Forschung aktuell Eine Brücke über die Senckenberganlage · Theodor W. Adorno in Frankfurt –...

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T heodor W. Adorno zählte zu den bedeutendsten Gelehrten der Bundesrepublik. Er ist einer der Gründer der »Frankfurter Schule«. Sein wissenschaftlicher Werdegang ist eng mit der Universität Frankfurt verknüpft: Adorno studierte, pro- movierte und habilitierte sich in Frankfurt. Anfang der 1950er Jahre kehrte er nach seiner Emigration an das wiedereröffnete Institut für So- zialforschung zurück und erhielt an der Johann Wolfgang Goethe-Uni- versität die Professur für Philoso- phie und Soziologie. Adornos Einfluss erstreckte sich von der Musik- bis zur Gesellschafts- kritik. Zusammen mit Max Horkhei- mer schrieb er den wichtigsten Text der Kritischen Theorie, die »Dialek- tik der Aufklärung« (1944, Druck Amsterdam 1947). Das Buch gilt als eines der klassischen Werke der Phi- losophie des 20. Jahrhunderts. Am 18. April 1921 immatrikulier- te sich der gebürtige Frankfurter Theodor Ludwig Wiesengrund an der Universität Frankfurt am Main. Er wählte ein Studium an der Philo- sophischen Fakultät und besuchte Veranstaltungen in Philosophie, Mu- sikwissenschaft, Psychologie und So- ziologie. »Sein Studium«, so erin- nerte sich Max Horkheimer, »fiel in die gute Zeit der Frankfurter Univer- sität nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, als in den philosophischen Disziplinen, in Psychologie und So- ziologie, eine intellektuelle Avant- garde sich zusammenfand.« /1/ Promotion in Rekordzeit – »Zeitmangel und Examens- zwang« Mit einer Doktorarbeit beim Neu- kantianer Hans Cornelius schloss Adorno sein Studium in Frankfurt ab. Innerhalb weniger Wochen fer- tigte er seine Dissertation an. Ador- no schreibt über diese Zeit an seinen Freund Leo Löwenthal: »Mein lieber Leo! Verzeih mir, dass ich Dir heut erst schreibe und auch diesmal nur kurz; es ist nicht die Unfähigkeit zum Schreiben – wäre ich frei genug, Dir zu schreiben, was ich Dir zu schrei- ben habe – sondern bloß purer Zeit- mangel und Examenszwang, der mich jetzt noch stillegt. Ich will Dir die äußeren Daten des Halbjahres berichten. Die zweite Aprilhälfte war ich in Ammerbach, in einem Trubel von Menschen und arbeitete Hus- serl. Mitte Mai [1924] disponierte ich meine Dissertation und trug am 26. den Gedankengang Cornelius vor, der die Arbeit annahm. Am 6. Juni war die Arbeit fertig, am 11. diktiert, am 14. abgegeben.« /2/ Die Philosophische Fakultät pro- movierte den Kandidaten wenige Tage nach Abgabe der Dissertation und urteilte über den Verlauf der Prüfung kurz und bündig: »vorzüg- lich«. Adorno bemerkte zu dem Promotionsverfahren: »Cornelius hat meine Arbeit anstandslos und ohne die Änderung eines Wortes zu verlangen angenommen und der Korreferent Schumann hat sich sei- nem Referat angeschlossen.« /3/ Nach der Erlangung des höchsten akademischen Grades setzte Adorno für zwei Jahre seine philosophi- schen und musikalischen Studien in Wien fort. Er studierte bei Alban Berg Komposition und Eduard Steuermann Klavier. Zugleich war er als Schriftleiter der Wiener Mu- sikzeitschrift »Anbruch« tätig. Mit der Habilitation hatte es Adorno nicht so eilig wie mit seiner Promotion. Seinen ersten Habilitati- onsversuch brach er ab, weil seine Zulassungsschrift »Der Begriff des Unbewußten in der transzendenta- len Seelenlehre« /4/ von seinem aka- demischen Lehrer Cornelius abge- lehnt wurde. Hans Cornelius hatte sich am 8. Januar 1928 gegenüber der Fakultät negativ über Adornos Habilitationsschrift geäußert: »Ich 48 Forschung aktuell Forschung Frankfurt 3–4/2003 Eine Brücke über die Senckenberganlage Adorno und die Universität Frankfurt Als Theodor W. Adorno aus der Emigration nach Frankfurt zurückkam und eine Pro- fessur an seiner alten Universität übernahm, die ihn 1933 vertrieben hatte, wurden seine Vorlesungen zu Massen-Ereignissen. »Adornit« zu sein, gehörte zum intellektu- ellen guten Ton. Theodor Wiesen- grund, hoch be- gabter Sohn aus dem Frankfurter Bürgertum, kam an der jungen Uni- versität seiner Heimatstadt mit der intellektuellen Avantgarde in Kontakt, die sein späteres Denken entscheidend prä- gen sollte.

