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Thomas Müller / Norbert Matejek (Hg.) Affektive Psychosen VANDENHOECK & RUPRECHT FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE herausgegeben von Stavros Mentzos Band 9

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Thomas Müller/Norbert Matejek (Hg.)

Affektive Psychosen

VANDENHOECK & RUPRECHT

FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE

herausgegeben von Stavros Mentzos

Band 9

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Thomas Müller/Norbert Matejek (Hg.): Affektive Psychosen

© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451106

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FORUM DER PSYCHOANALYTISCHEN PSYCHOSENTHERAPIE

Schriftenreihe des Frankfurter Psychoseprojekts e. V. (FPP)

Herausgegeben von Stavros MentzosMitherausgeber: Günter Lempa, Norbert Matejek,Thomas Müller, Alois Münch, Elisabeth Troje

Band 9: Thomas Müller/Norbert Matejek (Hg.)Affektive Psychosen

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Affektive Psychosen

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

ISBN 3-525-45110-5

© 2003 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. –http://www.vandenhoeck-ruprecht.de

Printed in Germany. – Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der

engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Fotosatz 29b, GöttingenSchrift: Walbaum

Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

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Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

p THEORIE-FORUM

Stavros MentzosDepression und Manie – Ein psychodynamisches Modell . . . . 9

Norbert MatejekOmnipotente Kontrolle in depressiven Zuständen . . . . . . . . . . 27

Frank SchwarzManische Phasen während der analytischen Psychotherapie . . 41

p KLINISCHES FORUM

Christian MaierEine andere Stimme. Anmerkungen zur Psychodynamik der Manie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Jan MalewskiDie andere Stimme besser kennen lernen? Ein Kommentar zu dem Beitrag von Christian Maier: »Eine andere Stimme« 68

Viktoria RaabeDas Dilemma der Penthesilea. Zu den Schwierigkeiten eines psychoanalytischen Zugangs zum maniformen Erleben 72

p INFORMATIONEN

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Rezensionsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Inhalt

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Die Letzte Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

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In den vergangenen Jahren wurde den affektiven Psychosen auchvon psychoanalytischer Seite wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil,galten sie doch lange Zeit psychotherapeutisch noch schwerer beein-flussbar als gewisse schizophrene Psychosen. Ablesbar ist diese er-freuliche Entwicklung nicht nur an zahlreichen theoretischen Ent-würfen und empirischen Studien, sondern auch an einer Vielzahlklinischer Arbeiten und dem Raum, den das Thema mittlerweilebei Fortbildungsveranstaltungen und Kongressen einnimmt. Dabeiblickt die psychoanalytisch orientierte Behandlung affektiver Psy-chosen auf eine lange Tradition zurück, beginnend mit den Pionier-arbeiten K. Abrahams bis zu den grundlegenden UntersuchungenE. Jacobsons. Heute gilt das Interesse den verschiedenen Facettender affektiven Psychosen: Diagnose und Differentialdiagnose ebensowie krankheitsauslösenden Lebensereignissen und dem Zusam-menwirken genetischer und psychischer Faktoren bei Ätiopathoge-nese und Verlauf. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Untersu-chung der Dynamik und Struktur, hier besonders der Versuch einerpsychodynamisch und strukturell begründeten Differentialdiagnoseunterschiedlicher Gruppen von affektiven Psychosen, um eine Ge-genposition zu den vorgeblich atheoretischen Klassifikationssyste-men ICD-10 und DSM-IV zu entwickeln. Der vorliegende Band willdieser Entwicklung Rechnung tragen und die Thematik vertiefen. Erstrebt weder eine Synopsis noch eine kritische Diskussion der For-schungsliteratur an, sondern will einzelne bedeutsame Ausschnitteder psychoanalytisch orientierten Theorie und Behandlungstechnikder affektiven Psychosen beleuchten.

Im theoretischen Teil unternimmt S. Mentzos den Versuch einerIntegration der Datenfülle aus den verschiedenen Wissenschaftsdis-ziplinen. Sein integrativer Ansatz verbindet neurobiologische, psy-

Editorial

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chodynamische und soziale (interaktionelle) Aspekte der affektivenPsychosen zu einem heuristisch fruchtbaren Modell. N. MatejeksArbeit hebt die im Unterschied zur manischen Omnipotenz eherselten thematisierte depressive Allmacht hervor. Mit einem objekt-beziehungstheoretischen Ansatz kann er in einer ausführlichen Fall-darstellung seine theoretischen Überlegungen darlegen. F. Schwarzdiskutiert Dynamik und Struktur der manischen Psychose an zweiFallbeispielen und kann die Komplexität der manischen Dynamikwie deren Entfaltung in dem Übertragungs-Gegenübertragungsge-schehen lebendig vor Augen führen. Alle Arbeiten verdeutlichen denBeitrag der Psychoanalyse zur Theorie und Behandlungstechnik af-fektiver Psychosen und machen deutlich, dass trotz aller Schwierig-keiten die psychodynamisch begründete Arbeit mit affektiven Er-krankungen einen lohnenswerten Ansatz darstellt.

Im klinischen Teil berichtet V. Raabe in einer ausführlichen Fall-vignette über die stationäre psychotherapeutische Arbeit mit einerPatientin, die an einer bipolaren Psychose litt. Der Fallbericht er-möglicht die empathische Teilnahme an der Entwicklung der unter-schiedlichen therapeutischen Phasen innerhalb des Behandlungs-settings einer psychiatrischen Station. Die Autorin sieht Parallelenzur Figur der Penthesilea aus Kleists gleichnamigen Trauerspiel. DieFalldarstellung von C. Maier über eine manische Psychose wird vonJ. Malewski diskutiert. Die klinischen Darstellungen bieten dieMöglichkeit, Konvergenzen und Divergenzen des ambulanten undstationären Behandlungssettings, ihre spezifischen Möglichkeitenund Grenzen, die Enactments und Verwicklungen sowie der Ver-such ihrer Bearbeitung zu betrachten. Rezensionen psychoanalyti-scher und psychiatrischer Neuerscheinungen, Literatur und »Dieletzte Seite« beschließen den Band.

