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Frank Janning · Katrin Toens (Hrsg.) Die Zukunft der Policy-Forschung

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Frank Janning · Katrin Toens (Hrsg.)

Die Zukunft der Policy-Forschung

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Frank JanningKatrin Toens (Hrsg.)

Die Zukunft derPolicy-ForschungTheorien, Methoden, Anwendungen

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1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Frank Schindler

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15725-2

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis

Frank Janning und Katrin Toens Einleitung ............................................................................................................................. 7

Teil I: Theorieentwicklung und Forschungsperspektiven Michael Th. Greven "Politik" als Problemlösung - und als vernachlässigte Problemursache. Anmerkungen zur Policy-Forschung.................................................................................. 23 Thomas Saretzki Policy-Analyse, Demokratie und Deliberation: Theorieentwicklung und Forschungsperspektiven der "Policy Sciences of Democracy" ................................... 34

Volker Schneider Komplexität, politische Steuerung, und evidenz-basiertes Policy-Making........................ 55

Katrin Toens und Claudia Landwehr Imitation, Bayesianisches Updating und Deliberation: Strategien und Prozesse des Politiklernens im Vergleich ......................................................................................... 71

Friedbert Rüb Policy-Analyse unter Bedingungen von Kontingenz. Konzeptuelle Überlegungen zu einer möglichen Neuorientierung........................................................... 88

Frank Janning Regime in der regulativen Politik. Chancen und Probleme eines Theorietransfers ......... 112 Diana Panke und Tanja Börzel Policy-Forschung und Europäisierung ............................................................................. 138 Reimut Zohlnhöfer Stand und Perspektiven der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung............................ 157

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Nicolai Dose Wiederbelebung der Policy-Forschung durch konzeptuelle Erneuerung ......................... 175

Teil II: Methodenfragen und Anwendungsaspekte Sylvia Kritzinger und Irina Michalowitz Methodologische Triangulation in der europäischen Policy-Forschung .......................... 191 Maarten Hajer Diskursanalyse in der Praxis: Koalitionen, Praktiken und Bedeutung ............................. 211

Achim Lang und Philip Leifeld Die Netzwerkanalyse in der Policy-Forschung: Eine theoretische und methodische Bestandsaufnahme................................................................................ 223 Claudius Wagemann Qualitative Comparative Analysis und Policy-Forschung ............................................... 242 Christine Trampusch Sequenzorientierte Policy-Analyse. Warum die Rentenreform von Walter Riester nicht an Reformblockaden scheiterte ....................................................... 259 Nicole Deitelhoff und Anna Geis Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Gegenstand der Policy- und Governance-Forschung ............................................................................................. 279 Silke Bothfeld Politiklernen in der Elternzeitreform: Ein Beispiel für deliberatives Politikhandeln ....... 297 Frank Bönker Interdependenzen zwischen Politikfeldern – die vernachlässigte sektorale Dimension der Politikverflechtung ................................................................... 315

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren......................................................................... 331

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Einleitung

Frank Janning und Katrin Toens

Die Policy-Forschung hat sich als theoriegeleitete Politikfeldanalyse und vergleichen-

