Floh-InvasionenunddiefalscheArtvonSonne · im lokalen Jargon, «acts of God» der Grund waren. Der...

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FEUILLETON Neuö Zürcör Zäitung Montag, 22. Oktober 2007 Nr. 245 27 Floh-Invasionen und die falsche Art von Sonne Der öffentliche Verkehr in Grossbritannien liegt darnieder – und über die Begründungen darf man sich gelegentlich wundern Von Georges Waser Die Missstände im britischen Transport- sektor und auf mehreren grossen Flughäfen machen mittlerweile schon über die Landesgrenzen hinaus negative Schlagzeilen. In Grossbritannien denkt man nicht zuletzt mit wachsender Sorge an die Olympischen Spiele im Jahr 2012 und den in London zu erwartenden Andrang von Reisenden aus dem Ausland – aber wird dem gegenwärtigen Chaos noch rechtzeitig abzuhelfen sein? Zwar ist das Thema für Turner ein ungewöhn- liches – und dennoch ist die künstlerische Hand- schrift im 1844 entstandenen «Rain, Steam, and Speed – the Great Western Railway» sogleich zu erkennen. Licht und Atmosphäre, eine an Pous- sins klassische Landschaften erinnernde Struktur: Derart virtuos beherrschte dieses Repertoire in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einzig der genannte Maler. Ungewöhnlich ist das Bild für Turner, weil es den modernen Erfinder- geist zelebriert – und die Geschwindigkeit: Vor dem Zug jagt dem Betrachter ein Hase entgegen, der sich verzweifelt zu retten sucht. Zweimal nach Fishguard Als 1909 die Linie zwischen London und Fish- guard im walisischen Westen eröffnet wurde, be- wältigte der Expresszug die Fahrt – eine Strecke von 270 Meilen – in 4 Stunden und 28 Minuten. Heute, im Zeitalter der Hochleistungszüge, dau- ert die Fahrt vom Londoner Bahnhof Paddington nach Fishguard ganze 32 Minuten länger. Erstens muss man in Cardiff umsteigen, zweitens macht der Great Western Express schon zuvor viermal halt, während der Zug zwischen London und Fishguard einst nur einmal anhielt. Heute kann die Reise nach Fishguard in erster Klasse je nach Tag und Tageszeit bis um die 200 Pfund kosten, während man 1909 laut der Tageszeitung «The Guardian» (umgerechnet auf gegenwärtige Ver- hältnisse) dafür weniger als 3 Pfund auslegte. Wie viel man auch immer bezahlt: Mehr noch quält einen im modernen Grossbritannien und insbesondere in England die Frage, wann – und ob überhaupt – ein Zug ankommt. Die Katastro- phenmeldungen in den Zeitungen reissen nicht ab und unterhalten die von der jeweiligen Erfahrung verschont gebliebenen Leser mit Titeln wie «Nightmare on the disoriented express» oder «My odyssey of despair on the 12.30 to Euston». Im ersteren Falle hiess dies, dass eine Frau im Expresszug von London nach York statt gut ein- dreiviertel Stunden die ganze Nacht lang unter- wegs war, und im letzteren, dass der Schnellzug eines Journalisten, aus Lancashire nach London unterwegs, erst eine auf der Strecke schadhaft ge- wordene Rangierlokomotive vor sich her zu stos- sen hatte und schliesslich – erneut auf freier Fahrt, doch durch die besagte Übung offenbar strapaziert – von einem Heissluftballon überholt wurde. Ein anderer Journalist wieder berichtet, wie sein Zug aus der Provinz nach London derart verspätet war, dass ein Ambulanzwagen auf die Passagiere wartete. Katalog der Unzulänglichkeiten Schuld an diesem Chaos ist John Major, ein eins- tiger Busschaffner – genauer: die Privatisierung der britischen Eisenbahnen im Jahr 1996 durch die Konservativen unter eben diesem Premierminister. Schon im Februar 2005 ging die «Times» mit Major ins Gericht: Laut der Zeitung belief sich das Total der Verspätungen, das bri- tische Eisenbahnpassagiere seit der Privatisierung erlitten hat- ten, auf elftausend Jahre. Im Gegensatz dazu standen andere von der «Times» angeführte Zahlen. So verzeichnete im Vor- jahr die Gesellschaft South West Trains, bekannt für ihre noto- risch unpünktlichen Züge, einen Profit von 43 Millionen