Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche...

4
14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag D as Leben beginnt, wenn Ei- und Samenzelle sich mit ihren DNS verschmelzen. Ab diesem Moment beginnt ein Prozess, der nur einen Ober- begriff zulässt: Funktionalität. Alles, was ab jetzt an Veränderungen (Teilung, Ord- nung, Spezifizierung, Differenzierung) erfolgt, hat eine Funktion. 1 Und da wir als Osteopathen den Begriff Dysfunktion als Grundlage unserer Tätigkeit sehen und verwenden, müssen wir mehr als nur eine Ahnung haben über die Funktionen des Körpers. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, dass der Körper, wenn er eine Dysfunktion hat, ein Programm startet, das funktionell sein embryolo- gisches Funktionswachstum nachahmt. Dazu benutzt er alle Kräfte und Fel- der, die er während der Embryonalpha- se selbst erfahren hat. Nur so kann er zu einer neuen Funktion oder zur Lösung einer Dysfunktion kommen. Es ist dieses Programm, das uns das Überleben sichert und eine Entwicklung ermöglicht. Es wäre vermessen zu behaupten, dass nur Therapeuten Dysfunktionen behan- deln können. Der Mensch selbst ist in 90 Prozent der Fälle dazu eigenständig in der Lage und praktiziert dies tagtäglich. Dadurch entsteht ein Dreieck, das nur in eine Richtung durchlaufen werden kann. Es gibt in der embryologischen Entwick- lung verschiedene Prinzipien, die den funktionellen Zusammenhang bestäti- gen. Herkunftsprinzip: alle Gewebe, die aus der gleichen Keimschicht stammen, blei- ben zeitlebens funktionell verbunden. Autonomieprinzip: alle Zellen, Gewe- be und Organe sind grundsätzlich funkti- onell autonom. Embryologie des Ellbogens Rob Kwakman, Rastatt Zusammenfassung Die menschliche Entwicklung folgt dem Prinzip „form follows function“. Das Ent- stehen von Arm und Ellbogen ist vor allem auf eine Greifbewegung im Sicht- feld ausgerichtet. Zwei Kräfte bestim- men die Morphodynamik: die formge- bende Expansion, die durch die Fluida repräsentiert wird, und die formbildende Retraktion, der die Faszien zugeordnet werden. Für den Autor ist die Kenntnis dieser Prinzipien in der osteopathischen Behandlung unverzichtbar. Summary Embryology of the Elbow Human development adheres to the principle that „form follows function“. The formation of arm and elbow is geared mainly towards performing grasping movements within the field of vision. Morphodynamics are determined by two separate forces: formative expansion, typified by fluids, and retraction, related to the fascia. The author believes that being acquainted with these principles is an indispensable part of osteopathic treatment. Résumé Embryologie du coude L’évolution humaine suit le principe „form follows function“. Le dévelop- pement du bras et du coude est tout d’abord orienté pour se mouvoir et saisir dans le champ visuel. Deux forces déterminent la morphodynamique : l’extension qui donne la forme, représen- tée par les fluides, et la flexion qui consti- tue la forme, attribuée aux faciès. Pour l’auteur, il est indispensable de connaît- re ces principes dans le traitement ostéo- pathique. Warum sollten wir Osteopathen uns mit einem Gebiet wie der Embryologie be- fassen? Haben wir therapeutisch etwas davon, wenn wir wissen, dass ein Kno- chen in einem Densationsfeld entsteht, dass das Gehirn das Wachstum des Schä- dels vorgibt, oder dass die Nieren aus dem Becken emporsteigen? Nachdem ich mich seit zehn Jahren mit dieser Materie beschäftige, kann ich – nur für mich – sagen, dass ich keine Hypo- thesen über Patienten mehr aufstellen oder Angaben von Patienten verbinden kann, ohne die Kenntnisse der Embryolo- gie. Die Morphodynamik (= Entstehung der Form) ist Grundlage des osteopathi- schen Prinzips „form follows function“. Dysfunktionen zu sehen, zu tasten, zu kennen und zu behandeln ist ohne Kenntnisse der Embryologie für mich nur schwer nachvollziehbar und wie das Segeln auf einem Ozean ohne Kursbe- stimmung. Focus N 1 Entwicklungsvorgang Embryologie Anatomy Funktion Physiologie Bewegung Auswechslung Tonus, Form und Struktur N 2 Das Dreieck der Funktionen Wachstumsfunktion Dysfunktion Funktion

Transcript of Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche...