de Staatstätigkeitsforschung bedeutend weiter entwickelt und ein eigenständiges Set an Methoden und Forschungsansätzen etabliert (Janning 2006; Schneider/Janning 2006). Die Etablierung der Policy-Forschung als Subdisziplin der Politikwissenschaft in Deutschland mutet aus heutiger Sicht dabei fast etwas überraschend an. Selbst in den USA – dem Hei-matland der Policy-Forschung – ist das Verhältnis zwischen Policy Analysis und Politik-wissenschaft merkwürdig ambivalent geblieben. Der Wegbereiter der modernen Policy-Forschung Harold Lasswell war in gewissem Sinne ein paternalistischer Reformer, der an die Rationalisierbarkeit von politischen Entscheidungen glaubte und dem Staat eine hervor-ragende Rolle bei der Demokratisierung der modernen Gesellschaft zusprach, andererseits wollte er die Geltungsansprüche der Policy-Forschung, die den Staat zu mehr politischer Rationalität befähigen sollte, selbst demokratisieren und sprach sich für einen interdis-ziplinären und diskursiven Ansatz in der Policy-Forschung aus (Prätorius 2004; Torgerson 1985). Hier wird der Spagat zwischen einer Fachwissenschaft der empirischen Staats- und Institutionenanalyse und einer auf die Beratung der Entscheidungspraxis konzentrierten politiknahen Beratungstätigkeit angelegt. Entsprechend entwickelten sich in den USA zwei parallele Stränge mit nur wenigen Berührungspunkten: einerseits der anwendungsorientier-te technokratische Zweig der Policy-Analyse mit den berühmten Budget- und Programm-analysen (PPBS) basierend auf komplizierten Kosten-Nutzen-Kalkulationen (Lyden/Miller 1967), andererseits ein genuin politikwissenschaftlicher Strang (Dror 1968; Dye 1972; Lindblom 1968). Der praxisorientierte, technokratische Zweig versorgt bis heute die Ver-waltungsakteure und politischen Entscheidungsträger mit zielgerichteten Modellanalysen und Berechnungen, die wissenschaftliche Policy-Forschung verfügt nur über den begrenz-ten Wirkungskreis des akademischen Feldes und hat sich aber von den Handlungsperspek-tiven der politischen Akteure emanzipiert. Erst in jüngster Zeit finden diese beiden Stränge wieder stärker zusammen und zwar in den Ansätzen der sog. partizipativen Policy-Forschung, in denen wissenschaftliche Analysen mit einem breit verstandenen Aufklä-rungs- und Beratungsanspruch verknüpft werden (Fischer 2003; Saretzki in diesem Band).

In Deutschland wurde die Policy-Forschung nach 1968 von Politikwissenschaftlern eher skeptisch beäugt, den älteren Fachvertretern erschien sie zu wenig normativ und zu behavioristisch, den jüngeren, marxistisch orientierten Politikwissenschaftlern war sie zu wenig herrschaftskritisch und viel zu stark durch eine dienende, zuarbeitende Rolle in der Politikberatung geprägt (rückblickend: Fach 1982; Greven 1985; Hennis 1985). Verdanken sich diese Einschätzungen auch diverser Missverständnisse und Unkundigkeiten, so haben sie dazu geführt, dass die Policy-Forschung erst einmal in den frühen 70er Jahren nicht von dem Mainstream des Faches rezipiert, sondern statt dessen hauptsächlich von einer Gruppe sozialwissenschaftlicher Planungsforscher adaptiert wurde (Böhret 1970; Lompe 1971; Mayntz/Scharpf 1973; Scharpf 1973). Der Einsatz der Policy-Analyse als Instrument in umfassenden Planungs- und administrativen Reformkonzepten währte bekanntlich nicht lange. Bereits Mitte der 70er Jahre ebbte mit der Ölkrise und den internen Problemen in-nerhalb der sozialliberalen Koalition die Reformeuphorie ab, was auch den Planungsopti-

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mismus abschwächte (Bleek 2001: 383). In einzelnen Politikfeldern wurden aber auch konkrete Erfahrungen mit Umsetzungsproblemen und Blockadehaltungen bei den Refor-men gemacht. Als neuer wissenschaftlicher Forschungsgegenstand wurde nun von Politi-kern und Wissenschaftlern der Implementationsprozess erkannt. Schon in den USA der 60er Jahre hatten sich Policy-Forscher dezidiert mit der Umsetzung insbesondere der teuren und aufwändigen Welfare Programs der Johnson-Administration beschäftigt bzw. als Poli-cy-Experten die Umsetzung dieser Programme begleitet (Moynihan 1969). In Deutschland wird nun allgemeiner und weniger politikfeldspezifisch die Implementation als Durchfüh-rungs- und Anwendungsprozess von Gesetzen oder anderen politischen Handlungspro-grammen analysiert (Mayntz 1977; Mayntz 1980; Windhoff-Héretier 1980).