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Theodor W. Adorno zählte zu denbedeutendsten Gelehrten der

Bundesrepublik. Er ist einer derGründer der »Frankfurter Schule«.Sein wissenschaftlicher Werdegangist eng mit der Universität Frankfurtverknüpft: Adorno studierte, pro-movierte und habilitierte sich inFrankfurt. Anfang der 1950er Jahrekehrte er nach seiner Emigration andas wiedereröffnete Institut für So-zialforschung zurück und erhielt ander Johann Wolfgang Goethe-Uni-versität die Professur für Philoso-phie und Soziologie.

Adornos Einfluss erstreckte sichvon der Musik- bis zur Gesellschafts-kritik. Zusammen mit Max Horkhei-mer schrieb er den wichtigsten Textder Kritischen Theorie, die »Dialek-tik der Aufklärung« (1944, DruckAmsterdam 1947). Das Buch gilt alseines der klassischen Werke der Phi-losophie des 20. Jahrhunderts.

Am 18. April 1921 immatrikulier-te sich der gebürtige FrankfurterTheodor Ludwig Wiesengrund ander Universität Frankfurt am Main.Er wählte ein Studium an der Philo-sophischen Fakultät und besuchteVeranstaltungen in Philosophie, Mu-sikwissenschaft, Psychologie und So-ziologie. »Sein Studium«, so erin-nerte sich Max Horkheimer, »fiel indie gute Zeit der Frankfurter Univer-sität nach der Niederlage im Ersten

Weltkrieg, als in den philosophischenDisziplinen, in Psychologie und So-ziologie, eine intellektuelle Avant-garde sich zusammenfand.« /1/

Promotion in Rekordzeit – »Zeitmangel und Examens-zwang«

Mit einer Doktorarbeit beim Neu-kantianer Hans Cornelius schlossAdorno sein Studium in Frankfurtab. Innerhalb weniger Wochen fer-tigte er seine Dissertation an. Ador-no schreibt über diese Zeit an seinenFreund Leo Löwenthal:»Mein lieberLeo! Verzeih mir, dass ich Dir heuterst schreibe und auch diesmal nurkurz; es ist nicht die Unfähigkeit zumSchreiben – wäre ich frei genug, Dirzu schreiben, was ich Dir zu schrei-ben habe – sondern bloß purer Zeit-

mangel und Examenszwang, dermich jetzt noch stillegt. Ich will Dirdie äußeren Daten des Halbjahresberichten. Die zweite Aprilhälfte warich in Ammerbach, in einem Trubelvon Menschen und arbeitete Hus-serl. Mitte Mai [1924] disponierteich meine Dissertation und trug am26. den Gedankengang Corneliusvor, der die Arbeit annahm. Am6. Juni war die Arbeit fertig, am 11.diktiert, am 14. abgegeben.« /2/

Die Philosophische Fakultät pro-movierte den Kandidaten wenigeTage nach Abgabe der Dissertationund urteilte über den Verlauf derPrüfung kurz und bündig: »vorzüg-lich«. Adorno bemerkte zu demPromotionsverfahren: »Corneliushat meine Arbeit anstandslos undohne die Änderung eines Wortes zuverlangen angenommen und derKorreferent Schumann hat sich sei-nem Referat angeschlossen.« /3/

Nach der Erlangung des höchstenakademischen Grades setzte Adornofür zwei Jahre seine philosophi-schen und musikalischen Studien inWien fort. Er studierte bei AlbanBerg Komposition und EduardSteuermann Klavier. Zugleich warer als Schriftleiter der Wiener Mu-sikzeitschrift »Anbruch« tätig.