Pfund, und die nur wenig zuverlässigere Gesellschaft GNER verbuchte einen Profit von 30 Millionen. Inzwischen hat sich für Pas- sagiere die Situation verschlech- tert: Schon im Mai 2006 berich- tete die «Times», dass man in Lettland für 10 Pfund 643 und in Frankreich immerhin noch 107 Meilen im Zug reisen könne, während in Grossbritannien der- selbe Betrag nur für 38 Meilen ausreiche. Das Fazit liegt auf der Hand: Auf die Bezeichnung «öf- fentlicher Dienst» haben die bri- tischen Eisenbahnen, die seit ihrer Privatisierung primär im Interesse des Profits betrieben werden, schon längst keinen An- spruch mehr. – Einer surrealisti- schen Erfahrung ohnegleichen, schrieb letztes Jahr eine Kolum- nistin des «Guardian», setze sich allein schon aus, wer vor einer Bahnfahrt den Preis dafür zu erkun- den suche. Habe es in Grossbritannien je nach Reisetag und Alter der Passagiere einst fünf Kategorien von Fahrkarten gegeben, seien heute über siebzig verschiedene Tarife anwendbar. Die Bedingungen allerdings seien oft unergründlich; so könne eine Fahrt, die an einem Tag 24 Pfund gekostet habe, anderntags 92 Pfund kosten – jedenfalls sei es mehr oder weniger Glückssache, auf welchem Zug es an welchem Tag wie viele bil- lige Plätze gebe. Ein surrealistisches Beispiel par excellence gab die Kolumnistin anhand der Reise von Mel- ton Mowbray nach Carlisle via Leicester. Eine Fahrkarte für diese Reise koste 63 Pfund; kaufe man jedoch eine Karte von Melton Mowbray nach Leicester und danach noch eine von Leices- ter nach Carlisle, bekomme man die erstere be- reits ab 5 Pfund und die zweite für 23 Pfund. Apropos: Wer Fahrplanauskünfte für eine solche Reise wünscht und die Zentralstelle NRES (Na- tional Rail Enquiries) anruft, wird oft von Stim- men aus Indien beraten, wurde doch vor drei Jah- ren die Hälfte aller telefonischen Anfragen nach Bangalore und Mumbai umgeleitet. Arbeitskräf- te in Indien sind billig, und mit dieser Massnahme sparen die 26 privaten Eisenbahngesellschaften, denen die Zentrale NRES gehört, in fünf Jahren 25 Millionen Pfund ein. Längst legendär sind einige der seit 1996 immer häufiger gewordenen Lautsprecheransa- gen, mit denen die privaten Gesellschaften ihre verspäteten Züge zu entschuldigen suchen. Im Winter ist «die falsche Art von Schnee», im Som- mer «die falsche Art von Sonne» die wohl be- rühmteste Ausrede für Verspätungen; im Herbst hingegen gelten «Blätter auf den Bahngeleisen» als ein grosses Hindernis. Aber auch «Schatten auf den Schienen» waren schon ein Grund für Un- pünktlichkeit. Sogar von den stoischen Briten werden solche unfreiwilligen Bonmots gelegent- lich mit Heiterkeit quittiert, so zum Beispiel auf jenem Zug der Gesellschaft Virgin, dessen Loko- motivführer über den Lautsprecher fragte, ob ihm zum Beheben eines Schadens irgendjemand ei- nen Schraubenschlüssel leihen könne. Fahren an Bahnhöfen Züge nicht rechtzeitig ab, ist die häu- figste Durchsage die, dass der Zugführer nicht er- schienen sei. Gelegentlich vernimmt man, dieser sei bereits im Taxi auf dem Weg – wobei, wie das Magazin «The Spectator» berichtete, in einem Falle die wiederum bejubelte Auskunft folgte, das Taxi mit dem Zugführer fahre in die dem Bahn- hof entgegengesetzte Richtung. Gedränge im Klosett Doch wie viel Komfort bieten diese Züge? In den Jahren seit der Privatisierung hat die Zahl der Eisenbahnpassagiere um 40 Prozent zugenom- men – die Kapazität der teilweise überalterten Züge aber ist mehr oder weniger dieselbe geblie- ben. Einer im Juli vom «Evening Standard» ver- öffentlichten Studie ist denn auch zu entnehmen, dass viele Passagiere regelmässig stehen müssen. So zum Beispiel vornehmlich in den nach Lon- don fahrenden Pendlerzügen der Gesellschaften First Great Western, First Capital Connect und One: In einem davon, aus Bedwyn in Wiltshire kommend, hat es 497 Plätze, aber durchschnitt- lich 771 Passagiere, ein anderer bietet