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Forschungen zu Staat und Verfassung Festgabe für Fritz Hartung DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

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Forschungenzu Staat und Verfassung

Festgabe für Fritz Hartung

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

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WERNER NÄF

Die deutsche Bundesakteund der schweizerische Bundesvertrag von 1815

Die deutsche Bundesakte und der Bundesvertrag der 22 Kantone derSchweiz tragen Daten, die sehr nahe beieinanderliegen: den 8. Juni undden 7.August 1815.Sie begründeten beide einen föderativen Verbanddesselben Typus, einen Staatenbund. Beide sollten im gleichen Jahr,1848, durch eine bundesstaatliche Ordnung ersetzt werden; das Werkgelang in der Eidgenossenschaft, es scheiterte in Deutschland.Trotz der zeitlichen Nähe und der formalen Verwandtschaft bildeten

Bundesakte und Bundesvertrag kein gleichartiges Paar. Zwei föderativeZusammenschlüsse wurden gleichzeitig, aber unter verschiedenen Be-dingungen zustandegebracht. Eine vergleichende Studie wird die Eigen-art beider sichtbar machen können. Sie ist dem VerfassungshistorikerFritz Hartung, dem sie gewidmet sein soll, dankbar verpflichtet.

Das historisch-politische Verständnis für föderative Bildungen in derForm des Staatenbundes muß von einigen begrifflichen Überlegungenausgehen.Der Staatenbund ist kein Staat, sondern ein Bund von Staaten. Aber

er unterscheidet sich, nicht nur dem Grade, sondern dem Wesen nachvon der Allianz. Allianz nennen wir die Verbindung von Staaten inaußenpolitischer Absicht, zu besonderen Zwecken, die den Verbündetengemeinsam sind, die auch verschieden sein können, doch nicht gegen-sätzlich, so daß der eine Staat seine Kraft für den andern einsetzt, weiler dadurch den Einsatz des andern für seine Zwecke erlangt. Die Allianzrichtet sich mit erhaltender oder verändernder Absicht gegen andereMächte. Sie wird geschlossen und besteht in einer bestimmten Situation.Sie ist daher auch zeitlich limitiert; der Bündnisvertrag selbst sieht vor,sie in fixierten, kurzen Zeitabständen zu erneuern, zu verändern oderaufhören zu lassen. DieAllianz ist wesentlich eineFunktion des "Staaten-systems"; sie verharrt im Bannkreis des einzelstaatlichen Denkens undHandelns,Anders ist - grundsätzlich, trotz realpolitisch-entwicklungsmäßigen

übergängen - der Staatenbund zu bestimmen. Entscheidend sind derWegfall der zeitlichen Limitierung und die weitere Fassung der Bundes-ziele, die sich aus innerlicher Gemeinschaft von Art und Lebenswillen

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der Einzelstaaten ergibt und dauernder Bundesorgane bedarf. OhneStaat zu sein enthält der Staatenbund bereits föderativ-staatliche Ele-mente; er wird daher häufig zur Übergangsform zum Bundesstaat, derbegrifflich vollendet ist, wenn sich eine von den Einzelstaaten unab-hängige Zentralgewalt über die Gliedstaaten erhebt.Jede Föderation wird durch bewußten politischen Willensakt begrün-

det. Sie setzt staatliche Willensträger voraus. Man wird dabei nicht ver-kennen, daß im Bildungsprozeß jedes Staates aggregierende, selbstpaktierende Faktoren wirksam sind: Fürst und Stände im Herrschafts-staat, menschliche Individuen und Gruppen im Gemeinschaftsstaat derPolis und der Landsgemeinde. Das Lebewesen des Staates wird sichdann in einer "Verfassung" ausformen. Erst wenn Einzelstaaten vorhan-den sind, kann Staatenföderation in Betracht kommen. Ein Pakt be-gründet sie. Es kommt für Art und Kraft der Föderation darauf an, wiestark und nachhaltig die Motive sind, die zur Schaffung des BundesAnlaß gegeben haben.Der Abschluß eines föderierenden Paktes erklärt sich nicht nur aus

der politischen Situation eines gegebenen Zeitpunktes, sondern auch ausder Entwicklungsgeschichte der Staatengruppe, die sich verbündet. Diestritt besonders deutlich hervor, wo es sich nicht um eine zeitbeschränkteAllianz, sondern um einen dauernden Staatenbund, gar einen Bundes-staat handelt.