Page 1: Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag Das Leben beginnt, wenn Ei-

14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag

Das Leben beginnt, wenn Ei- und Samenzelle sich mit ihren DNS verschmelzen. Ab diesem Moment

beginnt ein Prozess, der nur einen Ober-begriff zulässt: Funktionalität. Alles, was ab jetzt an Veränderungen (Teilung, Ord-nung, Spezifizierung, Differenzierung)

erfolgt, hat eine Funktion.1 Und da wir als Osteopathen den Begriff Dysfunktion als Grundlage unserer Tätigkeit sehen und verwenden, müssen wir mehr als nur eine Ahnung haben über die Funktionen des Körpers.Wichtig in diesem Zusammenhang ist es zu verstehen, dass der Körper, wenn er eine Dysfunktion hat, ein Programm startet, das funktionell sein embryolo-gisches Funktionswachstum nachahmt. Dazu benutzt er alle Kräfte und Fel-der, die er während der Embryonalpha-se selbst erfahren hat. Nur so kann er zu einer neuen Funktion oder zur Lösung einer Dysfunktion kommen. Es ist dieses Programm, das uns das Überleben sichert und eine Entwicklung ermöglicht.Es wäre vermessen zu behaupten, dass nur Therapeuten Dysfunktionen behan-deln können. Der Mensch selbst ist in 90 Prozent der Fälle dazu eigenständig in der Lage und praktiziert dies tagtäglich. Dadurch entsteht ein Dreieck, das nur in eine Richtung durchlaufen werden kann.Es gibt in der embryologischen Entwick-lung verschiedene Prinzipien, die den funktionellen Zusammenhang bestäti-gen. Herkunftsprinzip: alle Gewebe, die aus der gleichen Keimschicht stammen, blei-ben zeitlebens funktionell verbunden.

Autonomieprinzip: alle Zellen, Gewe-be und Organe sind grundsätzlich funkti-onell autonom.

Embryologie des EllbogensRob Kwakman, Rastatt

Zusammenfassung

Die menschliche Entwicklung folgt dem Prinzip „form follows function“. Das Ent-stehen von Arm und Ellbogen ist vor allem auf eine Greifbewegung im Sicht-feld ausgerichtet. Zwei Kräfte bestim-men die Morphodynamik: die formge-bende Expansion, die durch die Fluida repräsentiert wird, und die formbildende Retraktion, der die Faszien zugeordnet werden. Für den Autor ist die Kenntnis dieser Prinzipien in der osteopathischen Behandlung unverzichtbar.

Summary

Embryology of the ElbowHuman development adheres to the principle that „form follows function“. The formation of arm and elbow is geared mainly towards performing grasping movements within the field of vision. Morphodynamics are determined by two separate forces: formative expansion, typified by fluids, and retraction, related to the fascia. The author believes that being acquainted with these principles is an indispensable part of osteopathic treatment.

Résumé

Embryologie du coudeL’évolution humaine suit le principe „form follows function“. Le dévelop-pement du bras et du coude est tout d’abord orienté pour se mouvoir et saisir dans le champ visuel. Deux forces déterminent la morphodynamique : l’extension qui donne la forme, représen-tée par les fluides, et la flexion qui consti-tue la forme, attribuée aux faciès. Pour l’auteur, il est indispensable de connaît-re ces principes dans le traitement ostéo-pathique.

Warum sollten wir Osteopathen uns mit einem Gebiet wie der Embryologie be- fassen? Haben wir therapeutisch etwas davon, wenn wir wissen, dass ein Kno-chen in einem Densationsfeld entsteht, dass das Gehirn das Wachstum des Schä-dels vorgibt, oder dass die Nieren aus dem Becken emporsteigen?Nachdem ich mich seit zehn Jahren mit dieser Materie beschäftige, kann ich – nur für mich – sagen, dass ich keine Hypo-thesen über Patienten mehr aufstellen oder Angaben von Patienten verbinden kann, ohne die Kenntnisse der Embryolo-gie. Die Morphodynamik (= Entstehung der Form) ist Grundlage des osteopathi-schen Prinzips „form follows function“. Dysfunktionen zu sehen, zu tasten, zu kennen und zu behandeln ist ohne Kenntnisse der Embryologie für mich nur schwer nachvollziehbar und wie das Segeln auf einem Ozean ohne Kursbe-stimmung.