für die Fahrt von Gidea Park in Essex nach Liverpool Street 864 Passagieren Platz, befördert aber deren 1281. So kommt es, dass sich die Reisen- den sogar in den Toiletten drängen – nicht weni- ger als fünf Leute hatte der Berichterstatter in einer solchen gesehen, einen davon gar auf dem Klosett stehend. Vielleicht noch schwerer als Unpünktlichkeit und fehlender Komfort wiegen die Annullierun- gen – und laut dem «Guardian» wird in Grossbri- tannien alle fünf Minuten eine Zugsabfahrt annulliert. Allein im Jahr 2005 soll es landesweit 104 342 Annullierungen gegeben haben; bei den Intercity-Zügen hält die Gesellschaft Virgin West Coast mit 2269 Annullierungen den Rekord. Im Gegensatz dazu musste die winzige Island Line auf der Isle of Wright nur 63 Züge absagen, wobei in 17 Fällen schlechte Wetterbedingungen oder, im lokalen Jargon, «acts of God» der Grund waren. Der Einfallsreichtum grosser Gesellschaf- ten, geht es um Ausfälle, sei mit einer einzigen Kostprobe belegt. Die Annullierung eines Zuges von London nach Ashford in Kent wurde damit begründet, dass sich der Zugführer in seiner Kabine «einer Invasion von Flöhen» ausgesetzt sah. Kein Zweifel: Würde der Gentleman Phileas Fogg seine Reise um die Welt in achtzig Tagen heute antreten, wäre er schon auf dem Bahnsteig von Charing Cross ein Nervenbündel. «Making Heathrow Great» Allerdings wäre Fogg heute nicht mehr in Cha- ring Cross, sondern im Londoner Flughafen Heathrow zu seinem Abenteuer gestartet. Und wie es ihm dort zumute wäre, veranschaulicht eine Anfang August von der «Times» erwähnte Studie. Anhand eines «Stress Test», dem sich Pas- sagiere freiwillig unterzogen, zeigte sich, dass der durchschnittliche Blutdruck dieser Reisenden beim Schlangestehen und während der Abwick- lung endloser Formalitäten von 123/81 auf 170/99 stieg. Lag ihr Puls bei der Ankunft im Flughafen bei 70 Schlägen pro Minute, stieg er danach rapide an – die Höchstmessung ergab 200 Schlä- ge. Kein Wunder, bezeichnete zwei Wochen spä- ter der «Guardian» den Flughafen Heathrow als eine der ungesundesten Erfahrungen in Gross- britannien; laut vom Blatt interviewten ausländi- schen Reisenden ist das Benutzen dieses grössten der britischen Flughäfen «aufreibender als eine Ehescheidung». Dass vom Chaos auch das Gepäck betroffen ist, versteht sich. In Heathrow geht massenweise Gepäck verloren – und vor allem ist es Gepäck, das die Gesellschaft British Airways befördern sollte. So berichtete wiederum die «Times», dass sich aufgrund verspäteter Flüge nach Ita- lien in Heathrow derart viel Gepäck anhäufte, dass die BA dieses durch Fernlaster über euro- päische Autobahnen nach Mailand schaffen liess – und dass viele britische Ferienreisende nach ihrer Rückkehr noch immer auf ihre Kof- fer warteten. Viele sehen im Fall Heathrow – und auch bei anderen britischen Flughäfen – das Hauptpro- blem in der für den Betrieb zuständigen und seit 1987 privatisierten British Airports Authority oder vielmehr im von der spanischen Gesell- schaft Ferrovial dominierten Konsortium, wel- ches die BAA im Juni 2006 kaufte. Andere wie- der sagen, dass für das Chaos die der BAA nach den Londoner Terroranschlägen aufgezwunge- nen Sicherheitsmassnahmen, für die sie keine staatlichen Subventionen erhält, verantwortlich sind. Freilich hatte die BAA seither gewiss aus- reichend Zeit, sich darauf einzurichten – und so- gar im Jahr 2006 verzeichnete sie einen Profit von 620 Millionen Pfund. In Heathrow stellt sich mittlerweile auch die Frage, ob der für 45 Millionen Passagiere im Jahr gebaute Flughafen, in dem mittlerweile 68 Millio- nen Menschen abgefertigt und befördert werden müssen, nicht auf eine zusätzliche Landebahn an- gewiesen wäre. Diese Frage wurde in der dritten Augustwoche aktuell. Der Schauplatz: ein Feld in der Grafschaft Middlesex, unweit des Flughafens Heathrow. Unüberhörbar waren Fluglärm und Trommelschläge, unübersehbar