FILM-DIENST 26_2012

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4 194963 604507 26 Alle Kinofilme vom 20.12. und 27.12. Alle Filme im Fernsehen KINO! Ein Jahresrückblick / Interview: Benh Zeitlin / Porträt: Ellen Burstyn / Aus Hollywood: Filme über Osama bin Laden DAS FILMMAGAZIN www.film-dienst.de · 65. Jahrgang · 20. Dezember 2012 · 4,50 Euro · 26/2012

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FILM-DIENST 9/2012 Inhalt Ausgewählte Artikel und Kritiken

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Alle Kinofilme vom 20.12. und 27.12. Alle Filme im Fernsehen

KINO! Ein Jahresrückblick / Interview: Benh Zeitlin / Porträt: Ellen Burstyn / Aus Hollywood: Filme über Osama bin Laden

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ALLE NEUEN KINOFILME VOM 20.12. UND 27.12.2012

kino 6 KINO! Eine Passage durchs Filmjahr 2012 Von Josef Lederle 8 Farbe fürs Kino! Von Jörg Gerle 8 Lob der Zeitdiagnose: „Die Vermissten“ Von Alexandra Wach 9 Faszinierend Unausstehlich: „Young Adult“ Von Michael Kohler 9 Die Scherben eines Mythos: „Skyfall“ Von Stefan Volk 10 Enttarnte Funktionäre: „Barbara“ Von Jens Hinrichsen 10 Ein Abgrund: „We Need to Talk About Kevin“ Von Kathrin Häger 11 „I don’t know what it is, but I wanna try it“: Essen mit den „Avengers“ Von Felicitas Kleiner 11 Love is no peace, love is a battlefield: Ein Film von Miike Takashi Von Rüdiger Suchsland 12 Ein seekranker Tiger: „Life of Pi“ Von Michael Ranze 12 It’s hard to explain: Der Soundtrack zu „Drive“ Von Ulrich Kriest 13 Schlaf schön! Limousinen in „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ Von Esther Buss veranstaltungen 14 Die europäische (Film-)Seele Der Europäische Filmpreis 2012 Von Margret Köhler 15 Filmfestival Thessaloniki Von Marianthi Milona 15 Festival der Filmhochschulen Von Margret Köhler

44 Die Abenteuer des Huck Finn 38 Alexandre Ajas Maniac 32 Beasts of the Southern Wild 33 Breathing Earth – Susumu Shingus Traum 35 Cäsar muss sterben 36 Dag 46 Dead Fucking Last (kino schweiz) 27 Du hast es versprochen 34 End of Watch 36 Evim Sensin – Du bist mein Zuhause 40 Der Hobbit: Eine unerwartete Reise 29 Jesus liebt mich 31 Die Köchin und der Präsident 30 Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger 39 Ludwig II 42 Pitch Perfect 42 Red Dawn 43 Sagrada – das Wunder der Schöpfung 38 Sammys Abenteuer 2 45 Searching for Sugar Man 28 Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld 41 Die Vampirschwestern 37 Weil ich schöner bin

veranstaltungen 16 „Du bist jetzt Pop“ Die 46. Hofer Filmtage Von Ulrich Kriest 17 Die Leichtfüßigen und die Mutigen Das Cinefest Hamburg Von Andrea Dittgen 18 Die 36. Duisburger Filmwoche Von Fritz Wolf 18 Filmfestival Mannheim Heidelberg Von Hans Messias aus hollywood 20 Im Schatten der Wahl Zwei Filme in den Mahlsteinen der Politik Von Franz Everschor literatur 22 Licht/Schatten Buch & Ausstellung zu Filmstills aus der Zeit der Weimarer Republik Von Horst Peter Koll interview 23 Am Lagerfeuer Benh Zeitlin & „Beasts of the Southern Wild“ Von Margret Köhler porträt 24 Madame Bovary in West Texas Die Schauspielerin Ellen Burstyn Von Michael Hanisch 4 magazin 26 personen 27 neu im kino 45 impressum 46 kino schweiz 47 neu auf dvd 49 literatur NEU AUF DVD 47 Das höhere Prinzip

48 Die Sonne, die uns täuscht

Am Ende eines wilden Kinojahres: „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“

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INTERVIEW

Am Lagerfeuer

BENH ZEITLIN ÜBER „BEASTS OF THE SOUTHERN WILD“

Benh Zeitlin erzählt in seinem Re-

giedebüt „Beasts of the Southern

Wild“ (Kritik in dieser Ausgabe) in

hypnotischen Bildern von einer dem

Untergang geweihten Welt, indem er beim

Trip durch den Süden Louisianas ökologische

Katastrophen und fantasievolle Fabelwelt ver-

bindet. Nach dem Großen Preis der Jury in

Sundance erhielt der Film beim Festival in

Cannes 2012 die „Caméra d’Or“. Trotz die-

ser Auszeichnungen reizt Hollywood den

überzeugten „Indie“ aber überhaupt nicht.