Focus

N 1 Entwicklungsvorgang

Embryologie

Anatomy

Funktion

Physiologie

Bewegung

Auswechslung

Tonus, Form und Struktur

N 2 Das Dreieck der Funktionen

Wachstumsfunktion

Dysfunktion Funktion

Page 2: Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag Das Leben beginnt, wenn Ei-

DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag

DO

· Fo

cus

15

Zeitprinzip: alle Funktionen, die zeit-gleich im Körper auftreten, bleiben zeit-lebens funktionell verbunden. Und: alle Wachstumsfunktionen sind zu jeder Zeit Ausdruck der gesamten Körperentwick-lung. Rhythmusprinzip: alle Funktionsvor-gänge beruhen auf Rhythmus. Wachstumsprinzip: alle Funktionen des Körpers haben Wachstumsfunktio-nen als Vorläufer dieser Funktion. Richtungsprinzip: der neuroektoder-malen Entwicklung folgt ein kaudokra-nialer Gradient, der endodermalen Ent-wicklung ein kraniokaudaler Gradient. Alle mesodermalen Entwicklungen (= Fas-zien) im Körper folgen entweder dem einen oder anderen Gradienten, dirigiert und induziert aus einer Mitte, der Chor-da dorsalis.

Diese Prinzipien entwickeln ihr Potential auf Basis einer zweiteiligen Kraftentfal-tung: die Expansion und die Retraktion. Sie bilden die Grundlage aller Rhythmen im Körper. Expansion: ist die zentrifugale Kraft, vorpreschend, expressiv und beweg-lich. Im Körper vor allem durch die Flu-ida repräsentiert. Diese Kraft ist formge-bend. Retraktion: ist die zentripedale Kraft, zurückziehend, beobachtend und ruhend. Im Körper vor allem durch die Faszi-en repräsentiert. Diese Kraft ist formbil-dend.Das Leben in seiner äußeren und inneren Form entsteht im Kräftefeld dieser beiden Pole (= Morphodynamik).

Embryologie der ExtremitätenDie primäre Morphodynamik beginnt mit der Entstehung des dritten Keimblat-tes, dem Mesoderm. Funktionell wird die gesamte Morphologie des menschlichen Körpers von der Entwicklung dieses drit-ten Keimblattes gesteuert.Schnell bildet sich ein Achsenorgan aus, die Chorda dorsalis. Von hieraus werden verschiedene Vorgänge induziert; die Bil-dung des Neuralrohres, die Bildung des Darmrohres, die Bildung der Somiten, die Bildung der Körperwand usw. Während dieser Vorgänge werden die Expansion formgebend und die Retraktion formbil-dend aktiv sein.

Die Entwicklung der Extremitäten wird vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selbstständig entwickeln, ohne dem Einfluss der Entwicklung des Neu-ralrohr-Ektoderms bzw. des Viszero-endoderms zu unterliegen. „Lediglich“ die Neuralleiste liefert einen Beitrag zur Ent-wicklung der Extremitäten und das Ober-flächenektoderm eine Art Matrix. Wichti-ger erscheint der retrograde Einfluss der Extremitäten auf den Stammkörper.Die Extremitäten entstehen am Ende der 4. Entwicklungswoche. Zuerst die obe-ren Extremitäten, danach die unteren Extremitäten. Chronologisch führend ist die Entwicklung des Gehirns. Ich sehe hier einen funktionellen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Telenze-phalons und der Entstehung der oberen Extremitäten (Zeitprinzip). Die Telen-zephalonentwicklung beruht auf einem Fluida-Drive mit Retraktionstendenz an der Linea terminalis. Die Extremitä-ten entwickeln sich auch auf Basis eines Fluida-Drive an der sog. Wolff-Leiste. Die ektodermale Haut bildet dabei eine Retraktionskraft. Die oberen Extremitä-ten sind damit eher dem Fluida-Prinzip zu zuordnen (= Expansion, bzw. Flexi-on PRM/Außenrotation PRM). Die unte-ren Extremitäten entwickeln sich spä-ter (chronologisch mit der Entstehung der Gehirnfaszien) und sind damit eher dem Retraktionprinzip zuzuordnen. Dies bedeutet, das für die unteren Extremi-täten in der Entwicklung die Retraktion greift, mit Extension PRM/Innenrotation PRM. Hierzu später mehr.

