FPhänomenologie Der Möglichkeit

download FPhänomenologie Der Möglichkeit

of 121

description

rancisco de Lara

Transcript of FPhänomenologie Der Möglichkeit

  • Francisco de Lara

    Phnomenologie der Mglichkeit

    ALBER THESENA

  • Diese Arbeit versteht sich als Teil eines Forschungsprojekts, dessenallgemeines Ziel die Erhellung der leitenden Selbstverstndigungs-modi der heutigen kontinentalen Philosophie ist. Sie geht davon aus,dass jene Modi ihre Wurzeln im heideggerschen Denken finden, ins-besondere in seiner Bestimmung der Philosophie als Hermeneutikdes faktischen Lebens. Konkretes Ziel des Buches ist daher die Expli-kation und ausfhrliche Entfaltung dieser Idee der Philosophie. Dererste Teil des Werkes zeigt, wie Heidegger das faktische Leben cha-rakterisiert und wie Philosophie aus und in diesem Leben entsteht.Der zweite Teil befasst sich mit den Grundelementen der so ent-standenen Philosophie. Da dies zeigt, wie Philosophie fr Heideggerverfhrt, macht dies den Hauptteil der Arbeit aus. Der dritte Teilzeigt schlielich, dass das im ersten Teil charakterisierte Leben ei-gentlich schon das Ergebnis einer methodischen Auslegung diesesLebens ausmachte, deren Art undWeise im zweiten Teil gezeigt wur-de. Damit wird klar, dass die Grundcharaktere des Lebens keine ob-jektiven Eigenschaften, sondern Weisen der philosophischen Selbst-verstndigung desselben und demnach immer als zu vollziehendeMglichkeiten zu fassen sind. Daher wird das in der Arbeit entfaltetePhilosophieverstndnis abschlieend als eine Phnomenologie desMglichseins bezeichnet.

    Der Autor:

    Francisco de Lara Lpez (1974 in Madrid geboren). Studium der Phi-losophie an der Universitt Barcelona. Promotion an den Universi-tten Freiburg und Autnoma de Madrid (2006). Grnder und He-rausgeber der Internationalen Zeitschrift fr Phnomenologie undHermeneutik ALEA. Zur Zeit Gastprofessor an der Universidad In-dustrial de Santander (Kolumbien).

    Francisco de Lara

    Phnomenologieder Mglichkeit

    Grundzge derPhilosophie Heideggers19191923

    Verlag Karl Alber Freiburg /Mnchen

  • Alber-Reihe Thesen

    Band 32

    Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei)Printed on acid-free paperAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / Mnchen 2008www.verlag-alber.de

    Originalausgabe

    Satz und Einbandgestaltung: SatzWeise, FhrenEinband gesetzt in der Rotis SansSerif von Otl AicherInhalt gesetzt in der Aldus und Gill SansDruck und Bindung: Difo-Druck, BambergISBN 978-3-495-48296-4

    A mis padres, por todo

    Meinen Eltern gewidmet

  • Danksagung

    Diese Arbeit, die als Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universittund der Universidad Autnoma de Madrid in Mrz 2006 eingereichtwurde, ist meinen Eltern gewidmet. Ihnen schulde ich am meisten,wenn nicht alles. Dank ihrer selbstlosen Untersttzung und ihremVertrauen habe ich nicht nur diese Untersuchung verfassen, sondernmich berhaupt mit der Philosophie befassen knnen.Unmittelbar danach gilt mein Dank den beiden Betreuern der Dis-

    sertation Herrn Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander und Herrn Prof. Dr.Flix Duque mein Dank. Sie haben mich mit ihrer Generositt undihrem Wissen in den Jahren der Promotion und darber hinaus sehruntersttzt und waren mir stets ein Vorbild. Beiden mchte ich auchfr das mir geschenkte Vertrauen danken, das es ermglich hat, dieArbeit als Dissertation in gemeinsamer Betreuung zwischen den bei-den genannten Universitten zu schreiben. In diesem Zusammen-hang danke ich auch der Stiftung La Caixa und dem DAAD fr dasPostgraduierten-Stipendium, die meine Promotion in Freiburg zwi-schen Oktober 2002 und Juli 2004 finanzierte. Auch dem zweitenGutachter der Dissertation in Freiburg, Herrn Prof. Dr. Gnter Figalund den spanischen Professoren, die in der Disputation in Madridteilgenommen haben: Herr Prof. Dr. Juan Manuel Navarro, HerrRektor Prof. Dr. ngel Gabilondo und Herr Prof. Dr. Ramn Rod-rguez danke ich ganz herzlich.Der stndige Austausch und der persnliche Umgang mit den

    Freunden und Kommilitonen, die in der gleichen Zeit in Freiburgpromovierten oder forschten, haben zu dieser Schrift sehr viel bei-getragen. Mit groer Freude mchte ich hier zunchst den beidenWeggenossen meine Dankbarkeit ausdrcken, von denen ich ammeisten gelernt habe: Herrn Toms Cooper und Herrn Jos Ruiz.Ich durfte aber auch whrend der dreieinhalb Jahre in Freiburg sehrviel und in vielerlei Hinsichten von meinen Freunden, den HerrenRicardo Baeza, Jos Garca, Enrique Muoz, Felipe Johnson und von

    Phnomenologie der Mglichkeit A 7

  • Frau Sylvia Eyzaguirre lernen. Die deutschen und argentinischenFreunde mchte ich in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Auchnicht die Gruppe der Musikhochschule Freiburg und die Arbeits-gruppe fr zeitgenssische Philosophie und Neue Musik, mit denenich mindestens so viel Zeit wie mit den Philosophen verbrachte. Ins-besondere mchte ich in diesem Zusammenhang Frau Marta Alfaround Herr Alfonso Gmez erwhnen, dessen persnliche und knst-lerische Werte mir soviel schenkten und lehrten.Und wenn von persnlichen Werten die Rede ist, da mchte ich

    nun den Personen danken, durch welche mein Aufenthalt inDeutschland von Anfang an eine vor allem menschliche Lehre wurde.Hier muss ich zunchst die Familie Eisenmann aus Besigheim undganz besonders Frau Petra Eisenmann nennen. Ohne ihre schlichteGte wre ich vielleicht nie so lange in Deutschland geblieben undhtte auch dieses Land nicht lieben gelernt. Ich werde immer in ihrerSchuld stehen. Auch hat die Familie von Franz und Renate Nevelyaus Kappel in Freiburg meine letzten Jahre und die Verfassung dieserArbeit in ihrem schnen und ruhigen Haus ein gutes Stck weit mitihrer Grozgigkeit erleichtert. Besonders mchte ich hier aber derPerson meine Dankbarkeit zeigen, die mir whrend den zwei so rei-chen und manchmal gar nicht sorgenfreien, letzten Jahren in Frei-burg mit ihrer Hingabe und grenzenloser Freigebigkeit am meistenund in allen mglichen Hinsichten geholfen und untersttzt hat:Frau Su-Ching Wang.Fr die Korrekturarbeiten dieses von keinem Muttersprachler ge-

    schriebenen Buch aber nicht nur dafr, sondern auch fr die mitihnen verbrachte Zeit danke ich meinen Freunden Frau Tanja Zeeb,Herrn Daniel Creutz, Frau Miriam Fischer und Herrn Patrick Baur.Ich danke auch vom Herzen den vielen Personen, Freunden, die ichhier nicht einzeln erwhne, aber mit denen ich so viel in Freiburgteilte. Alle hoffe ich noch mehrmals im Caf Capri auf dem Augusti-nerplatz zu treffen.Obwohl ich den Groteil meiner Zeit in Deutschland nicht bei

    ihnen war, mchte ich zuletzt den Personen Dank abstatten, die seitJahren aus mir denjenigen machen, der ich bin: meinen GeschwisternRoco und Sergi, meinen Verwandten in Madrid, ganz besondersmeinen Groeltern Jess und Benicia, meinen besten FreundenHerrn scar Prez und Herrn Daniel Crespo und auch meinem Leh-rer Herrn Prof. Dr. Jordi Sales von der Universitt Barcelona. Ichmchte und kann nicht bei diesen Zeilen Frau Imma valos verges-

    8 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Danksagung

    sen. Diese Arbeit bekam durch die Beziehung mit ihr die entschei-denden, tiefsten Impulse.

    Inhaltsverzeichnis

    A MIS PADRES, PORTODOMEINEN ELTERN GEWIDMET . . . . . . . . . . . . . . . . 5

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13

    1. Idee, konkretes Ziel und Motivation der Arbeit . . . . . 132. Perspektive der Erforschung der frhen Freiburger

    Vorlesungen. Stellungnahme zur Forschungsliteratur . 153. Verfahrensweise der vorliegenden Arbeit . . . . . . . . 194. Vorstellung der philosophischen Figur der frhen

    Vorlesungen. Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . 21a) Heideggers Idee der Philosophie . . . . . . . . . . . 21b) Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 25

    Einleitender Teil:das Faktische Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

    1. Kapitel:Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens . 29

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295. Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn . . . . 31

    a) Vorhergehende Klrungen . . . . . . . . . . . . . . 32b) Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn . . . . . . . . . 36

    6. Charakterisierung des faktischen Lebens nach demGehaltssinn: die Grundkategorien des Gehaltssinnes . . 42a) Welt als Gehaltssinn von faktischem Leben.

    Bedeutsamkeit und Bekundungscharakter der Welt . 43b) Umwelt, Mitwelt, Selbstwelt . . . . . . . . . . . . . 48

    Phnomenologie der Mglichkeit A 9

  • 7. Charakterisierung des faktischen Lebens nach demBezugssinn. Sorge als Grundkategorie des Bezugssinnes.Die Selbstgengsamkeit des Lebens . . . . . . . . . . . 54

    8. Leben als Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58a) Allgemeine Charakterisierung des Gehaltssinnes als

    Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58b) Leben als Vollzug: Existenz . . . . . . . . . . . . . . 62

    Hauptteil:Philosophie als phnomenologische Hermeneutik desfaktischen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

    Allgemeine Gliederung des Teils . . . . . . . . . . . . . . . . 69

    Abschnitt I:die Methode der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

    2. Kapitel:Die zentrale Stellung des Methodenproblems in der Philosophie 71

    9. Das Methodenproblem in den frhen FreiburgerVorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71a) Das Methodenproblem und die Kritik an anderen

    Philosophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72b) Die frhen Freiburger Vorlesungen und das

    Methodenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7310. Methode in den nicht-philosophischen Wissenschaften . 7711. Zentralitt des Methodenproblems und Methodologie . 8412. Der Seinszusammenhang zwischen Philosophie und fak-

    tischem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Rck- und Vorblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

    3. Kapitel:Die phnomenologische Destruktion . . . . . . . . . . . . . 93

    13. Der polemisch-kritische Charakter des Philosophierens . 94a) Philosophie und Polemik . . . . . . . . . . . . . . . 94

    10 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Inhaltsverzeichnis

    b) Positivitt und Negativitt der phnomenologischenKritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

    14. Der Konkrete Gang der Destruktion . . . . . . . . . . . 103a) Die Fragerichtungen der phnomenologischen

    Destruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103b) Destruktion und Bedeutungsanalyse . . . . . . . . . 106c) Der konkrete Weg der Destruktion . . . . . . . . . . 109

    15. Die Vorgriffsgebundenheit der Destruktion . . . . . . . 11316. Die Tragweite der Destruktion . . . . . . . . . . . . . . 11617. Die Notwendigkeit und der Sinn der Destruktion . . . . 120

    a) Die Notwendigkeit der Destruktion . . . . . . . . . 120b) Abschluss: Der Sinn der Destruktion . . . . . . . . . 125

    4. Kapitel:Die phnomenologische Interpretation . . . . . . . . . . . . 127

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12718. Grundaspekte der Interpretation: Blickstand und

    Blickrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132a) Blickstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133b) Blickrichtung: Blickhabe und -bahn . . . . . . . . . 135

    19. Die Bedingungen der Sachlichkeit einer Interpretation . 13720. Exemplifizierung des Blickstandes und der Blickrichtung

    einer philosophischen Interpretation . . . . . . . . . . 144a) Blickstand der Aristotelesauslegung . . . . . . . . . 145b) Blickrichtung der Aristotelesauslegung . . . . . . . 152

    21. Der Gegenstand der philosophischen Interpretation . . 156

    Abschnitt II:die Begrifflichkeit der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 161

    5. Kapitel:Die Begriffe der Philosophie als formale Anzeigen . . . . . . 161

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16122. Anschauung und Ausdruck. Das Problem der

    philosophischen Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . 16223. Heideggers Auseinandersetzung mit Natorp und Jaspers 166

    a) Natorps Einwnde gegenber der Phnomenologie . 167

    Phnomenologie der Mglichkeit A 11

    Inhaltsverzeichnis

  • b) Jaspers Auffassung der Begrifflichkeit . . . . . . . . 169c) Herausstellung des objektivierenden Vorgriffs der

    Positionen Natorps und Jaspers . . . . . . . . . . . 17124. Generalisierung und Formalisierung.