Polizisten und Journalisten – und unübersehbar vor allem die Massen, die gegen eine dritte Landebahn protes- tierten. Der Anlass war ein Happening, in dessen Umfeld man sogar an Workshops mit Themen wie «Climate Change» und «Social Ecology» teilneh- men konnte. Warum eine dritte Landebahn, wo doch Heathrow die Luft bereits jetzt mit so viel Kohlenstoff vergiftet wie fünf Millionen Autos im Jahr? – so fragte die Umweltschutzorganisation Friends of the Earth. Diskutiert wurde bei der Veranstaltung auch die Frage nach der Zukunft des Dorfes Sipson. Kommt die dritte Landebahn zustande, werden seine rund 700 Häuser vom Erdboden verschwinden. Doch davon lässt man sich im nahen Flughafen nicht stören: Wie der «Guardian» berichtet, trinken dort die Bosse ihren Tee aus Tassen mit der Aufschrift «Making Heathrow Great». Underground und Strassen Aber was erwartet jene, die in Heathrow ankom- men, beim Fortsetzen ihrer Reise? Wohnt man in einem Londoner Vorort, so kann es durchaus pas- sieren, dass man die Strecke von Washington nach Heathrow in sieben Stunden bewältigt und dann für die Fahrt nach Hause – die etwa 15 Meilen Luftdistanz entspricht – zusätzliche dreieinhalb Stunden benötigt. Wohl findet, wer in Heathrow die Londoner Untergrundbahn besteigt, meist leicht einen Sitzplatz, doch im Zentrum der Stadt ist die Fahrt mit diesem Verkehrsmittel oft ebenso umständlich und hindernisreich wie das Benutzen der britischen Eisenbahnen. Auch in der U-Bahn fehlen übrigens surrealistisch anmutende Laut- sprechermeldungen nicht. Ein Beispiel: Zwischen King's Cross und Farringdon vernehmen Passa- giere, dass ihr Zug defekt sei und an der nächsten Station aus dem Verkehr gezogen werde – was vom Zugführer kurz danach widerrufen wird, in- dem er sich mit den Worten entschuldigt, die An- sage durch das Drücken eines falschen Knopfes ausgelöst zu haben. Die Frustration über die öffentlichen Ver- kehrsmittel hat sogar den Doyen der britischen Kunstkritiker, Brian Sewell, zu einer seitenlangen Stellungnahme im «Evening Standard» getrieben, wobei er die Frage stellte, ob man sich nicht bes- ser der Strassen und des eigenen Fahrzeugs be- diene – auch wenn man auf vier Rädern meist nur im Schneckentempo vorwärtskomme. Denn wie eben erst der «Observer» berichtete, wird das bri- tische Strassensystem von der Regierung gegen- wärtig knapper finanziert als irgendwann im letz- ten Vierteljahrhundert – also sind hier auch die Strassen überlasteter als anderswo in Europa. Eurostar und das kontinentale Vorbild Als Anfang September die erste Testfahrt mit dem Eurostar zwischen der Pariser Gare du Nord und der renovierten, am 14. November offi- ziell einzuweihenden Londoner St. Pancras Station stattfand, gerieten die Briten ins Schwär- men – endlich, so schrieben die Zeitungen, komme man auch hier in den Genuss von Zügen, wie sie in Kontinentaleuropa schon seit Jahren in Gebrauch seien. In der Tat. Die Geschwin- digkeiten solcher Züge hätte sich sogar Turner, als er seinen Tribut an die Great Western Railway malte, nicht träumen lassen: Für die 306 Meilen zwi- schen den zwei Landeshaupt- städten brauchte der Eurostar nur gerade 2 Stunden 3 Minuten und 39 Sekunden. Für die Briten unter den 400 Passagieren hatte allerdings da- mit die Heimfahrt erst begon- nen: Ein grosser Teil des Netzes der London Underground war durch einen Streik lahmgelegt, und so brauchte manch einer allein zum Durchqueren der Stadt weitere 2 Stunden – ganz zu schweigen von anschliessen- den Fahrten mit Vorortzügen. Eurostar oder nicht: Die Zeiten des Phileas Fogg, der nach sei- ner Weltreise in achtzig Tagen rechtzeitig im Londoner Re- form Club eintraf, scheinen in Grossbritannien eben doch vor- bei zu sein. Freilich – diesen englischen Gentleman hatte ein Franzose erfunden. Kommt der Zug, kommt er nicht? An das tägliche Rätselraten müssen sich die britischen Passagiere gewöhnen. KEYSTONE