Wie sollen wir Ihren Film charakterisieren: als Märchen, Traum oder Fabel? Benh Zeitlin: Ich würde den Begriff „Volks-

märchen“ zur Abgrenzung gegenüber den

Märchen mit der guten Fee vorschlagen. Die

Geschichte handelt von Desastern und von

der Überlebenskraft des Menschen, eine Le-

gende, wie man sie gerne am Lagerfeuer er-

zählt.

Die Hauptfigur Hushpuppy, ein Mädchen, das durchs Leben stapft und sich nicht unterkrie-gen lässt, hat noch nie vor der Kamera ge-standen. Zeitlin: Wir haben uns ungefähr 4.000 Mäd-

chen angeschaut; als Quvenzhané Wallis in

den Raum kam, gab es keinen Zweifel mehr.

Sie sprühte nur so vor Energie und Emotion.

Vielleicht war es der verrückteste Einfall, mit

einer Sechsjährigen zu arbeiten, aber sie hat

mich und den Film gerettet. Am Set spielte

sie, ohne mit der Wimper zu zucken, die

schwierigsten Szenen und holte uns oft auf

den Boden zurück, sagte ganz direkt: Blöd-

sinn, so spricht kein Kind. Brav haben wir

dann die Sätze umformuliert.

Ein Regiedebüt ohne professionelle Schau-spieler, ein ungewöhnliches Thema und ein Drehort, der hauptsächlich aus Wasser be-steht: Ergreift da nicht jeder potenzielle Geld-geber die Flucht? Zeitlin: Court 13, eine unabhängige „filmma-

king army“ aus New Orleans, die auch schon

meine Kurzfilme produziert hat, war mit im

Boot, und dann stieß glücklicherweise eine

gemeinnützige Produktionsfirma und Stiftung

ohne große Erfahrung in Produktion und Fi-

nanzierung langer Spielfilme dazu. Wir teil-

ten die gleiche Vision, hatten die gleiche

künstlerische Ambition. Jeden Wahnsinn un-

terstützten sie, ohne ans Box Office zu den-

ken. Einfach toll. Die meisten „Schauspieler“

spielen sich selbst; ich war derjenige, der

nach ihren Erfahrungen fragte und einen lan-

gen Lernprozess durchmachte.

Haben Sie viel improvisiert? Zeitlin: Bei den Proben haben wir viel impro-

visiert und das Drehbuch ziemlich verändert.

Weil der Film authentisch sein sollte, haben

wir auch die zu langen Dialoge gekürzt.

Waren Sie sich bewusst, dass Sie mit der ex-perimentellen narrativen und visuellen Struk-tur ein ziemliches Risiko eingehen? Zeitlin: Ich habe gebibbert und gehofft, dass

das Publikum mit auf diese Reise geht. Die

positiven Reaktionen in Sundance und

Cannes beweisen, dass ich einen Nerv ge-

troffen habe.

Inwieweit war Louisiana ein Inspiration für Sie? Zeitlin: Als ich vor sechs Jahren für meinen

Kurzfilm „Glory at Sea“ in Louisiana war, ha-

be ich mich in diese wilde Gegend und die

Menschen verliebt. Ich kehrte in meine New

Yorker Schuhschachtel zurück und habe mei-

ne Sachen gepackt. Mein Film ist so etwas

wie ein Liebeslied für Louisiana. Die Be-

wohner sind mutig und stolz, sie verlassen

ihre Heimat nicht. Manchmal glaube ich, sie

leben in einer anderen Wirklichkeit. Da spü-

re ich eine Freiheit wie sonst nirgends in den

USA. Die Kultur setzt sich aus dem Kreo-

lischen, dem frankophonen Cajun und dem

Brasilianischen zusammen, dazu kommt noch

der Einfluss von New Orleans. So eine Ko-

existenz ist selten. In den 1960er-Jahren gab

es noch Hunderte französisch sprechender

Familien, die autonom existierten. Doch die

Entdeckung des Öls bedeutete dann das En-

de. Die Leute wurden verjagt, nur wenige

blieben. Eine ganze Kultur wurde vernichtet.