Die Extremitäten werden in ihrer Ent-wicklung durch verschiedene Induktio-nen geführt. Für die Extremitäten sind die parakrinen Faktoren am wichtigsten: Wachstumsfaktoren der FGF-Familie (fibroblast growth factor). Zuständig für die Mesoderminduktionen, das Auswach-sen der Axone und Gliederung des ZNS. Für die Extremitäten ist FGF wichtig. Wachstumsfaktoren der TGF-Familie (transforming growth factor). Zustän-dig für Morphogenese der Knochen und Regulation der Bildung der extra-zellulä-ren Matrix. Wachstumsfaktoren der Hedgehog-Familie. Zuständig für die Ossifikation, Differenzierung der Somiten, Festlegung der Körperachse, Raumorientierung der Gliedmaßen aber auch Differenzierung des Magen-Darmkanals. Wachstumsfaktoren der Wnt-Familie (wingless-family). Zuständig für die Ent-wicklung der Dermomyotome.2

Die Induktionprozesse laufen wäh-rend der Embryonalphase nur in ganz bestimmten Phasen ab (vgl. Zeitprin-zip!) und sind davon abhängig, dass das zu induzierende Gewebe die Kompetenz besitzt, auf die induzierenden Signale zu reagieren. 2

Die meisten Induktionsprozesse der Extremitäten werden genetisch von der Chorda dorsalis aus gesteuert. Mit der Bil-dung von bestimmten Proteinen ist aber der genetische Faktor abgeschlossen. Das restliche Wachstum erfolgt physikalisch-chemisch, wird dadurch extra-genetisch gesteuert und findet auf Basis von Kraft-feldern statt.1

ChronologieAm 26. Tag entstehen zuerst eine Arm-knospe und später eine Beinknospe (als kraniokaudaler Gradient dem viszero-genen System zugeordnet). Diese Knos-pen werden durch das Mesenchym der Somatopleura induziert. Dieses Mesen-chym liefert nicht nur das gesamte Binde- und Stützgewebe der Extremitäten son-dern auch für Knochen und Gelenke. Die Muskelanlage kommt dagegen aus dem Somit (Myotom). Spezifisch für die Anla-ge der so genannten Röhrenknochen der Extremitäten ist die Bildung eines ekto-dermalen antichondrogenen Faktors, so dass die Knochen im Inneren wachsen und kein Außenskelett bilden. Dieser Vorgang wird vorangetrieben durch den

N 3 Lage der Wolff-Leiste und Extremi-tätsentwicklung

Page 3: Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag Das Leben beginnt, wenn Ei-

16 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag

primär fluidalen Entwicklungsvorgang der Extremitäten. Laut Blechschmidt ent- stehen die Knospen da, wo das Bauchfell mit dem Rückenmark einen Winkel bildet.1 Diese Winkel (4 Stück) entstehen, wenn es zu einer unterschiedlichen Wachs-tumsgeschwindigkeit zwischen Rücken-mark und Eingeweide kommt. Es kommt zu Zügelungsvorgängen von frühen Ve- nen und Arterien (= Fluida), die die Extremität gliedern, schon bevor Skelett und Muskulatur zur Entwicklung kom-men.Das Funktionsprinzip einer Extremität wird deutlich an den zuerst entstehenden Händen und Fußen. Die räumliche Ent-wicklung eines Armes entspricht dabei der Gesamtentwicklungsbewegung des Embryos. Für den Arm bedeutet das auch ein Vorgreifen auf spätere Funktionen, vor allem der Greifbewegung im Sehfeld. Für das Bein bedeutet das ein Vorgreifen auf die Stützfunktion in der Zweifüßler-position.Die Entwicklung eines Armes beginnt zuerst lateral am Körper (Armknos-pe an der Wolff-Leiste). Die tellerförmi-ge Hand wird dabei expansiv durch Flu-ida (Venen und Nerven) in Lateralität gebracht. Die Bildung der Körperwand (oben Rippen, unten Bauchwand) interfe-riert dabei mit der Armanlage und bildet später das Schultergelenk, das eine late-rale Ausrichtung beibehält. Das Schulter-blatt erscheint wie ein umgeformter Wir-bel.2 Das Wachstum der Armanlage steht direkt in Kontakt mit der Herz-Leber-wulst. Im Vergleich zu der Beinknospe kommt es hier zu einem prolongierten lateralen Wachstum.