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FEUILLETONNeuö Zürcör Zäitung Montag, 22. Oktober 2007 � Nr. 245 27

Floh-Invasionen und die falsche Art von SonneDer öffentliche Verkehr in Grossbritannien liegt darnieder – und über die Begründungen darf man sich gelegentlich wundern

Von Georges Waser

Die Missstände im britischen Transport-sektor und auf mehreren grossenFlughäfen machen mittlerweile schon überdie Landesgrenzen hinaus negativeSchlagzeilen. In Grossbritannien denktman nicht zuletzt mit wachsender Sorgean die Olympischen Spiele im Jahr 2012und den in London zu erwartendenAndrang von Reisenden aus dem Ausland– aber wird dem gegenwärtigen Chaosnoch rechtzeitig abzuhelfen sein?

Zwar ist das Thema für Turner ein ungewöhn-liches – und dennoch ist die künstlerische Hand-schrift im 1844 entstandenen «Rain, Steam, andSpeed – the Great Western Railway» sogleich zuerkennen. Licht und Atmosphäre, eine an Pous-sins klassische Landschaften erinnernde Struktur:Derart virtuos beherrschte dieses Repertoire inder ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhundertseinzig der genannte Maler. Ungewöhnlich ist dasBild für Turner, weil es den modernen Erfinder-geist zelebriert – und die Geschwindigkeit: Vordem Zug jagt dem Betrachter ein Hase entgegen,der sich verzweifelt zu retten sucht.

Zweimal nach FishguardAls 1909 die Linie zwischen London und Fish-guard im walisischen Westen eröffnet wurde, be-wältigte der Expresszug die Fahrt – eine Streckevon 270 Meilen – in 4 Stunden und 28 Minuten.Heute, im Zeitalter der Hochleistungszüge, dau-ert die Fahrt vom Londoner Bahnhof Paddingtonnach Fishguard ganze 32 Minuten länger. Erstensmuss man in Cardiff umsteigen, zweitens machtder Great Western Express schon zuvor viermalhalt, während der Zug zwischen London undFishguard einst nur einmal anhielt. Heute kanndie Reise nach Fishguard in erster Klasse je nachTag und Tageszeit bis um die 200 Pfund kosten,während man 1909 laut der Tageszeitung «TheGuardian» (umgerechnet auf gegenwärtige Ver-hältnisse) dafür weniger als 3 Pfund auslegte.

Wie viel man auch immer bezahlt: Mehr nochquält einen im modernen Grossbritannien undinsbesondere in England die Frage, wann – undob überhaupt – ein Zug ankommt. Die Katastro-phenmeldungen in den Zeitungen reissen nicht abund unterhalten die von der jeweiligen Erfahrungverschont gebliebenen Leser mit Titeln wie«Nightmare on the disoriented express» oder«My odyssey of despair on the 12.30 to Euston».Im ersteren Falle hiess dies, dass eine Frau imExpresszug von London nach York statt gut ein-dreiviertel Stunden die ganze Nacht lang unter-wegs war, und im letzteren, dass der Schnellzugeines Journalisten, aus Lancashire nach Londonunterwegs, erst eine auf der Strecke schadhaft ge-wordene Rangierlokomotive vor sich her zu stos-sen hatte und schliesslich – erneut auf freierFahrt, doch durch die besagte Übung offenbarstrapaziert – von einem Heissluftballon überholtwurde. Ein anderer Journalist wieder berichtet,wie sein Zug aus der Provinz nach London derartverspätet war, dass ein Ambulanzwagen auf diePassagiere wartete.

Katalog der UnzulänglichkeitenSchuld an diesem Chaos ist John Major, ein eins-tiger Busschaffner – genauer: die Privatisierungder britischen Eisenbahnen im Jahr 1996 durch

die Konservativen unter ebendiesem Premierminister. Schonim Februar 2005 ging die«Times» mit Major ins Gericht:Laut der Zeitung belief sich dasTotal der Verspätungen, das bri-tische Eisenbahnpassagiere seitder Privatisierung erlitten hat-ten, auf elftausend Jahre. ImGegensatz dazu standen anderevon der «Times» angeführteZahlen. So verzeichnete im Vor-jahr die Gesellschaft South WestTrains, bekannt für ihre noto-risch unpünktlichen Züge, einenProfit von 43 Millionen Pfund,und die nur wenig zuverlässigereGesellschaft GNER verbuchteeinen Profit von 30 Millionen.