    Die formale Anzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177a) Generalisierung und Formalisierung . . . . . . . . . 179b) Theoretische Formalisierung und formale Anzeige . 182

    25. Die formale Anzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184a) Formale Anzeige als Ansatzmethode . . . . . . . . . 184b) Die abwehrende Funktion der formalen Anzeige . . 187c) Formale Anzeige als methodisches Moment.

    Das Wohin der Anzeige . . . . . . . . . . . . . . . 19026. Die Begrifflichkeit der Philosophie . . . . . . . . . . . 196

    a) Wiederaufnahme des Problems des Verhltnisses vonAnschauung und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . 196

    b) Philosophische Begriffe als Kategorien . . . . . . . . 199

    Abschlieender Teil:faktisches Leben und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 205

    6. Kapitel:Phnomenologie der Mglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 205

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20527. Der Seinszusammenhang zwischen faktischem Leben

    und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20728. Gltigkeit und Wirksamkeit der Philosophie . . . . . . 21229. Phnomenologie der Mglichkeit als Mglichkeit der

    Phnomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

    Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

    Zitierte Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

    12 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung

    1. Idee, konkretes Ziel und Motivation der Arbeit

    Das Anliegen dieser Arbeit besteht darin, das Verstndnis der Phi-losophie, das den frhen Freiburger Vorlesungen Martin Heideggerseigen ist, mit der grtmglichen Konkretion explizit zu machen.Die Arbeit versucht damit, den philosophischen Boden des frhenHeideggers zum Vorschein zu bringen. Zu diesem Zweck wird zu-nchst innerhalb dieser allgemeinen Einleitung die phnomenolo-gisch-hermeneutische Figur seiner Philosophie in ihren Grundzgenentworfen, um dann im weiteren Verlaufe der Arbeit jeden dieserGrundzge ausfhrlich und fr sich selbst zu entfalten.Ein derartiges Ziel kann sich jedoch nicht einfach durch die Aus-

    wahl und die Analyse der Textpassagen verwirklichen, in denen Hei-degger seinem Philosophieverstndnis Ausdruck gibt. Es gehrt zwarwesentlich zu diesem Verstndnis, dass Philosophie sich immer wie-der ber sich selbst im Klaren sein muss und dafr aus sich selbst einexplizites Problemmachen muss, so dass tatschlich mehrmals solchePassagen in den Vorlesungen vorkommen. Dieses Philosophiever-stndnis betrifft aber die gesamte Mannigfaltigkeit von Betrachtun-gen und Entwicklungen, die Heidegger in seinen frhen VorlesungeninsWerk setzt. Daher wird es nicht erst dann ersichtlich, wenn davonexplizit die Rede ist, sondern eigentlich immer schon, wie ein Leitfa-den, der jeden entwickelten Aspekt durchdringt, mit den anderenverknpft und dem Ganzen seinen eigentmlichen Charakter ver-leiht.Das impliziert aber andererseits auch, dass die verschiedenen von

    Heidegger in den frhen Vorlesungen unternommenen Thematisie-rungen nur insofern verstndlich werden, als der philosophische Bo-den, auf dem sie beruhen, erforscht, gesehen und gezeigt wird. Dasmacht ersichtlich, warum die vorliegende Arbeit den UntertitelGrundzge der Philosophie Heideggers 19191923 trgt. Mit ihm

    Phnomenologie der Mglichkeit A 13

  • wird in erster Linie auf den Versuch hingewiesen, Heideggers Ideeder Philosophie als eine phnomenologische Hermeneutik des fak-tischen Lebens verstehend darzustellen. Da diese Idee aber nicht nurein Grundaspekt der frhen Vorlesungen ist, sondern gleichzeitigauch ihren philosophischen Boden ausmacht, ist dieser Versuch au-erdem der geeignetste Weg, die Philosophie der frhen Vorlesun-gen und d.h. nun: die Thematisierungen und Analysen, die auf derBasis dieses Bodens vollzogen werden zu einer grundstzlichenKlrung zu bringen.

    Was dieses Ziel und damit die Durchfhrung der vorliegenden Arbeitmotiviert, ist der Versuch, manche sehr verbreitete Grundaspekteund -anstze unserer zeitgenssischen Philosophie von ihren Wur-zeln her zu verstehen. Von ihren Wurzeln her, weil es meine ber-zeugung ist, dass diese Aspekte hermeneutischer Herkunft sind unddass sie konkret auf der durch Heidegger vollzogenen, bestimmtenPrgung und Radikalisierung der hermeneutischen Tradition basie-ren also genau auf jenem philosophischen Boden, der auf dennchsten Seiten ausdrcklich gemacht werden soll. Diese von Hei-degger durchgefhrte, die sogenannte hermeneutische Wende derPhilosophie macht demnach den Boden eines groen und sich nichtimmer in Verwandtschaft mit Heidegger sehenden Teils der nach-kommenden Philosophie aus1.Die Bedeutung der Philosophie des frhen Heidegger fr das Den-

    ken des 20. Jahrhunderts und fr unsere philosophische Gegenwartist in erster Linie bei anderen Auffassungen der Hermeneutik undder Philosophie als Hermeneutik nachweisbar. Das Gewicht fr diephilosophische Erforschung dessen, was Heidegger in der Zeit derfrhen Freiburger Vorlesungen noch Historizitt und spter Ge-schichtlichkeit nennt; die Notwendigkeit einer Aneignung dieserHistorizitt und der sie mit ausmachenden Tradition; das Verstehenals Methode sowie als Korrelat und Erfllungsmodus des philoso-phischen Erkenntnisaktes ; die Auslegung als Hauptinstrument derphilosophischen Forschung; die in der Philosophie nicht zu berwin-

    14 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    1 In diesem Sinne und angesichts der Anzahl und Relevanz der Hrer derselben zudenen nicht nur Gadamer, sondern auch Lwith, Jonas und Marcuse zhlen sprachC. F. Gethmann schonMitte der achtziger Jahre von den frhen Freiburger VorlesungenHeideggers als von eine[r] der ganz zentralen, bisher unbekannten Quellen der Phi-losophie des 20. Jahrhunderts. Siehe Gethmann (1986/87), S. 34 f. Zu vollstndigenbibliographischen Nachweisen siehe das Verzeichnis am Schluss dieser Arbeit.

    dende Zirkelhaftigkeit; das Selbst als Gegenstand und gleichzeitigals Weg der Philosophie u.. sind allesamt Motive, die auf die eineoder andere Weise das Selbstverstndnis der Philosophie geformt ha-ben und zum philosophischen Bestand des 20. Jahrhunderts gewor-den sind. Aber nicht nur die zuerst von Gadamer und dann von an-deren, sich ebenfalls als Hermeneutiker verstehenden Denkernaufgenommenen Aspekte von Heideggers Philosophie leben in unse-rer Gegenwart weiter. Auch z.B. die Rezeption der Phnomenologiein Frankreich und deren Einfluss auf den Dekonstruktivismus undauf die sogenannte Postmoderne ist entscheidend von phnomenolo-gisch-hermeneutischen Motiven wie z.B. der Primat des Vollzugs,die Kritik des Subjektbegriffes und die Charakterisierung jeder Sinn-stiftung als Ereignis bewirkt. Diese sind entweder selbst von hei-deggerscher Prgung oder erfahren in seinen Hnden eine grund-stzliche Umformung. Eine derartige Umformung ist aber derAusdruck eines fundamentalen Verstndnisses des Philosophierens,aus welchem die gerade aufgezhlten und andere Motive entstehen.Inzwischen fhren sie dennoch woran sich ein allgemeines Schick-sal des philosophisch Mitgeteilten zeigt, das Heidegger selbst mehr-mals thematisiert ein eigenes Leben und haben sogar ihrerseits eineReihe von Verwandlungen erfahren. Dies stellt ein Hindernis dar,wenn man den eigentlichen Boden, auf welchem sie stehen, mit allerKlarheit erkennen und kritisch prfen will was eine explizite Fragenach ihm und eine selbststndige Darstellung von ihm, wie die vor-liegende Arbeit sie versucht, wieder notwendig macht.

    Das gerade dargestellte Ziel und die Motivation der Arbeit geben dieRichtung vor, in der die Auslegung der frhen Freiburger Vorlesun-gen hier unternommen wird. Dies sollen nun die zwei folgenden Pa-ragraphen verdeutlichen.

    2. Perspektive der Erforschung der frhen FreiburgerVorlesungen. Stellungnahme zur Forschungsliteratur

    Die Bedeutung der frhen Freiburger Vorlesungen fr die zeitgens-sischen Forscher und damit die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit istseit ihrer Erscheinung stets gestiegen, so dass diese Vorlesungen heu-te zu einem der offeneren und lebendigeren Felder der Heidegger-Rezeption geworden sind. Es handelt sich allerdings um ein Feld,

    Phnomenologie der Mglichkeit A 15

    Perspektive der Erforschung der frhen Freiburger Vorlesungen

  • auf welchem meines Erachtens noch viel zu tun ist, ja in dem dasEntscheidende nur in geringem Ausma unternommen wurde. Esliegen nicht viele Arbeiten vor, in welchen eine klare und relativ voll-stndige Entfaltung der Heideggerschen Idee einer hermeneutischenPhnomenologie versucht wird. Noch bedenklicher in Anbetracht derAnzahl der in den letzten Jahren erschienenen Forschungsliteratur istdie Knappheit an Arbeiten, die sich wirklich konkret und ausfhrlichmit den Aspekten und Begriffen befassen, die diese Idee ausmachen.Es ist zwar oft von ihnen die Rede, aber selten in der Absicht, sieeigenstndig zu verstehen und zu klren. Das liegt meines Erachtensan der Auslegungsbahn, in welche die frhen Vorlesungen von An-fang an gelenkt wurden. Das vorherrschende Interesse dieser Aus-legungsrichtung geht auf die Schilderung der Entwicklungsgeschich-te des Heideggerschen Denkens. Das bringt mit sich, dass ein Aspektoder Moment seines Denkens selten fr sich selbst und im Hinblickauf seinen philosophischen Belang fr die Gegenwart, sondern viel-mehr bezglich anderer Aspekte oder Phasen und also vornehmlichkomparativ betrachtet wird.Die in den frhen Freiburger Vorlesungen vollzogene hermeneu-

    tische Wende der Phnomenologie erffnet den sogenannten Denk-weg Martin Heideggers, wie er durch sein Hauptwerk Sein und Zeit(1927)2 weltweit bekannt geworden ist. Deswegen hat die Forschungdie frhen Freiburger Vorlesungen in einem ersten Moment mehr-heitlich vom Standpunkt der Entstehung von SZ, also in einem ge-netischen, historischen oder entwicklungsgeschichtlichen Blickwin-kel, untersucht. Das wird verstndlich, wenn man bedenkt, dass dieVerffentlichung der Vorlesungen im Jahre 1985 begann und erst2005 mit dem Erscheinen des 62. Bandes derGesamtausgabe beendetwurde. Deswegen war das Interesse der ersten Studien darauf aus-gerichtet, die lange und bis dahin unbekannte Vorgeschichte des Re-ferenzwerkes Heideggers, SZ also, darzustellen. Es ging wesentlichdarum, die schon fr bekannt gehaltenen Themen und Motive vonSZ, die in diesen Vorlesungen vorkommen, zu identifizieren und einemgliche Entwicklung derselben bis zum Hauptwerk hin nachzuwei-sen.Indes fhrte die schon bald erkannte Eigenartigkeit der Vorlesun-

    gen immer mehr zu einer selbstndigen Behandlung derselben. InAnlehnung an Kommentare von manchen Hrern der Vorlesungen

    16 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    2 Im Folgenden in dieser Einleitung als SZ zitiert.