Welchen Einfluss hatte die BP-Ölkatastrophe auf Ihre Arbeit? Zeitlin: Am ersten Drehtag explodierte die

Deepwater Horizon Plattform von BP, und

wir benötigten eine Erlaubnis für die gesperr-

te Zone. Hautnah haben wir erlebt, wie sich

das Öl ausbreitete und das ökologische Sys-

tem zerstörte – eine weitere Bestätigung für

die Realisierung dieses Films. Nicht nur auf

der Leinwand verschwindet eine Welt, son-

dern auch in Wirklichkeit. Politiker spucken

große Töne, doch alles geht weiter wie zu-

vor. Das ist das Schlimme.

Wo sehen Sie Ihre Zukunft? Ein erfolgreicher Independent wird schnell von Hollywood ver-einnahmt. Zeitlin: Da sehe ich mich wirklich nicht.

„Spider-Man“ & Co. sind nicht mein Ding.

Ich tue alles, um den eingeschlagenen Weg

weiterzugehen und würde auch für weniger

Geld ein Herzensprojekt durchziehen. Der

Erfolg hat unsere Arbeitsbedingungen natür-

lich verbessert. Hungers sterben werden wir

sicherlich nicht. Ich arbeite an meinem

nächsten Drehbuch; die Adaption eines frem-

den Skripts lockt mich überhaupt nicht. Das Gespräch führte Margret Köhler.

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PORTRÄT

DIE SCHAUSPIELERIN ELLEN BURSTYN

Als Autorenkino war New Hollywood,

jene belebend neue „Welle“ im tra-

ditionellen Hollywood-Kino der spä-

ten 1960er- sowie der 1970er-Jahre,

vor allem ein Kino der Regisseure. An Pro-

duzenten denkt man dabei weniger, auch

nicht an Schauspieler, und wenn, dann pri-

mär an männliche Akteure wie Robert De

Niro, Jack Nicholson, Harvey Keitel, Gene

Hackman, Al Pacino, Jeff Bridges oder Dustin

Hoffman. Bei den Frauen fallen einem viel-

leicht Karen Black und Goldie Hawn ein, Jo-

die Foster, Susan Sarandon und Jane Fonda

gehören ins Umfeld; doch eine prägte das

Bild von New Hollywood: Ellen Burstyn. In

jener Zeit ging sie bereits auf die 40 zu. An-

derthalb Jahrzehnte lang hatte sie auf der

Bühne und im Fernsehen Erfahrungen ge-

sammelt, die sie ab 1971 in New Hollywood

anwenden konnte. In diversen Fernsehserien

hatte sie als junge Frau ohne sonderliches

Profil mitgespielt, und dabei nicht selten le-

diglich als „Augenweide“ fungiert. In der Ja-

ckie-Gleason-Show war sie das Glee Girl, ei-

ne Art Ulknudel vom Dienst. Nur einmal in-

teressierte sich damals das Kino für sie, doch

ihre Rolle in Vincente Minnellis Komödie

„Goodbye, Charlie“ (1964) unterschied sich

kaum von der Fernseh-Durchschnittsware.

Minnelli übersah ihr Potenzial, das 1971 und

1973/74 dann die jungen Regisseure Peter

Bogdanovich, William Friedkin und Martin

Scorsese nutzten. Bogdanovich besetzte Ellen

Burstyn in „Die letzte Vorstellung“ als Mut-

ter, die die ersten misslichen Liebeserfahrun -

gen ihrer Tochter (Cybill Shepherd) miterlebt

und sich an ihre eigenen Erlebnisse im klei-

nen Nest Anarene erinnert. Eine Kleinstadt -

idylle, eine wehmütige Erinnerung – wobei

der im Flachmann stets präsente Bourbon das

Seine tat: Madame Bovary in West Texas.

Noch zwei weitere Male spielte Ellen Burs-

tyn in dieser für sie so fruchtbaren Epoche

Mütter. Diese Mütterbilder entsprachen al-

lerdings so gar nicht dem Muster des kon-

ventionellen US-Kinos. Es waren keine „Mut-

tertiere“, die sich mit Kraft und Leidenschaft

für ihre Kinder einsetzen, auch keine allein

erziehenden Heldinnen; diese Frauen hatten

vielmehr vollauf mit sich selbst zu tun. Selbst

die Mutter in William Friedkins „Exorzist“ ist

mehr oder weniger hilflos, als der Satan ihre

Tochter zu beherrschen beginnt. Sie, die

Schauspielerin, die sich nur der Arbeit wegen

in Georgetown, an der Ostküste, wie im Exil

aufhält, sehnt sich nach der Heimat, dem

Westen, wo ihr die Dämonen offenbar weni-

ger zu schaffen machen.