Thomas MüllerNorbert Matejek

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Operationalisierung und Psychodynamisierung der Diagnose »Depression«

Die seit 15 bis 20 Jahren weltweit durchgesetzte und gültige deskrip-tiv-operationalisierende Definition depressiver Störungen verdanktihren triumphalen Siegeszug der Tatsache, dass sie in der Lage war,der davor herrschenden diagnostischen Beliebigkeit entgegenzutre-ten und die Reliabilität der Diagnose »Depression« erheblich zu ver-bessern. Das Festhalten an den semiquantitativ feststellbaren undmessbaren Phänomen hat sich als nützlich erwiesen.

Dafür wurden aber ätiologische, psychogenetische und insbeson-dere psychodynamische Aspekte geopfert. Die Beschäftigung mitder Psychodynamik entspricht aber keinem unnötigen und über-flüssigen Bemühen um Epiphänomenales, sondern einer dringen-den Notwendigkeit sowohl in theoretischer als auch in praktisch-klinischer Hinsicht. Denn die vielleicht zu früh gelobte bloß de-skriptiv operationalisierende Betrachtung hat zwar eine Erhöhungder Reliabilität und eine Ordnung geschaffen, jedoch auch gleich-zeitig eine erhebliche Verarmung der relevanten Inhalte, eine Ver-schlechterung der Validität und eine Reduzierung unseres Verständ-nisses über die hier zu diskutierenden Störungen mit sich gebracht.

Schon bei der psychopharmakologischen Behandlung und, frei-lich in einem viel höheren Maß, bei der psychotherapeutischen Be-gegnung mit dem Patienten hilft es dem Therapeuten wenig, eineDiagnose aufzustellen, aus der er lediglich entnehmen kann, dass essich um eine leichte oder eine schwere, eine periodische oder einechronische, eine unipolare oder bipolare Störung handelt.

Man könnte selbstverständlich versuchen, wie dies die operatio-nalisierende psychodynamische Diagnostik (OPD) tut, dieses Man-

p THEORI E-FORU M

Stavros Mentzos

Depression und Manie –Ein psychodynamisches Modell

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ko an Informationen durch entsprechende – ebenfalls operationali-sierbare – Informationen zur Psychodynamik und Psychogenese zuergänzen. Dies ist sicher ein sehr nützlicher Vorstoß. Man muss sichaber zunächst darüber einigen, welches denn hier die relevanten In-formationen sind und insbesondere wie die dahinter stehendenbewussten und unbewussten motivationalen Kräften miteinanderzusammenhängen. Ein psychodynamisches Modell, sei es auch zu-nächst nur als eine Arbeitshypothese, ist also unentbehrlich.

Wonach soll man sich aber bei der Aufstellung eines solchen Mo-dells richten? Muss es ein Modell sein, welches für alle Depressionenanwendbar und nützlich sein soll? Ist es tatsächlich möglich, die Un-zahl von Erscheinungsbildern dieser mit Sicherheit größten diag-nostischen Gruppe psychischer Störungen psychodynamisch auf ei-nen Nenner zu bringen? Können die Modelle und Hypothesen derverschiedenen Schulen integriert werden, wo doch schon innerhalbder Psychoanalyse im engeren Sinn mehrere Vorschläge und keineinheitliches Modell der Depression und der Manie existiert?

Noch mehr: Wenn ein solches umfassendes Modell möglich wäre,so müsste es eigentlich in der Lage sein, nicht nur einen großen Teilder wichtigsten Erfahrungen bei psychoanalytischen und sonstigenpsychotherapeutischen Behandlungen zu integrieren, sondern gleich-zeitig müsste es auch kompatibel mit den zahlreichen gesichertenErgebnissen der biologischen Psychiatrie, insbesondere auch derPsychopharmakologie sein.

Nun empfiehlt sich bei der Aufstellung von theoretischen Model-len, von systematischen Beobachtungen von Phänomenen und Re-gelmäßigkeiten auszugehen, welche durch ihre Konsistenz und Wie-dererkennbarkeit eine gute Grundlage bilden können und uns vorapriori gefassten Meinungen schützen.

Drei psychoanalytische Aspekte der Depression

Versuche ich nun meine in über 40 Jahren durchgeführten intensi-ven und zum Teil auch langjährigen Behandlungen von depressivenPatienten (das heißt, allen diesen klinischen Bildern, bei denen derdepressive Affekt im Vordergrund stand) aufgrund solcher sich wie-derholenden Regelmäßigkeiten und der dabei als nützlich erwiese-nen Arbeitshypothesen zur Psychodynamik zu ordnen, so fällt esauf, dass tatsächlich typische Muster auftauchen, welche sich in ei-

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nigen wenigen Gruppierungen einteilen lassen. Um konkreter zuwerden: Zwar ist die gemeinsame Klammer, also das Vorherrschendes depressiven Affekts, mehr oder weniger bei allen vorhanden, je-doch wird psychodynamisch betrachtet in einer ersten Gruppe diePsychodynamik von der Schuldproblematik, in einer anderen Grup-pe von der anaklitischen, anhänglichen Haltung und in einer drittenvon der massiven Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls beherrscht.Eine zusätzliche Gruppe, die der so genannten leeren Depression,wird durch die extreme Antriebslosigkeit charakterisiert.

Hinzu kommen dann entgegengesetzte Bilder, die deskriptiv alsmanisch zu bezeichnen sind, bei denen wiederum mal das megalo-mane, mal das hyperkinetische und das Getriebensein oder schließ-lich drittens die eklatante Vernachlässigung von Über-Ich- und Ich-Aspekten im Vordergrund stehen. In meiner Lehrtätigkeit sowohlbei den Studenten als auch bei den jüngeren Mitarbeitern der Abtei-lung Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums der Frank-furter Universität stellte mir immer wieder die Frage, wie könnteman auf eine einfache, anschauliche Weise diese Vielfalt (hinter dersich vielleicht auch eine Einheit verstecken könnte) darstellen, sodass sowohl der Anfänger als auch der Fortgeschrittene ein nütz-liches Instrument in die Hand bekäme, mit Hilfe dessen er seine Er-fahrungen in Klinik und Psychotherapie sinnvoll einordnen und so-mit auch sein Verständnis des Patienten vertiefen könnte. Ausdiesem Bedürfnis und der Suche heraus entstand eines Tages das,was ich das Drei-Säulen-Modell der Selbstwertregulation genannthabe (Mentzos 1995) und das weiter unten beschrieben wird.