Inzwischen hat sich für Pas-sagiere die Situation verschlech-tert: Schon im Mai 2006 berich-tete die «Times», dass man inLettland für 10 Pfund 643 und inFrankreich immerhin noch 107Meilen im Zug reisen könne,während in Grossbritannien der-selbe Betrag nur für 38 Meilenausreiche. Das Fazit liegt auf derHand: Auf die Bezeichnung «öf-fentlicher Dienst» haben die bri-tischen Eisenbahnen, die seitihrer Privatisierung primär imInteresse des Profits betriebenwerden, schon längst keinen An-spruch mehr. – Einer surrealisti-schen Erfahrung ohnegleichen,schrieb letztes Jahr eine Kolum-

nistin des «Guardian», setze sich allein schon aus,wer vor einer Bahnfahrt den Preis dafür zu erkun-den suche. Habe es in Grossbritannien je nachReisetag und Alter der Passagiere einst fünfKategorien von Fahrkarten gegeben, seien heuteüber siebzig verschiedene Tarife anwendbar. DieBedingungen allerdings seien oft unergründlich;so könne eine Fahrt, die an einem Tag 24 Pfundgekostet habe, anderntags 92 Pfund kosten –jedenfalls sei es mehr oder weniger Glückssache,auf welchem Zug es an welchem Tag wie viele bil-lige Plätze gebe.

Ein surrealistisches Beispiel par excellencegab die Kolumnistin anhand der Reise von Mel-ton Mowbray nach Carlisle via Leicester. EineFahrkarte für diese Reise koste 63 Pfund; kaufeman jedoch eine Karte von Melton Mowbraynach Leicester und danach noch eine von Leices-ter nach Carlisle, bekomme man die erstere be-reits ab 5 Pfund und die zweite für 23 Pfund.Apropos: Wer Fahrplanauskünfte für eine solcheReise wünscht und die Zentralstelle NRES (Na-tional Rail Enquiries) anruft, wird oft von Stim-men aus Indien beraten, wurde doch vor drei Jah-ren die Hälfte aller telefonischen Anfragen nachBangalore und Mumbai umgeleitet. Arbeitskräf-te in Indien sind billig, und mit dieser Massnahmesparen die 26 privaten Eisenbahngesellschaften,denen die Zentrale NRES gehört, in fünf Jahren25 Millionen Pfund ein.

Längst legendär sind einige der seit 1996immer häufiger gewordenen Lautsprecheransa-gen, mit denen die privaten Gesellschaften ihreverspäteten Züge zu entschuldigen suchen. ImWinter ist «die falsche Art von Schnee», im Som-mer «die falsche Art von Sonne» die wohl be-rühmteste Ausrede für Verspätungen; im Herbsthingegen gelten «Blätter auf den Bahngeleisen»als ein grosses Hindernis. Aber auch «Schattenauf den Schienen» waren schon ein Grund für Un-pünktlichkeit. Sogar von den stoischen Britenwerden solche unfreiwilligen Bonmots gelegent-lich mit Heiterkeit quittiert, so zum Beispiel aufjenem Zug der Gesellschaft Virgin, dessen Loko-motivführer über den Lautsprecher fragte, ob ihmzum Beheben eines Schadens irgendjemand ei-nen Schraubenschlüssel leihen könne. Fahren anBahnhöfen Züge nicht rechtzeitig ab, ist die häu-figste Durchsage die, dass der Zugführer nicht er-schienen sei. Gelegentlich vernimmt man, diesersei bereits im Taxi auf dem Weg – wobei, wie dasMagazin «The Spectator» berichtete, in einemFalle die wiederum bejubelte Auskunft folgte, dasTaxi mit dem Zugführer fahre in die dem Bahn-hof entgegengesetzte Richtung.

Gedränge im KlosettDoch wie viel Komfort bieten diese Züge? In denJahren seit der Privatisierung hat die Zahl derEisenbahnpassagiere um 40 Prozent zugenom-men – die Kapazität der teilweise überaltertenZüge aber ist mehr oder weniger dieselbe geblie-ben. Einer im Juli vom «Evening Standard» ver-öffentlichten Studie ist denn auch zu entnehmen,dass viele Passagiere regelmässig stehen müssen.So zum Beispiel vornehmlich in den nach Lon-don fahrenden Pendlerzügen der GesellschaftenFirst Great Western, First Capital Connect undOne: In einem davon, aus Bedwyn in Wiltshirekommend, hat es 497 Plätze, aber durchschnitt-lich 771 Passagiere, ein anderer bietet für dieFahrt von Gidea Park in Essex nach LiverpoolStreet 864 Passagieren Platz, befördert aber

deren 1281. So kommt es, dass sich die Reisen-den sogar in den Toiletten drängen – nicht weni-ger als fünf Leute hatte der Berichterstatter ineiner solchen gesehen, einen davon gar auf demKlosett stehend.