Die Beschäftigung mit Implementationsstrukturen und –prozessen verändert tenden-ziell aber auch die vormalige Staatsfixiertheit beim Einsatz der Policy-Forschung, kommen doch nun die Blockaden und Abhängigkeiten für das staatliche Handeln in den Blick. Denn ein nur durch administrative bzw. staatliche Interaktionspartner bestimmtes Vollzugssystem im Kontext einer spezifischen Problemmaterie erscheint höchstens als ein untypischer Aus-nahmefall. Viel wahrscheinlicher ist die Beteiligung von gesellschaftlichen Organisationen am Implementationsprozess. Dieser Umstand leitet für die Policy-Forschung eine Umorien-tierung der Untersuchungsfragen an, „z.B. anstatt der Frage nach dem weisungsgetreuen Verhalten nachgeordneter Behörden die Frage, wie eine Mehrzahl nicht durch formale oder gar hierarchische Beziehungen verknüpfter Organisationen zur notwendigen aufgabenbezo-genen Kooperation zusammenfindet“ (Mayntz 1980: 10). Insofern dokumentiert die Um-orientierung der Forschungsfragen für die Policy-Analyse von der Planungstheorie zur Implementationsforschung eine bedeutsame Veränderung der Analyseperspektive: Gingen vorher – in dem planerischen Politikmodell - die relevanten Reformanstöße von einer zent-ralistisch organisierten, planenden Staatsverwaltung aus, die freilich unter dem Primat der politischen Leitung steht, und konnte der politische Prozess somit nur aus einer Top-Down-Perspektive erfasst werden, so lässt die Implementationsforschung alle Hoffnungen auf einen hierarchischen Politikstil fahren und situiert den Staat als einen an der Implementati-on bloß mitbeteiligten Akteur, dessen Zentralposition und steuernde Rolle im Programm-vollzug erst empirisch aufzuweisen ist.

In gewissem Sinne wird damit bereits eine Forschungsperspektive für die Policy-Forschung markiert, die erst in den späteren Debatten über Politische Steuerung und Go-vernance der frühen 90er Jahre in ihren Konsequenzen bedacht wurde: Die Policy-Forschung hat nämlich im Anschluss an die Implementationsforschung mit zahlreichen Fallstudien zu politischen Entscheidungsprozessen und dem Gelingen und Versagen von staatlichen Steuerungsversuchen über unterschiedliche Probleme der regulativen Politik zu dem Aufkommen der Governance-Debatte maßgeblich beigetragen. Detaillierte Fallanaly-sen zeigen beispielsweise, dass sich umweltbewusstes Handeln von Unternehmen und Bür-gern nicht einfach durch Gesetz verordnen lässt. Eine wirkungsvolle oder gar nachhaltige Umweltpolitik muss stattdessen mit Steuervergünstigungen und Investitionsanreizen ope-rieren, um Unternehmen zu einem entsprechenden Umbau ihrer Produktionsanlagen zu bewegen (Decker 1994; Jänicke 1986). Andererseits ist es notwendig dass sich ökologisch sinnvolles Verhalten auch in der Alltagspraxis von Konsumenten durchsetzt, was nur durch Aufklärungskampagnen und umweltbewusste Erziehung erreicht werden kann. In den Poli-tikfeldern der Privatisierung ehemaliger staatlicher Infrastrukturmonopole (Radio/Fern-sehen, Post, Telekommunikation, Energie) lässt sich eine ähnliche Entwicklung aus umge-