Mit der Habilitation hatte esAdorno nicht so eilig wie mit seinerPromotion. Seinen ersten Habilitati-onsversuch brach er ab, weil seineZulassungsschrift »Der Begriff desUnbewußten in der transzendenta-len Seelenlehre« /4/ von seinem aka-demischen Lehrer Cornelius abge-lehnt wurde. Hans Cornelius hattesich am 8. Januar 1928 gegenüberder Fakultät negativ über AdornosHabilitationsschrift geäußert: »Ich

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Eine Brücke über die SenckenberganlageAdorno und die Universität Frankfurt

Als Theodor W. Adorno aus der Emigration nach Frankfurt zurückkam und eine Pro-fessur an seiner alten Universität übernahm, die ihn 1933 vertrieben hatte, wurdenseine Vorlesungen zu Massen-Ereignissen. »Adornit« zu sein, gehörte zum intellektu-ellen guten Ton.

Theodor Wiesen-grund, hoch be-gabter Sohn ausdem FrankfurterBürgertum, kaman der jungen Uni-versität seinerHeimatstadt mitder intellektuellenAvantgarde inKontakt, die seinspäteres Denkenentscheidend prä-gen sollte.

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muss also beantragen, dass HerrnWiesengrund der Rat erteilt werde,sein Gesuch zurückzuziehen, da sei-ne Arbeit in der vorliegenden Formwenigstens den zu stellenden An-forderungen nicht entspricht.« /5/

Der zweite Anlauf fürdie Habilitation

Dreieinhalb Jahre später unternahmAdorno einen zweiten Anlauf, sichin Frankfurt zu habilitieren. SeineSchrift »Kierkegaard. Konstruktiondes Ästhetischen« (Druck: Tübingen1933) nahmen die Professoren derPhilosophischen Fakultät positiv

auf. Am 6. Februar 1931 tagte dieHabilitationskommission, bestehendaus Paul Tillich, Franz Schultz, MaxHorkheimer und Karl Reinhardt.Zehn Tage später fiel der Beschluss,Adorno zur Habilitation zuzulas-sen/6/. Nach seinem Probevortragüber »Kants Kritik der rationalenPsychologie« und anschließendemKolloquium erteilte ihm die Philo-sophische Fakultät die venia legendifür das Fach Philosophie /7/.

Im September 1933 wurde Ador-no, der katholisch getauft, aber imGymnasium am protestantischenReligionsunterricht teilnahm und

dort den ersten massiven antisemiti-schen Attacken ausgesetzt war, we-gen seiner »nichtarischen Abstam-mung« die Lehrbefugnis von denNationalsozialisten entzogen. Erverließ Deutschland und ging nachOxford, wo er seine wissenschaftli-che Arbeit am Marton College fort-setzte. Ende der 1930er Jahre wech-selte Adorno mit seiner Frau dannnach Amerika. Er arbeitete an demvon Frankfurt nach New York ver-legten Institut für Sozialforschungund als musikalischer Direktor desPrinceton Radio Research Projekts.In Amerika wurde die Zusammen-

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Die Eingangshalle des alten Instituts für Sozialforschung, vom Erdgeschoß bis zumersten Obergeschoss durchgehend. In dem Institut waren auch Räume der Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät untergebracht. Das Gebäude spiegel-te im Inneren die sachliche Zweckmäßigkeit wider, die an seiner Außenfassade zumAusdruck kommt.

Theodor Wiesengrund immatrikuliertesich am 18. April 1921 an der Univer-sität Frankfurt für das Fach Philosophie.

