-dings ist die mit den Streitverkündungsklagen zwangsläufig verbundene erhöh-

(Drittgesellschaft) qu’elle a discuté les résultats et les perspectives de Terraz SA (konkursite Gesellschaft) et pris certaines décisions dans cette optique, il s’agit plus vraisemblablement d’actes relevant de ses prérogatives d’actionnaire majoritaire que d’actes de gestion proprement dits».

138 Vgl. allgemein leuenberger/uffer-tobler, S. 101, wonach die Zulassung der Streitver-kündungsklage zu verweigern sei, wenn Regressansprüche des Streitverkündungsklä-gers gegen die streitberufene Partei im Falle des Unterliegens im Hauptprozess «offen-sichtlich nicht gegeben sind».

139 Vgl. Vernehmlassung des Freiburger Anwaltsverbandes (OAFIR), in: Zusammenstellung der Vernehmlassungen, Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die Schweizerische Zivilprozessordnung, 2004, S. 220: «Des appels en cause en chaîne doivent pouvoir être admis si le lien de connexité est donné (par example, action en responsabilité contre un organe de révision, lequel appelle en cause l’administrateur, lequel devrait pouvoir aussi appeler en cause un directeur»).

140 Vgl. frei, Art. 82 ZPO, N 27, mit dem Hinweis, dass die Vorteile einer Streitverkün-dungsklage auch bei einer Trennung der Verfahren nicht ganz verloren gehen, da beide Streitsachen (Haupt- und Streitverkündungsprozess) bei demselben Gericht hängig bleiben.

141 Vgl. Art. 82 ZPO.

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te Komplexität des Verfahrens sorgfältig von dilatorischem bzw. rechtsmiss-bräuchlichem Verhalten des Streitverkündungsklägers abzugrenzen.142

Verwaltungsräte und Geschäftsleitungsmitglieder können aufgrund der Streit-verkündungsklage in ein Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwort-lichkeit verwickelt werden, in welchem vor einem einzigen Gericht eine «Ge-samtabrechnung» über den verursachten Schaden stattfindet. Da für die Streitverkündungsklage das Gericht des Hauptprozesses zuständig ist,143 gehen die von einer Streitverkündungsklage betroffenen Organpersonen ihres Wohn-sitzgerichtsstandes verlustig,144 was sich dadurch rechtfertigt, dass mit dem Gesamtverfahren die Governance in der Aktiengesellschaft auch in der Ausei-nandersetzung um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit reflektiert werden soll. Insgesamt dürften sich die Prozessrisiken für die Verwaltungsräte und Ge-schäftsleitungsmitglieder aufgrund der verfahrensrechtlichen Vereinfachungen, welche mit der Streitverkündungsklage verbunden sind,145 tendenziell erhöhen.

B. Neuordnung der Revisionshaftung

Seit langem beklagen die Revisoren, dass sie für Managementfehler einstehen müssen und im Konkurs der Gesellschaft tendenziell einen zu hohen Teil des Gesamtschadens tragen. Aufgrund der «deep pocket policy» vieler Kläger, wel-che bei der allein solventen Revisionsstelle ihren Schaden liquidieren wollen, ist seit einigen Jahren eine rechtspolitische Diskussion um die Haftung des Abschluss-prüfers im Gange.146 In der laufenden Aktienrechtsrevision soll die Haftungssi-tuation der Revisoren im Rahmen von Art. 759 OR auf ein vernünftiges Mass zurückgeführt werden; Art. 755 Abs. 1 OR bleibt hingegen unverändert. Das Haftungsrisiko der Revisoren liegt – trotz Unabhängigkeitsvorschriften (Art. 728 OR und Art. 729 OR) – in der unvermeidbaren «Nähe» ihres Wirkens zu

142 Vgl. BGE 132 I 13, wo der «appel en cause» über 50 Personen betraf, weshalb das BGer erkannte: «la complication excessive du procès suffit à justifier le rejet des appels en cause». Dabei konnte sich das Gericht allerdings auf Art. 104 Abs. 2 der Genfer ZPO stützen («S’il en résulte une complication excessive du procès, le juge peut refuser l’appel en cause»), hielt aber auch fest, dass die zahlreichen Streitverkündungsklagen «en réalité qu’un but dilatoire» hatten (E. 5.3).

143 Art. 16 ZPO.144 Vgl. auch Art. 40 ZPO.145 Vgl. den zweiten Abschnitt von XII.A.146 Vgl. bertSchinger, Revisionsstelle, S. 598 ff. mit einer Übersicht zu einigen Lösungsan-

sätzen.