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kehrter Richtung prognostizieren: zwar wird die Privatisierung von staatlicher Seite mit marktwirtschaftlicher Propaganda begleitet, die höchstens teilprivatisierten Policy-Sektoren werden aber weiterhin von staatlichen Kontroll- und Regulierungsbehörden überwacht, wobei sowohl ein zu großer Preiswettbewerb als auch die Monopolbildung durch Konzerne in den Infrastrukturbereichen verhindert werden soll (Böllhoff 2005; Müller 2002; Schnei-der 1999). Fallstudien zu diesen und ähnlichen Problemen weisen auf Einschränkungen der staatlichen Handlungsfähigkeit durch Eigenheiten und Struktureigenschaften des jeweiligen Politikfeldes hin (z.B. die Blockadehaltung von mobilisierungsmächtigen zentralistischen Verbänden, die Adressierung der öffentlichen Meinung durch Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen). Die wissenschaftliche Diskussion über die Voraussetzungen und Kontexte von politischer Steuerung hat aber auch Erkenntnisse darüber hervorgebracht, wie sich staatliche Politik in den unübersichtlichen Interessenkonstellationen von Politikfeldern Geltung verschaffen kann. Policy-Forscher verweisen auf Steuerungserfolge durch selekti-ve Einbindung relevanter Policy-Akteure, wobei hier die Organisations- und Mobilisie-rungsmacht dieser Akteure instrumentalisiert wird, oder durch Installierung von Verhand-lungsrunden, die auch schwach organisationsfähigen Interessen Zugang gewähren und so die Nutzung der relevanten, im Politikfeld verteilten Wissensressourcen und die Zusam-menarbeit mit offiziellen und nicht-offiziellen Policy-Experten gewährleisten (Grande 1993; Mayntz 1993; Scharpf 1993). Politische Steuerung erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als Einbahnstraße ausschließlich politischer Machtdurchsetzung, sondern als ein komplexes Arrangement von wechselseitigen Kooperationsangeboten und möglichst inklu-siven Verhandlungslösungen unter Berücksichtigung der Selbststeuerungskompetenzen nicht-staatlicher Akteure (Kooiman 2003). Statt von politischer Steuerung wird deshalb vermehrt von Governance in der Politikwissenschaft gesprochen. Der Governance-Begriff rekurriert darauf, dass sich die konventionellen Steuerungsprinzipien wie Staat und Markt nicht mehr einfach in den komplexen Wirkungszusammenhängen (spät)moderner Gesell-schaften zur Anwendung bringen lassen bzw. dass Typologien von Steuerungs- und Koor-dinationsmechanismen, die noch an den konventionellen Top-Down und Bottom-Up Per-spektiven ansetzen, wenig erkenntnisträchtig erscheinen (Benz 2004; Schneider/Kenis 1996). Das Governance-Konzept privilegiert deshalb kein idealtypisches Steuerungsprin-zip, sondern geht von der Ergänzung, Vermischung und Integration unterschiedlicher Steu-erungs- und Koordinationsmechanismen in der sozialen und politischen Wirklichkeit aus.

Die Auseinandersetzung mit der heutigen Gestalt staatlichen Handelns und politischer Steuerung bzw. Governance rückt allerdings Politikfelder als genuinen Forschungsgegens-tand der Policy-Forschung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (Janning 1998; Schnei-der/Janning 2006): Politikfelder sind das Ergebnis von staatlichen Bemühungen um Prob-lemlösungen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Problemmaterien, politische Ent-scheidungen und die Interessen und Aktivitäten von problemrelevanten Akteuren (mit und ohne formalem politischen Gestaltungs- bzw. Vertretungsauftrag) gruppieren sich zu Poli-cy-Konfigurationen mit eigenen Regeln, Ressourcenströmen und Struktureigenschaften, die sich häufig klar von anderen Politikfeldern unterscheiden lassen. Nichtsdestotrotz existieren Unschärfen bei der Zuordnung von Problemthemen (issues) auf einzelne Politikfelder (z.B. die sog. Riester-Rente als Thema für die Renten- und Sozialpolitik sowie für die Verbrau-cherschutzpolitik), und häufig entbrennt ein Kampf zwischen Ministerien oder zwischen anderen relevanten Akteuren unterschiedlicher Politikfelder um die Zuständigkeit und Deu-tungshoheit bei überlappenden Problemstellungen. Die Politikfeldanalyse versucht diese