Die Entwicklungslinien, die zur deutschen Bundesakte und zumschweizerischen Bundesvertrag von 1815 führten, sind charakteristischverschieden.Im Laufe von Jahrhunderten waren die Partikularstaaten des Reichs

zu rechtlicher Selbständigkeit gelangt. Die letzte "verfassungsmäßige"Stufe war 1648erreicht: Souveränität der Einzelstaaten im Reich undtrotz dem Reich. 1803bis 1806vollzog sich die territoriale und reichs-rechtliche Revolution, die zahlreiche Souveränitäten im Reiche löschte,das Reichsrecht aufhob, eine neuartige Souveränität überlebender, imLänderbestand veränderter, im Rang gehobener Staaten schuf.Der Aus-tritt von sechzehn Staaten sprengte denReichsverband, unterstellte aberzugleich die Mittel- und Kleinstaaten Deutschlands dem französischenProtektorat in der Zweckform des Rheinbundes. Er fielmit der napoleo-nischen Macht. Die Einzelstaaten standen einen Augenblick lang un-verbunden.Gleichzeitig - von 1806 an - stellte sich in den Einzelstaaten eine

einzelstaatliche Aufgabe: die staatliche Konsolidierung im verschobenen,vermehrten, verminderten neuen Bestand. Dazu reichten die vorrevo-lutionären staatstragenden Kräfte nicht mehr aus. Sammel- und Halte-punkte wollten, mußten die monarchischen Zentren sein. Sie steigertensich - dies war hier die Folge der Revolution - zum Absolutismus und

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nutzten ihre Fähigkeit der zentralistisch-bürokratischen Administration.In Krone und egalisierender Staatsverwaltung stellten sich die neuenStaatswesen zuerst dar. Mittel, die Integritätdes Staatsganzen zusichern,konnte auch eine das ganze Land umspannende Staatsverfassung sein.Im Verfassungsgedanken der Zeit sprach sich wohl eine Konzession anveränderte Staatsgesinnung aus; aber sein Zielpunkt war, in den Augender Regierungen, die Staatssouveränität, nicht die Volkssouveränität.Die deutschen Staaten standen also um 1815in prekärer und zugleich

betonter einzelstaatlicher Souveränität. Was konnte ihren Bund veran-lassen?Zur Beantwortung dieser Frage ist die gesamte zeitgenössische Lage

in Deutschland und in seiner Umwelt mit den aus ihr wirkenden poli-tischen, geistigen, wirtschaftlichen Impulsen zu überschauen. Daraussind Art und Stärke der zur Föderation tendierenden Motive una dieentgegenstehenden oder beschränkenden Rücksichten zu ermessen.Es gab eine reichische und, von da aus, eine deutsche Tradition, eine

"nationale" Gesinnung verschiedener Intensität und unterschiedlicherNuancen. Sie sprach aus denkenden oder fühlendenSchichtendesVolkes.Sie besaß ein Refugium in den mediatisierten oder säkularisierten, aberim Bewußtsein nicht ausgelöschten Kleinstaaten des alten Reichs. Poli-tisch handlungsfähig aber waren einzig die nun bestehenden 38 Einzel-staaten durch ihre Regierungen. Auch ihnen fehlte ein deutsches Er-innerungs- und WiIlensmotiv nicht; aber ihr staatsindividuelles Selbst-bewußtsein war stärker. Ein Verband übergeordneten Charakters warihnen nicht erwünscht, in ungleichem Maße, da die Größenunterschiedesehr beträchtlich waren. Dazu bestanden machtpolitische Dominanten,zwiefach und zwiespältig: zwei Großmächte, von denen keine Deutsch-land ganz darstellte und nur Deutschland angehörte.Indessen konnte die isolierte Souveränität der Einzelstaaten doch

nicht als befriedigend, kaum als haltbar gelten. Ein Blick auf die Karte,ein Gedanke an Vergangenheit und Zukunft mußte dies zum Bewußt-sein bringen. Es gab doch tatsächlich einen "deutschen Raum" zwischenFrankreich und Rußland, in sich beziehungsvoll durch Sprache, Ge-schichte, Kultur, anders als die romanische, slawische, skandinavische,auch als die holländische und schweizerischeNachbarschaft. Andersseinals alle andern verleiht einen inneren Zusammenhang, ruft eine zusam-menschließende Tendenz hervor. Und dieser deutsche Mittelraum warvon außen her druckempfindlich und bedurfte einer verhandlungs-fähigen und abschirmenden Organisation. Unverkennbar war schließ-lich die Tatsache, daß formell uneingeschränkte Souveränität die prote-gierende und bevormundende Beeinflussung der Kleinen durch dieGroßen nicht hinderte, sondern provozierte. Ein Verband war nötig,schon um der Sicherung der Einzelstaaten willen.