    wie Becker, Lwith und vor allem Gadamer (der brigens selbst zueinem einflussreichen Interpreten derselben wurde), die eine gewisseEnttuschung beim Erscheinen von SZ ausdrckten und sich auf diefrhen Vorlesungen als vielversprechender philosophischer Ansatzbezogen begannen manche Interpreten damit, sie unabhngig vondiesemWerk zu betrachten. Es wurde nun versucht, ein selbstndigesphilosophisches Programm in ihnen zu sehen, das nicht unbedingtzum Hauptwerk htte fhren mssen. In eins damit wurden dannaber die frhen Freiburger Vorlesungen auch oft in Zusammenhangmit spteren Phasen des Denkens Heideggers gebracht. Das bekann-teste Werk, SZ, machte dann nicht mehr den Horizont der Aus-legungen aus, sondern wurde geradezu der Gegenhorizont, gegenden in ihm vergessene oder weniger thematisierte Aspekte akzentu-iert wurden. Es handelte sich hier also ebenfalls um eine evolutio-nistische3 Lektre der Vorlesungen, und zwar nun um eine solche,die eine negative Evolution feststellte. Auf jeden Fall wurden die Vor-lesungen auch hier vorwiegend aus der Motivation heraus gelesen,die Entwicklung des Heideggerschen Denkens darzustellen.Auch wenn das nicht gerade ein Zeichen einer grundstzlichen, in

    konkreten philosophischen Problemen und Fragestellungen grn-denden Orientierung zu sein scheint, ist nicht zu leugnen, dass dasselbstndige Interesse fr die frhen Vorlesungen und der Versuch,sie aus dem Schatten von SZ herauszustellen, das Sehen oder wenigs-tens Ahnen einer ernstzunehmenden philosophischen Problematikin ihnen indiziert. Obwohl das Interesse auch da wiederum vorwie-gend von der philosophisch nicht besonders relevanten Frage nachder Einheit von Heideggers Denken bewegt wird, ist diese Interpre-tationslinie etwas nher liegend, in den Vorlesungen den Versuch zuerkennen, eine Umwandlung der Philosophie zu vollziehen d.h.den Versuch, Philosophie in ihrem Grundsinn neu zu bestimmen undsie in eine Hermeneutik zu transformieren, deren Radikalitt undphilosophische Selbsterhellungsstufe nicht nur diejenige ihrer Zeit-genossen, sondern auch die ihrer Nachfolger bertrifft.Dennoch setzt sich die interpretatorische Arbeit an den Vorlesun-

    gen selten aus der Motivation heraus in Gang, die Grundcharaktereder in ihnen dargestellten Philosophie fr sich selbst und ausfhrlichherauszuheben. Die in einem groen Teil der bisherigen Unter-suchungen leitende Motivation besteht wie gesagt vielmehr darin,

    Phnomenologie der Mglichkeit A 17

    Perspektive der Erforschung der frhen Freiburger Vorlesungen

    3 Siehe Gethmann (1986/87), S. 27.

  • auszumachen, ob in Heideggers Denken Einheit herrscht wie erselbst mehrmals behauptete oder ob sich in seiner Philosophie nichteher eine Pluralitt von Denkwegen und -anstzen findet. Ohne dieVerdienste dieser Arbeitsrichtung zu unterschtzen Verdienste,von welchen jeder Forscher zweifelsohne profitieren kann , erlaubtes die Motivation der hier vorliegenden Arbeit, ihr nicht weiter zufolgen. Da sie die in den frhen Freiburger Vorlesungen ttige Phi-losophieauffassung explizieren und die Grundaspekte dieser Vor-lesungen nur von diesem Boden aus erhellen mchte, wendet sichdie hier vorgenommene Interpretation dieser Vorlesungen in ihrerabsoluten Selbstndigkeit und Einzigartigkeit zu und vermeidet soin jedemMoment, sie anhand von etwas Bekannterem zu erklren4.Der in der vorliegenden Arbeit bernommene Interpretations-

    ansatz spricht aber nicht nur aus diesem Grund fr eine selbstndigeBehandlung der frhen Vorlesungen und fr das Ausrichten derAuslegung auf das Explizitmachen ihres philosophischen Bodens.Wenn einerseits in den Vorlesungen ein Philosophieverstndnisanerkannt wird, das seine zeitgenossische Denkweisen umwandeltund sptere beeinflusst, die Auslegungsarbeit an ihnen andererseitsaber nicht entscheidend von dem Versuch motiviert ist, dieses Ver-stndnis aus ihm selbst zu klren, dann geschieht es nicht selten, dassdiese von ihm umgewandelten bzw. beeinflussten Denkweisen gera-de diejenigen sind, welche die Auslegung der Vorlesungen leiten.Nur von hier aus kann Heidegger, wie es oft der Fall ist, als ein radi-kalerer Lebensphilosoph oder Hermeneutiker dargestellt werden und zwar ohne dass am Ende klar wird, worin diese Radikalitt ei-gentlich besteht , und sogar als ein Neukantianer, welcher an dieStelle des transzendentalen das historische Subjekt setzt5. Das Pro-

    18 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    4 Dieses letzte Verfahren ist brigens nicht nur fr das philosophische Verstehen undWeiterdenken der frhen Vorlesungen nachteilig, sondern auch fr das, was dabei alsBezugspunkt genommen wird (Sein und Zeit). Denn auf diese Weise muss man jenenBezugspunkt als einen festen und in seinem Sinn unhinterfragbaren setzen, um klareEntwicklungslinien zu ihm hin feststellen zu knnen anstatt ihn immer wieder inseinen philosophischen Mglichkeiten zu denken. Gegen diese Verfahrensweise unddamit fr eine Revision der Auslegungen von Sein und Zeit spricht sich z.B. der 2002erschienene Aufsatz von P. Martnez aus. Siehe Martnez (2002), S. 127.5 Um Heideggers besondere Stellung zu charakterisieren, wird noch hufiger auf dieVermittlung rekurriert meistens wiederum zwischen Lebensphilosophie bzw. Herme-neutik und Phnomenologie. Heidegger selbst klagte darber schon in einem Brief anJaspers vom 24.9.1928: Wie oft ich nun schon gelesen habe, ich sei die berdies vonanderen auch schon lngst geplante wirklich gewordene Synthese von Dilthey und

    blem ist hier, dass die Vorlesungen dann gerade aus dem nicht grund-stzlich geklrten eigenen Horizont gelesen werden, welcher eigent-lich anhand des philosophischen Horizontes der Vorlesungen ver-deutlicht werden sollte.Diese mangelhafte Klrung des eigenen Auslegungshorizontes

    fhrt jedoch nicht notwendig dazu, die eigenen Interessen und Fra-gen zugunsten einer treueren und detaillierteren Auslegung des Hei-deggerschen Denkens in den Hintergrund zu stellen. Es geschieht imGegenteil meistens, dass die Auslegungen die Themen lediglich ber-fliegen und besprechen, als wre schon alles in ihnen deutlich, so dassnur selten ausfhrliche Darstellungen von Grundaspekten zu findensind. Es scheint vielmehr darum zu gehen, eine allgemeine Charak-terisierung und eine entsprechende philosophiegeschichtliche Be-zeichnung fr das Gedachte zu finden sowie Parallelen und Verglei-che zu anderen Denkern oder zu anderen Phasen des gleichenDenkers zu entwerfen. Die vorliegende Arbeit geht hingegen davonaus, dass die verschiedenen Aspekte, die auf dem Grundboden einerPhilosophie ruhen, nur dann in aller Ausfhrlichkeit und Konkretionerrtert werden knnen, wenn dieser Boden zuerst als etwas Eigen-stndiges intendiert und freigelegt wird.

    3. Verfahrensweise der vorliegenden Arbeit

    Aus diesem Grund, und weil das Ziel dieser Arbeit das Verstehen derHeideggerschen Idee einer phnomenologischen Hermeneutik desfaktischen Lebens ist, wird hier weder eine evolutionistische nocheine pluralistische Interpretation der Vorlesungen unternommen6.Die Frage nach der Mannigfaltigkeit bzw. Einheit des Denkweges vonHeidegger, wie auch die nach der hheren bzw. niedrigeren Stel-lung der Philosophie der frhen Vorlesungen in Bezug auf SZ mussfr unser Anliegen methodisch beiseite gelassen, gleichsam aus-geklammert werden. Das gleiche gilt fr Fragen wie diejenige nachdem Einfluss, den verschiedene Denker auf diese phnomenologischeHermeneutik haben ausben knnen. Auch auf ein solches Schildern

    Phnomenologie der Mglichkeit A 19

    Verfahrensweise der vorliegenden Arbeit

    Husserl mit einigem Gewrz aus Kierkegaard und Bergson (Heidegger/Jaspers Brief-wechsel, S. 103f.).6 Hier wird wieder auf die von C. F. Gethmann vollzogene (und von ihm selbst als grobtypisierend bezeichnete) Unterscheidung hingewiesen. Siehe loc. cit.

  • von mglichen Verwandtschaften und Unterschieden zwischen demfrhen Heidegger und seinen Vorfahren und Zeitgenossen muss hieralso verzichtet werden. Damit wird aber nicht gegen eine historischeund fr eine systematische Betrachtung der frhen Vorlesungen pl-diert7. Im Gegenteil ist die oben prsentierte Motivation dieser Ar-beit gerade als historische zu bezeichnen. Aber eine philosophischeForschung wird nicht dadurch historisch, dass sie etwas immer inVergleich mit und in Bezug zu etwas Frherem, Spterem bzw. Zeit-genssischem setzt, sondern indem sie versucht, die Denkmotive, dieihre eigene Zeit ausmachen, direkt zu untersuchen und mit dergrtmglichen Konketion eigenstndig, d.h. fr sich selbst zu ver-stehen. Dies ist auerdem auch der Grund, warum die Auseinander-setzung mit der dargestellten Philosophie und mit der Weise, in dersie unsere Gegenwart prgt, auch nicht in der Arbeit selbst unterge-bracht wird. Diese stellt vielmehr nur die Vorbereitung einer solchenAuseinandersetzung dar und wird sich daher auf eine verstehendeDarstellung von Heideggers Idee der Philosophie in der Zeit der fr-hen Freiburger Vorlesungen beschrnken.

    Aus diesem Grund weil es hier um eine solche Darstellung geht besteht der Hauptteil der vorliegenden Arbeit in der Analyse vonvier Grundaspekten der Idee der Philosophie des frhen Heidegger:der Methode und ihrer Bedeutung, der Destruktion und der Inter-pretation als den Hauptmomenten dieser Methode sowie der Begriff-lichkeit der Philosophie. Jedem dieser Aspekte wird ein Kapitel ge-widmet, in welchem eine selbstndige Analyse und damit einVersuch unternommen wird, den Sinn des jeweiligen Aspekts frei-zulegen. Dieser Hauptteil ist von einem einleitenden und einem ab-schlieenden Teil flankiert. Zusammen sollen diese drei Teile Hei-deggers Idee der Philosophie, so, wie sie in der Zeit der frhenFreiburger Vorlesungen am Werk ist, zur Entfaltung bringen.Damit aber der konkrete Sinn jeder der Schritte der Arbeit von

    Anfang an ersichtlich wird, wird jetzt Heideggers Verstndnis derPhilosophie schon skizzenhaft vorgestellt. Die Arbeit wird dann dieverschiedenen Aspekte derselben zuerst fr sich selbst darstellen, umsie dann wieder in ihrem Zusammenhang mit den anderen und mit

    20 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    7 Die Entlarvung der Pseudolegitimitt dieser Unterscheidung zwischen historischenund systematischen Betrachtung ist gerade ein weiterer Aspekt, den wir der Philosophiedes frhen Heideggers schulden.

    der Idee selbst zu zeigen. Aus dieser Vorstellung der philosophischenFigur der frhen Freiburger Vorlesungen wird sich am Ende dieserEinleitung dann auch die konkrete Gliederung der vorliegenden Ar-beit ergeben.

    4. Vorstellung der philosophischen Figur der frhenVorlesungen. Gliederung der Arbeit

    a) Heideggers Idee der Philosophie

    In seinen frhen Freiburger Vorlesungen setzt Heidegger Philoso-phie mit Phnomenologie gleich8, diese letzte verstanden als vor-theoretische Urwissenschaft des faktischen Lebens. Das faktische Le-ben wird phnomenologisch untersucht, und das heit zunchsteinmal, es wird als Phnomen angesehen und angesprochen. Wasaber heit das, dass das Leben Phnomen ist? Was heit fr Heideg-ger Phnomen ? Gegenstnde von Gegenstands- und Seinscharak-ter des Sinnhaften (also nicht nur durch Sinn erst bestimmte Gegen-stnde), die sind als Sinn, bezeichnen diese Untersuchungen alsPhnomene9. Es gibt demzufolge Gegenstnde, die nicht als Sinnsind, sondern erst nachtrglich durch Sinn bestimmt werden. Phno-mene hingegen werden nicht nur durch Sinn charakterisiert, sondernsind als Sinn. Phnomen bedeutet demnach fr Heidegger als-Sinn-seiend. Das faktische Leben ist folglich fr die so verstandenePhnomenologie als Sinn.Was heit es aber, als Sinn zu sein? Wie istlaut Heidegger Sinn? Sinn ist Gegenstndlichkeit solchen Seinscha-rakters, da er nach demmglichen (formalen) mehr oder minder desGehabtwerdens mehr oder minder ist10. Die Seinweise von Sinnist demzufolge so, dass sie von etwas abhngt oder besser, dass sie mitetwas zusammenhngt. Sinn ist so, dass er in seiner Seinsweise mitseinem Gehabtwerden zusammenhngt, dass er mehr oder minderist, je nachdem ob er mehr oder minder gehabt wird. Was heit esaber, Sinn zu haben? Wie wird Sinn gehabt?