Scorseses „Alice lebt hier nicht mehr“ ist bis

heute ihr bedeutendster Film. Dies war ihr

Projekt, ihre Idee, mit der sie zu Francis

Ford Coppola ging, der sie auf Scorsese auf-

Madame Bovary in West Texas

Burstyns bedeutendster Film: Plakatmotiv zu „Alice lebt hier nicht mehr“

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PORTRÄT

merksam machte. Sie war an der Entwick-

lung des Drehbuchs beteiligt und sollte ur-

sprünglich sogar als Regisseurin fungieren.

Später beschrieb sie, wie es zur ersten, von

Warner Bros. arrangierten Begegnung mit

Scorsese kam: „Die Tür ging auf, und ein

junger, kleiner, nervöser Typ stürzt herein.

Ich sagte ihm, wie sehr mir ‚Mean Streets‘

gefallen habe. Aber bei meinem neuen Pro-

jekt, sagte ich, geht es nicht um einen jun-

gen Gangster, sondern um Alice, eine Frau.

Der Film solle ganz aus der Perspektive die-

ser Frau erzählt werden. Ich sagte, ich wüss-

te einfach nicht, ob er, Scorsese, etwas von

Frauen versteht. Der Kleine schweigt. Ich

denke: Mein Gott, er ist schüchtern, aber du

darfst es nicht sein. Ich sage: Verstehen Sie

etwas von Frauen, Mr. Scorsese? Und der

Kleine piepst: ‚Nein, aber ich würde es gerne

lernen. Na, hier habe ich es mit einem klu-

gen Burschen zu tun, dachte ich.“ Martin

Scorsese galt bis dahin als ein Regisseur

harter, statischer Männerfilme, die in

Großstädten, zumeist in New York

spielten. „Alice lebt hier nicht mehr“

war das genaue Gegenteil: ein Frau-

enfilm, ein Road Movie über eine

Mutter, die mit ihrem Sohn auf ei-

ner Reise von New Mexico über

Phoenix und Tucson ins kaliforni -

sche Monterey will. Ob sie je dort

ankommen, lässt der Film offen. Auf

jeden Fall findet die Frau auf der

Reise zu sich selbst: weg aus einer

trostlosen Ehe, hin zu einer mögli-

chen Karriere als Sängerin. Eine Eman-

zipationsgeschichte. Ellen Burstyn spielt

erneut eine Mutter, die eine eher bizarre

Bindung zu ihrem Sohn pflegt und viel zu

sehr mit sich selbst beschäftigt ist.

Mit „Alice lebt hier nicht mehr“ erlebte Ellen

Burstyn erstmals in ihrer Laufbahn, wozu Ki-

no in der Lage war – in dieser Intensität hat

sie es wohl kein zweites Mal erfahren. Ihre

Leistung wurde mit einem „Oscar“ belohnt.

Zuvor war sie für „Die letzte Vorstel lung“

und „Der Exorzist“ nominiert. Eine Film-

schönheit im herkömmlichen Sinne war die

43-Jährige nicht. „Sie ist eine sperrige, spröde

Frau: Sie wirkt stets ein wenig ungelenk und

unelegant“, schrieb Daniela Sannwald.

Es ist erstaunlich, aber auch bezeichnend,

wie es für Burstyn nach ihren Erfolgen wei-

ter ging – zunächst nämlich gar nicht. Stellte

sie an künftige Projekte zu hohe Anforde -

rungen? Sie war offenbar nicht bereit, allzu

viele Kompromisse einzugehen. „Alice lebt

hier nicht mehr“ kam im Januar 1975 in die

Kinos; doch Ellen Burstyn blieb für längere

Zeit im US-Kino und -Fernsehen unsichtbar:

Sie ging zum Broadway, feierte Triumphe in

Bernard Slades Beziehungskomödie „Same Ti-

me, Next Year“ und ging nach Europa. Alain

Resnais besetzte sie in seinem artifiziellen Ve-

xierspiel „Providence“; der Schauspielerin

Delphine Seyrig gab sie in deren Dokumenta-

tion „Sei schön und halt den Mund“ Aus-

künfte über das Bild der Frau in der ameri -

kanischen Unterhaltungsindustrie. Sie wusste,

worüber sie sprach.