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In all dies stieß schließlich ein in Metternich investierter Wille ein,der machtpolitisch geartet war, aber allgemeine Ordnungsgedanken insich trug: europäisches Gleichgewicht durch politische OrganisierungMitteleuropas. Der Gedanke war freilich verquickt mit antirevolutio-närer, autoritärer Staatsgesinnung. Aber er bezog sich,was hier wesent-lich ist, auf ganz Deutschland. Er wird sich föderierender Mittel undFormen bedienen, die aber einseitig bestimmt wurden: gemeinsame Er-haltung konservativer Regierungsautoritäten gegenüber einer allgemei-nen "Revolutions"-Bewegung, die auch in Deutschland ihren Ausdruckfand, - einen doppelten Ausdruck in einzelstaatlichem Konstitutionalis-mus und nationaler Gestaltung des deutschen Lebens. Zweierlei stelltesich hier zueinander und gegeneinander: Metternichs Europa- undDeutschlandplan und ein Volkswille, der noch "revolutionär" war, dadem Volke kein legitimes Recht zustand. Die Revolutionszeit hatte ihngeboren oder gesteigert; er hatte sich wider Fremdherrschaft erhoben,war durch die Erschütterung und durch das teilweise Versagen der altenTräger des politischen Lebens erwacht und bewußt geworden. Jetzt aberentschieden allein die Regierungsmächte.Doch abermals: wenn man politisch dachte, zeigte sich eine besondere

Komplikation des deutschen Föderativproblems. Es lag in der staats-rechtlichen Verbindung Österreichs und Preußens mit undeutsch-außer-reichischen Gebieten, in der dynastischen Bindung Holsteins, Luxem-burgs, Hannovers an auswärtige Kronen. Die Einbeziehung dieser Ge-biete und Kronen in einen deutschen Bund, die außerreichische Staats-herrschaft deutscher Fürsten widersprachen zwar der Reichstraditionund dem an sie anknüpfenden Begriff der Nation nicht; aber die nichtnur deutsche, sondern europäische Funktion eines zu so fernen Annexenausladenden Bundes fürstlicher Häuser konnte außenpolitische wiebundesinterne Schwierigkeiten schaffen.DeutscheBundespflichten konn-ten Hemmungen bilden für die nicht bloß deutsche Souveränität seinergrößten Einzelstaaten, auswärtige Interessen konnten das Bundeslebenstören, ja verfälschen. Das Bundesgebiet bedurfte klarer Grenzen, dasBundesrecht des eindeutigen Zuständigkeitsbereichs. Beides war schwerzu bestimmen.

, Das schweizerische Parallel- und Gegenbeispiel präsentiert sich be-deutend einfacher.Die vielstaatige Schweiz ist, seit den Anfängen eidgenössischer Ge-

schichte, nicht durch Föderalisierung eines Ganzen entstanden, sonderndurch föderative Verbindung ländlicher und städtischer Republiken,für deren Geburt und Wachstum sich der helvetische Boden des Reichesals besonders fruchtbar erwiesen hatte. Der Rahmen dieser Staatenwurde frühzeitig fest; im 16.Jahrhundert war die Territorialbildung

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der Orte zur Hauptsache abgeschlossen. Die Bünde wurden, vom späten13.zum frühen 16.Jahrhundert, in kompliziertem Geflecht, zum Schutzeund zur Förderung der Einzelstaaten geschlossen. Gemeinsame Rege-lungen der Kriegs- und Rechtsordnung wurden durch Konkordate ge-troffen und, samt der Verwaltung der Gemeinen Herrschaften, durchden Botenkonvent der Tagsatzung gehandhabt. Aus der Reformations-bewegung ergab sich ein zwiespältiger, aber eidgenössischer Konfessio-nennexus. Die Praxis der außenpolitischen Neutralität mit ihrem Kor-relat des auswärtigen Solddienstes spielte sich ein. Gesamthaft - wennnicht dem Verfahren, so doch dem Ergebnis nach - löste sich die Eid-genossenschaft vom Reich und begründete ihre EigensteIlung in Europa.Eidgenössisches Sonderbewußtsein erwuchs in der eidgenössischen Ge-schichte; es war von Anfang an volksmäßig. Die Gemeinschaftsstaatenverengten, zum 17. und 18.Jahrhundert hin, ihr Regiment; Lands-gemeinden, Zunftkorporationen, Patriziate herrschten über abhängigesLand, das aber seiner Eigenrechte nicht völlig beraubt wurde. Die Ein-zelstaaten bewahrten in sich selbst föderalistische Elemente.Die Revolution hob 1798die Einzelstaaten samt ihrem Bundesgefüge

auf, schuf den helvetischen Einheitsstaat und gab ihm eine neufränkischeVerfassung. Sie war auf diesem Boden unhaltbar und fiel nach wenigenJahren dahin. Damit stellte sich die Aufgabe, einen neuen Bund zuschließen; sie wurde 1803durch "Mediation" Napoleon Bonapartes ge-löst, nicht also, trotz der Mitwirkung einer helvetischen Consulta, auseigenem freien Willen, sondern nach Einsicht und Gebot der auswär-tigen Hegemonialmacht. Diese Einsicht und dieses Gebot führten aberzu den schweizerischen Elementen des Staats- und Bundeslebens zurück.Die dreizehn Orte auferstanden als Kantone, in ihrem territorialen Be-stand, mit Ausnahme Berns, nur wenig verändert. Dazu traten sechs inAnalogie gebildete neue Kantone, aus ehemaligen zugewandten Orten,aus einzelörtischen und gemeinen Herrschaften errichtet. Aus revolutio-närem Befreiungs- und Ausgleichsprozeß war so die Gruppe der 19gleichgeordneten Kantonalstaaten entstanden, damit die Voraussetzungeiner neuartigen Föderation: an die Stelle des historisch gewachsenenAllianzbündels trat eine konstruierte "Bundesverfassung".Während des Mediations-Jahrzehnts erlebte die Schweiz die ein-