Ein Richtungszeiger für die Beine ist in die-sem Moment nicht vorhanden. Haftstiel und Beckenentwicklung werden erst spä-ter formgebend für die Entwicklung der unteren Extremität (vgl. auch Form des Ilium und der Scapula). Dadurch behält der Arm längere Zeit das Prinzip des late-ralen Wachstums (= Expansion), während die untere Extremität schnell in Richtung der Mitte gezogen wird (= Retraktion).Die Entwicklungsrichtung der Augen von außen nach innen bestimmt die nächste Phase der Armentwicklung. Dieser Phase ist dem Retraktionsprinzip zugeordnet. Es wird eingeleitet durch Haltearbeit der Falx cerebri und der Arterien und setzt sich über eine Mittellinie im Körper fort. Dabei kommt es zu einer Streckung des Embryos, wonach das Gesicht Zeit und Raum hat sich zu entwickeln.

Es scheint, als ob die Hand diese Bewe-gungsrichtung der Augen mitmacht und nach innen rotiert. Auch hier kommt es zu „Knickungen“ in der Anlage mit Rich-tungsarbeit der Arterien durch Züge-lung (siehe Abb. 4). Durch diese Bewe-gung entsteht der Ellbogen, der damit auch einen primär faszialen Charakter bekommt (Retraktion).Die embryonale Streckung wird haupt-sächlich durch einen Deszensus der Vis-zera ermöglicht.Das Herz sinkt ab und die Arme bekom-men Freiheit zwischen Gesicht und Herz. Es folgt eine zweite Phase der Expansion. Diese Expansionsphase wird hauptsäch-lich von einem Längenwachstum mit Rotationsbewegungen (vor allem Prona-tion) bestimmt. Es entstehen Radius und Ulna, deren Gelenke und das knorpelige Handgelenk. Die Hand kommt dabei in die Nähe des Gesichtes und gelegentlich erahnt man bei intrauterinen Bildern ein Daumenlutschen. Am Rande der Knos-pe entstehen Hautkuppen mit divergen-tem Keilepithel, sie wachsen zu Fingern heran.Die gesamte Extremität ist in ihrem Wachstum eine Folge von Flüssigkeits-bewegungen. Die Skelettierung erfolgt von außen nach innen. Das Innere der Knochen bleibt dabei dem Fluidaprinzip zugeordnet (Blutbildung).Ein weiterer „Zeuge“ der Entwicklungs-bewegungen ist das myofasziale Paket. Ansatz, Verlauf und Insertion von Mus-keln und Faszien lassen embryonale Bewegungen erahnen.Der Arm folgt in seiner gesamten Ent-wicklung einem Expansionschema. Kenn-

N 4 Entwicklung Ellbogen durch Halte-arbeit der Arteria.

N 5 Der Deszensus des Zwerchfells

1

2

3

4

4

3

2

2

1

Page 4: Focus Embryologie des Ellbogens - rehastudy.ch des Ellbogens_Kwakmann.pdf · 14 DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag Das Leben beginnt, wenn Ei-

DO · Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2/2007; Hippokrates Verlag

DO

· Fo

cus

17

zeichnend hierfür ist auch die Anzahl der Knochen von zentral nach peripher:2

1. Humerus2. Ulna, Radius3. O. scaphoideum, lunatum, triquetrum4. O. trapezium, trapezoideum, capita-

tum, hamatum5. Ossa metcarpalia und Phalangen.

Zusätzlich ist es wichtig zu verstehen, dass die Faszien an den Extremitäten eigentlich an den Hand- und Fußwurzeln enden. Das ermöglicht uns als Osteopa-then die Hand als Instrument einzuset-zen ohne Zutun der eigenen Faszialität oder auch auf den Füßen zu stehen, ohne die Faszialität des Körpers berücksichti-gen zu müssen.