Eine historische Zwischenbemerkung

Versucht man die in den letzten 90 Jahren innerhalb der Psychoana-lyse formulierten, relativ gut begründeten Hypothesen zur Psycho-dynamik der Depression in eine gewisse Systematik darzustellen, somerkt man, dass im Wesentlichen einer von drei Aspekten zu ver-schiedenen Zeiten von verschiedenen Autoren in den Vordergrundgestellt wurde: – Ein Objektverlust, eine schwerwiegende Trennung sowie die

kompensatorische, pathologische Introjektion (Einverleibung)des sogenannten Objekts und ihre Folgen; dies sind die Stichwör-ter, mit denen man die ursprüngliche Position Freuds (1917) be-

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schreiben kann. Nicht sehr weit davon entfernt findet man aberdie von Bowlby (1987) unterstrichene und hervorgehobene Be-deutung der affektiven Bindung und ihrer Unterbrechung. Auchnoch spätere ethologische Untersuchungen bei Schimpansenkin-dern, welche ihre Mutter von einem bestimmten Reifungsstadi-um an verloren, sowie schließlich Tierexperimente bei jungenTieren, die von der Mutter, wenn auch nur für eine kurze Zeit, ineinem sehr frühen Stadium getrennt wurden (vgl. u. a. Kandel1999), sind nachträgliche empirische Bestätigungen der ursprüng-lichen freudschen Annahme über die Bedeutung von Verlustenund Trennungen für die spätere Depression.

– Einen anderen Gesichtspunkt hat schon früher Abraham (1912)hervorgehoben, indem er auf die Rolle der Aggressionshemmungbei der Entstehung der Depression aufmerksam machte. In derNähe dieser Thematik und Problematik liegen auch die Annah-men von Rado (1928), der sehr überzeugend zeigte, dass frühe Er-fahrungen des Kindes mit der Sequenz Schuld – Buße – Verzei-hung sich als zentrales Muster innerhalb der Depressionsdynamikwiederholen. Auch Melanie Klein hatte Arbeitshypothesen kre-iert, die die Rolle der Aggression besonders in den Vordergrundstellten (Todestrieb- und Libido-Konflikt, Neid, Schuld bei nichtgelungener Internalisierung des guten Objekts, depressive Positi-on). In dieser Gruppe von psychodynamischen Annahmen ge-hört auch der primäre Masochismus nach Freud (1920) oder vielspäter dann die Über-Ich-Depression nach Benedetti (1987).

– Die Störung der Selbstwertgefühlsregulation (also der dritte Ge-sichtspunkt) ist zwar schon durch Freud berücksichtigt, jedocherst durch Bibring (1953) als die zentrale Achse des depressivenSyndroms beschrieben; Sandler und Joffe (1965) oder Kohut undWolf (1980) (mangelhafte Spiegelung des Kindes) haben ebenfallsdie Selbstwertigkeit und ihre Gefährdung oder Störung als einender Hauptbestandteile der depressiven Psychodynamik hervorge-hoben.

Drei Bereiche scheinen also für die Psychodynamik der Depression(übrigens auch der Manie!) maßgebend: der Objektverlust oderauch die fehlende oder mangelhafte oder zusammenbrechende Bin-dung zum Objekt, zweitens die Unterwerfung unter ein überstrengesÜber-Ich (zusammen mit einer übernormierten Leistungsbezogen-heit) und drittens, die mangelhafte oder nachträglich erschütterte

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Selbstwertgefühlregulation, der Zusammenbruch des narzisstischenGleichgewichts.

Der gemeinsame Nenner all dieser doch unterscheidbaren Psy-chodynamiken ist der depressive Affekt, der eindeutig von der Trau-er zu unterscheiden ist. Wie schon Freud bemerkt hat, findet manzwischen den beiden viele Ähnlichkeiten, aber in einem Punkt un-terscheiden sie sich wesentlich: Bei der Trauer stellt man keine Be-einträchtigung des Selbstwertgefühls fest. Im Gegensatz zur Trauerwird der depressive Affekt von einer Herabsetzung des Selbstwertge-fühls begleitet.

Der depressive Affekt ist aber noch nicht die vollständige klinischmanifeste Depression. Er ist wie alle Affekte an erster Stelle ein Sig-nal, er signalisiert Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit auf-grund eines herabgesetzten Selbstwertgefühls oder drohenden Still-stands zukunftsbezogener und zukunftsorientierter kognitiver undemotionaler Prozesse, was im bewussten Erleben als Denkhemmungund Antriebsarmut und insbesondere als eine Gefühlsleere (Gefühlder Gefühllosigkeit) erlebt wird. Ein Teil dieser Symptome kannauch als zunächst gut gemeinte Schutzmechanismen gegen den un-erträglichen Schmerz des Objektverlusts und insbesondere gegen dieScham durch die massive Reduzierung des Selbstwertgefühls, derdrohenden Selbstwertlosigkeit verstanden werden.

Drei Circuli vitiosi in der Depression

Diese Schutzmechanismen erweisen sich aber meistens als Bume-rang, weil sie fast zwangsläufig in zumindest drei verhängnisvolleCirculi vitiosi einmünden: – Der zunächst als Schutz von neuen Reizen und neuen Frustratio-

nen und neuen Schmerzzufügungen gedachte Rückzug vom sozi-alen Feld wirkt sich nur zunächst als eine gewisse Erleichterungund Beruhigung, jedoch danach sehr ungünstig aus: Durch ihnentfällt nämlich für den Patienten jene, auch für uns alle sehr not-wendige, tägliche narzisstische Zufuhr mittels der Bestätigungdurch die Umgebung. Es fehlt auch die Befriedigung und Selbst-und Fremdanerkennung durch die Arbeitsleistung. Psychoöko-nomisch handelt es sich also um einen für die narzisstische Ho-möostase sehr ungünstigen Prozess, der zu einer Verschlechterungführt.