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den Fehlleistungen des Managements. Deshalb soll der subsidiären Stellung der Revisoren Rechnung getragen und vermieden werden, dass die Revisionsstelle im Rahmen der differenzierten Solidarität (Art. 759 Abs. 1 OR) auch bei einem sehr kleinen eigenen Verschulden letztlich voll für das Verschulden des Verwal-tungsrates und der Geschäftsleitung aufkommen muss.147 Zwar hat das Bundes-Zwar hat das Bundes-gericht die Revisionsstelle bereits als Sekundärorgan bezeichnet;148 in der Insol-n der Insol-venz der Gesellschaft erscheinen die Revisoren dann allerdings oftmals als pri-märes Haftungsorgan, was bereits unter dem Titel «Den Letzten beissen die Hunde» thematisiert wurde.149

Die Revisoren haften für einen Fortsetzungsschaden; der Schadenskeim liegt in aller Regel in einem fehlerhaften Verhalten der geschäftsführenden Organper-sonen. Auf dieser Grundlage hat der Bundesrat in der laufenden Aktienrechts-hat der Bundesrat in der laufenden Aktienrechts-revision für die Haftung der Revisionsstelle mit Art. 759 Abs. 1bis E-OR (Fassung vom Dezember 2007) folgende Regelung vorgeschlagen: Personen, die der Revi-sionshaftung unterstehen und die einen Schaden lediglich fahrlässig mitverursacht ha-ben, haften bis zu dem Betrag, für den sie zufolge Rückgriffs aufkommen müssten. Gemäss Botschaft soll damit der sekundären Stellung von Personen, die mit der Revision betraut sind, im Verhältnis zu den Geschäftsführungsorganen Rech-nung getragen werden.150 Es geht darum, die Revisionsstelle im Bereich des fahrlässigen Handelns aus der differenzierten Solidarität des Art. 759 Abs. 1 OR herauszulösen. Unter der Annahme, dass der Gesamtschaden grundsätzlich durch die Verwaltungsräte und die Geschäftsleitungsmitglieder zu tragen ist, soll die Revisionsstelle im Aussenverhältnis lediglich in dem Masse haften, in dem Mitbeklagte des Hauptprozesses (Art. 759 Abs. 2 OR) oder Dritte gegen die Revisionsstelle Rückgriff nehmen könnten. Dieser Regressbetrag entspricht folglich dem Haftungsbetrag der Revisionsstelle im Aussenverhältnis. Der Ge-setzesentwurf reflektiert damit die Corporate Governance in der Aktiengesell-schaft. Wie erwähnt, wird der Schaden in der Regel primär durch die geschäfts-führenden Organpersonen und lediglich subsidiär im Sinne eines Fortsetzungs-schadens durch die Revisionsstelle verursacht. Das Haftungsproblem der Revi-sionsstelle besteht dabei darin, dass sie ein schadenstiftendes Verhalten geschäftsführender Organpersonen nicht oder nicht rechtzeitig bemerkt.

147 Vgl. Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.148 Bundesgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.149 forStmoSer, S. 483 ff.150 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.

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Der Rückgriffsbetrag wird mit Bezug auf Personen, die nicht am Prozess gegen die Revisionsstelle beteiligt sind, virtuell bestimmt. Die Revisionsstelle erhält im Hauptprozess Gelegenheit, Tatsachen vorzutragen, welche die Schadensverur-sachung durch Mitbeklagte oder Dritte belegen sollen und ihren eigenen Bei-trag zur Schadenstiftung als geringer erscheinen lassen, als es vom Kläger im Hauptprozess dargetan wird. Soweit sich die Argumente der Revisionsstelle im Hauptprozess durch Mitbeklagte nicht verifizieren lassen, ermittelt der Richter in einem «virtuellen Regressprozess» den Haftungsbetrag der Revisionsstelle im Aussenverhältnis. Nach der Botschaft soll mit dieser Regelung vermieden wer-den, «dass die Revisionsstelle auch bei einem sehr kleinen Verschulden letztlich voll für das Verschulden des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung aufkommen muss».151 Damit will der Gesetzesentwurf den Grundsatz der Proportionalität zwischen Verschulden und Haftung verwirklichen.