Bedeutung der Embryologie für die Therapie der Ellbogen

Der Ellbogen entwickelt sich primär in einem viszerogenen, kaudokranialen Gra-dient. Er ist in allem als Teil einer gesam-ten Extremität und dementsprechend immer als Bestandteil dieser Gesamtheit zu sehen. Der Ellbogen ist das Scharnier zwi-schen Außenrotation (Oberarm) und Innenrotation (Unterarm) und damit fas-zial als Integrationspunkt beider Bewe-gungen aufzufassen. Die primäre Fluida-Entwicklung (= Expansion) der oberen Extremität bleibt zeitlebens erhalten. Die obere Extremität entwickelt sich zwischen Kopf und Herz. Im Körper ist dies auch die Stelle, mit der wir primär kommunizieren. Dort befindet sich unser Sprechorgan. Die gesamte Extremität nimmt im Spannungsfeld der Kommuni-kation eine wichtige Rolle ein. In einer faszialen Ruheposition nimmt die obere Extremität eine Position ein

wie im Mutterleib, 45° Abduktion, leichte Flexion, der Ellbogen ist 90° gebeugt, die Unterarme in Pronation, sodass die Dau-men zum Mund zeigen, die Hände sind leicht geöffnet (zum Greifen bereit). Diese Position ist auch die, in der wir die nor-male bzw. abnormale Faszilität des Armes erfahren können, indem wir den Arm fas-zilitiert bewegen. Die primäre Entwicklung der Extremi-täten ist verbunden mit dem Peritoneum (Winkel). Diese Verbindung bleibt zeit-lebens bestehen. Der Arm entwickelt sich in Abhängig-keit des Greif- und Sehraums. Störungen in beiden Räumen werden auch Störun-gen in der Funktion des Armes folgen las-sen (= Arbeits- und Sporttätigkeit).

Eine Behandlung des Armes sollte immer mit einer Verbindung zu der fluidalen Mitte enden, um Nachhaltigkeit und Wachstumsfunktionen gerecht zu wer-den.

1 Blechschmidt E.: Anatomie und Ontogenese des

Menschen. Heidelberg: Quelle und Meier; 1978.2 Rohen J, Lütjen-Decroll E: Funktionelle Embryolo-

gie. Schattauer: Stuttgart; 2002.

Weiterführende LiteraturGrapin-Botton A. Melton DA: Endoderm development:

from patterning to organogenesis, Trends in Gene-tics 2000, 16:124–130.

Liem T (Hrsg.): Morphodynamik in der Osteopathie. Stuttgart: Hippokrates; 2006.

Rohen J: Morphologie des menschlichen Organismus. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben; 2000.

Van den Heede P: Skripten Kursunterricht. Kloster Engelport: 2000–2006.

Wolpert L: Regisseure des Lebens. Heidelberg: Spek-trum; 1993.

Bildnachweis:Abb. 3 aus: Rohen, J., Lütjen-Decroll, E., Funktionelle

Embryologie, Schattauer, Stuttgart, 2002. Abb. 4 aus: Blechschmidt, E., Anatomie und Onto-

genese des Menschen, Quelle und Meier, Heidel-berg, 1978.

Abb. 5 aus: Blechschmidt, E., Anatomie und Onto-genese des Menschen, Quelle und Meier, Heidel-berg, 1978.

D A O M

Master-/Postgraduierte Kurse und Sonderkurse

Die Bewegung des Lebens erfahren

Bonnie Gintis, D.O., KalifornienEntdeckung des Phänomens des primär-respiratorischen Atemmechanismus an sich selbst wie auch am Partner mit derMethode des „Continuum Movement“.

26. – 29.04.2007 in Hamm/Münster

Funktionelle Techniken – Level 2

Harry Friedman, D.O. F.A.A.O., KalifornienPrimär somatische oder sekundär viszero-somato-reflektorische Störungen werdenerkannt und mit funktionellen Technikenbehandelt (Fortsetzung des Level-1-Kurses).

06. – 08.05.2007 in Hamm

Embryologie

Dr. Edgar Hinkelthein, D.O. M.R.O., DampEmbryologie, embryologische Motilität und Beziehung zur Praxis der Osteopathie in Diagnostik und Therapie.

22. – 24.06.2007 in Hamm

Integrierte Annäherungen in der Osteopathie

Christian Fossum, D.O., Kirksville/MaidstoneTypologien und Reaktionstypen, diagnostische Vorgehensweise,Minimalistannäherung,Verkettungsreaktionen.

14. – 16.09.2007 in Hamm

Anmeldung:

– Geschäftsstelle und Lehrgebäude –

Caldenhofer Weg 130 a · 59063 HammTel. 0 23 81.49 51 64 · Fax 0 23 81.49 5193www.daom.de · E-Mail: [email protected]

Anzeige_DO_59x251 15.02.2007 9:56 Uhr Seite 1