    Phnomenologie der Mglichkeit A 21

    Vorstellung der philosophischen Figur der frhen Vorlesungen

    8 Siehe z.B. GA 58, S. 29 und insbesondere S. 139 und 233 (Phnomenologie istgleichbedeutend mit Philosophie). Die Zitate aus der Gesamtausgabe werden unterder Sigle GA mit Angabe der Band- und Seitenzahl nachgewiesen.9 GA 62 A, S. 47 f.10 Ebd. S. 48.

  • Was ist im eigenen Seinscharakter von Sinn, das verlangt eine eigentmlicheWeise auslegungsmigen Zugangs, auslegungsmig verstehender Aneig-nung, und vor allem auslegungsmig verstehender Verwahrung. Auslegen-der Zugang, Aneignung, Verwahrung sind Weisen, in denen Sinn (formalgesprochen) gehabt wird11.

    Auslegung schafft demzufolge einen Zugang zu dem, was als Sinnist, welches dann im auslegenden Verstehen angeeignet und ver-wahrt wird. In diesen Weisen wird das Sinnhafte gehabt, d.h. inihnen ist Sinn. Das, was als Sinn ist, was also hier Phnomen be-zeichnet wurde, ist in dem auslegenden Zugang und insbesondere inder auslegungsmig verstehenden Aneignung, und es ist vor allemin der auslegungsmig verstehenden Verwahrung. Zugang, Aneig-nung und Verwahrung machen also verschiedene Weise dieses for-malen mehr oder minder aus. Zum Sinnhaften kann es demzufolgeeinen Zugang erreicht werden, ohne dass das eine klare, verstehendeAneignung von ihm impliziert. Es knnte sogar so sein, dass es im-mer schon einen gewissen auslegenden Zugang zu allem irgendwiegegeben ist, dass alles schon irgendwie in Ausgelegtheit steht, unddass es gerade deswegen notwendig wird, eine explizite Aneignungdieser auslegenden Zugangsweise zum Sinnhaften zu gewinnen. Da-her kann diese Aneignung schon als verstehend bezeichnet werden.Dennoch gewhrleistet sie auch nicht die verstehende Verwahrungdes Sinnhaften: dieses kann angeeignet werden und dann wieder ver-loren gehen, wieder aus dieser Aneignung gleichsam heraustreten,d.h. wieder nicht eigen, sondern, wie Heidegger sagt, uneigentlichsein. Nur in der auslegungsmig verstehenden Verwahrung wirdder angeeignete Sinn als solcher aufbewahrt, d.h. eigentlich gehabt12.Die auslegungsmig verstehende Verwahrung ist die Weise, in derSinn mehr, d.h. eigentlich ist. Wie wird aber etwas in eigentlicher,verstehender Verwahrung gehabt? Heidegger antwortet auf dieseFrage negativ: Was wir nicht ursprnglich auslegen und ebenso aus-drcken, das haben wir nicht in eigentlicher Verwahrung13. Ein

    22 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    11 Ebd.12 Siehe ebd.: Es gibt Gegenstnde [] die in solchem Verstehen (in der Verwahrung)gerade erst zu ihrem eigentlichen Sein kommen. [] Sofern Sinn ist eigentlich ist inder Habensweise der Verwahrung sind die genannten anderen Habensweisen von Sinn(auslegender Zugang, Aneignung u.a.), sofern sie nicht die eigentlichen sind, auch dieuneigentlichen (aber gerade faktisch blichen) Weisen, in denen Sinn ist.13 GA 62 B, S. 369.

    Phnomen das, was als Sinn ist , ist demnach nur eigentlich, wennes ursprnglich ausgelegt und zum Ausdruck gebracht wird.Damit ist auf die Frage, wie Sinn laut Heidegger gehabt wird, bis-

    her in einer Hinsicht geantwortet worden: nmlich in der Hinsichtauf das Wodurch oder besser gesagt auf das Worin. Sinn wird in ver-schiedenen Weisen die solche des Auslegens bzw. des auslegendenVerstehens sind gehabt. Er ist in diesen verschiedenen Habenswei-sen. Nun wollen wir aber in einer anderen Hinsicht fragen, und zwarin Hinsicht auf diese Habe selbst. Welchen Charakter hat sie wieder-um? Wie ist diese Habe selbst? Wie ist fr Heidegger dieses Verste-hen von etwas Sinnhaftem? Dies kann durch einen kleinen Umweggezeigt werden. Laut Heidegger gibt es Gegenstnde, die nicht nurverstehend gehabt werden, die man im Verstehen hat, sondern dieman im Verstehen ist []14. In diesem Fall ist also nicht nur dasGehabte (das Sinnhafte), sondern der Habende selbst ein Seiendesmit diesem ausgezeichneten Seinscharakter (mit dem Seinscharakterdessen, wessen Seinsweise mit der Weise des Gehabtwerdens zusam-menhngt). Das ist aber, wie gesagt, bei jenem Seienden der Fall, dasals Sinn ist15, und d.h. bei dem Seienden, dass als Phnomen bezeich-net wurde. Dieses Seiende ist laut Heidegger derjenige vom Seins-charakter des faktischen (d. i. menschlichen) Lebens16. Der Habendealso, der Lebende, ist selbst als Sinn, d.h. er ist mehr oder minder, jenachdem ob er sich mehr oder minder in auslegungsmig verste-hender Verwahrung hat. Sinn zu haben bedeutet demzufolge Sinnzu sein. Dass der Sinn mehr oder minder ist (bzw. mehr oder mindergehabt, verstehend verwahrt wird) das heit, dass er mehr oderminder seiend ist. Die Habe also, um unsere Frage schon zu beant-worten, ist selbst eine Weise des Seins dieses Seienden. Auslegungund Verstehen sind fr Heidegger folglich Weisen des Seins desSinnhaften, des Phnomens, des faktischen Lebens. Faktisches Lebenals Phnomen, d.h. als etwas Sinnhaftes, ist (wird gehabt) in Aus-legung und Verstehen und ist mehr oder minder, eigentlich- oder

    Phnomenologie der Mglichkeit A 23

    Vorstellung der philosophischen Figur der frhen Vorlesungen

    14 GA 62 A, S. 48 (Heideggers Hervorhebung aufgehoben).15 Siehe ebd.: Gegenstand dieser ausnehmenden (Habens-) Seinsweise ist das, was istals Sinn.16 Siehe ebd. S. 48 f.: Seiendes, das nicht zuweilen gerade mehr oder weniger ist, son-dern Seiendes in eben diesem Seinscharakter des je immer mehr oder weniger bezeich-nen diese Untersuchungen formal als Lebendes, dieses Sein als Leben, im vorliegendenZusammenhang: menschliches Leben.

  • uneigentlicheweise, je nachdem ob es mehr oder minder verstandenwird, d.h. je nachdem ob es sich selbst durch Auslegung versteht undverstehend verwahrt. Dieses Verstehen ist aber wie gerade gesagtselbst ein Wie des Seins des faktischen Lebens (das Wie, in dem die-ses Leben sich von sich selbst aneignet bzw. sich verwhrt). Aus-legung und Verstehen sind also nichts dem Leben Fremdes, sondernWeisen, in denen Leben sich selbst immer irgendwie hat, mehr oderminder versteht und entsprechend mehr oder minder uneigentlichoder eigentlich ist17.Diese auslegungsmig verstehende Verwahrung, in der das Sei-

    ende vom Seinscharakter des menschlichen Lebens eigentlich ist, istdemnach ein mgliches Wie des Seins dieses Seienden. Als Wie sei-nes Seins ist es also auch ein Sinn, ein Modus, in dem dieses Seiendesein kann, denn Sinn [] besagt das jeweilige Wie des Seins einesSeienden vom Seinscharakter (menschliches) Leben18. Auslegungund Verstehen sind folglich Modi des Seins von Leben. Sie sind aberfr Heidegger auch selbst je in einemModus, d.h. mehr oder minder,so dass sie auch als auslegungsmig verstehende Verwahrung ei-gentlich sein knnen. Womit hngt diese Mglichkeit zusammen?Als Sinn (als ein Wie des Seins des Seienden vom Seinscharaktermenschlichen Lebens) ist das Verstehen mehr oder minder, je nach-

    24 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    17 Mehr und minder sind formale Bestimmungen, und keine, die sich auf Mengenbeziehen. Mehr meint also einen Modus und keine Anzahl von etwas Bestimmtem,von einer Qualitt. Verstehen ist keine Qualitt, die einem Gegenstand in einer gewis-sen Menge zukommt, keine Eigenschaft eines bestehenden Gegenstandes, sondern eineSeinsweise. Genauso verhlt es sich mit eigentlich bzw. uneigentlich. Diese Bestim-mungen mssen adverbial verstanden werden, d.h. als Modi oder mgliche Weisen desverbal verstandenen Seins von faktischem Leben, in denen dieses Leben immer irgend-wie ist. Sie als Adjektive zu verstehen hiee wieder, das Leben substantivisch als etwasBestehendes mit gewissen Charakteristika anzusehen. Fr Heidegger sind Gegenstnde,die als bestehend und mit gewissen ebenfalls bestehenden Eigenschaften angesetzt wer-den, alsObjekte zu bezeichnen. Gegenstand ist dagegen eine rein formale Bestimmungund deswegen nicht mit Objekt gleichzusetzen wie Heidegger einmal sagt, sind zwaralle Objekte Gegenstnde, aber nicht umgekehrt (vgl. GA 60, S. 35). Phnomen, d.h.das, was als Sinn ist, kann ganz formal als Gegenstand bezeichnet werden, allerdingsmit der Gefahr, dass es als reine, theoretische Gegebenheit verstanden wird, wodurch esgerade seinen ausgezeichneten Sinncharakter verliert. Daher tendiert Heidegger eherdazu, von Gegenstndlichkeit zu sprechen, wenn er sich auf das Dasein bezieht. Wirwerden auf diese Zusammenhnge im Laufe der Arbeit noch hufiger zu sprechen kom-men.18 Siehe GA 62 A, S. 49. Siehe auch ebd.: >Sinne< = Weisen, Wie des Lebens (ebd.,S. 49).

    dem, wie es sich als solches (als Weise des Seins des faktischen Le-bens, in der dieses Leben sich selbst hat) versteht, d.h. indem es sichals eigentliches Verstehen versteht und verwahrt und d.h. ist. DasVerstehen selbst ist je eigentlich oder uneigentlich, und zwar in Ab-hngigkeit davon, ob es sich aus sich selbst versteht (als Seinsweisedes faktischen Lebens, in welcher dieses Leben sich selbst zu verste-hen sucht) und nicht z.B. aus anderen Lebensidealen (wie Wissen-schaft oder Weltanschauung19). Das Verstehen bedarf also selbst eineVerwahrung, um eigentlich zu bleiben, er kann sich als sich selbst(aus seiner Motivation aus dem Leben und als ein bestimmtes Wiedes Lebens) verwahren, oder nicht.Dieses Verstehen seiner selbst als Verstehen (Seinsweise) des fak-

    tischen Lebens ist fr Heidegger die eigentmlich philosophischeSeinsweise dieses Lebens. Philosophie ist die Seinsweise des Lebens,in der dieses sich ausdrcklich zur auslegungsmig verstehendenVerwahrung zu bringen versucht, wozu sie sich selbst als solcheSeinsweise verwahren muss, d.h. wozu sie sich stndig ber sichselbst als solche klar werden und aus dieser ihren Motivation wieder-gewinnen muss. Darum ist Philosophie fr Heidegger Ur-wissen-schaft des faktischen Lebens: prinzipiell fragende Klrung der Seins-weisen des faktischen Lebens des Seinssinnes von Leben , die alseine dieser Seinsweisen selbst (und zwar als eine ausgezeichnete)auch eine prinzipielle Klrung ihrer selbst verlangt und die sich ko-hrenterweise in der Form einer radikalen Auslegung und eines ra-dikalen Ausdrucks dieses Lebens vollzieht. Daher bezeichnet Heideg-ger Philosophie als phnomenologische Hermeneutik des faktischenLebens, d.h. Auslegung des Seiendes, das als Phnomen, als Sinn ist.

    b) Gliederung der Arbeit

    Damit ist von Anfang an die philosophische Figur der phnomeno-logischen Hermeneutik des frhen Heidegger expliziert worden. Aus

    Phnomenologie der Mglichkeit A 25

    Vorstellung der philosophischen Figur der frhen Vorlesungen

    19 Aus dieser Perspektive kann gesagt werden, dass Wissenschaft das faktische Lebennicht als Sinn, sondern als Objekt nimmt. Weltanschauung ihrerseits sieht Leben alsetwas, das Sinn hat (bzw. nicht hat), wobei es darum geht, diesen Sinn zu zeigen, abernicht als etwas, das als Sinn ist. Das Leben wird auch in der Weltanschauung letztenEndes als etwas Gegebenes und mit einem gegebenen Sinn gefasst.