Das alte Institut für Sozialforschung vonder Bockenheimer Landstraße aus gese-hen. Den Anstoß zur Gründung des Insti-tuts gab 1922 Kurt Albert Gerlach, Pro-fessor der Staatswissenschaften an derWirtschafts- und Sozialwissenschaftli-chen Fakultät. Das Institut konnte am22.Juni 1924 eröffnet werden. Der Ar-chitekt des Gebäudes war Franz Röckle(1879 – 1953), der auch die Westend-synagoge in den Jahren 1908 bis 1910bauen ließ.

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arbeit und Freundschaft mit MaxHorkheimer, den er aus Frankfurtkannte, enger.

Aus Theodor Wiesengrundwurde Theodore Adorno

Theodor Wiesengrund erwarb dieamerikanische Staatsangehörigkeitund änderte seinen Namen in Ador-no um: »Sehr verehrtes gnädigesFräulein, unter Bestätigung unseresTelephonats möchte ich Ihnen mit-teilen, dass ich bei meiner amerika-nischen Naturalisation im Jahre1943 meinen Namen in Adorno(den Mädchennamen meiner Mut-ter) geändert habe und bitte, michin amtlichen Dokumenten lediglichals Adorno zu führen«, kommen-tierte er seine Namensänderung ge-

genüber der Universität Frank-furt /8/ .

Nach dem Ende des DrittenReichs, im März 1947, fasste diePhilosophische Fakultät den Be-schluss, Horkheimer und Adornonach Frankfurt zurückzuholen unddamit zu rehabilitieren/9/. Der De-kan der Philosophischen Fakultät,Otto Vossler, unterbreitete Adornodann das Angebot der Universität,in seine Geburtsstadt zurückzukom-men. Adorno beriet sich mit Hork-heimer. Beide fassten den Ent-schluss, nach Deutschland zu reim-migrieren, um an der Erziehung ei-ner neuen Generation mitzuwirkenund »entgegen dem Zug der ver-walteten Welt, wie Adorno sie tauf-te, den autonomen Gedanken in

unseren Studenten zu entfalten,unbekümmert um das statistischeAusmaß seiner Möglichkeiten«, wieHorkheimer es formulierte /10/. Be-reits im Wintersemester 1949/50lehrte Adorno wieder an der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität.Er vertrat die Professur für Sozial-philosophie, nach der RückkehrHorkheimers aus dem Exil über-nahm Adorno zunächst kommissa-risch die Philosophie-Professur, biser schließlich 1953 zum Professorfür Philosophie und Soziologie er-nannt wurde.

Gemeinsam mit Horkheimerkümmerte sich Adorno um die Wie-dereröffnung des Instituts für Sozial-forschung in Frankfurt. Da das alteGebäude des Instituts im Krieg zer-stört worden war, begannen im No-vember 1950 die Bauarbeiten zu ei-nem Neubau in der Senckenbergan-lage 26. Nach einer Bauzeit von nureinem Jahr konnte das neue Ge-bäude des Instituts für Sozialfor-schung bezogen werden.

Straßenüberquerung»Studenten, unmittelbarmit dem Tod bedroht...«

Im Frankfurter Universitätsarchivhat sich ein Vorgang erhalten, derdokumentiert, dass Adorno um dasWohl seiner Studenten besorgt war.Am 12. Mai 1958 schrieb er an denRektor der Universität: »Der Ver-kehr auf der Senckenberganlagemacht es den zahlreichen Angehöri-gen der Universität, die gezwungensind, diese überbelastete Straße zuüberqueren, gerade in nächsterUniversitätsnähe […] außerordent-lich schwer. Oftmals überqueren siedie Senckenbergstraße im Lauf-schritt […] Dieser Zustand ist be-denklich. Wenn ein Student, wie esdoch schließlich sein Recht seinsollte, in Gedanken über die Straßegeht, ist er der unmittelbarsten Le-bensgefahr ausgesetzt.«/11/ Der Poli-zeipräsident schaltete sich ein undversprach Hilfe: Er ließ einenFußgängerweg auf der Straße mar-kieren. Allerdings bewährte sichdieser »Zebrastreifen« aus SichtAdornos nicht. Er forderte deshalb,eine Brücke von der Universitäthinüber zum Institut für Sozialfor-schung zu bauen. Am 29. Novem-ber 1961 wandte er sich nochmalsan die Universitätsleitung: »Studen-ten, die, was doch wohl legitim wä-re, in Gedanken sind, werden dafürunmittelbar mit dem Tod bedroht.