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ausdifferenzierten Problem- und Akteurkonstellationen mit eingespielten Verfahrensabläu-fen und Verhaltensregeln zu untersuchen und deren Funktionalität, Stabilität oder Verän-derbarkeit und demokratische Rationalität zu beschreiben. Die Politikfeldanalyse setzt hierfür zunehmend auf Struktur- und Gesamtbeschreibungen, um einzelne Programmdebat-ten und Entscheidungen einem Grundmuster des Politikfeldes zurechnen und Strukturei-genschaften, die sich in einzelnen Interaktionen abbilden, herausarbeiten zu können. Für die Fortentwicklung der Politikfeldanalyse haben vier Forschungsansätze eine große Rolle gespielt: der akteurzentrierte Institutionalismus, die Politiknetzwerkanalyse, der Advocacy Koalitionen-Ansatz und die Analyse von Policy-Diskursen (Schneider/Janning 2006). Die-se Ansätze teilen die Einschätzung, dass für die wissenschaftliche Analyse tendenziell von Phasen- und Zyklus-Modellen, die stark an einem formalen Ablauf von politischen Ent-scheidungsprozessen innerhalb der gewaltenteilig organisierten politischen Institutionen und Entscheidungsgremien angelehnt bleiben, abstrahiert werden muss. Insofern erhebt sich auch Kritik an der Implementationsforschung und der Vorstellung, Betroffene und Adressaten von policies werden erst in der Umsetzungsphase am politischen Prozess betei-ligt (Sabatier 1993). Auch für diese Analysen bleiben konkrete issues ein wichtiger Be-zugspunkt, ihr Hauptaugenmerk gilt aber dem Versuch, Politiknetzwerke, Verhandlungs-konstellationen, Programmkoalitionen bzw. Diskurskoalitionen zu identifizieren, die dar-über entscheiden, wie und ob überhaupt ein gesellschaftliches Problem zu einem issue in einem Politikfeld wird.

Neben den komplexen Ansätzen in der Politikfeldanalyse hat sich in Deutschland in den 70er und 80er Jahren ein besonderer Strang der vergleichenden Policy-Forschung her-ausgebildet: die vergleichende Staatstätigkeitsforschung. Die Staatstätigkeitsforschung fragt ebenfalls nach der Wirkungsmacht genuin politischer Faktoren – die Rolle von Regie-rungsparteien, die Besonderheiten des politischen Institutionensystems, die selektive He-ranziehung und Bevorzugung von Interessenverbänden durch politische Akteure – auf die Politikergebnisse (policies) (Zohlnhöfer in diesem Band). Diese Faktoren werden im Rah-men der Beantwortung der allgemeineren Frage, welche Makrovariablen bestimmte öffent-liche Politiken (die selbst mit diversen Aggregatdaten wie Staatsausgaben, Transferzah-lungen, Privatisierungserlöse, etc. gemessen werden) beeinflussen, analysiert. Von den verschiedenen theoretischen Strömungen, die sich seit den 70er Jahren entwickeln, fallen die Antworten jedoch ganz unterschiedlich aus. In einer häufig zitierten Übersicht des theo-retischen Terrains unterscheidet Manfred G. Schmidt (1993) vier Strömungen, die den Fokus auf recht unterschiedliche Determinanten legen: Die Theorie der sozioökonomischen Determination, die Parteienherrschaftstheorie, die Theorie der Machtressourcen organisier-ter Interessen und die politisch-institutionalistische Theorie. In den letzten Jahren ist diese Liste um zwei weitere Posten erweitert worden: Ansätze, die einerseits historische Nach-wirkungen auf politische Entscheidungen und andererseits neue Zwänge, die sich aus inter-nationalen Entwicklungen (wie z.B. Globalisierung und Europäisierung) ergeben (Schmidt 2000). In der Theorienentwicklung der Staatstätigkeitsforschung lässt sich durchaus ein Muster erkennen, in dem die einzelnen Ansätze bzw. die hervorgehobenen Determinanten abwechselnd dominierten (Schneider/Janning 2006: 84). In der ersten Phase (1960er-Jahre) wurden innerpolitische Erklärungsfaktoren stark in Zweifel gezogen und Determinanten aus der Umwelt des politischen Systems als eigentlich relevante Wirkungsgrößen betrachtet (Dye 1966). In der zweiten Phase (1970er-Jahre) wurde diese Perspektive wieder umge-kehrt und ein großes Augenmerk auf innerpolitische Erklärungsvariablen gelegt. Besondere