„Lessons in Becoming Myself“

Nach vier Jahren Abwesenheit kehrte sie

1978 mit „Nächstes Jahr, selbe Zeit“ zurück,

Robert Mulligans Verfilmung des Stücks, mit

dem sie auf der Bühne erfolgreich war. Eine

weitere „Oscar“-Nominierung war Anerken -

nung ihrer Arbeit. Anfang der 1980er-Jahre

begann für sie der aufregende „Alltag“ einer

viel beschäftigten Schauspielerin. Es fehlte

nicht an Angeboten, nicht an Erfolgen und

Anerkennung. Doch trotz vieler Preise zählte

sie nicht zur ersten Reihe der US-Darstellerin -

nen. Inzwischen war sie Anfang 50 und er-

hielt in erster Linie weiterhin Mutterrollen.

An eine Karriere, wie sie etwa Meryl Streep

oder Kathy Bates erlebten, war in ihrem Fall

nicht zu denken. Wohl auch deshalb erwei -

terte sie ihren Aktionsradius: Von 1982 bis

1988 und noch einmal von 2000 und 2006

übernahm sie (mit Al Pacino) die künstleri -

sche Leitung des New Yorker Actor’s Studio,

wo sie einst studiert und später auch Regie

geführt hatte. Zwischen 1982 und 1985 fun-

gierte sie auch als Präsidentin der Schauspie -

lergewerkschaft Actor’s Equity Association.

Im Kino beeindruckte sie 1980 als Wunder-

heilerin in Daniel Petries Drama „Der starke

Wille“, im Fernsehen als eine des Mordes an-

geklagte Schuldirektorin in George Schaefers

Justizdrama „Der Jean-Harris-Prozess“ (1981).

Fünf Jahre später bekam sie eine eigene

Show, in der sie 13 Folgen lang ihr Talent als

Komödiantin zeigen konnte. Noch einmal

war sie 2000 bis 2001 in der Familienserie

„That’s Life“ als gestresste Mutter zu sehen.

Begeistert äußerte sie sich über ihre Zu-

sammenarbeit mit dem jungen Regisseur Dar-

ren Aronofsky bei „Requiem for a Dream“.

Auch hier geht es um eine Mutter-Sohn-

Beziehung, die durch exzessiven Drogenkon-

sum zerstört wird. Daneben stand sie immer

mal wieder auf der Bühne, nicht nur am

Broadway, wo sie 1982/83 der umjubelte

Star in einer Inszenierung von „84 Charing

Cross Road“ war, sondern auch in anderen

Städten. Ihre Memoiren erschienen 2006:

„Lessons in Becoming Myself“.

Am 7. Dezember feierte Ellen Burstyn ihren

80. Geburtstag. Ihre noch längst nicht abge-

schlossene Filmografie umfasst mehr als 130

Titel – zuletzt konnte man sie in „W“, Oli-

ver Stones Abrechnung mit George Bush, als

First Lady Barbara Bush sehen. Längst hat sie

ihr Repertoire um Großmütterrollen er-

weitert, etwa in Nancy Bardavils Teenager-

drama „Greta“ (2009). Einige interessante

Filme wie John Doyles Drama „Main Street“

oder die Mini-Serie „Political Animals“ (in

der sie die Mutter von Sigourney Weaver

spielt), warten noch auf ihre deutsche Pre-

miere. Michael Hanisch

Ein Alterswerk: „Immer noch Liebe“ USA 2008. Regie: Nicholas Fackler. Mit Ellen Burstyn, Martin Landau, Elizabeth Banks, Adam Scott. Laufzeit: 89 Min. Anbieter (DVD/Blu-Ray): Atlas Film.