Adorno nahm 1943die amerikanischeStaatsbürgerschaftan. Aus TheodorWiesengrund wur-de TheodoreAdorno. Nach sei-ner Rückkehr ausAmerika an daswiedergegründeteFrankfurter Institutfür Sozialfor-schung machte erdie »Naturalisa-tion« wieder rück-gängig. Den Na-men Adorno führteer aber weiterhin.

Über ein Drittelder Dozenten derUniversität wurdeaufgrund des Ge-setzes zur Wieder-herstellung desBerufsbeamten-tums vom 7. April1933 von den Na-tionalsozialistendie Lehrbefugnisentzogen. Auszugaus dem Personal-verzeichnis derUniversität Frank-furt, Wintersemes-ter 1933/34, mithandschriftlichenVermerken desUniversitätssekre-tariats: »Lehrbe-fugnis entzogen«.

»Barba non facitphilosophum.« EinBart macht zwarnoch lange keinenPhilosophen, aberselbst mit dieserVerkleidung zu Fa-sching hätte Ador-no einen vorderenRang im »Adorno-Ähnlichkeitswett-bewerb« belegt.Zumindest diebeiden Studentin-nen neben ihmscheinen davonfest überzeugt.

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Die Ausstellung der Stadt- und Universi-tätsbibliothek zum 100. Geburtstag Theo-dor W. Adornos konzentriert sich aufAdornos Beziehungen zu seiner Geburts-stadt, die neben einem seinen musikali-schen Studien dienenden Aufenthalt inWien und der durch die Nationalsoziali-sten erzwungenen Emigration nach Eng-land und Amerika Zentrum seiner Biogra-fie und seines wissenschaftlichen Wirkenswar. Vom 4. September bis zum 13. Okto-ber (Ende der Buchmesse) ist diese Aus-stellung im Bibliotheksbereich der B-Ebe-ne der U-Bahnstation Bockenheimer War-te zu sehen.

Ein großer Schatz an Quellen, Doku-menten, Erinnerungsstücken und Berich-ten ist heute in verschiedenen FrankfurterEinrichtungen verstreut. Das Archivzen-trum der Stadt- und Universitätsbibliothekmit den Nachlässen Max Horkheimers,Friedrich Pollocks, Leo Löwenthals, Her-bert Marcuses und anderer fand Freunde

und Partner für diese Ausstellung im Ador-no-Archiv, im Universitätsarchiv der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universität, im In-stitut für Stadtgeschichte, im HistorischenMuseum der Stadt, in der Hochschule fürMusik und bei vielen Privatpersonen. DieAusstellung unternimmt den Versuch, dieLeihgaben zu einer sinnvollen Schau zu-sammenzuführen und so die Verflechtungeiner Biografie mit der Stadt zu zeigen.

In die Stadt und ihrer näheren Umge-bung erlebte Adorno seine geborgene undglückliche Kindheit, im Kaiser Wilhelm-Gymnasium konnte der begabte Schülervorzeitig die Abiturprüfungen ablegen, da-nach studierte er an der Universität Frank-furt und wurde mit einer Arbeit bei HansCornelius promoviert. Daneben nahm erKompositionsunterricht bei Bernhard Se-kles am Dr. Hoch’schen Konservatorium.An mehreren Zeitschriften arbeitete er alsMusikkritiker. Nachdem er sich 1931 habi-litiert hatte, wirkte er als Privatdozent an

der Universität bis zum Entzug der Lehrer-laubnis aufgrund der nationalsozialisti-schen Rassengesetze 1933. In diese Zeitfällt auch seine erste Mitarbeit im Institutfür Sozialforschung.