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Prominenz erreichte dabei die Frage nach den Auswirkungen von partei- und interessenpo-litischen Spannungslinien und Strukturen in einzelnen Politikfeldern (Schmidt 1982). In der dritten Phase (1980er-Jahre) wird der Fokus auf die inneradministrativen, binnenpolitischen Faktoren noch weiter ausdifferenziert. Stärker als auf Parteipolitik wird nun auf die Wir-kung von institutionellen Zuständigkeiten und Kompetenzüberschneidungen, von politi-schen Steuerungsmitteln und von besonderen Verteilungs- und Ausstattungsinteressen politikrelevanter Akteure rekurriert. Die institutionellen und innerpolitischen Faktoren stellen nunmehr intervenierende Variablen dar, die zwischen sozialen oder wirtschaftspoli-tischen Besonderheiten und den Policy-Outcomes in einzelnen Politikfeldern vermitteln. In der vierten Phase (seit den 1990er-Jahren) wird der analytische Fokus insofern noch erwei-tert, als historische und internationale Determinanten bei der Erklärung von Politiken ein-bezogen werden. Historische Determinanten sind z.B. ähnliche politische Erfahrungen, die Ländergruppen auf ihrem politischen Entwicklungspfad gemacht haben oder die Herausbil-dung ähnlicher Kontexte, die dann prägend für spätere politische Entscheidungen und Prob-lemlösungen werden. Internationale Determinanten sind Zwänge und Restriktionen, die sich aus der zunehmenden internationalen wirtschaftlichen und politischen Verflechtung ergeben. Neue Herausforderungen für die Zukunft der Policy-Forschung

Wenngleich Politikfeldanalyse und vergleichende Staatstätigkeitsforschung auf viele

fruchtbare Forschungsergebnisse und bahnbrechende Studien zurückblicken können und sich als empirische Zugpferde bestens in den politikwissenschaftlichen Mainstream integ-riert haben, stehen beide Forschungsstränge doch vor großen Herausforderungen, die auch auf Defizite der bisherigen Forschung hinweisen:

Es gibt berechtigte Zweifel, ob das bestehende Theoriearsenal der Politikfeldanalyse

wie der Staatstätigkeitsforschung auf die überbordende Komplexität resultierend aus Politikfeldinterdependenzen und/oder Mehrebenenverflechtungen bereits angemessen reagieren kann. Die Einforderung einer noch komplexeren und fallbezogenen Kon-zeptbildung riskiert aber die Aufgabe einer typisierenden und vergleichenden Betrach-tungsweise. Die stark typisierende Perspektive kann allerdings häufig das spezifisch Neue eines Problems oder Phänomens in einem Politikfeld nicht mehr erkennen.

Die vergleichende Staatstätigkeitsforschung hat wegweisende Erkenntnisse über nati-onale Sonderwege und parallele Entwicklungen in einzelnen Politikfeldern geliefert. In aufwendigen Vergleichen wurden spezifische Erklärungsfaktoren für die Varianz bzw. Ähnlichkeit (inter)nationaler Entwicklungen herausgearbeitet. Weniger Berück-sichtigung findet bisher aber der Tatbestand einer transnationalen Vernetzung, die durch internationale Regime, Bündnisse und politische Mehrebenensysteme (EU) her-vorgerufen wird und insbesondere Politikfelder der regulativen Politik (Umweltpolitik, Verbraucherschutz) betrifft. Die Forschungen zu Angleichungsprozessen (Policy-Konvergenz und –Transfer) und Politikfeld-Interdependenzen (z.B. zwischen Bil-dungs-, Sozial und Wirtschaftspolitik) befinden sich noch am Anfang und weisen kon-zeptuelle und methodische Schwächen auf.

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In der Politikfeldanalyse stehen sich quantitative und qualitative Forschungsansätze sowie erklärende und verstehende Wissenschaftskonzeptionen diametral gegenüber. Quantitative Netzwerkforscher und die Betrachter von Policy-Narrativen oder Policy-Diskursen sind sich der Beschränkung ihrer jeweiligen Forschungsrichtung bewusst. Dennoch wird nur selten ein Methoden-Mix in Fallstudien praktiziert, um die „blind spots“ eines rein quantitativen oder rein qualitativen Vorgehens auszubessern.

Die avancierten Forschungsansätze in der Politikfeldanalyse sind stark an statischen Strukturbeschreibungen orientiert und gehen kaum auf die Entstehung und Verarbei-tung von Programminnovationen sowie auf die vorhandenen Lernkapazitäten bzw. Lernblockaden von Policy-Akteuren ein. Der Anstoß für grundlegende Veränderungen in Politikfeldern wird demgemäß häufig auf exogene Faktoren (Regierungswechsel, soziale und ökonomische Krisen) projiziert. Policy-Wandel muss allerdings als ein Prozess verstanden werden, auf den die Eigenschaften der betroffenen Politikfelder einwirken und in den die relevanten Akteure und Koalitionen eingreifen können. Die Akteure agieren dabei allerdings vor dem Hintergrund von zunehmend komplexen Problemmaterien und eines stetig wachsenden Zeitdrucks, hervorgerufen von den sich immer weiter ausdehnenden politischen Entscheidungsverantwortungen und von der kaum noch zu bewältigenden Masse an relevanten Informationen.