  • ihr ergeben sich gewisse Grundfragen, die diese Arbeit verfolgenwird, um Heideggers Idee der Philosophie in ihren Grundzgen zuentfalten. Die kommenden Seiten sind demnach als Errterung derGrundaspekte der Heideggerschen phnomenologischen Hermeneu-tik zu verstehen. Durch diese Errterung soll das gerade explizierteGrundverstndnis der Philosophie konkretisiert werden.Der erste, einleitende Teil der Arbeit (1. Kapitel) versucht zu kl-

    ren, welche Grundcharaktere, welche Seinsweisen dem faktischenLeben eigentmlich sind d.h. in welchen Modi und Mglichkeitendas faktische Leben lebt und sich versteht und wie Philosophie ausdiesem Leben motiviert ist. Dafr wird aber zunchst klar gemacht,welche Geartetheit diese Charaktere haben, um dann die fr unserVorhaben wichtigsten unter ihnen darzulegen. Schlielich wird ge-zeigt, dass Philosophie aus dem Vollzugscharakter des Lebens herausmotiviert ist.Der zweite und Hauptteil fragt dann, wie das sich in der aufgezeig-

    ten Weise aus dem Leben motivierende Philosophieren dieses Lebendurch ursprngliche Auslegung und ursprnglichen Ausdruck zuverstehender Verwahrung zu bringen versucht. Dieser Teil ist daherin zwei diesen beiden Aspekten entsprechende Abschnitte gegliedert.Der 1. Abschnitt befasst sich mit der auslegenden Methode der Phi-losophie, wobei zunchst die Bedeutung des Methodenproblems(2. Kapitel) und dann ihre Grundelemente, die Destruktion (3. Kapi-tel) und die Interpretation (4. Kapitel) errtert werden. Der 2. Ab-schnitt (5. Kapitel) versucht dann, den Charakter der Begrifflichkeitzu klren, mit welcher Philosophie das faktische Leben zum Aus-druck bringt.Der dritte und abschlieende Teil der Arbeit (6. Kapitel) zeigt zu-

    letzt den Seinszusammenhang zwischen dem im ersten Teil charak-terisierten, faktischen Leben und der im zweiten Teil nach ihrer Me-thode und Begrifflichkeit bestimmten Philosophie. Damit wirdeinerseits klarer, dass es fr die eigentliche Seinsweise des faktischenLebens auf die Philosophie als explizites Fragen nach diesem Seinankommt und andererseits auch, dass Philosophie dieses Fragen nurvermag, insofern sie sich als ein bestimmter Vollzug und eine be-stimmte Mglichkeit dieses Lebens selbst versteht und damit dieGrundcharaktere desselben seine Faktizitt und seinen Existenz-charakter in sich bewahrt und radikalisiert. Dadurch entsteht dieFrage nach der mglichen Gltigkeit der philosophischen Ergebnis-se und nach dem Sinn, in dem Philosophie Erkenntnis ist. Dies wird

    26 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Einleitung

    uns schlielich dazu bringen, die phnomenologische Hermeneutikder Faktizitt des frhen Heidegger als eine Phnomenologie derMglichkeit zu bezeichnen.

    Phnomenologie der Mglichkeit A 27

    Vorstellung der philosophischen Figur der frhen Vorlesungen

  • Einleitender Teil: das faktische Leben

    1. Kapitel: Kategorien und Grundcharaktere desfaktischen Lebens

    Einleitung

    Seit seinen ersten Vorlesungen fasst Heidegger Philosophie als Ph-nomenologie und diese wiederum als Urwissenschaft des vortheo-retischen, faktischen Lebens. Wenn Philosophie Phnomenologie ineinem im Laufe dieser Arbeit konkret zu klrenden Sinne ist, dannbedeutet das zunchst, das Leben philosophisch zu erforschen, es vonAnfang an und durchgehend als Phnomen zu intendieren. Wie wei-ter oben ausgefhrt, bedeutet Phnomen fr Heidegger etwasSinnhaftes, d.h. etwas, was als Sinn ist. Das faktische Leben wirdalso in der Phnomenologie auf diese Weise intendiert, so dass diephilosophische Erforschung dieses Lebens nur insofern philosophischbleibt, als sie es durchgehend als etwas Sinnhaftes und auf diesenseinen Sinn hin (und nicht z.B. als etwas Objektartiges und auf seineobjektive Eigenschaften hin) erforscht. Ein Phnomen ist aber in derWeise, dass es mehr oder minder (d.h. eigentlich oder uneigentlich)ist, in Abhngigkeit davon, ob es mehr oder minder durch Auslegungverstanden und zum Ausdruck gebracht wird. Faktisches Leben legtsich aus, versteht sich, drckt sich aus, und dementsprechend ist esimmer irgendwie, mehr oder minder, eigentlich oder nicht eigentlich.Laut Heidegger ist es jedoch, wie gesagt, nur dann eigentlich, wennes in der auslegungsmig verstehenden (und dieses Verstehen aus-drckenden) Verwahrung seiner selbst ist. Das Leben zu dieser Ver-wahrung seiner selbst (d.h. hinsichtlich seines Seinssinnes) zu brin-gen, ist die Aufgabe der Philosophie als Phnomenologie.Phnomenologie als Methode ist demnach verstehende Auslegung

    des faktischen Lebens als etwas Sinnhaftem, als Phnomen. Wird dasals Ausgangspunkt fr eine konkrete Entfaltung des Philosophiever-stndnisses beim frhen Heidegger im Blick behalten, dann ergebensich fr die Thematik des vorliegenden Kapitels d.h. zunchst be-zglich der Grundcharaktere, mit denen das Leben von einer so ver-

    Phnomenologie der Mglichkeit A 29

  • standenen Philosophie geprgt und bestimmt wird folgende Fragen:Wie entstehen solche Charaktere? Wie wird das Leben durch Aus-legung zu diesem Selbstverstndnis ber seine Seinsweisen undSeinscharaktere gebracht? In welcher Richtung wird es zu diesemZweck interpretiert? Wie wird ein Phnomen, etwas Sinnhaftes, be-zglich seiner Sinnen ausgelegt? Heidegger fasst Phnomen konkretals eine Sinnganzheit1, als einen vollen Sinn2, aus dem verschie-dene Sinnrichtungen abhebbar werden knnen. Die Phnomenologieverfhrt in ihrer Auslegung des faktischen Lebens so, dass sie dieseverschiedenen Sinnrichtungen des Phnomens abhebt, um dieses da-durch in aller Differenziertheit zu interpretieren. Auf welche Sinn-richtungen hin wird also das Phnomen (das faktische Leben) inter-pretiert? Heidegger unterscheidet in seinen frhen Vorlesungenvorwiegend drei Sinnrichtungen, und zwar den Gehalts-, den Be-zugs- und den Vollzugssinn3. Die Charaktere, mit denen die Phno-menologie das faktische Leben zu einem Selbstverstndnis bringt,entstehen also aus der Auslegung dieses Lebens nach dieser dreiSinnrichtungen, nach Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn.Demzufolge musst in diesem Kapitel zunchst (5) versucht wer-

    den, die konkrete Bedeutung der drei gerade genannten Sinnrichtun-gen zu klren, um anschlieend die Kategorien und Grundcharakteredes faktischen Lebens zu erlutern, die aus der Interpretation diesesLebens zuerst nach dem Gehaltssinn (6) und dann nach dem Be-zugssinn (7) entstehen. Es wird dann (8) die von Heidegger sogenannte Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstweltim Zusammenhang mit dem Vollzugssinn errtert und auf dieseWeise auch eine andere, in diesem Zusammenhang prinzipiell zustellende Frage zu beantworten versucht: die Frage nach dem Wegdes faktischen Lebens von seiner faktisch blichen Erfahrungsweisehin zur Philosophie.

    30 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    1 GA 60, S. 63.2 Siehe GA 61, S. 53: Voller Sinn = Phnomen. Siehe auch GA 62 A, S. 50.3 Ab 1920/21 fgt Heidegger den Zeitigungssinn hinzu, wie wir spter sehen werden.

    5. Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn4

    Ein Phnomen das, was als Sinn ist ist laut Heidegger konkreteine Sinnganzheit, aus der ein Gehalts-, ein Bezugs- und ein Voll-zugssinn abhebbar (und durch die phnomenologische Untersuchungabzuheben) sind5. Diese drei Sinnrichtungen sind aber nicht so etwaswie drei Teile, Elemente oder Komponenten, aus deren Zusammen-setzung das Phnomen erst entstnde. Wie Heidegger betont, stehenGehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn nicht einfach nebeneinanderim Phnomen, sondern Phnomen ist Sinnganzheit nach diesendrei Richtungen6. Im Phnomen bilden diese Richtungen also eineEinheit, sie sind die Sinnrichtungen eines Phnomens und zwar so,dass sie in ihm, so wie es sich zunchst zeigt, nicht voneinander abge-hoben, sondern geradezu miteinander verflochten sind7. Wenn das soist, dann ist Phnomenologie die Explikation dieser Sinnganzheit,d.h. die Entfaltung, das Abheben von jeder dieser zunchst einmalunabgehobenen drei Sinnrichtungen. Diese Entfaltung bleibt aller-dings nur phnomenologisch, wenn sie gleichzeitig die innere Arti-kulation und Zusammengehrigkeit dieser Sinnrichtungen im Ph-nomen zeigt und ihr Verhltnis erkennen lsst. Die Aufgabe derPhnomenologie besteht demnach darin, den lgo@ der Phno-mene8, ihre innere Artikulation zu geben. Da sie ihren lgo@ gibt,ist sie also so etwas wie die Logik der Phnomene. Daraus ist bereitsin einer ersten Annherung zu entnehmen, was Heidegger unter Lo-gik versteht. Logik im phnomenologischen Sinne ist Explikationeines Phnomens (als Sinnganzheit) nach den drei genannten Sinn-

    Phnomenologie der Mglichkeit A 31

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    4 Darstellungen von diesen drei Sinnrichtungen finden sich unter anderem in Greisch(1996), S. 143 bzw. (2000), S. 65 f.; Rodrguez (1997), S. 5356; Perego (1998), S. 13;Duque (1999), S. 105f.; Gander (2001), S. 283f.; Segura (2002), S. 44; Lazzari (2002),S. 123 undMartnez (2005). Volpi sieht in dem Unterschied zwischen Gehalts-, Bezugs-und Vollzugssinn una reimpostazione e una riformulazione delle tre direzioni di ricercain cui Husserl pensava di sviluppare lindagine fenomenologica, ossia la fenomenologiadei contenuti (Sachphnomenologie), la fenomenologia degli atti (Aktphnomenologie)e la fenomenologia della correlazione di atti e contenuti (Korrelationsphnomenolo-gie). Siehe Volpi (1988), S. 207.5 Siehe GA 62 A, S. 50: Jeder Sinn ist in eine seine Sinnmannigfaltigkeit auslegbar.6 GA 60 A, S. 63.7 Fr Heidegger ist es konkret so, dass in der faktischen Lebenserfahrung der Gehalts-sinn berwiegt und den durch ihn verdeckten Bezugs- und vor allem Vollzugssinn nichterkennen lsst.8 Siehe GA 60 A, S. 63.

  • richtungen, die demnach den lgo@ des Phnomens, die innere Zu-sammenfgung und Artikulation des faktischen Lebens expliziert9.Die bei dieser Explikation des faktischen Lebens nach den drei ge-nannten Sinnrichtungen entstandenen Begriffe nennt Heidegger inAuseinandersetzung mit der Tradition Kategorien. Kategorie istdemnach etwas, was seinem Sinn nach ein Phnomen in einer Sinn-richtung [] interpretiert10. Logik ist daher kategoriale Explikationdes faktischen Lebens als Phnomen, als Sinnganzheit bzw. vollerSinn in seinen drei Sinnrichtungen.

    a) Vorhergehende Klrungen

    Was besagen diese Sinnrichtungen aber genau? Wie sind Gehalts-,Bezugs- und Vollzugssinn jeweils konkret zu verstehen? Wir neh-men am besten ein Beispiel, um Heideggers Auffassung dieser dreiSinnrichtungen etwas anschaulicher zu machen und auf diesem Wegzu klren. Als Beispiel dient uns hier eine der sechs Bedeutungen vonGeschichte, die Heidegger in der Vorlesung des Sommersemesters1920 ber Phnomenologie der Anschauung und des Ausdrucks de-struktiv hebt11. In diesem Beispiel ist also Geschichte der Gegen-stand der konkreten Erfahrung, die nach den drei genannten Sinn-richtungen zu erhellen, d.h. phnomenologisch zu explizieren sind.Um diese Sinnrichtungen genauer zu verstehen, musst aber vor derInangriffnahme des Beispiels kurz erlutern werden, was hier ber-haupt Erfahrung heit und was es bedeutet, eine solche Erfahrungphnomenologisch zu erhellen12.