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– Der zunächst verständliche Versuch des Patienten, den erlittenenrealen oder symbolischen Objektverlust durch umso stärkere An-klammerung oder Vereinnahmung der zur Verfügung stehendenErsatzobjekte zu kompensieren, führt ebenfalls zu einem Circulusvitiosus. Entweder wehren sich diese Bezugspersonen auf dieDauer gegen eine solche totale Vereinnahmung und erzeugen so-mit beim Patienten eine erneute Frustration. Oder sie sind, wiedas primäre Objekt selbst, ebenfalls stark ambivalent besetzt underzeugen deswegen bald nach ihrer Vereinnahmung intrapsychi-sche Komplikationen, sie werden nicht nur geliebt, sondern auchgehasst, es entstehen keine stabilisierenden vertraulichen, son-dern problematische spannungsreiche Beziehungen, die den Pati-enten zusätzlich belasten.

– Der Patient versucht die sowohl ursprüngliche als auch die nach-träglich entstehende Frustrationsaggression zu unterdrücken, umdie Zuwendung, die Liebe des Objekts und das Wohlwollen desÜber-Ich aufrechtzuerhalten. Dieser Verzicht auf Aggressionsent-ladung oder auf Durchsetzung legitimer Selbstansprüche sowieder Verzicht auf Befriedigung normaler Selbstautonomiebedürf-nisse führt zu einer noch stärkeren Aggression, die aber ebenfallsunterdrückt werden muss. Dadurch ist der dritte Circulus vitio-sus hergestellt.

Ich kehre auf die oben geschilderte, ebenfalls dreiteilige Psychody-namik der Depression zurück, welche sowohl in der Geschichte derEntwicklung der psychoanalytischen Theorie der Depression im 20.Jahrhundert als auch im psychotherapeutischen Alltag und Umgangmit den depressiven Patienten immer wieder anzutreffen ist. Es gehterstens um den Mangel an primärer positiver Selbsteinschätzung inZusammenhang mit einer mangelhaften Spiegelung in der frühes-ten Kindheit und danach. Es geht zweitens um den Mangel oder dasFehlen eines vorwiegend »guten« internalisierten Objekts. Drittenshandelt es sich um eine Über-Ich-Problematik. Das Über-Ich iststreng rigid geworden und geblieben. Man kann somit erstens voneiner Problematik im Bereich des Ideal-Selbst, zweitens im Bereichdes Ideal-Objekts und drittens im Bereich des Über-Ich sprechen.Von Fall zu Fall überwiegt das eine oder das andere beim konkretendepressiven Patienten, wenn auch meistens alle drei Bereiche invol-viert sind.

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Das Drei-Säulen-Modell

Um diese komplizierten Zusammenhänge übersichtlich und an-schaulich, insbesondere auch für Nicht-Psychoanalytiker, darzustel-len, benutzte ich das Konzept des Drei-Säulen-Modells, das sich inden letzten Jahren sowohl in der Praxis als auch in der Theorie zumVerständnis des konkreten Falls, aber auch in der Kommunikationzwischen den Experten als sehr nützlich erwiesen hat. Dieser Tri-pous, dieser Dreifuß, besitzt drei Säulen, welche eine Ebene tragen.Letztere repräsentiert das narzisstische Gleichgewicht, die narzissti-sche Homöostase, und soll im günstigen Fall stabil und waagrechtauf den drei Säulen ruhen (s. Abb. 1).

Die erste Säule (von rechts nach links gezählt) repräsentiert jenesaus der körperlichen und seelischen Integrität, Lebendigkeit, Funk-

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tionalität direkt und unvermittelt entstehende Selbstwertgefühl,welches von Anfang an maßgebend durch die wohlwollende, schät-zende oder sogar bewundernde Betrachtung von außen gefestigtund weiter entwickelt wird (Stichwörter: positive Spiegelung oderder »Glanz in den Augen der Mutter« bei Kohut). Diese Erfahrun-gen und ihre Niederschläge sowie das Größen-Selbst und die Grö-ßenphantasien als vorübergehend hilfreiche Strukturen (repräsen-tiert in den unteren Teilen der ersten Säule) entwickeln sich späterzu einem realitätsangemessenen Ideal-Selbst und ermöglichen eingesundes Selbstvertrauen. Schwere Kränkungen, Demütigungen,Misserfolge, Versagen, aber auch körperliche Mängel, schwere kör-perliche Verletzungen, Amputationen, krankheits- oder alters-bedingte Schwächen führen zu gravierenden Erschütterungen desSelbstwertgefühls durch Beeinträchtigung der Statik dieser tragen-den Säule, insbesondere dann, wenn solche Belastungen auf einerentwicklungspsychologisch bedingten Brüchigkeit dieser Säule tref-fen. Man merkt schon hier einen wichtigen Vorteil dieses Modells:Obwohl es zunächst und primär psychoanalytisch orientiert ist undsomit vorwiegend die durch einen Konflikt oder durch negative Be-ziehungserfahrungen bedingte Störungen berücksichtigt, kann esgleichzeitig auch andere, durch Lebensschicksale hervorgerufeneErschütterungen erfassen, die erwiesenermaßen auch zur Depressi-on führen.