fachste Föderativform ihrer bisherigen Geschichte, die mit Ausnahmeder wenigen Jahre der einen und unteilbaren Helvetischen Republikstets die Geschichte eines bundesmäßig agglomerierten Körpers war:einen egalitären Staatenbund, der namentlich in Stellung und Kompe-tenzen des Landammanns der Schweiz und der Tagsatzung gewissebundesstaatliche Elemente enthielt.

Als die französische Dominante dahinfiel, war der schweizerische Wegzu föderativer Neuordung leichter gangbar als der deutsche. Es gab nun

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22 Kantone; die Größenunterschiede waren beträchtlich, aber keinerkonnte oder mochte als isolierter Einzelstaat international bestehen.Eine einzige dynastischeVerwachsung mit demAusland war vorhanden,in Neuenburg, und sie wurde denn auch in Zukunft zum Anlaß vonSchwierigkeiten. Das Staatenwesen der Kantone ruhte überall aufVolksbasis; das herrscherliche Element war nur noch - stellenweise - inder Gestalt überlebender Patriziate wirksam. Der Verfassungsausbauim Kanton zielte zur Egalisierung und Individualisierung der Demo...kratie. Was das Bundesproblem betrifft, so war das kantonalstaatlicheSelbstbewußtsein sehr ausgeprägt; doch fehlte der Rang- und Geltungs-anspruch, der Dynastien innewohnt. Das Bündische hatte, auf Grundgeschichtlicher Gewöhnung, ein positives Vorzeichen und realpolitischgünstige Voraussetzungen; das Nationale war weniger eine emotionaleals eine zweckhafte Vorstellung und war vom Machtpolitischen herwenig belastet. Die Mehrsprachigkeit der schweizerischenNation stelltewohl eine Besonderheit dar, die aber kaum störend ins Gewicht fiel: diezentripetale Neigung der schweizerischen Sprachgemeinschaften warstärker als die zentrifugale; sie sprach nicht gegen das Bündische, nurgegen das Zentralistische im Bündischen. Es stellte sich daher die Auf-gabe, den Bund entsprechend zu gestalten: als zweckmäßig, als ergän-zend, nicht ersetzend. Das gefühlsmäßig Verschiedene darf nicht be-drängt oder vergewaltigt werden; es muß sich vielmehr im Schweize-rischen ausleben können. Das Schweizerische kann koordinieren undüberwölben; es kann gesamthaft über allen stark werden, muß aberaUen gleichmäßig gegenüberstehen, darf nicht hegemoniale Gewalt einesoder mehrerer Gliedstaaten über den andern sein. Dies zu erreichen undzu erhalten, war eine hohe Kunst; aber von Vorteil war die Klarheit,daß es nicht anders sein könne.Auf eigenen Wegen gelangte die Eidgenossenschaft zu ihrem Bundes-

vertrag von 1815,der der deutschen Bundesakte dem föderativen Typusnach ähnlich, dem föderativen Gehalt nach aber ungleich war.

Zur Zeit der Friedensschlüsse und der Wiener Ordnungsrnaßnahmenstand Deutschland vor der Aufgabe, einen neuen föderativen Verbandseiner Einzelstaaten zu schaffen, die Schweiz vor der Möglichkeit undNotwendigkeit, ihre bisherige Bundesordnung veränderten Verhält-nissen anzupassen. Unser Aufmerksamkeit richtet sich an dieser Stelleauf das Zustandekommen, sodann auf den textlichen Inhalt der beidenBundesdokumente, ohne auf die geistige Herkunft der Entwürfe unddie einzelnen Impulse in den Erwägungen und Debatten einzugehen.Den Verhandlungen über die Schaffung eines deutschen Bundes lag

eine Bestimmung desErsten Pariser Friedens vom30.Mai 1814zugrunde:"Les etats de l'Allemagne seront independants et unis par un lien

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federatifl." Ihre Ausführung mußte zu den Anliegen des Wiener Kon-gresses gehören; eine deutsche Kommission hatte sich mit der Lösungder verbindlich gestellten Aufgabe zu befassen. 'Die Kommission, gebildet durch Österreich, Preußen, Hannover,