    32 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    9 Heidegger klrt in dieser Hinsicht, dass lgo@ nicht im Sinne von Logisierung,d.h. als Angleichung des Lebens an vorgegebene kategorialen Formen, sondern alsverbum internum des Phnomens selbst verstanden werden soll. Siehe ebd.10 GA 61, S. 86. Was genau Heidegger unter Logik und Kategorien versteht, wird im2. Teil der Arbeit Errterung finden.11 Siehe GA 59, S. 43ff.12 Diese vorhergehenden Klrungen sind unumgnglich, wenn das Verfahren und da-mit der Ansatz Heideggers nicht von Anfang an missverstanden werden soll. Es ist vongroer Wichtigkeit, zu verstehen, wie und woraus die von Heidegger herausgestelltenGrundcharaktere des faktischen Lebens entstehen, anstatt sie ohneWeiteres als gegebenvorauszusetzen und so darzustellen. Denn so treffend diese Charaktere auch sein m-gen, man liefe dann Gefahr, sie fr das zu nehmen, was sie gerade nicht sind. Die Ver-wechslung von Heideggers frhem Denken mit einer Lebensphilosophie bzw. einerMetaphysik des Lebens (siehe GA 59, S. 69 und GA 61, S. 141), von denen Heidegger

    Erfahrung meint, wie Heidegger oft betont, sowohl das Erfahren(die erfahrende Bettigung) als auch das Erfahrene (das, was erfah-ren wird)13. Diese Doppeldeutigkeit des Wortes wird von Heideggernicht vermieden, sondern vielmehr deswegen gewahrt, weil das ge-rade das Wesentliche der faktischen Lebenserfahrung ausdrckt, dadas erfahrende Selbst und das Erfahrene nicht wie Dinge auseinan-dergerissen werden14. Wenn hier von Erfahrung als Erfahren undErfahrenes gesprochen wird, dann ist also immer die faktische Le-benserfahrung gemeint, d. i. die Erfahrung, insofern sie in der Erfah-rungsweise des Lebens in seinem alltglichen, vortheoretischen Voll-zug von der Untersuchung bewahrt oder, ummit HeideggersWort zusprechen, wiederholt wird. Der Ausgangspunkt der Auslegung desfaktischen Lebens ist also fr Heidegger und das ist etwas grund-stzlich Charakteristisches fr seinen Ansatz, das wir demnach stn-dig im Blick behalten mssen die faktische Erfahrungsweise diesesLebens, die Weise, in der dieses Leben alltglich erfhrt und dabeisich erfhrt. Das bedeutet fr Heidegger vor allem, dass die phno-menologisch zu explizierende Erfahrung nicht theoretisch als eineTatsache intendiert wird, die objektiv geschieht, die vor einem theo-rs stattfindet. Weder das Erfahren noch das Erfahrene haben fr diephnomenologische Auslegung Objektcharakter, insofern diese im-mer in der faktischen Lebenserfahrung einsetzt und von ihr aus-geht15.Wie ist dann aber diese faktische Lebenserfahrung da? Welches ist

    der eigentmliche und von der theoretischen Betrachtung nicht mehrbeachtete Charakter dieser Erfahrung? Die faktische Lebenserfah-rung ist fr Heidegger immer als eine lebendige Situation da16. Das,was phnomenologisch erhellt und expliziert werden soll, zeigt also

    Phnomenologie der Mglichkeit A 33

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    sich zu distanzieren versuchte, rhrt unseres Erachtens vornehmlich von einem solchenMissverstehen seines Ansatzes her.13 Siehe GA 60 A, S. 63 und vor allem S. 9: Erfahrung bezeichnet: 1. die erfahrendeBettigung, 2. das durch sie Erfahrene.14 Ebd., S. 9.15 Siehe GA 62 A, S. 50: Den vollen Sinn eines Phnomens gilt es zu fassen (d.h. seinetheoretische Gegenstndlichkeit entscheidend verschwinden lassen).16 Im Laufe des vorliegenden Kapitels wird der in den frhen Vorlesungen zentraleBegriff der Situation nach vier verschiedenen Hinsichten errtert. Diesen Hinsichtenentsprechen gleichsam vier Dimensionen des philosophischen Projekts des frhenHeidegger, die in verschiedenen Abschnitten dieser Arbeit differenziert und sichtbargemacht werden sollen. Die erste Hinsicht betrifft die Struktur der faktischen Lebens-erfahrung. Das faktische Leben ist kein zusammenhangloses Gewhl von Empfindun-

  • laut Heidegger einen Situationscharakter. Um die Frage zu beantwor-ten, wie eine faktische Lebenserfahrung phnomenologisch expliziertwird, musst also konkret gefragt werden, was es bedeutet, eine Situa-tion zu erhellen, wie und auf welchem Weg es mglich ist, eine Si-tuation auszulegen.Situationen drcken sich laut Heidegger immer irgendwie aus. Sie

    werden deswegen von der phnomenologischen Forschung durch dasZurckverfolgen ihrer Ausdrucksweisen erschlossen. Was diese letz-ten Endes zum Ausdruck bringen, ist die Weise (das Wie, um es mitHeidegger zu sagen), in der sie etwas ansprechen, sich zu etwas be-ziehen und d.h. in der das Erfahrene in der betreffenden Situationerfahren wird17. Die von Heidegger in der Vorlesung des Sommer-semesters 1920 unterschiedenen Bedeutungen von Geschichte sindWeisen, in denen jeweils von Geschichte die Rede ist, in denen Ge-schichte irgendwie und als irgendwas angesprochen wird, in denensie entsprechend erfahren wird. Bei der Differenzierung der Bedeu-tungen von Geschichte, die in den entsprechenden Redeweisen undin den verschiedenen Aussagen darber leitend sind, geht es also da-rum, den Sinn zu verstehen, wie er faktisch gemeint ist, d.h. sich indie Situation zu versetzen, in denen solche Aussagen faktisch voll-zogen werden18.Die in einer Situation faktisch vollzogene Aussage bedeutet aber

    nicht und damit kommen wir zu einer weiteren Klrung des Situa-tionsbegriffes die an einem bestimmten raumzeitlichen Punkt ob-jektiv stattfindende Aussage. Situation ist nicht durch objektive Ge-schehnisse bestimmt was ihre Wieder-holung im HeideggerschenSinne unmglich machen wrde. Die bliche Tendenz, die Situationvon den in ihr auftretenden Gehalten her zu verstehen, ist es gerade,was laut Heidegger dieses Verstndnis verhindert. In dieser allgemei-nen Vorstellung ist Situation nichts mehr als der zeitrumlichePunkt, in welcher das Erfahrene stattfindet, d.h. objektiv vorkommt.

    34 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    gen o.., sondern vollzieht sich immer in strukturierten Situationen. Siehe in diesemSinne Gander (2000), S. 153.17 Dieses Verfahren des Zurckverfolgens von einem Ausdruck auf seine sogenanntemotivierende Grunderfahrung, auf seine Grundmotivation, bezeichnet Heideggerals Destruktion. Es handelt sich also um einen wesentlichen Aspekt der phnomenolo-gischen Methode, d.h. der von der situationellen, faktischen Lebenserfahrung aus-gehenden Auslegung des faktischen Lebens. Die Destruktion wird daher eine ausfhr-liche Errterung im ersten Abschnitt des 2. Teiles finden.18 GA 59, S. 44.

    Was diesen Punkt charakterisiert und von anderen Punkten unter-scheidet, ist dann nichts anderes als die Disposition der in ihm vor-kommenden Gegenstnde. Die Situation wird in diesem Fall also vonden Gehalten her gedacht und zwar von den Gehalten als Objekten19.Dagegen betont Heidegger, dass Situation vielmehr durch die Weisedes erfahrenden Selbst bestimmt ist, sich selbst zu haben. Situationist eben der eigentmliche Charakter, in dem ich mich selbst habe,nicht den Inhalt des Erlebten20. Eine Situation zu verstehen, bedeu-tet demnach, zu verstehen, was der Erfahrende erfhrt, wie er es er-fhrt und vor allem das ist der entscheidende Punkt wie er diesesseines Erfahren selbst hat.Die ursprngliche Erfahrung von Geschichte, die nach ihren drei

    Sinnrichtungen phnomenologisch expliziert werden soll, ist alsonichts anderes als die so verstandene faktische Situation, auf welchedie konkrete, phnomenologisch explizierte Rede von Geschichtehinweist. Damit ist klar, was mit dem Anspruch, eine Erfahrung zuerhellen, gemeint ist: die Forderung, durch die (destruktive) Zurck-verfolgung der betreffenden Aussagen zu den sie motivierendenGrunderfahrungen, d.h. zur ursprnglichen, faktischen Erfahrungs-situation zu gelangen und diese Situation zu explizieren. Was wirddann aber konkret expliziert? Das durch die jeweilige Rede von Ge-

    Phnomenologie der Mglichkeit A 35

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    19 Bei der Charakterisierung einer Situation besteht immer diese Gefahr, in Objekti-vierung zu verfallen. Man ist versucht, aufzuzhlen, was von mir in diesem Momentgerade erfahren und erlebt wird. Die inhaltliche Mannigfaltigkeit wrde dann den Cha-rakter der Situation ausmachen. Weiter kme man zu letzten Daten und schlielichzur raumzeitlichen Bestimmung der Situation (bestimmte Stelle des objektiven Raumsin einem bestimmten objektiven Zeitpunkt) (GA 58, S. 259).20 Siehe GA 58, S. 259f. Hier stoen wir auf den zweiten der Aspekte, die innerhalb desSituationsbegriffs unterschieden werden knnen. Situation meint erstens die Strukturder faktischen Lebenserfahrung und d.h. letzten Endes zweitens die Weise, in der daserfahrende Selbst sich selbst hat. Siehe Gander (2000), S. 153 ber die Situation alsSelbstheit. Insofern dieser Begriff sowohl die vortheoretische, faktische Lebenserfah-rung als auch das Sichselbsthaben des Selbst bezeichnet, spielt er eine zentrale Rollein dem philosophischen Versuch, den Heidegger in seinen ersten Vorlesungen unter-nimmt. Denn die ersten unter den frhen Freiburger Vorlesungen sind bemht, sichvon der Idee der Philosophie als Urwissenschaft des Lebens leiten zu lassen und aufdiesemWeg diese Wissenschaft selbst zu begrnden. Das erfolgt auf eine doppelte Wei-se: Erstens, indem der phnomenologische Bereich des vortheoretischen Lebens ange-zeigt wird (vor allem in GA 56/57 A) und zweitens, indem aus diesem Bereich (und inihm verbleibend) der Weg zu der angestrebten Ursprungswissenschaft durch das erfah-rende Selbst gesucht wird (besonders in GA 58). Offensichtlich ist in beiden Hinsichtenist der Situationsbegriff zentral.