Die zweite Säule repräsentiert die bedeutsame Stütze des narziss-tischen Gleichgewichts durch die Anwesenheit und Nähe einer bin-denden Beziehung zum Objekt, und zwar unabhängig von der Spie-gelung und Bewunderung (erste Säule). Hier geht es also zunächstum Symbiose, später um partizipierende Teilnahme an der Größe,Güte und Stabilität des zeitweise auch idealisierten Objekts (zu-nächst Eltern, später auch andere). Es geht um Festigung der Wer-tigkeit des Selbst durch Identifikation in den aufeinander folgendenOrganisationsstufen in immer reiferen Formen. Während also imBereich der ersten Säule es das Kind ist, das bewundert wird, kommtes umgekehrt im Bereich der zweiten Säule zu einem Bewundert-werden der Eltern und der Leitbilder durch das Kind. Im günstigenFall resultiert hier ein realitätsgerechtes Idealobjekt oder, anders aus-gedrückt, ein internalisiertes gutes Objekt. Ich komme noch daraufzurück.

Die dritte Säule repräsentiert das Über-Ich. Hier steht die Erfül-lung von Geboten und Verboten sowie die leistungsbezogene Stabi-

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lisierung der narzisstischen Homöostase im Vordergrund. Die Ent-wicklung dieses Systems beginnt mit dem archaischen Über-Ich underfährt unter günstigen Bedingungen eine Reifung bis zum regel-rechten Gewissen.

Exkurs: Die zentrale Bedeutung des internalisierten Objekts

Die Stabilität und Funktionalität jeder der drei Säulen ist zwar auchvon der Zufuhr von außen, also von der Zuwendung und Bewunde-rung, vom empathischen Begleiten und Getragenwerden und vonder Anerkennung durch wichtige Bezugspersonen und überhauptvom psychosozialen Feld abhängig. Dennoch besitzt offensichtlichdas internalisierte Objekt einen noch höheren Stellenwert. Von des-sen Qualität hängt es nämlich ab, ob die naturgemäß immer wiedervorkommenden Erschütterungen und vorübergehenden Schwächender in den einzelnen Säulen repräsentierten Funktionen kompen-siert werden können oder nicht. So lange ein Mensch in der Lage ist,nach einem großen Misserfolg und einem großen Verlust oder bei(subjektiv oder objektiv) grob falschem Verhalten sich selbst zustützten und trösten – das ist ja, was das »gute« internalisierte Ob-jekt leistet! –, ist die Gefahr einer depressiven Dekompensation sehrgering. Diese psychodynamische Hypothese vermag zu erklären,warum dieselben Enttäuschungen, Niederlagen, Verluste und das-selbe Verlassenwerden trotz der jeweils potentiell implizierten Er-schütterungen keineswegs bei allen Menschen zu einer Depressionführen. Verfügt aber der Betroffene über kein solches gutes interna-lisiertes Objekt, welches ja auf überwiegend günstige Beziehungser-fahrungen beruht, so ist die Gefahr einer depressiven Dekompensa-tion gegeben. Der depressive Affekt drückt diese intrapsychischeSituation aus und mobilisiert dadurch die entsprechenden Abwehr-,Schutz- und Kompensationsmechanismen. Die drei Säulen des Mo-dells repräsentieren übrigens nicht nur die verschiedenen Arten desVersagens, der Dysfunktionalität bei der Aufrechterhaltung des nar-zisstischen Gleichgewichts, sondern gleichzeitig auch die jeweils da-zu gehörigen Abwehr- und Schutzmechanismen. So kann ein dro-hender Zusammenbruch des natürlichen Selbstvertrauens, also einVersagen der ersten Säule unter bestimmten psychosozialen, aberwahrscheinlich auch biologischen Bedingungen mittels einer künst-lichen Aufblähung, einer regressiven Aktivierung von Größenphan-

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tasien und dann auch des Größen-Selbst überkompensiert werden.Klinisch entspricht dies dem Bild der Manie. Und so kann es in derzweiten Säule zur Aktivierung einer übertriebenen Abhängigkeitund Anhänglichkeit kommen oder umgekehrt zu einer Pseudo-Un-abhängigkeit, mit vorgetäuschter Verachtung des Objekts und seinerBedeutung. Und so kann es drittens in der dritten Säule zu einer pa-thologischen Aktivierung des archaischen, überstrengen Über-Ichund zur Unterwerfung unter das Über-Ich kommen, was dem Bildder Schulddepression entspricht. Dem geht meistens eine Phase derübertriebenen Leistungsbezogenheit voraus, die auch lebenslang an-dauern kann. Es gibt häufig Menschen, die über sehr lange Zeit De-fizite innerhalb der Thematik dieser Säule, aber insbesondere auchDefizite, die die Bedürfnisse der ersten und zweiten Säule betreffen,einigermaßen dadurch kompensieren, dass sie übertrieben viel arbei-ten, viel leisten und sich Vorgesetzten oder überhaupt Elternfigurengegenüber unterwürfig verhalten (dies sind alle Abwehrmechanis-men, die in der dritten Säule repräsentiert werden). Diese Menschenwerden erst dann manifest depressiv, wenn diese Kompensationennicht mehr ausreichen.

Der depressive Konflikt

Trotz der vielen Vorzüge hat das Drei-Säulen-Modell auch Nachtei-le. Einer davon ist, dass es die maßgebenden Konflikte, die ja sehrhäufig ursächlich bei der Erschütterung der drei Säulen involviertsind, nicht direkt und differenziert genug erfasst. Würde man nurdas Drei-Säulen-Modell bei der psychodynamischen Analyse derDepressionen zugrunde legen, so würde man den falschen Eindruckgewinnen, als beruhten Depressionen nur auf einen Mangel, einFehlen von Zuwendung, von Bindung, von Liebe, von Anerkennungin der frühesten Entwicklung und auch später. In Wirklichkeit ist je-doch die Psychogenese und Psychodynamik der Depressionen vielkomplizierter. Vielfach, wenn auch keineswegs immer, sind es tiefergehende Konflikte – meistens unbewusste Konflikte –, die bei derEntstehung der erwähnten Erschütterungen der drei Säulen undauch bei der Entstehung der ebenfalls erwähnten drei Circuli vitiosimaßgebend involviert sind. Wie schon erwähnt, steht zwar keines-wegs bei allen Depressionen ein Konflikt im Hintergrund (das istgerade ein Vorteil des Modells, dass auch nicht konfliktbedingte De-

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pressionen mit erfasst). Dennoch ist dies sehr oft der Fall. Um wasfür Konflikte handelt es sich? Könnte man einen zentralen, einenspezifisch depressiven Konflikt angeben?