Bayern und Württemberg, hielt vom 14. Oktober bis zum 16. November1814 dreizehn Sitzungen ab!. Dann trat eine Unterbrechung ein, äußer-lich dadurch markiert, daß 29, später 32, deutsche Fürsten und freieStädte zur Konstituierung eines deutschen Bundes beigezogen zu werdenbegehrten'; Dieser Souveränitätsanspruch aller bestehenden deutschenStaaten setzte sich durch. Am 23.Mai 1815 begannen in der erweitertenKonferenz die Detailverhandlungen und führten - unter dem unmittel-baren Druck: des erneuerten Kriegs gegen Napoleon - am 10.Juni zurAnnahme der (vom 8. Juni datierten) Bundesakte', 'Der erste Entwurf, am 13. September 1814 durch Fürst Hardenberg

dem Fürsten Metternich .vorgelegt'; hatte einen engeren Bund (vonÖsterreich nur Salzburg, Tirol, Berchtesgaden und Vorarlberg, vonPreußen nur das linkselbische Gebiet) vorgesehen, mit dem Österreichund Preußen "als Mächte" ein unauflösliches Bündnis eingehen sollten,um dessen Verfassung und Integrität zu garantieren, während die Ver-einigten Niederlande und "wo möglich" auch die Schweiz zu einem be-'ständigen Bündnis mit dem deutschen Bund einzuladen seien. Bundes-deutschland stellte sich in diesem Zeitpunkt - vor dem Kongreß - inseinen Dynastien (und den drei Hansestädten) dar, deren Landbesitznoch weithin unbestimmt und umstritten war. In Anlehnung an die'Gliederung des alten Reiches sollten sieben Reichskreise gebildet wer-den, - territoriale Gruppierungen nach Stammes- und Landschafts-regionen. Sie und die Fürstenhäuser sollten die Elementedes Föderativ-baus bilden; aus beiden wären die Bundesorgane zu bestellen: ein Ratder Fürsten und Stände, ein Rat der Kreisobersten, ein DirektoriumÖsterreichs und Preußens.Die Eigentümlichkeit des deutschen Föderativproblems zeigt sich an

dieser Stelle besonders deutlich. ,Grundlage der eigentlichen Beratungen aber bildete der aus preu-

ßisch-österreichischer Verständigung hervorgehende Entwurf vom23. Mai 18158• Erst jetzt waren die Einzelstaaten geformt, die Einheiten,

1Art. VI, Al.2 (Reeueil international des traites du 1ge sieele, publle parleBaronDeseampset LouisRenaultI, 1801-1825,Paris, o.J., S.321);er geht zu-rück auf die Bartensteiner Konvention zwischenRußland und Preußen vom26.April 1807und auf den Separatartikel I der Quadrupelallianz zu Chau-mont vom 1.März 1814(Deseampset Renault I, S.313).t J. L.K1über,Acten des Wiener CongressesII, Erlangen 1815,S.64-198.• K1überI, Erlangen 1815,1.Heft, XIV, S.72ft.• VerhandlungsprotokolleKlüber II, S.324-568.I Klüber I, 1.Heft, VIII, S.45ff.

" • Klüber II, S.314ff.; vgl. Klüber I, 4.Heft, Nr.XXVI, S. 104ff.; Klüber II,Nr.XXVIII, S. 298ff.; Nr.XXIX, S.308ff. '

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um deren Verbündung es sich handelte. Noch dominierte im Staatlichendas Dynastische; aber den landesherrlichen Dynastien standen landlos,doch nicht rechtlos gewordene Dynastien gegenüber. Die Debatten derKommission wurden durch die Konkurrenz verschiedener Rechts-ansprüche kompliziert. Der Wiener Kongreß selbst restaurierte altesund schuf neues Recht. Anderseits entsprachen Rechtsneuerungenrevolutionären Ursprungs (Reichsdeputationshauptschluß von 1803,Rheinbundzeit, Akzessionsverträge von 1813) den Interessen der Ge-genwart. Und gleichzeitig wirkten Rechtsvorstellungen des alten ge-brochenen, aber nicht vergessenen Reiches nach. Dies alles lebte auchim Volke: es erinnerte sich seiner Stände, seiner Geschichte, der revo-lutionären Verheißung, der nationalen Vision. Aber das Volk hattekeine Stimme.Dies waren die Voraussetzungen. Die Vorlage trug ihnen Rechnung.

An elf Sitzungstagen verhandelten die Regierungsdelegationen; Metter-nich präsidierte, - in Eile: am 5. Juni machte er darauf aufmerksam,daß er nur noch Tage, nur noch Stunden zur Verfügung habe. Manbrachte das Werk notdürftig unter Dach, versparte seinen Aufbau fürspäter; die Bundesversammlung selbst, wie sie schließlich auf demPapier stand, sollte in gewissem Sinne Verfassungsrat sein, an den allesaugenblicklich Unlösbare gewiesen wurde.