Nach der Zerschlagung des Dritten Rei-ches setzte er seine Kräfte voll ein, um denWiederaufbau des Instituts für Sozialfor-schung voranzutreiben, gleichzeitig eta-blierte er sich wieder im wissenschaftli-chen Leben an der Universität und in derStadt. Den turbulenten Nebenerscheinun-gen der Studentenbewegung stand er zumTeil ratlos gegenüber. Freundschaft undkollegiale Verbundenheit verknüpfte seineBiografie mit dem Kreis von Wissenschaft-lern, die dem Institut für Sozialforschung,zunächst in Frankfurt, dann in Genf, da-rauf in New York und schließlich wiederin Frankfurt verbunden waren.

Jochen Stollberg ist Leiter des Archivzentrums derStadt- und Universitätsbibliothek und hat dieseAusstellung organisiert.

Theodor W. Adorno in Frankfurt – Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek

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[…] Helfen könnte nur entwedereine Brücke für Fußgänger über dieSenckenberganlage oder eine Um-leitung des gesamten Verkehrs.« /12/

In einem Leserbrief an die F.A.Z.machte Adorno am 18. Juli 1962sein Anliegen auch einer breiterenÖffentlichkeit bekannt. Allerdingsbaute die Stadt Frankfurt weder dieBrücke, noch leitete sie den Verkehrum. Der Polizeipräsident ließ abereine Ampelanlage installieren, dieheute noch Studierenden das siche-re Überqueren der Senckenbergan-lage ermöglicht.

Die Kunst war für Adorno auf-grund ihrer Autonomie in der Lage,Kritik an gesellschaftlicher Herr-schaft zu üben. Diese Kritik erfolgeohne Anwendung von Gewalt. Einesolche Position stand im Gegensatzzur Bereitschaft vieler Studenten inden späten 1960er Jahren, den»Muff von tausend Jahren« kämp-

Adorno verhandeltim Juni 1969, nurzwei Monate vorseinem Tod, mitStudenten, ob erseine nachStörungen wo-chenlang ausge-setzte Vorlesung»Einführung indialektisches Den-ken« wiederauf-nehmen kann – al-lerdings auch andiesem Tag ohneErfolg.

/1/ Max Horkhei-mer, Jenseits derFachwissenschaft.Adorno zum Ge-burtstag. Frankfur-ter Rundschau vom11.September 1963.

/2/ Brief von Ador-no an Leo Löwen-thal,16. Juli 1924,in: Leo Löwenthal,

Anmerkungen

Mitmachen wollteich nie. Ein auto-biographisches Ge-spräch mit HelmutDubiel. Frankfurt1980, S. 247.

/3/ Ebenda, S. 249.

/4/ Adorno, Gesam-melte Schriften I,S. 79–322.

/5/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Abteilung 4,Nr. 2.

/6/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät II, S.128, Sitzung vom16. Februar 1931.

/7/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät II,S.129, Sitzung vom23. Februar 1931.

/8/ Brief von Ador-no an das Kuratori-umssekretariat,28.3.1950, Univer-

sitätsarchiv Frank-furt, Abteilung 14,Nr. 20, Blatt 19.

/9/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultät III,S. 146, Sitzungvom 21. März1947.

/10/ Horkheimer,Jenseits (wie An-merkung 1).

/11/ Vgl. Univer-sitätsarchiv Frank-furt, 630 – 50 alt,Blatt 86.

/12/ Ebenda,Blatt 66.

ferisch aus den Talaren der Professo-ren zu treiben. Adorno, dessen Wer-ke von den Mitgliedern der Studen-tenbewegung eifrig gelesen wurden,ging auf Distanz zu der Generation1968. Seine Vorlesungen und Semi-nare wurden gestört, Adorno littpersönlich sehr unter der neuen Si-

Der Autor

Dr. MichaelMaaser, Historiker,leitet das Univer-sitätsarchiv der Johann WolfgangGoethe-Universität.

tuation. Ob er allerdings schließlichan den Folgen eines »Busen-Atten-tats« zweier Studentinnen in seinerVorlesung starb, wie der Schriftstel-ler Robert Gernhardt in seinemgleichnamigen Gedicht nahe legt,gilt als nicht erwiesen. ◆