Die Frage kann positiv beantwortet werden, wenn man die The-matik des depressiven Konflikts in den geeigneten größeren Bezugs-rahmen setzt und ihn insbesondere auch im Vergleich und in Ab-grenzung zum schizophrenen Konflikt, besser gesagt Dilemma,betrachtet. Das Problem des Schizophrenen ist die Aufrechterhal-tung seiner Selbstidentität und Autonomie, die Aufrechterhaltungseiner Ich-Grenzen trotz des (eigentlich natürlichen, vorgegebenen)eminent großen Sogs und der Sehnsucht nach dem Objekt, nach derVereinigung und Bindung mit dem Objekt. Diese eigentlich natürli-che universelle Bipolarität ist normalerweise dialektisch zu über-winden, sie ist nicht pathologisch, im Gegenteil, sie stellt die Vor-aussetzung für eine lebendige und dynamische Entwicklung dar.Unter bestimmten psychosozialen und biologischen Bedingungenist jedoch eine solche Integration nicht möglich, es entsteht ein star-res, unüberwindbares Dilemma: Identität versus Fusion.

Anders bei dem depressiven oder dem manisch-depressiven Pati-enten: Sein Problem ist die Aufrechterhaltung einer autonomenSelbstwertigkeit und Selbstachtung, und dies trotz der ebenfalls in-tensiven emotionalen Abhängigkeit vom Objekt, also von der Be-wunderung, Anerkennung und Liebe, die er vom Objekt braucht.Auch diese Bipolarität ist eine natürlich und allgemein vorgegebeneund kann ebenfalls unter normalen Bedingungen dialektisch infruchtbarer und schöpferischer Weise überwunden werden. Unterbestimmten psychosozialen und biologischen Bedingungen erstarrtjedoch dieser Gegensatz zu einem unüberwindlichen Dilemma. DerPatient neigt nun zu einer pathologischen Pseudolösung: Entwederentwickelt er eine manische oder sonstige Pseudounabhängigkeitvom Objekt bei erheblicher künstlicher Selbstüberhöhung (Manie).Oder er gerät umgekehrt, und viel häufiger, in die Depression: Unter-werfung, Selbstanklage, Selbstverkleinerung, kindliche Anhänglich-keit und Unselbständigkeit, Blockierung aller Gefühle (entspre-chend: Schulddepression, anaklitische Depression, leere Depression).Dass dieser Konflikt, dieses Dilemma oft eine sehr starke aggressiveKomponente und Dimension erhält, haben wir schon bei der Schil-derung der Circuli vitiosi erläutert. Das Zurückstellen der eigenenSelbstwertigkeit, um das Objekt nicht zu verlieren, erzeugt Aggressi-on, so dass vielfach der hier entstehende Konflikt sich in einer auf-

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begehrenden aggressiven Selbstbehauptung mit manchmal fastmörderischen Phantasien manifestiert – und das gerade gegen einObjekt, das man am meisten nötig hat (und am meisten liebt undvon dem er geliebt werden möchte). Diese häufige und zentrale, un-bewusste, aber oft auch bewusste Aggressivität in der Dynamik derDepression hat dazu geführt, dass viele Psychoanalytiker die Aggres-sivität und ihre Unterdrückung als den Grund der Depression ange-sehen haben. Ich glaube, dass dies nicht richtig ist. Nach dem bisjetzt Dargestellten ist es offensichtlich, dass diese sehr häufige undeminent wichtige Aggression trotzdem nur ein sekundäres Phäno-men ist. Sie begleitet oft den Höhepunkt in dem zentralen Konfliktzwischen einer autonomen Selbstwertigkeit und einer vom Objektabsolut abhängigen Wertigkeit. Sie ist die verständliche Reaktion aufdiese Unterdrückung der eigenen Autonomie. Diese Einsicht ist vonsehr großer praktischer Relevanz: Weil wenn man die Depressionfälschlicherweise auf die Unterdrückung einer primären Aggressionzurückführt, gerät man als Therapeut in die irrige Vorstellung undin die gefährliche Versuchung, therapeutisch eine verstärkte Aggres-sionsentladung zu unterstützen oder sogar zu empfehlen! Dies magzwar tatsächlich gelegentlich bei aufgestauter Aggression von einemgewissen Nutzen sein, es dient jedoch nicht der Lösung des Konf-likts. Es führt den Patienten weg von der Einsicht in den wesentli-chen Kern des Konflikts und der hier implizierten Ambivalenz, ei-nem sowohl gehassten, aber auch geliebten Objekt gegenüber.

Es mag sein, dass die Bearbeitung des depressiven Konflikts unteranderem auch von der Aufhebung von Aggressionshemmungen be-gleitet wird, die bis dahin aus Angst vor dem Über-Ich und ausAngst vor dem Verlust des Objekts bestanden hatten. In diesem Fallwürden wir freilich die Aufhebung der Aggressionshemmung als ei-nen positiv zu beurteilenden Indikator für eine Lockerung, für einebeginnende Lösung des Dilemmas begrüßen. Wir sollten aber dieaggressive Entladung nicht künstlich herbeiführen oder suggerierenwollen, in der Annahme, dass dadurch die Depression aufzuhebenwäre. Die Praxis zeigt, dass eine solche absichtlich verordnete Ag-gressivität (wie früher bei den Encounter-Groups) keineswegs the-rapeutisch wirksam ist. Im Gegenteil, sie verhindert die hier erfor-derliche Trauerarbeit über die Schicksale oder auch die Besonder-heiten der primären Bezugsobjekte, die eine glückliche dialektischeAufhebung des Konflikts verhindert haben. Erst durch die neue Be-ziehungserfahrung des Patienten innerhalb der Therapie und erst

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durch die empathische Begleitung bei dem Prozess der notwendigenTrauerarbeit ist es zu erhoffen, dass die sonst meistens sich immerwiederholende Reinszenierung des alten Konflikts in den späterenBeziehungen im Erwachsenenleben des Patienten seltener wird oderauch in günstigen Fällen aufhört – und damit auch die Neigung zuimmer neuen depressiven Dekompensationen.