  • schichte Ausgedrckte und damit das phnomenologisch zu Erhel-lende ist fr Heidegger genau folgendes: erstens das Wie, in dem indieser Erfahrung etwas gehaltsmig bestimmt wird (der Gehalts-sinn dieser Erfahrung); darber hinaus das Wie, in dem dieses Etwasgehabt wird (der Bezugssinn der Erfahrung), und zuletzt und vorallem das Wie, in dem dieser Bezug vollzogen wird (der Vollzugssinnder Erfahrung). Den Sinn zu verstehen, so wie er faktisch gemeintist, bedeutet also nicht zu verstehen, was das konkrete, aussagendeSubjekt in diesem (objektiven) Moment damit meinte, was es genau(objektiv) in der Vorstellung hatte, sondern die Grunderfahrungz.B. von Geschichte, auf welche die betreffende Aussage hinweist,nach ihrem Gehalts-, Bezugs- und vor allem nach ihrem Vollzugs-sinn (denn das ist es, was die Situation zuletzt bestimmt) durch Aus-legung zu verstehen.

    b) Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    Damit mag etwas deutlicher geworden sein, welches der Ausgangs-punkt der phnomenologischen Auslegung eines Phnomens ist diefaktische Lebenserfahrung und was es heit, eine solche Erfahrungphnomenologisch zu erhellen, auszulegen sich in die ursprng-liche, faktische Erfahrungssituation zu versetzen und diese nach dendrei genannten Sinnrichtungen zu explizieren. Nun soll versuchtwerden, am Leitfaden einer der in der Vorlesung vom Sommer-semester 1920 differenzierten Bedeutungen von Geschichte klar-zumachen, wie Heidegger konkret diese drei Sinnrichtungen (Ge-halts-, Bezugs- und Vollzugssinn) versteht, wobei wir mit derersten, mit dem Gehaltssinn, beginnen. Die hier von uns als Beispielgewhlte Aussage, von der die Destruktion d. i. die Erschlieungder ursprnglichen faktischen Situation ausgeht, ist die von ge-schichtslosen Stmmen und Vlker[n]21.

    b.1) Gehaltssinn

    Ein Phnomen (das faktische Leben) ist wie gesagt keine Sache, keinObjekt, sondern eine Mannigfaltigkeit und zugleich Einheit vonSinnrichtungen. Diese Sinnrichtungen sind ihrerseits Weisen, Wie

    36 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    21 Siehe GA 59, S. 43 (Hervorhebung des Verfassers).

    des Seins von faktischem Leben22. Darauf ist besonders zu achten,wenn man versucht, den Gehaltssinn eines Phnomens zu erlutern.Denn der Gehaltssinn ist fr Heidegger das, was faktisch erfahrenwird23. Es liegt deshalb nicht fern, von hier aus den Gehaltssinn alsgegebenen Inhalt, d.h. als etwas Objektartiges und nicht mehr Sinn-haftes zu verstehen. Das ist gerade die Tendenz des Lebens: den Ge-haltssinn als Inhalt und diesen Inhalt als das Bestimmende fr dieAuffassung des Phnomens der dann nicht einmal fr einen Gegen-stand, sondern schon fr ein Objekt gehalten wird zu fassen. Gera-de gegen diese Tendenz, die keine zufllige ist, sondern eine Grund-tendenz des faktischen Lebens selbst ausmacht, richtet sich diephnomenologische Hermeneutik dieses faktischen Lebens, wie Hei-degger sie entwickelt24. Das vom Phnomen erfahrene Was, welchesden Gehaltssinn ausmacht, ist nicht etwas Bestehendes, etwas ein-fachhin und ohne Weiteres Vorkommendes, sondern eine Sinnrich-tung und damit ein Sinn, d.h. auch ein bestimmtesWie. Der Gehalts-sinn der von uns als Beispiel gewhlten Erfahrung von Geschichtedarf also nicht verwechselt werden mit Geschichte als objektiv ge-gebenem Inhalt. Auch der Gehaltssinn dieser Erfahrung ist ein Wiedes Ansprechens seines Gegenstandes, des Ansprechens von Ge-schichte.Wenn es gefragt wird, wie Geschichte in unserem Beispiel gehalts-

    mig angesprochen wird, dann impliziert das, dass diese nichtschlechthin, sondern auf eine bestimmte Weise, und d.h. hier alsetwas erfahren wird. Einer der Aspekte, den die betreffende Aussageber die geschichtslosen Vlker ausdrckt, ist demnach dieser: als

    Phnomenologie der Mglichkeit A 37

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    22 Sein genau wie Leben darf nicht substantivisch, als gegebener Inhalt, der inirgendeinem Bezug gehabt werden kann, sondern als nominaler Ausdruck eines spezi-fisch intransitiv-transitiven Verbs verstanden werden, d.h. als Sein Leben des fak-tischen Lebens: als das faktische Leben sein, bzw. leben (siehe GA 63, S. 7: Sein tran-sitiv: das faktische Leben sein! Sein selbst nie mglicher Gegenstand eines Habens,sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt). Sein und Leben haben fr Heideggerauch, wie im Folgenden zu sehen sein wird, einen spezifisch intransitiven Sinn, derinsofern von Belang ist, als er die jeweilige Weise des Seins bezeichnet, d.h. das Wiedes Seins und Lebens. Siehe dazu GA 61, S. 82. Siehe auch Duque (1999), S. 104f.23 Vgl. GA 60 A, S. 63.24 Gerade hier wird verstndlich, warum die Unterscheidung zwischen dem Gehalts-,Bezugs- und Vollzugsmigen und ihre Charakterisierung als Sinnrichtungen einesPhnomens (d.h. als Sinnrichtungen, als Weisen, als Wie von etwas Sinnhaftem, vonetwas, das als Sinn und nicht als Objekt ist) ein Grundzug fr die Mglichkeit dieserHermeneutik ist.

  • was Geschichte hier erfahren und angesprochen ist. Wenn wir alsofragen, wie Geschichte in dieser konkreten Situation erfahren wird,dann meinen wir dieses genuine und ursprngliche Als-Was der Er-fahrung. Es wird also zunchst nicht nach dem Erfahren (der erfah-renden Bettigung) gefragt, sondern nach dem Erfahrenen, und zwarfragen wir, wie (d.h. als was) es faktisch erfahren wird. Es wird dannnach dem Sinn (dem Wie) des Erfahrenen gefragt, des Gehalts derkonkreten Erfahrung: nach ihrem Gehaltssinn. Geschichte kann,wie es in unserem Beispiel der Fall ist, als Tradition erfahren sein:d.h. als wirkende, lebendige wenn auch vielleicht latente und nichtausdrcklich gemachte Vergangenheit in der eigenen Lebenserfah-rung und ihren Situationen25. Tradition in dieser Bedeutung ist alsodas ursprngliche, konkrete Was, das in der gerade phnomenolo-gisch explizierten Erfahrung von Geschichte erfahren wird: der Ge-haltssinn dieser faktischen Erfahrung.

    b.2) Bezugssinn

    Dieser Gehalt (Geschichte) wird aber nicht nur als irgendetwas (z.B.als Tradition), sondern auerdem irgendwie gehabt: Das Erfahrenbezieht sich in irgendeiner Weise auf ihn, hat ihn in irgendeinemBezug. Der Gehalt wird in einem Bezug gehabt. Wenn jetzt nachdem Wie dieses Bezugs gefragt wird, nach dem Wie, in dem dieserGehalt (Geschichte) erfahren wird also nicht danach, als was eserfahren wird, sondern danach, wie (in welchem Bezug) es gehabtwird , dann wird nach dem Bezugssinn dieser faktischen Erfah-rungssituation gefragt. Das Erfahren von Geschichte ist irgendwieauf diese bezogen. Wenn Geschichte als Tradition gesehen, d.h. er-fahren und angesprochen wird, dann entspricht dieses Als-Was desAnsprechens einem bestimmten Wie des Bezugs, einemWie des An-sprechens und Erfahrens, einem Bezugssinn. In welchem Bezug wirdGeschichte (Gehalt) gehabt, wenn sie als Tradition (Gehaltssinn) er-fahren wird? Welches ist also der Bezugssinn von Geschichte in die-ser konkreten faktischen Situation des Erfahrens von Geschichte alsTradition, als eigener Vergangenheit?Die Aussage, die auf dieser Bedeutung von Geschichte grndete,

    war diejenige ber Stmme und Vlker, die geschichtslos sind, d.h.

    38 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    25 Dass es geschichtslose Stmme und Vlker gibt, bedeutet demnach, dass diese keineTradition in dem gerade erluterten Sinne haben. Vgl. GA 59, vor allem S. 45 f.

    die keine Geschichte haben. Geschichte ist hier also etwas, was ge-habt bzw. nicht gehabt wird: Das Haben ist demnach der Bezugssinnder Geschichte als Tradition. Haben ist aber zunchst eine formaleBezeichnung26, die daher nicht nur diesen konkreten Bezugssinn,sondern jeden Bezug bezeichnen kann. Haben kann einfach besagen:in einem Bezug stehen. Daher unterscheidet Heidegger zwischendrei Bedeutungen von Haben :

    [1.] Haben im Sinne von Zukommen, objektiv; Gegenstandsbeziehung, Kor-relat theoretischen Bestimmens. [2.] Haben als Verfgbarhaben (faktisch)von Einstellungen; die Eignung besitzen, sich zugnglich zu machen. [3.]Ha-ben bezogen auf Vergangenheit als die eigene; >bewahren< mehr als erin-nern, entsinnen, daran denken; die eigene Vergangenheit spielt herein inseigene Dasein27.

    Tradition wird faktisch nicht wie ein objektives Korrelat einer theo-retisch bestimmenden Einstellung gehabt, ist keine Eigenschaft, dieeinem Objekt zukommt bzw. nicht zukommt (das wre ein Habenim ersten Sinne, im Sinne des Zukommens). Tradition ist aber auchnicht einfach als Besitz da, als Vergangenheit, ber die man beliebigverfgen knnte (Haben im zweiten Sinne von Verfgbarhaben).Tradition wird faktisch nur als Vergangenheit gehabt, die eigen ist,die man bewahrt und die man selbst irgendwie ist. Das Haben vonTradition ist also als bewahrende[s] und sich stndig erneuernde[s]Mitnehmen bzw. Bewahren und im eigenen Dasein stets neu ber-und Mitnehmen28 zu bestimmen.Dieser letzterer ist also der konkrete Bezug, in welcher der Gehalt

    (Geschichte) in der explizierten Erfahrung gehabt wird. Der Gehalts-sinn (Tradition) ist also das Korrelat jener Weise, in welcher der Ge-halt (Geschichte) in diesem konkreten Wie des Bezugs, in diesemBezugssinn (Haben als bewahrendes und sich stndig erneuerndesMitnehmen) gehabt wird. Das Was des erfahrenen Phnomens istalso nicht autonom, ist kein abgelstes und fertiges Ding, sondernist Korrelat eines Wie des Bezugs, und vor allem ist es selbst ein Wie.Es ist, mit Heidegger gesprochen, das Wie des Worauf des Be-zugs29, d.h. das Wie, in dem das Worauf (Gehalt) steht und aufwelches sich der Bezug bezieht d. i. das Wie des Gehalts, das Als-

    Phnomenologie der Mglichkeit A 39

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    26 Siehe GA 61, S. 52.27 GA 59, S. 53 f.28 Ebd., S. 59 bzw. S. 80.29 GA 61, S. 53.

  • Was, als welches der Gehalt (Geschichte) konkret erfahren ist. Wie(als was) dasjenige ist, worauf sich der Bezug bezieht: Das macht denGehaltssinn aus, den konkreten Gehalt dieser Erfahrung. Gehalt undBezug stehen also in einem Zusammenhang. Was der Bezug von Ge-schichte hlt, das ist der konkrete Gehalt, der Gehaltssinn der kon-kreten, faktischen Erfahrung von Geschichte30. Der Gehalt ist alsonichts objektiv Gegebenes und steht nicht nur in einem Zusammen-hang mit dem Bezug, sondern hngt laut Heidegger entscheidendvon ihm ab. In unserem Beispiel heit das: Was der Bezugssinn alsdas gerade charakterisierte Haben von Geschichte hlt, das ist derkonkrete Gehalt, der Gehaltssinn (Tradition) dieser Erfahrung. Ge-schichte im Bezugsinn des Bewahrens und im eigenen Dasein stetsneu ber- und Mitnehmens gehabt, ist nach dem Gehaltsinn alsTradition bestimmt.

    b.3) Vollzugssinn

    Damit ist der Zusammenhang zwischen Gehalt- und Bezugssinn derErfahrung geklrt. Der Bezug selbst, das Erfahren dieses Erfahreneswird aber laut Heidegger auch irgendwie gehabt, und d.h. hier voll-zogen31. Der Bezug wird gehabt im Vollzug, d.h. er wird erlebt, er-fahren, vollzogen. Wird jetzt gefragt, wie der Bezug gehabt wird,dann wird diese Frage eine nach dem Vollzugssinn und im Besonde-ren danach, in welchem Vollzugssinn die Erfahrung erlebt wird. DerVollzugssinn ist das genuine, ursprngliche Wie des Vollzugs desBezugs (zum Gehalt).Der Bezug ist offensichtlich (nicht so wie der Gehalt) ein Wie, d.h.

    er lsst sehen, dass der Erfahrende, das erfahrende Selbst32 in derErfahrung irgendwie eine Rolle spielt eine Tatsache, die bei einerisolierten Betrachtung des Gehalts nicht zu bemerken wre. Er istaber nicht nur ein Wie, er selbst hngt auerdem in seinem Sinnmit einem Wie des Vollziehens zusammen, mit dem Vollzugssinn

    40 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    30 Vgl. ebd., im Zusammenhangmit der Explizierung des Sinnes von Philosophie als einVerhalten: Der Bezug des Verhaltens ist Bezug zu etwas; das Verhalten zu hlt sichan etwas, bzw., je nach dem Bezugssinn, das etwas, wozu das Verhalten ist, ist das, wasder Bezug bei sich hlt, was von ihm und in ihm gehalten ist, was er vom Gegenstandhlt. DasWorauf undWozu des Bezugs ist derGehalt. Siehe dazu Rodrguez (1997),S. 53 und Duque (1999), S. 105.31 Siehe GA 59, S. 62f.32 GA 60 A, S. 10.

    der Erfahrung. Anhand des Vollzugssinnes wird der Erfahrende, daserfahrende Selbst noch weiter, ja entscheidend herausgehoben, undzwar, indem durch den Vollzugssinn auf den konkret Erfahrendenverwiesen wird. Die Erfahrung wird irgendwie vollzogen, und zwarvon jemand Konkretem33. Daher ist das konkrete Selbst auch Heideg-gers Kriterium fr die Charakterisierung eines Vollzugssinns imHinblick auf seine Ursprnglichkeit34. Denn das Haben eines Bezugskann nur hinsichtlich der Weise und der Ausdrcklichkeit, gleichsamhinsichtlich des Bewusstseins bestimmt werden, mit dem der Erfah-rende diesen Bezug vollzieht35.