Die praktische Handhabung der vorgeschlagenen Regelung dürfte nicht einfach sein, doch sind gewisse Entlastungen zu Gunsten der Revisionsstelle zu erwar-ten, da der Richter ihren Ausführungen über schadenstiftendes Verhalten von Mitbeklagten des Hauptprozesses oder Dritten mehr Gehör schenken darf. Die Einschätzungen in der Literatur über die praktischen Auswirkungen von Art. 759 Abs. 1bis E-OR bewegen sich zwischen einer bloss «leichten Dämpfung der Revisionshaftung»152 und einer «merklichen Verschärfung der Haftung auf der Seite der Verwaltungsräte».153

Handelt die Revisionsstelle absichtlich, bleibt es nach dem Gesetzesentwurf bei der differenzierten Solidarität von Art. 759 Abs. 1 OR. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Art. 759 Abs. 1bis E-OR blieb im Rahmen der Aktienrechtsrevi-sion bislang unbestritten, sodass einstweilen davon auszugehen ist, dass er geltendes Recht wird. Allerdings lässt die vorgeschlagene Bestimmung wichtige Fragen offen. Unklar ist etwa der erforderliche Grad der richterlichen Überzeu-gung, ab welchem die Argumente der Revisionsstelle berücksichtigt werden dürfen. Hier muss blosses Glaubhaftmachen grundsätzlich genügen, will man die Bestimmung nicht ins Leere laufen lassen. Der tatsächliche Regressprozess (Art. 759 Abs. 3 OR) bleibt allemal vorbehalten.154

151 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.(1696).152 druey/glanZmann, § 14, N 125.153 böckli, Verwaltungsräte, S. 10.154 Vgl. zum Ganzen böckli/bühler, S. 241 ff.; Watter/garbarSki, S. 244 ff.

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Die Neuordnung der Revisionshaftung dürfte die Haftungsrisiken für die Ver-waltungsräte tendenziell erhöhen, da die Revisionsstelle etwas aus der «Schuss-linie» genommen werden soll. Stattdessen erfährt die Schadensverursachung durch die geschäftsführenden Organpersonen eine stärkere Betonung. Sie sol-len für den Schaden haften, sofern sie ihn nicht zufolge (virtuellen) Rückgriffs auf die Revisionsstelle abwälzen können. Ist die Revisionsstelle Alleinbeklagte des Hauptprozesses, kann sie über die Neuordnung der Revisionshaftung ge-mäss Art. 759 Abs. 1bis E-OR hinaus mittels der Streitverkündungsklage der Zivilprozessordnung155 die fehlbaren Organpersonen in ein Gesamtverfahren zwingen und damit einem einzigen Gericht einen möglichst umfangreichen Überblick über die Zusammenhänge der Schadensverursachung ermöglichen. In diesem Fall werden die Argumente der Revisionsstelle im Kontakt mit den Streitverkündungsbeklagten, zum Beispiel einem Verwaltungsrat und dem CEO, dem kontradiktorischen Härtetest ausgesetzt, sodass das Gericht auf dieser Grundlage die einzelnen Haftungsquoten mehrerer Schadensverursacher festlegen kann.

XIII. Ausblick – Diskussionskultur in den Leitungsgremien der Aktiengesellschaft

Die erfolgreiche Zusammenarbeit in Verwaltungsrat und Geschäftsleitung er-fordert aufmerksames Zuhören genau so wie kritisches Hinterfragen. Das Bundesgericht hat dem Mitglied eines Bank-Verwaltungsrates, der für die feh-lerhafte Erteilung eines Kredites anlässlich seiner ersten Teilnahme an einer Sitzung des Verwaltungsrates haftbar wurde, mangelnde Courage vorgeworfen: «Die einfache Frage, wie es um die Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit des Schuldners bestellt sei bzw. ob und wie diese abgeklärt worden sei, hätte noch keineswegs ein rigo-roses Eingreifen des Neulings bedeutet. Gerade wenn er mit den internen Abläufen noch nicht vertraut war, hätte er diese elementare Frage aufwerfen müssen und wäre ihm dieses Verhalten auch nicht verargt worden.»156

Die Lektion des Bundesgerichts ist unmissverständlich: eine offene Diskussions-kultur ist zwingende Voraussetzung zum Selbstschutz der Mitglieder von Ver-waltungsräten und Geschäftsleitungen. Oftmals ist das relevante Wissen in den

155 Vgl. XII.A.156 Bundesgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.

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Organisationen ausreichend vorhanden, um Problemfälle und Unterneh-menskrisen zu verhindern. Die aktienrechtlichen Verhaltenspflichten der Or-ganpersonen verlangen, diese Informationsquellen zu nutzen und auf dieser Grundlage die brennenden Fragen in der Führung der Gesellschaft beherzt anzugehen.

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