Das Modell ist kompatibel mit den Ergebnissen der Hirnforschung

Das geschilderte psychodynamische Modell steht nicht im Gegen-satz zu den neuesten Ergebnissen der Gehirnforschung bei affekti-ven Störungen und auch nicht zu den Erfolgen der Psychopharma-kologie mit der Anwendung von Antidepressiva. Erstens gibt esoffensichtlich bestimmte biologisch vorgegebene Vulnerabilitätenoder Übersensibilitäten, die die Entstehung der geschilderten Kon-flikte und sonstige Brüchigkeiten auf allen drei Säulen mitbedingen.Noch wichtiger erscheint mir aber die Tatsache (und das wissen wir,seitdem wir durch die Hirnforschung von der Plastizität des Gehirnserfahren konnten), dass die enorme intrapsychische Spannung, un-ter der die Patienten mit den geschilderten Konflikten über Jahrehindurch leben, nicht ohne Folgen bleiben für das Stresshormon-system und für die weiteren neuronalen Systeme, die für die Funkti-on der Affektivität zuständig sind. Die Antidepressiva wirken nichtdirekt gegen die geschilderten psychischen Konstellationen, sie kön-nen aber offenbar sowohl die vorgegebene Übersensibilität undÜbererregbarkeit des limbischen Systems als auch die späteren zu-sätzlichen psychosomatisch erzeugten Vulnerabilitäten und Über-erregbarkeiten günstig – im Sinne einer selektiven Dämpfung oderAnregung – beeinflussen, so dass sie dem Ich Zeit und die Möglich-keit geben, positive, kognitive und affektive Bereiche zu mobilisie-ren und zu aktivieren, die der Depression entgegenwirken. Ich kannmir kaum vorstellen, dass die Antidepressiva (dasselbe gilt auch fürdie Neuroleptika) direkt gegen solch hoch komplizierte und diffe-renzierte Prozesse wie ein Schuldgefühl, ein Versündigungswahn, ei-ne Unterwerfungstendenz dem Objekt gegenüber etwas anrichtenkönnen. Auch wenn wir annehmen müssen, dass diese hochdiffe-renzierten Prozesse ihre zerebrale Entsprechung haben, so ist eshöchst unwahrscheinlich, dass die Antidepressiva auf dieser höhe-

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ren Ebene direkt wirksam werden. Viel wahrscheinlicher ist es, dassdie Psychopharmaka auf einer elementaren Ebene der Hirntätigkeittherapeutisch relevant werden: einmal durch die Dämpfung des be-wusst erlebten depressiven Affekts (oder auch anderer Affekte undGefühle wie Angst, Wut, Schuld, Scham) und zum Zweiten durch ei-ne selektive Anregung (etwa durch Auffüllung der im Lauf langerStressreaktion entleerten Serotonin-Speicher). In allen Fällen gehtes um eine Beeinflussung der elementaren zerebralen Voraussetzun-gen des affektiven Erlebens (vgl. auch Nemeroff 1998 und Böker2002).

Differentialdiagnose zwischen Major und Minor Depression

Je mehr solche zerebralen Faktoren im konkreten Fall einer Depres-sion beteiligt sind, desto mehr kann man vermuten, dass es sich umeine der früher endogen, heute Major genannten Depressionen han-delt. Dennoch, das Drei-Säulen-Modell erlaubt auch schon auf derpsychopathologischen Ebene eine solche Differentialdiagnostik. Eseignet sich nämlich zu dieser Unterscheidung zwischen Major (en-dogen, psychotisch) und Minor (Dysthymia, neurotische, reaktive)Depression: Man kann als Faustregel davon ausgehen, dass bei derersten Form, also bei der schweren Depression, die in der unterenHälfte aller drei Säulen repräsentierten unreifen Abwehr- und Kom-pensationsmechanismen mobilisiert werden, während bei denleichteren (neurotischen) die Mechanismen aus der oberen Hälftealler Säulen relevant werden. Dagegen sind die in der jeweiligenSäule repräsentierten und eine Depression mitbedingenden Kon-flikte, Traumata, Mängel qualitativ in etwa dieselben bei beidenGruppen.

Die Manie als eine Alternativlösung des depressiven Konflikts

Das Erscheinungsbild der Manie ist so eindeutig, konsistent undeindrucksvoll, dass es auch für den Nichtfachmann leicht zu erken-nen ist: Die auffällig gehobene (meistens heitere, gelegentlich aberauch gereizte) Stimmung, der vermehrte Bewegungs- und Rede-

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drang, die Beschleunigung und Lockerung der Assoziationen bis hinzur Ideenflucht, die Enthemmung, das verminderte Schlafbedürfnisund die unaufhörliche Betriebsamkeit sind einige der wichtigen for-malen Charakteristika. Inhaltlich steht eine maßlose Selbstüber-schätzung, ein Überoptimismus, ein spielerischer und bagatellisie-render Umgang mit Problemen sowie eine massive Verleugnung derinneren und äußeren Realität im Vordergrund. Die Selbstüberschät-zung entwickelt sich gelegentlich zu einem regelrechten Größen-wahn (Megalomanie).

So eindeutig das Erscheinungsbild der Manie ist, so unklar undstrittig sind jedoch die Ansichten über seine Verursachung und seinePsychodynamik. Warum, bei welchen Menschen und unter welchenBedingungen treten solche manischen Zustände auf? Handelt essich um eine primär körperliche Hirnfunktionsstörung, vergleich-bar etwa mit der Enthemmung, plumpen Geselligkeit und Heiter-keit sowie Erregung zu Beginn eines Alkoholrausches (somato-psy-chische Verursachung)? Oder verhält es sich umgekehrt so, dassbestimmte Erlebnisse (Auslöser) zu solch intensiven Gefühlsregun-gen führen, die ihrerseits eine eigene Dynamik entwickeln und nacheigener Gesetzmäßigkeit mit sekundärer Mobilisierung bestimmterneuronaler Strukturen verlaufen (psycho-somatische Verursachung)?