Vielleicht noch schwerer als Unpünktlichkeitund fehlender Komfort wiegen die Annullierun-gen – und laut dem «Guardian» wird in Grossbri-tannien alle fünf Minuten eine Zugsabfahrtannulliert. Allein im Jahr 2005 soll es landesweit104 342 Annullierungen gegeben haben; bei denIntercity-Zügen hält die Gesellschaft Virgin WestCoast mit 2269 Annullierungen den Rekord. ImGegensatz dazu musste die winzige Island Lineauf der Isle of Wright nur 63 Züge absagen, wobeiin 17 Fällen schlechte Wetterbedingungen oder,im lokalen Jargon, «acts of God» der Grundwaren. Der Einfallsreichtum grosser Gesellschaf-ten, geht es um Ausfälle, sei mit einer einzigenKostprobe belegt. Die Annullierung eines Zugesvon London nach Ashford in Kent wurde damitbegründet, dass sich der Zugführer in seinerKabine «einer Invasion von Flöhen» ausgesetztsah. Kein Zweifel: Würde der Gentleman PhileasFogg seine Reise um die Welt in achtzig Tagenheute antreten, wäre er schon auf dem Bahnsteigvon Charing Cross ein Nervenbündel.

«Making Heathrow Great»Allerdings wäre Fogg heute nicht mehr in Cha-ring Cross, sondern im Londoner FlughafenHeathrow zu seinem Abenteuer gestartet. Undwie es ihm dort zumute wäre, veranschaulichteine Anfang August von der «Times» erwähnteStudie. Anhand eines «Stress Test», dem sich Pas-sagiere freiwillig unterzogen, zeigte sich, dass derdurchschnittliche Blutdruck dieser Reisendenbeim Schlangestehen und während der Abwick-lung endloser Formalitäten von 123/81 auf 170/99stieg. Lag ihr Puls bei der Ankunft im Flughafenbei 70 Schlägen pro Minute, stieg er danachrapide an – die Höchstmessung ergab 200 Schlä-ge. Kein Wunder, bezeichnete zwei Wochen spä-ter der «Guardian» den Flughafen Heathrow alseine der ungesundesten Erfahrungen in Gross-britannien; laut vom Blatt interviewten ausländi-schen Reisenden ist das Benutzen dieses grösstender britischen Flughäfen «aufreibender als eineEhescheidung».

Dass vom Chaos auch das Gepäck betroffenist, versteht sich. In Heathrow geht massenweiseGepäck verloren – und vor allem ist es Gepäck,das die Gesellschaft British Airways befördernsollte. So berichtete wiederum die «Times»,dass sich aufgrund verspäteter Flüge nach Ita-lien in Heathrow derart viel Gepäck anhäufte,dass die BA dieses durch Fernlaster über euro-päische Autobahnen nach Mailand schaffenliess – und dass viele britische Ferienreisendenach ihrer Rückkehr noch immer auf ihre Kof-fer warteten.

Viele sehen im Fall Heathrow – und auch beianderen britischen Flughäfen – das Hauptpro-blem in der für den Betrieb zuständigen und seit1987 privatisierten British Airports Authorityoder vielmehr im von der spanischen Gesell-schaft Ferrovial dominierten Konsortium, wel-ches die BAA im Juni 2006 kaufte. Andere wie-der sagen, dass für das Chaos die der BAA nachden Londoner Terroranschlägen aufgezwunge-nen Sicherheitsmassnahmen, für die sie keinestaatlichen Subventionen erhält, verantwortlichsind. Freilich hatte die BAA seither gewiss aus-

reichend Zeit, sich darauf einzurichten – und so-gar im Jahr 2006 verzeichnete sie einen Profit von620 Millionen Pfund.