Im Gegensatz zu den USA hat die Policy-Forschung in Deutschland nur einen relativ geringen Stellenwert in der wissenschaftlichen Politikberatung erringen können. Dafür ist sie als Subdisziplin der Politikwissenschaft hervorragend etabliert. Woran orientie-ren sich aber die wissenschaftlichen Ziele der Policy-Forschung, wenn sie über eine bloße Wissensmehrung hinausgelangen soll? Inwieweit sind mit dem heutigen Stand der Forschung noch normative Leitorientierungen einer Machtkritik oder einer Selbst-aufklärung der Demokratie in Verbindung zu bringen? Mutet andererseits die „Politik-abstinenz“ der Policy-Forschung nicht verantwortungslos an angesichts der Tatsache, dass politische Entscheider und ihre Berater immer wieder Policy-Lösungen als Opti-on diskutieren und heranziehen, die von Politikfeldanalyse und Implementationsfor-schung als praktisch folgenlos oder in ihrer Wirkung als höchst kontextabhängig ein-gestuft wurden? Als das Programm für den jüngsten Kongress der Deutschen Vereinigung

für Politische Wissenschaft (DVPW) „Staat und Gesellschaft – fähig zur Reform?“ disku-tiert wurde, entstand bei den Herausgebern schnell die Idee, dort die Reformperspektiven der Policy-Forschung und die Potentiale und Grenzen ihrer wissenschaftlichen Analysebei-träge grundlegend zu diskutieren und dabei die oben gekennzeichneten Herausforderungen zu thematisieren.1

1 Die Herausgeber danken Jörg Bogumil und Frank Nullmeier als Sprecher der DVPW-Sektion „Staatslehre und Politische Verwaltung“ für die Bereitschaft, unsere Ad hoc-Gruppe „Die Zukunft der Policy-Forschung“ instituti-onell anzudocken. Darüber hinaus geht ein großer Dank an David Born für die professionelle Gestaltung des Typoskripts und an Linda Grüber für Korrekturarbeiten.

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Einleitung 13

Überblick über die Beiträge Die in diesem Buch versammelten Aufsätze sind deshalb zu einem großen Teil aus ei-

ner Veranstaltung der Ad-hoc-Gruppe "Die Zukunft der Policy-Forschung" hervorgegan-gen, die sich im September 2006 auf dem DVPW-Kongress in Münster erstmals konstitu-ierte. Es handelt sich um ein relativ breites Spektrum an Beiträgen zu dem aktuellen Stand und den Zukunftsperspektiven der Policy-Forschung, die gleichsam aus einem konzeptio-nellen, methodischen und empirischen Blickwinkel reflektiert werden.

Im ersten Teil des Buches zu den Theorieentwicklungen und Forschungsperspektiven werden konzeptionelle Zugänge zum Thema diskutiert. Michael Th. Greven erinnert einlei-tend an die frühe Rezeption der Policy-Analyse in der Bundesrepublik. Obwohl die Rede von „Alltagspraktiken des Regierens“, „Politikfeldern“ und „Policies" in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zunächst noch verunsicherte, fügte sie sich doch relativ reibungslos in den gesellschaftspolitischen Trend einer finanzpolitisch erzwungenen Konsolidierung einzelner Politikfelder ein. Die Forderung einer Professionalisierung der Disziplin durch die metho-disch versierte Erforschung konkreter Politikabläufe passte zur technokratisch-gouvernementalen Problemlösungsperspektive in der Politik. Lässt sich diese Beobachtung als ein erster Umdeutungsprozess politikwissenschaftlicher Forschung beschreiben, wie er zumindest in Teilen der Disziplin vorgenommen wurde, so verweist Greven auf eine zweite Veränderung innerhalb der Policy-Analyse. Die frühe, etwa durch Harold D. Lasswell inspirierte, Policy-Forschung hatte sich anfänglich noch eine in Ansätzen herrschafts- und machtkritische Haltung gegenüber den Regierungspraktiken des politischen Alltagsge-schäfts bewahrt. Dass Politik Probleme nicht nur löst, sondern diese auch verstärken oder gar erzeugen kann, wurde jedoch im Zuge der 1980er und 1990er Jahre im Mainstream der Policy-Forschung zusehends verdrängt.