S ie ist eine Irritation für den

alten Mann (Martin Lan -

dau), aber auch der Fix -

stern, um den sich bald sein Le-

ben dreht: Mary, die von Ellen

Burstyn gespielte Dame, die zur

Weihnachtszeit in Roberts ein-

sames Leben förmlich hinein-

schneit, als sie mit ihrer Tochter

im Haus gegenüber einzieht. Der

Auftakt für eine Romanze, die

die beiden Senioren glücklich,

aber auch unsicher wie verliebte

Teenager macht. Das Ganze

könnte eine zuckersüße Rom-

Com zum Weihnachtsfest sein,

wären da nicht die leisen Irritati-

onsmomente, die Regisseur Ni-

cholas Fackler in seine Inszenie -

rung und die beiden Hauptdar-

steller in ihrem Spiel von Anfang

an in die Erzählung einstreuen

und die darauf hindeuten, dass

sich hinter Marys und Roberts

Liebesgeschichte mehr verbirgt

als nur eine ins Alter verlegte

„Boy meets Girl“-Geschichte: Ins

Glück des Sich-Findens schleicht

sich wie durch die Hintertür die

Angst des Verlierens. Es ist vor

allem der sensible, nuancenrei-

che darstellerische Pas de deux

von Ellen Burstyn und Martin

Landau, der diese kleine Pro-

duktion zu einem Erlebnis

macht. fd

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Du hast es versprochen 27

SEHENSWERT

D I E K R I T I K E N

DISKUSSIONSWERT

Beasts of the Southern Wild 32 Breathing Earth 33 Caesar muss sterben 35 Der Hobbit: Eine unerwartete Reise 40 Das höhere Prinzip (dvd) 47 Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger 30 Sagrada 43 Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld 28 Weil ich schöner bin 37

41 448

Du hast es versprochen

D as Unbehagen nistet sich schon in den

ersten Bildern ein, mit denen der zwi-

schen Horror und Thriller angesiedel-

ten Film beginnt: So harmlos das Sujet der

beiden in einem winterlichen Wald spielen-

den, ganz in weiß gekleideten Mädchen auch

ist, haftet ihm doch etwas Geisterhaftes an.

Als sich die Mädchen wieder auf den Weg

nach Hause machen, sind Blutflecken auf ih-

ren Kleidern. Was ist geschehen? Und was

hat das mit der Gruselgeschichte zu tun, die

eines der Mädchen der Freundin im Keller

eines verfallenen Häuschens erzählt, auf das

die Kinder im Wald stoßen?

Es ist bravourös, wie souverän die Regisseu -

rin Alex Schmidt auf der Klaviatur gediege-

nen Schreckens spielt. Von der Unheil ver-

heißenden Musik, die sie wohl dosiert ein-

zusetzen versteht, über die hintersinnige Bild-

sprache, die mit vielsagend eingesetzten Far-

ben und atmosphärischen Räumen arbeitet,

bis zur Schauspielführung orchestriert sie ein

deutsches Schauermärchen, dessen Spannung

man sich nicht entziehen kann. Dabei bleibt

die Geschichte im Rahmen der Genre-Kon-

ventionen: Es geht um eine junge Frau, die

nach einer vorläufigen Trennung von ihrem

untreuen Ehemann unerwartet einer Freun-

din aus Kindheitstagen begegnet (auf die of-

fensichtlich die Exposition verweist) und

spontan beschließt, mit ihr und ihrer eigenen

kleinen Tochter einige Ferientage auf jener

Nordseeinsel zu verbringen, auf der sie auch

schon als Kinder Urlaub machten. Doch die

Idylle in dem etwas abseits des nächsten Orts

gelegenen Haus wird bald gestört: Dorfbe -

wohner, vor allem eine alte Fischhändlerin

(wunderbar hexenhaft: Katharina Thalbach),

verhalten sich seltsam, und im und um das

Haus scheinen Schatten der Vergangenheit zu

lauern. Eine verdrängte Schuld schiebt sich

machtvoll in die Gegenwart und wird zur

tödlichen Bedrohung. So wenig originell die

Story ist: Buch und Regie verstehen es, sie

geschickt dramaturgisch aufzubereiten. Ob

hinter dem Grauen, das sich in dem Ferien-

haus breit macht, nur schlechtes Gewissen,

handfeste menschliche Bosheit oder gar et-

was Übersinnliches steckt, wird in der

Schwebe gehalten; wenn man nach der ers-

ten Hälfte zu wissen meint, wie der Hase

läuft, schlägt der Plot überraschende Haken.