Das bemerkenswerte an der Manie ist, dass es sich bei den keines-wegs seltenen Fällen, bei denen wir einen »Auslöser« feststellen,nicht um ein freudiges, lustvolles, das eigene Selbstwertgefühl erhö-hendes, triumphales Erlebnis oder Ereignis handelt, sondern umge-kehrt um schmerzliche Verluste, Trennungen und insbesondere dasSelbstwertgefühl und seine Regulation erschütternde Anlässe. Wirstehen also vor dem Rätsel, dass diese Auslöser, sofern sie vorhandenoder identifizierbar sind, ziemlich genau dieselben sind wie diejeni-gen, die eine Depression auslösen! Unabhängig von dieser den Aus-löser betreffende Frage ist es eine bemerkenswerte Feststellung, dassDepression und Manie zu einem großen Teil zusammengehören.Diese seit Jahrhunderten vermutete und spätestens seit Kraepelinauch statistisch gesicherte Zusammengehörigkeit gibt uns also Rät-sel auf, welche zu gegensätzlichen Antworten, Hypothesen und The-orien geführt haben.– Manie als antidepressiver Abwehrmechanismus: Angesichts der ge-

schilderten Fragestellung hat in der Psychoanalyse ziemlich frühdie Vorstellung an Überzeugung gewonnen, dass es sich bei derManie um eine Abwehr, um eine Verleugnung der Depression

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und des in ihr implizierten seelischen Schmerzes, der Kränkungund Erniedrigung, Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit handelt.Eine solche Hypothese vermag selbstverständlich sehr gut dieFrage beantworten, warum denn manische Phasen, sofern sieausgelöst werden, nicht durch positive freudige, sondern umge-kehrt durch schmerzliche, kränkende, bedrückende Ereignisse er-zeugt werden.

Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit psychotherapeuti-schen Behandlungen von manisch-depressiven Patienten meine ichaber, dass die Manie viel mehr als das ist und dass man sie unter-schätzt, wenn man hier nur die Funktion der antidepressiven Ab-wehr berücksichtigt.

– Manie als eine Alternativlösung: Man kann die Psychodynamikder Manie in der Gegenüberstellung mit der Depression etwas an-ders, als eben geschehen, begreifen. Beide können als gleichsam»pathologische« Notlösungen desselben Problems betrachtetwerden. Das Vorgehen ist aber ein diametral entgegengesetztes:Der Depressive versucht, die unerträgliche Spannung zwischen(natürlicher) Abhängigkeit vom Objekt einerseits und (ebenfallsnatürlicher) selbständiger Wertigkeit seines Selbst andererseits –denn darum geht es – durch eine totale Unterwerfung unter dasObjekt, durch eine überangepasste Anstrengung und Leistung so-wie durch einen Verzicht auf selbständige Ich-Aktivität, Behaup-tung und Expansion zu lindern. Der manische Patient dagegenversucht, dasselbe Problem durch eine ebenfalls extreme Aufkün-digung des Gehorsams, eine Flucht nach vorn, eine Verleugnungder natürlichen Abhängigkeitswünsche und gleichzeitig durch ei-ne expansive Ich-bezogene Aktivität ohne Rücksicht auf Normenund Realitäten zu lösen.

Die Auffassung der Manie als eines alternativen Modus der Kon-fliktlösung erscheint mir nicht nur theoretisch treffender, sondernauch praktisch und therapeutisch relevanter. Es ist nämlich thera-peutisch günstig, wenn die Patienten spüren, dass der Therapeut ihrErleben nicht nur als ein Ablenkungsmanöver, als eine Flucht undeine Verleugnung, sondern auch als etwas Positives versteht: dass esalso großen Muts bedarf, um das »Über-Ich über Bord zu werfen«(S. Freud über die Manie) und dass die Aufkündigung des langjähri-

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gen Gehorsams und der chronischen Selbsteinschränkung wohl be-rechtigt, wenn auch gefährlich ist.

Man darf sich allerdings nicht zum Missverständnis verleiten las-sen, Manien seien psychosozial vollständig zu erfassende befreiende»Revolutionen« und Depressionen resignative Unterwerfungen un-ter das unausweichliche äußere Schicksal oder bestehende Machtver-hältnisse. Hier (bei der Manie und der Depression) geht es in ersterLinie um einen innerseelischen, individuellen Konflikt. Außerdem:Bei weitem nicht alle Menschen mit einer auf diese Weise entstande-nen Problematik entwickeln eine klinisch relevante Depression oderManie. Hierzu bedarf es zusätzlich einer entsprechenden Prädispo-sition, welche im Fall der affektiven Psychosen eine Labilisierungund eine Tendenz zu überschießenden Schwankungen derjenigenneuronalen Systeme des Gehirns impliziert, die Stimmung und An-trieb sowie ihre Regulation mitbestimmen. Ob diese Prädispositionallein in einer vorgegebenen biologischen Vulnerabilität – vielleichtauch nur Sensibilität – besteht oder ob sie auch (oder überwiegend)eine durch psychosoziale Einwirkungen (früher Erfahrungen) psy-chosomatisch entstandene Labilisierung und Bereitschaft zu extre-men Reaktionen dieser neuronalen Systeme ist, kann heute nochnicht endgültig beantwortet werden. Vieles spricht auf jeden Fall da-für, dass es sich bei den früher so genannten endogenen Psychosen,somit auch bei den affektiven Psychosen, um »Psychosomatosen desGehirns« (Mentzos 2000) handelt, also Erkrankungen, welche zwareine primäre biologische Bereitschaft voraussetzen, die jedoch meis-tens erst durch die beschriebenen und psychosozial entstandenendilemmatischen Konstellationen unter Umständen zur Manifestati-on der Depression oder der Manie gelangen. (Weiterführende Lite-ratur, insbesondere auch die Therapie betreffend, siehe Schwarz u.Maier 2001 und Böker u. Hell 2002.)

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