In Heathrow stellt sich mittlerweile auch dieFrage, ob der für 45 Millionen Passagiere im Jahrgebaute Flughafen, in dem mittlerweile 68 Millio-nen Menschen abgefertigt und befördert werdenmüssen, nicht auf eine zusätzliche Landebahn an-gewiesen wäre. Diese Frage wurde in der drittenAugustwoche aktuell. Der Schauplatz: ein Feld inder Grafschaft Middlesex, unweit des FlughafensHeathrow. Unüberhörbar waren Fluglärm undTrommelschläge, unübersehbar Polizisten undJournalisten – und unübersehbar vor allem dieMassen, die gegen eine dritte Landebahn protes-tierten. Der Anlass war ein Happening, in dessenUmfeld man sogar an Workshops mit Themen wie«Climate Change» und «Social Ecology» teilneh-men konnte. Warum eine dritte Landebahn, wodoch Heathrow die Luft bereits jetzt mit so vielKohlenstoff vergiftet wie fünf Millionen Autos imJahr? – so fragte die UmweltschutzorganisationFriends of the Earth. Diskutiert wurde bei derVeranstaltung auch die Frage nach der Zukunftdes Dorfes Sipson. Kommt die dritte Landebahnzustande, werden seine rund 700 Häuser vomErdboden verschwinden. Doch davon lässt mansich im nahen Flughafen nicht stören: Wie der«Guardian» berichtet, trinken dort die Bosseihren Tee aus Tassen mit der Aufschrift «MakingHeathrow Great».

Underground und StrassenAber was erwartet jene, die in Heathrow ankom-men, beim Fortsetzen ihrer Reise? Wohnt man ineinem Londoner Vorort, so kann es durchaus pas-sieren, dass man die Strecke von Washington nachHeathrow in sieben Stunden bewältigt und dannfür die Fahrt nach Hause – die etwa 15 MeilenLuftdistanz entspricht – zusätzliche dreieinhalbStunden benötigt. Wohl findet, wer in Heathrowdie Londoner Untergrundbahn besteigt, meistleicht einen Sitzplatz, doch im Zentrum der Stadtist die Fahrt mit diesem Verkehrsmittel oft ebensoumständlich und hindernisreich wie das Benutzender britischen Eisenbahnen. Auch in der U-Bahnfehlen übrigens surrealistisch anmutende Laut-sprechermeldungen nicht. Ein Beispiel: ZwischenKing's Cross und Farringdon vernehmen Passa-giere, dass ihr Zug defekt sei und an der nächstenStation aus dem Verkehr gezogen werde – wasvom Zugführer kurz danach widerrufen wird, in-dem er sich mit den Worten entschuldigt, die An-sage durch das Drücken eines falschen Knopfesausgelöst zu haben.

Die Frustration über die öffentlichen Ver-kehrsmittel hat sogar den Doyen der britischenKunstkritiker, Brian Sewell, zu einer seitenlangenStellungnahme im «Evening Standard» getrieben,wobei er die Frage stellte, ob man sich nicht bes-ser der Strassen und des eigenen Fahrzeugs be-diene – auch wenn man auf vier Rädern meist nurim Schneckentempo vorwärtskomme. Denn wieeben erst der «Observer» berichtete, wird das bri-tische Strassensystem von der Regierung gegen-wärtig knapper finanziert als irgendwann im letz-ten Vierteljahrhundert – also sind hier auch dieStrassen überlasteter als anderswo in Europa.

Eurostar und das kontinentale VorbildAls Anfang September die erste Testfahrt mitdem Eurostar zwischen der Pariser Gare duNord und der renovierten, am 14. November offi-

ziell einzuweihenden LondonerSt. Pancras Station stattfand,gerieten die Briten ins Schwär-men – endlich, so schrieben dieZeitungen, komme man auchhier in den Genuss von Zügen,wie sie in Kontinentaleuropaschon seit Jahren in Gebrauchseien. In der Tat. Die Geschwin-digkeiten solcher Züge hättesich sogar Turner, als er seinenTribut an die Great WesternRailway malte, nicht träumenlassen: Für die 306 Meilen zwi-schen den zwei Landeshaupt-städten brauchte der Eurostarnur gerade 2 Stunden 3 Minutenund 39 Sekunden.

Für die Briten unter den 400Passagieren hatte allerdings da-mit die Heimfahrt erst begon-nen: Ein grosser Teil des Netzesder London Underground wardurch einen Streik lahmgelegt,und so brauchte manch einerallein zum Durchqueren derStadt weitere 2 Stunden – ganzzu schweigen von anschliessen-den Fahrten mit Vorortzügen.Eurostar oder nicht: Die Zeitendes Phileas Fogg, der nach sei-ner Weltreise in achtzig Tagenrechtzeitig im Londoner Re-form Club eintraf, scheinen inGrossbritannien eben doch vor-bei zu sein. Freilich – diesenenglischen Gentleman hatte einFranzose erfunden.

Kommt der Zug, kommt er nicht? An das tägliche Rätselraten müssen sich die britischen Passagiere gewöhnen. KEYSTONE