Der Film, der Gewaltspitzen sehr dosiert ein-

setzt, verlässt sich vor allem auf die Span-

nung, die durch das Mitgefühl des Zuschau -

ers mit den Figuren entsteht. Dass das so gut

funktioniert, ist auch den Hauptdarstellerin -

nen zu verdanken, die die wachsende Angst

und das zunehmend komplexere Verhältnis

der Frauen zueinander bravourös vermitteln

und, flankiert von vortrefflichen Nebendar-

stellern, den Figuren Herzblut und Lebendig-

keit verleihen. Felicitas Kleiner

film-dienst 26/2012 27

KINOSTART 20.12.2012

Du hast es versprochen Deutschland 2011 Produktion Wüste Film Ost/Wüste Film/Magnolia Film prod./ZDF (Das kleine Fernsehspiel) Produzenten Yildiz Özcan, Stefan Schubert, Ralph Schwin gel, Babette Schröder, Nina Bohlmann Regie Alex Schmidt Buch Alex Schmidt, Valentin Mereutza Kamera Wedigo von Schultzendorff Musik Marian Lux Schnitt Andreas Radtke Darsteller Mina Tander (Hanna Merten), Laura de Boer (Clarissa von Griebnitz), Lina Köhlert (Lea Merten), Mia Kasalo (Maria), Katharina Thal bach (Gabriela), Max Riemelt (Marcus), Cle mens Schick (Johannes Merten), Thomas Sar bacher (Tim), Greta Oceana Dethlefs (Hanna mit 9), Alina Sophie Antoniadis (Clariss mit 9), Anna Thalbach (Gabriela in Flashbacks) Länge 102 Min. Verleih Falcom Media

Eine junge Frau gönnt sich nach der vorläu-figen Trennung von ihrem Mann zusammen mit ihrer kleinen Tochter und einer Freundin aus Kindertagen einen Urlaub auf jener Insel, auf der die Frauen auch schon als kleine Mädchen die Ferien verbrachten. Doch Schat-ten einer alten Schuld schieben sich unheilvoll in die Gegenwart und werden zur tödlichen Bedrohung. Die an sich simple Genre-Ge-schichte zwischen Mystery-Thriller und Horror wird durch eine in jeder Hinsicht sorgfältige und stimmungsvolle Inszenierung sowie ge-schickte dramaturgische Wendungen bis zur letzten Minute spannend umgesetzt. – Ab 16.

„Beasts of the Southern Wild“

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KINO

41 449

Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld

Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld Tabu Schwarz-weiß. Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich 2012 Produktion O Som e a Fúria/Komplizen Film/Gullane En tretenimento/Shellac Sud Produzenten Luís Urbano, Sandro Aguilar, Janine Jack owski, Jonas Dornbach, Maren Ade, Fabiano Gullane, Caio Gullane, Thomas Ordonneau Regie Miguel Gomes Buch Miguel Gomes,Mariana Ricardo Kamera Rui Poças Schnitt Telmo Churro, Miguel Gomes Darsteller Teresa Madruga (Pilar), Laura Soveral (alte Aurora), Ana Moreira (junge Aurora), Henri que Espirito Santo (alter Ventura), Carloto Cotta (junger Ventura), Isabel Cardoso (San ta), Ivo Müller (Auroras Mann), Manuel Mes quita (Mário) Länge 118 Min. FSK o.A.; f Verleih Real Fiction

Eine reizvoll vertrackte Revision von Film- und portugiesischer Kolonialgeschichte: Nach ei-ner Einleitung in zwei Kapitel unterteilt, er-zählt der Film zunächst eine im gegenwärti-gen Portugal angesiedelte Geschichte um ei-ne gläubige Seniorin, die sich um ihre exzen-trische Nachbarin kümmert, bevor er im zwei-ten Teil in die Vergangenheit dieser Nachbarin (oder die Imagination davon) eintaucht, die in jungen Jahren eine melodramatische Liebes-geschichte in einer imaginären afrikanischen Kolonie erlebt. Die beiden sich spiegelnden Teile kreisen spielerisch-melancholisch um die Vergegenwärtigung von Verlorenem, um un-erfüllte Glückssehnsüchte und kolonialistische Projektionen, wobei geschickt mit wiederkeh-renden Bildmotiven sowie Anleihen bei der Filmgeschichte gearbeitet wird. Ein fesselnder Film an der Grenze von klassischer Narration und Experimentalfilm. – Sehenswert ab 16.

Der Prolog ist ein „Film im

Film“, zusammengesetzt

aus Fragmenten des Ver-

gangenen – aus Mythen, magi-

schen Erzählungen und Anspie-

lungen auf Joseph Conrad wie

auch auf das Abenteuerfilmgenre

des klassischen Hollywood-Kinos.