    Damit mag Heideggers Verstndnis von Gehalts-, Bezugs- und Voll-zugssinn etwas klarer geworden sein. Bei dieser Klrung sind auer-

    Phnomenologie der Mglichkeit A 41

    Phnomen: Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn

    33 Anders gesagt, der Vollzug hat eine konkrete Zeitigung, er wird irgendwie Vollzugin und fr seine Situation, er zeitigt sich irgendwie. Wie der Vollzug sich zeitigt, dasswird durch den von Heidegger kaum direkt thematisierten Zeitigungssinn bestimmt(siehe GA 61, S. 53). Der in dieser Vorlesung eingefhrte und immer wichtiger werden-de Zeitigungssinn bernimmt immer mehr die Rolle, die bis daher vor allem dem Voll-zugssinn zugewiesen wurde. Daher knnten Vollzugssinn und Zeitigungssinn fast sy-nonym verstanden werden (siehe z.B. Rodrguez (1997), S. 54). Wir werden hier dieserUnterscheidung aber nicht weiter nachgehen und nur von Gehalts-, Bezugs- und Voll-zugssinn sprechen. Zum Zeitigungssinn siehe auch Duque (1999), S. 106.34 Fr das also, was er Diiudikation nennt. Das Kriterium der Diiudication eines Voll-zuges nach seiner Ursprnglichkeit lautet: Ursprnglich ist ein Vollzug, wenn er sei-nem Sinne nach als Vollzug eines genuin selbstweltlich zum mindesten mitgerichtetenBezugs immer aktuelle Erneuerung in einem selbstweltlichen Dasein fordert so zwar,da diese Erneuerung und die in ihr liegende Erneuerungsnotwendigkeit (Forderung)selbstweltliche Existenz mitausmacht (Siehe GA 59, S. 74 f., Hervorhebung Heideg-gers aufgehoben). Dieses Kriterium wird im Folgenden durch die Bestimmung vonBegriffen wie Selbstwelt oder Existenz immer einleuchtender werden. Das gleiche giltfr die Diiudikation unseres Beispiels, die Charakterisierung der Auffassung von Ge-schichte als Tradition nach dem Vollzugssinn, die wir gleich darstellen werden. ZurDiiudikation siehe auerdem Vigo (2005), S. 262.35 Im Falle unseres Beispiels: Tradition wird deswegen nicht als ursprnglicher Vollzugdiiudiziert, da auch wenn sie in der Tat eine Erneuerung erfordert, es sich nicht um einehandelt, die selbstweltliche Existenz mitausmacht. Die Erneuerung der Vergangenheitaber, wie sie im Fall [der Tradition] sowohl bezglich der Gemeinschaft als auch einerSelbstwelt gemeint ist, macht nicht selbstweltliche Existenz mit aus, sondern hlt aktu-elles Dasein gerade in einer stndigen Abdrngung von dieser Mglichkeit, hlt es ge-rade an umweltlichen und mitweltlichen Bedeutsamkeiten fest; selbstweltliche sindnicht in ihrem existenziellen Charakter da, sondern spielen lediglich mit eine Rolle wieumweltliche (GA 59, S. 82). Tradition ist also nicht der ursprngliche Sinn von Ge-schichte. Dieser Sachverhalt lsst erkennen, warum sie gerade destruiert werden soll,um die ursprngliche Geschichtlichkeit des faktischen Lebens zu erschlieen.

  • dem zwei entscheidende Aspekte deutlich geworden: erstens der, dassdie drei erluterten Sinnrichtungen untereinander zusammenhn-gen ein Phnomen ist eine Sinnganzheit, keine nachtrgliche Zu-sammensetzung von drei fr sich bestehenden Elementen , undzwar so, dass der Gehaltssinn (das, als was das Erfahrene erfahrenwird) vom Bezugssinn (dem Wie, in dem das Erfahrene seitens deserfahrenden Selbst gehabt wird) und dieser seinerseits vom Vollzugs-sinn (von der Weise, in der das erfahrende Selbst dieses sein Wie desErfahrens hat) entscheidend bestimmt wird36. Auerdem ist zweitensauch ersichtlich geworden, dass das Selbst im Vollzug konkreter undexpliziter wird als im Bezug und in diesem wiederum konkreter undexpliziter als im Gehalt. Das sind zwei im Blick zu behaltende Aspek-te, die fr unseren Versuch, die Grundzge der phnomenologischenHermeneutik des frhen Heidegger zu verstehen, hilfreich, ja un-erlsslich sein werden.

    6. Charakterisierung des faktischen Lebens nach demGehaltssinn: die Grundkategorien des Gehaltssinnes

    Phnomenologie ist fr Heidegger verstehende Auslegung, Explika-tion des faktischen Lebens als Phnomen (als etwas Sinnhaftes) inseinem inneren Logos nach Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn.Die phnomenologische Interpretation des faktischen Lebens, in wel-cher philosophische Forschung selbst besteht, legt dieses daher in dendrei gerade genannten Sinnrichtungen aus. Die durch diese Interpre-tation gewonnenen Bestimmungen der Grundcharaktere des fak-tischen Lebens hinsichtlich der drei abhebbaren Sinnrichtungen wer-den von Heidegger Kategorien genannt und sind als Ausdruck vonSeinsweisen des sinnhaften Lebens zu verstehen.Nachdem nun deutlicher vor Augen steht, wie Heidegger den Ge-

    halts-, Bezugs- und Vollzugssinn fasst, wird unser Beispiel beiseitegelassen und ein Stck weit Heideggers Charakterisierung des fak-tischen Lebens nach diesen drei Sinnrichtungen errtert37. Wir be-

    42 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    36 In diesem Punkt wird wieder ersichtlich, was bei der Klrung des Situationsbegriffsschon gesagt worden ist: dass das Bestimmende einer Situation fr Heidegger die Weisedes Sich-Selbst-Habens des Selbst ist.37 Und zwar nur insoweit es fr unsere Absicht, die Grundzge des HeideggerschenPhilosophieverstndnisses zu klren, von Belang ist. Heidegger unternimmt innerhalb

    ginnen mit den Kategorien des Gehaltssinnes, und zwar zunchst (a)mit der Grundkategorie des Gehaltssinnes von faktischem Leben Welt und dann (b) mit der konkreten Bestimmung dieser Grund-kategorie als Um-, Mit- und Selbstwelt.

    a) Welt als Gehaltssinn von faktischem Leben. Bedeutsamkeit undBekundungscharakter der Welt

    Die Kategorien des Gehaltssinnes sind dem Gesagten zufolge Be-stimmungen, die das faktische Leben das Dasein, wie Heidegger esauch nennt in Hinsicht auf seinen Gehalt, auf sein konkretes fak-tisches Was interpretieren. Die Grundkategorie des Gehaltssinnesvon faktischem Leben ist fr Heidegger Welt38. Das ursprnglich,d.h. das in der faktischen Lebenserfahrung Erfahrene, dasWas dieserErfahrung hat demnach immer Weltcharakter. Das Erfahrene ist im-mer alsWelt erfahren. Was heit das genau? Leben ist ein nomina-ler Ausdruck, der aus der Zusammensetzung des transitiven und desintransitiven Sinnes des Verbs leben entsteht. Leben ist also lautHeidegger nicht substantivisch und damit als Substanz zu verstehen,sondern verbal, als ein bestimmter Vollzug39. Da sie die Aufmerk-samkeit nicht auf das Was, sondern auf das Wie des Lebens lenkt und damit den meistens verdeckten Bezugs- und Vollzugscharakterdieses Lebens besser erkennen lsst , bevorzugt Heidegger die in-transitive Bedeutung des Verbs leben. Das bewirkt, dass das Eigen-tmliche des faktischen Lebens nicht sofort transitiv verstanden undso mit dem subjektiven Erleben eines vorkommenden Erlebnisinhaltsidentifiziert wird. Dennoch trgt die intransitive Bedeutung eine ge-wisse und besondere Transitivitt mit sich, da die faktische Lebens-erfahrung nicht leer ist, sondern laut Heidegger immer ein Lebenin, aus, gegen, fr bzw. mit etwas. Die Betonung der in-transitiven Bedeutung von leben ermglich es aber, die Aufmerk-samkeit vom Gehalt (dann als Erlebnisinhalt verstanden) abzulenkenund auf die durch die genannten Prpositionen angezeigten formalen

    Phnomenologie der Mglichkeit A 43

    Charakterisierung des faktischen Lebens nach dem Gehaltssinn

    dieser Vorlesungen mehrmals die Charakterisierung des faktischen Lebens, wobei erjedes Mal neue Kategorien (vor allem des Bezugssinnes) formuliert.38 Siehe z.B. GA 61, S. 86: Welt ist die Grundkategorie des Gehaltssinnlichen im Ph-nomen Leben.39 Siehe dazu Tietjen (1986), S. 20 und vor allem Rodrguez (1997), S. 57 und 106.

  • Bezge des Lebens zu richten. Durch diese Prpositionen wird dieWeise ausgedrckt, in der faktisches Leben lebt. Faktisches Leben lebtdemzufolge immer in, aus, mit, fr bzw. gegen etwas. Wenn nun vonhier aus die Frage nach dem Gehaltssinn des faktischen Lebens ge-stellt wird, so ist nach Heidegger das etwas (der Gehalt), worin,woraus, wofr, wogegen und womit (Bezug) das Leben lebt, als Weltzu charakterisieren40. Welt ist das was gelebt wird, wovon Lebengehalten ist, woran es sich hlt, d. i. der in den genannten Bezgenerfahrene Gehalt des Phnomens faktisches Leben (das, woran sichdas vollzogene Leben hlt, was es vom Erfahrenen hlt). FaktischesLeben lebt nach Heidegger also immer in, aus, mit, fr und gegeneine Welt41.Hier lsst sich das ber den Ausgangspunkt der phnomenologi-

    schen Erforschung des Lebens Gesagte wiedererkennen. Heideggergeht in seiner kategorialen Interpretation des faktischen Lebens vonder faktischen Erfahrungsweise dieses Lebens selbst aus, von dersogenannten faktischen Lebenserfahrung42, und das nicht nur ohneBercksichtigung, sondern durch explizite Zurckweisung tradi-tioneller erkenntnistheoretischer Probleme, wie desjenigen derExistenz der (Auen)Welt, oder daran anschlieend des episte-mologischen Subjekt-Objekt-Verhltnisses sowie des Verhltnisseszwischen erkennendem Ich und erkannter Welt43. In der faktischen

    44 ALBER THESEN Francisco de Lara

    Kategorien und Grundcharaktere des faktischen Lebens

    40 Siehe GA 61, S. 85 f.: Das etwas [] fixieren wir mit dem Terminus Welt. Beider Kategorie Welt handelt es sich, wie Heidegger hervorhebt, nicht um die vorgngigauswhlende Hinstellung einer bestimmten Wirklichkeit, z.B. den Kosmos der Naturund dessen Bezeichnung als Welt, worin Lebewesen vorkommen, sondern [sie] wchstaus dem durch das Verbum leben angezeigten Phnomen, das sich als unser Leben,das wir leben, in bestimmter Weise zur Anschauung bringen lt (ebd., S. 86).41 Ebd.42 Siehe Rodrguez (1997a), S. 232, der in diesem Sinne von einer naive[n] Einstel-lung gegenber den wissenschaftlichen oder philosophischen Erklrungen spricht.43 Die Frage nach der Realitt der Auenwelt ist laut Heidegger das Problem derErkenntnistheorie (vgl. GA 56/57 A, S. 79). Dass Heidegger darin nur ein Pseudopro-blem und eine unphilosophische Frage sieht, hat er an mehreren Stellen seiner frhenVorlesungen ausdrcklich gemacht. Siehe z.B. GA 61, S. 97: Man tut gut, hier vonallen weiteren I