Die schweizerische Entstehungsgeschichte verlief, trotz zeitgenössi-schen Gemeinsamkeiten, anders als die deutsche. Sie setzte ein, als mitder militärischen Niederlage des Mediators im Spätherbst 1813 dieMediationsordnung zusammenbrach. Die bisherige föderative Form warverloren; das Bedürfnis, sie zu ersetzen, meldete sich sofort. Bereits am4. Februar 1814lag der Entwurf einer Bundesverfassung vor; die Bera-tungen der "langen Tagsatzung" in Zürich, seit dem 6.April 1814,führ-ten am 9. September des Jahres zur Annahme einer neuen Bundes-konstitution durch die Mehrheit der 19 Kantone. Durch die Beschlüssedes Wiener Kongresses modifiziert, wurde sie, jetzt im Kreis der22 Kantone, am 7.August 1815gesiegelt und beschworen",Der Weg von der Mediationsverfassung zum Bundesvertrag führte

durch den Engpaß einer außerordentlich heftigen Krise. Dies ergab sichäußerlich aus dem Umstand, daß die entscheidende Wegstrecke vor demWiener Kongreß durchlaufen wurde, vor den Kongreßbeschlüssen, dieauch für die Schweiz den territorialen Staatenbestand erst fixierten. Die19 Mediationskantone waren international noch nicht anerkannt, inner-schweizerisch noch umstritten. Die kantonalenStaatskörperwarendurchdie Emanzipation der Untertanengebiete verändert, die neuen Kantone

7 VgI.zumVerlauf:W.Oechsli,Geschichteder Schweizim 19. Jahrhundert,2. Band 1813-1830, Leipzig1913.

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noch nicht gesichert und in sich verwachsen, Verlust und Zuwachs anden Auslandgrenzen unbereinigt. Strittige innere Grenzen sind derBundeswilligkeit lebensgefährlich. Restaurationswünsche widerstrittendem Willen, die Revolutionserrungenschaften zu behaupten. Die Bun-desgesinnung verwirrte sich so, daß Kantone und Kantonsgruppen aus-einanderzufahren drohten; die Gedanken strebten zurück zur Bundes-agglomeration der 13Orte, ja zumDreiländerbund von 1315;sie blicktenanderseits voraus zu einem egalisierten Bundessystem aus gewandeltemMediationsrecht. Alte und neue Schweiz, beide im Zusammenprall derZeitströmungen in sich uneinheitlich und unsicher, standen wider-einander.Aber eben die Heftigkeit der Gegensätze erzwang den Vergleich, und

erstaunlich schnell fand man sich im August-September 1814auf einerBasis der Konzessionen und Verzichte. Es erwies sich, daß trotz allemdie Aussichten eidgenössischen Bundeslebens günstiger 'waren als die-jenigen im deutschen Länderkreis: Geschichte und Gegenwart, Formatund europäische Lagerung erleichterten die Einigung. Die Lösung desbestehenden Verbandes, die Sezession einer Gruppe, die Trennung deralten von der neuen Schweiz waren nicht ernstlich wünschbar, warennicht möglich; kein Kanton konnte für sich allein bestehen. Die alliiertenKriegsmächte wünschten die eidgenössische Gesamtheit zu erhalten, neudarzustellen; sie wirkten durch ihre Gesandten in Zürich stark auf dieTagsatzung ein, die doch eine erprobte Körperschaft war, deren·schweizerisches Bewußtsein wohl gestört, kaum aber zerstört werdenkonnte. Blieb der Bundeszusammenhang bestehen, so ließ sich dieSchweiz territorial klar vom Ausland abheben, ja politisch durch dieKonsolidierung ihrer Neutralität aus ihrer Umwelt herausheben. DasGefühl der gesamthaften schweizerischen Sonderexistenz, in Jahrhun-derten erwachsen, war vorhanden, verankert auch in der republika-nischen Staatsbildung; hier sprachen Vertreter des Volkes und konntenfüglich nur schweizerisch sprechen, so ungeklärt die moderne schweize-rische Lebensform noch war. Dynastische Rücksichten und Ver-wachsungen lasteten nicht.Die Entwicklungskräfte gravitierten zu einem neuen Bund. Er war

freilich nur als Kompromiß möglich. Man begnügte sich mit einemnüchternen Zweckverband. Als solcher war er notwendig, eine Minimal-Iösung, inhaltsarm, da ihm die bestehenden Kontroversen entrücktwurden8• Er stellte doch die 22 Kantone nebeneinander und untrennbarzueinander. Er bedeutete doch einen formalen Fortschritt, wenigergegenüber der Mediationsverfassung als gegenüber der alten Eidgenos-

- 8 Einzig§ 14sah vor, daß "die eidgenössischenConcordateund Verkomm-riisse" seit 1803 der Tagsatzung von 1816 zur Bestätigung oder Aufhebungvorgelegtwerden sollten. .