Ein durch das „Herz des dunklen

Kontinents“ streifender Entdecker

wird darin von einem Krokodil

aufgefressen, wobei seine Trau -

rig keit und Melancholie in das

Tier wandern. Das Krokodil

taucht im Lauf des Films immer

wieder auf: in Gestalt eines Fahr-

simulators für Kleinkinder in ei-

nem Einkaufszentrum in Lissa-

bon, als Wolkenbild und als sü-

ßes Babykrokodil namens Dandy,

Mitauslöser eines leidenschaftli-

chen Liebesdramas. „Tabu“ ist

bevölkert von Widergängern, von

Objekten und Motiven, die sich

in modifizierter Form wiederho -

len oder in reinkarnierter Form

wieder auftauchen – nicht als

originäre Präsenz, sondern als

Abbild von etwas längst Verlore -

nem, als Phantom. „Aurora hatte

eine Farm in Afrika, am Fuße

des Monte Tabu“, heißt es etwa

in der Mitte des Films, ein Wi-

dergängermotiv aus der Ge -

schich te des westlichen Kinos

und seiner Afrika-Bilder (etwa

„Jenseits von Afrika“, fd 25 508)

wie auch aus der portugiesischen

Kolonialvergangenheit. Geschich -

te und Erinnerung sind in „Ta-

bu“ mit den Bildern des Kinos

aufs Engste verwoben.

Den berückend schönen

schwarz-weißen Film über den

Entdecker und das Krokodil sieht

eine Frau im Kino: Sie heißt Pi-

lar, ist Rentnerin und eine der

drei schrulligen Frauenfiguren,

von denen der erste Teil des

Films handelt. Pilar ist streng ka-

tholisch und außerdem sozial en-

gagiert; aufopfernd kümmert sie

sich um ihre Nachbarin Aurora,

eine einsame und überkandidelte

alte Dame, die ihr letztes Geld

im Spielcasino verpulvert. In den

letzten Tagen des Jahres drängen

sich Reste von Auroras Vergan -

gen heit – und Reste der alten ko-

KINOSTART 20.12.2012

lonialen Ordnung – immer hart-

näckiger in die (postkoloniale)

Gegenwart; die ehemalige Sied-

lerin fantasiert von einem Kroko-

dil und verdächtigt ihre kapver-

dische Haushälterin Santa der

Hexerei. „Das verlorene Para -

dies“, hat der portugiesische Re-

gisseur Miguel Gomes diesen ers-

ten Teil seines klug-verspielten

Films betitelt – eine ironische

Anspielung auf das verlorene Ko-

lonialreich, das erst mit der Nel-

kenrevolution Mitte der 1970er-

Jahre sein Ende fand. Der Unter-

titel ist zudem die Umkehrung

einer filmhistorischen Vorlage:

„Tabu“ heißt auch der letzte

Film von Friedrich Wilhelm Mur-

nau aus dem Jahr 1931, ebenso

zwei geteilt wie sein Nachfolger,

nur geht hier das „Paradies“ dem

„verlorenen Paradies“ voraus.

Die umgekehrte zeitliche Ord-

nung ist bei Gomes jedoch nur

der vordergründige Witz: Tat-

sächlich verhalten sich die bei-

den Segmente weniger linear zu-

einander als dass sie sich gegen-

seitig reflektieren. Auch wenn

der erste Teil scheinbar realitäts-

näher verfasst ist, mutet seine

Stimmung weitaus entrückter an.

Das Schwarz-Weiß des Anfangs

wird fortgesetzt, nur sind die Bil-

der jetzt glatt, flach und ohne je-

de Haptik. Eine leichte Hang -

over- Stimmung liegt über allem;

die Figuren wirken starr, ihre

verstockten Dialoge verheddern

sich mehrfach in rätselhaften

Wiederholungsschleifen. Der

Übergang zum „Paradies“ voll-

zieht sich schließlich in einer

Shopping Mall mit künstlich an-

gelegtem Dschungel; mit einem

langsamen Kameraschwenk öff-

net sich der Blick auf ein Di-

ckicht aus Palmen und anderen

exotischen Gewächsen – eine Se-

quenz, die sich wie ein Gewinde

in den zweiten Teil des Films

schraubt.

Venura, einst Auroras feuriger

Liebhaber, inzwischen Bewohner

eines Altersheims, ist der Erzäh -

ler dieses nun folgenden Films,

der die Vergangenheit Auroras in

einer fiktiven ehemaligen Kolonie

Portugals rekapituliert. Gomes in-

szeniert ihn nicht als klassische

Rückblende, sondern als eine Art

filmische Erinnerung – es könn-

ten Pilars innere Bilder sein, die