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senschaft. Mit ihm verglichen war der deutsche Bund, gemäß seinenimmanenten Lebensgesetzen, inhaltreicher, problematischer, gefährdeter.

Eine letzte Betrachtung soll anzudeuten versuchen, was der Wortlautder Bundesinstrumente über das Föderativproblem und dessen Lösungin beiden Ländern aussagt .. Jeder dauernde Staatenverband, also auch der Staatenbund, mußfolgendes festlegen:1. den Umkreis des Bundes. Der Staatenbund bedarf eines gegen

außen abgegrenzten Territoriums.2. den Bundeszweck (oder die Bundeszwecke). Bundeszwecke können

sowohl den Interessen der Gesamtheit dienen als auch auf die Interessender Bundesglieder zurückbezogen werden; sie müssen von den Einzel-staaten gewollt, in den Einzelstaatswillen aufgenommen werden. Voraus-setzung der Bundesfähigkeit ist daher eine gewisse Verwandtschaft derArt und eine gewisse Gleichrichtung des Willens der Einzelstaaten.3. eine Organisation, die den Kollektivwillen innerhalb der Bundes-

zwecke feststellt und ausführt. Sie kann nur durch Repräsentation undDelegation der Einzelstaaten aufgebaut werden; eine von den Einzel-staaten unabhängige Zentralgewalt ist Charakteristikum des Bundes-staates.4. die Sicherung des inneren Friedens durch schiedliches Verfahren

oder richterlichen Spruch.

Die deutsche Bundesakte" bestimmt den Umkreis des Bundes (inArt. I)durch den Zusammentritt der "souveränen Fürsten und freien StädteDeutschlands", die ihre Lande in den Bund einbrachten, wobei der Kaiservon Österreich, die Könige von Preußen, von Dänemark, der Nieder-lande nur für ihre "vormals zum deutschen Reich gehörigen Besitzun-gen" Bundesteilhaber wurden. Das ehemalige Reichsgebiet wurde da-mit Bundesgebiet; die Bundesgrenze zerschnitt Staatseinheiten und zogausländische Souveräne in den Bundesbereich ein. Der schweizerischeBundesvertragl" konstituierte das Bundesgebiet (in § 1) durch die inhistorischer Reihenfolge namentlich aufgezählten souveränen Kantone.Die Bundeszwecke nennt der Bundesvertrag in seinem ersten Para-

graphen: Behauptung der Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit der

• Textausgaben: K!über Il, S. 587 ft.; W.Altmann, AusgewählteUrkundenzur deutschen Verfassungsgeschichteseit 1806, Berlin 1898,' 1. Teil, S. 9 ft.;K. Zeumer,Quellensammlungzur Geschichteder DeutschenReichsverfassunginMittelalter und Neuzeit,2.Auflage,Tübingen 1913, 2.Teil, S. 540 ft.

10 Textausgaben: Repertorium der Abschiede der eldgenösstschen Tag-satzungen aus den Jahren 1814-1848, bearbeitet von W.Fetscherin, 2 Bände,Bern 1874/76, Il, S.695 ft.; Quellenbuchzur Verfassungsgeschichteder Schwei-zerlschen Eidgenossenschaftund der Kantone von den Anfängen bis zurGegenwart, bearbeitet von H.Nabholzund P. Kläui, Aarau 1940, S. 206 if.

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Kantone gegen alle Angriffe fremder Mächte und Handhabung der Ruheund Ordnung im Innern. Im unmittelbaren Anschluß daran präzisiert

. Paragraph 2 diese Zwecke mit lapidaren Worten: Gewährleistung (vonVerfassungen und Gebiet der Kantone) und Behauptung der Neutralität(der Gesamtschweiz) und schreibt ungesäumt (§§ 2 und 3) die Leistungs-pflichten der Partner vor: die von jedem Kanton zu stellenden Truppen-kontingente bis auf den letzten Mann, die von jedem Kanton zu zahlen-den Kriegskostenbeiträge bis auf den letzten Franken. Die Bundesaktefixiert gleichfalls zu Anfang (in Art. 2) den Bundeszweck: "Erhaltungder äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängig-keit und Unverletzlichkeit der einzelnen deutschen Staaten", kommt imelften, dem letzten allgemeinen Artikel, darauf zurück, spricht selbst vonBundeskrieg, ohne doch die Machtmittel an Truppen und Geld vorzu-schreiben, greift dann aber in den "Besonderen Bestimmungen"(Art. 13-20) weit darüber hinaus zu einer zum Teil sehr detailliertenRegelung gesamtdeutscher Angelegenheiten durch den Bund, das heißtzur inneren Ordnung der Einzelstaaten von Bundeswegen: Verfassungs-vorschrift (Art.13: "In allen Bundesstaaten wird eine landständischeVerfassung stattfinden"), privilegierter Rechtsstand der mediatisierten"Häuser" und des Reichsadels in den Einzelstaaten, Renten und Pensio-nen der ehemaligen Dom- und Reichsstifter, des deutschen Ordens, derüberrheinischen Bischöfe und Geistlichen, bürgerliche und politischeRechtsstellung derchristlichen Konfessionsparteien und der Juden,Fortbestand und Ablösung des Postregals des Hauses Thurn und Taxis,"Rechte der Untertanen. Dazu soll die Bundesversammlung selbst die"Abfassung der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Ein-richtung in Rücksicht auf seine auswärtigen, militärischen und innerenVerhältnisse" besorgen (Art.10). - Die deutsche Bundesakte steckt, umvergangenheitsbelastete Differenzen zu bereinigen, zahlreichere Ziele:durch den Bund erst sollen sich die deutschen Einzelstaaten aus der Ver-gangenheit herausarbeiten, und durch das Bundesrecht sollen sie zuStabilität und konformer Ordnung geführt werden. Ob dies gelingenwerde, hing von der Leistungsfähigkeit der von den Einzelstaaten ge-bildeten Bundesorgane ab.Die Organisation, die den· Kollektivwillen innerhalb der Bundes-

zwecke zu formen und zur Geltung zu bringen hatte, war in der Schweizverhältnismäßig leicht aufzubauen, sobald und da der Bundeszweck zurHauptsache auf den Gegenstand beschränkt worden war, in dem Einig-keit sich unschwer einstellte: die abdämmende, bewahrende, neutraleAußenpolitik. Die gewohnte Instanz der Gesandtentagsatzung war zurHand; jeder Kanton begnügte sich, nach reinem Staats-Repräsen-tationsprinzip, mit einer Stimme. Ein wechselnder Vorort (Zürich, Bern,Luzem) besorgte durch seinen Bürgermeister oder Schultheissen die

Page 13: Forschungen zu Staat und Verfassung - MGH-Bibliothek · 2015. 7. 28. · zu Staat und Verfassung Festgabe fürFritzHartung DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN. WERNER NÄF Die deutsche Bundesakte

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Präsidialgeschäfte; nur "bei außerordentlichen Umständen" wurden ihmRepräsentanten kantonaler Gruppen beigegeben (§ 9). Ungleich heiklergestalteten sich die Organisationsfragen in Deutschland. Die Kornpli-kationen waren begründet in den extremen Größen- und Machtunter-schieden der Einzelstaaten, im weiteren Spielraum der Außen- undInnenpolitik des Bundes und in der fürstlich-dynastischen Darstellungder einzelstaatlichen Souveränität. Die Frage, wie die Bundesversamm-lung in engerem Rat und Plenum aufzubauen, mit Kompetenzen auszu-statten, in Abstimmungen - mit gestufter Stimmkraft - beschlußfähigzu machen sei, erfüllte vor allem andern die Kommissionsverhandlun-gen; Rang und Repräsentationsansprüche belasteten sie scheinbar über-flüssigerweise, waren aber doch Ausdruck eines geschichtlich bedingtenZustandes. Man konnte sich nur einigen, indem man Änderung derGrundgesetze, organische Bundeseinrichtungen, Iura singulorum undReligionsangelegenheiten, das heißt sozusagen alle wichtigen Anliegen,jedem Mehrheitsbeschluß entzog und damit der Zuständigkeit der Ein-, zelstaaten überließ. Die Bundeszwecke wurden dadurch faktisch äußerstreduziert. Dies lähmte das Bundesleben der Zukunft.I Die SicheTung des inneTen FTiedens schließlich ordnete der Bundes-vertrag (in § 5) durch das sorgsam geregelte, genau vorgeschriebeneVerfahren eines schiedsrichterlichen Instanzenzuges. Hierin waren dieEidgenossen erfahrene Spezialisten, und es ist bezeichnend, daß von"eidgenössischem Recht" gesprochen werden konnte, das doch in keinemRechtsbuch kodifiziert war. Die Bundesakte ihrerseits begnügte sich (imletzten Alinea von Art.lI) mit einem Versprechen, bei inneren Diffe-renzen auf Gewaltanwendung zu verzichten, und mit der summarischenAnweisung, gegebenenfalls einen Ausschuß der Bundesversammlungmit dem Vermittlungsversuch, eine "wohlgeordnete Austrägal-Instanz"mit dem Rechtsspruch zu beauftragen. .

Die Konfrontation der gleichzeitigen, aber historisch verschiedenpräjudizierten und politisch verschiedengelagertenstaatenbündlerischenOrdnungen Deutschlands und der Schweiz ermöglicht erst eine um;'fassende Interpretation von Bundesakte und Bundesvertrag; sie eröff-net, wie wir zu hoffen wagen, Ausblicke auf das Wesen föderativer'Gestaltungen überhaupt.