Auch Thomas Saretzki befasst sich rückblickend mit der Entwicklung policy-analytischer Forschung im Ausgang von Lasswell. Dabei wird deutlich, dass sich die ame-rikanische Policy-Analyse im Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen An-sprüchen von Demokratieförderung und Wissenschaftlichkeit ausdifferenziert hat. Die Unterteilung der Theorieentwicklung in drei Phasen veranschaulicht ein Hin- und Herpen-deln wesentlicher policy-analytischer Entwicklungsstränge zwischen diesen beiden Polen. Weist das ursprüngliche Konzept der "policy sciences of democracy" dem selbstkritisch reflektierenden "policy scientist" eine intellektuell führende Rolle bei der Sicherung der Zukunft liberaler Demokratie zu, so setzen die Kritiker am positivistisch verkürzten und ökonomisch dominierten Hauptstrom der Policy-Analyse dem Konzept der "policy analysis for democracy" die Forderung nach der Demokratisierung der Policy-Analyse ("policy analysis by democracy") entgegen. Schließlich führt die Frage nach der Integration dieser Formen von Policy-Analyse in die etablierten Institutionen politischer Problemverarbeitung zum Konzept einer demokratisierten "Policy-Analyse in der Demokratie", was Saretzki zufolge Anlass gibt zu der stärkeren Rückbesinnung auf ein kontextorientiertes, (selbst-) kritisches Verständnis von Policy Sciences, dessen Elemente bereits bei Lasswell vorfind-bar sind.

Volker Schneider beginnt seinen Beitrag mit der Beschreibung einer Paradoxie. Ob-wohl die Policy-Forschung dauernd neue Erkenntnisse produziert, werden diese von der Politik kaum nachgefragt. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit der Policy-Forschung wird auf drei mögliche Ursachen hin diskutiert, und zwar erstens die

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Überkomplexität von Gesellschaften, zweitens die Restriktionen interessen- und machtba-sierter Politik, und drittens die Empirieferne und methodische Unterentwicklung der Sozial- und Politikwissenschaft. Das Ergebnis lautet, dass die Gründe für die mangelnde Nachfrage policy-analytischer Forschung woanders liegen, nämlich erstens in den geringen Zeitfens-tern für empirisch fundiertes und quasi-experimentelles politisches Entscheiden, das im mediengerecht angeheizten demokratischen Wettbewerb auch noch künstlich unter Zeit- und Leistungsdruck gesetzt werde, und zweitens dem gesellschaftlichen Misstrauen gegen-über wissenschaftlich generierten Lösungen, dem durch die zunehmende Kommerzialisie-rung der Wissenschaft Vorschub geleistet werde. Schließlich plädiert Schneider für die Entschleunigung und Entkommerzialisierung der Politik, um dann doch noch eine evidenz-basierte Policy-Forschung empfehlen zu können, mit der er einerseits am Anspruch der Überlegenheit wissenschaftlich generierten Wissens festhält, andererseits jedoch auch die Notwendigkeit des experimentellen Testens wissenschaftlich vorformulierter Lösungen betont.

Claudia Landwehr und Katrin Toens befassen sich mit dem Stand und den Herausfor-derungen der aktuellen policy-analytischen Debatte zum Thema Politiklernen. Ausgangs-punkt der Überlegungen bildet die Feststellung einer Vernachlässigung der Frage nach den Prozessen und Strategien des Politiklernens in den bisherigen konzeptuellen Debatten. Die sich daraus ergebende Forschungslücke steht im Widerspruch zum wachsenden politikwis-senschaftlichem Interesse an der Komplexität des Politiklernens, das zunehmend auch über die Grenzen einzelner Länder und Politikfelder hinweg (cross-national, cross-sectoral learning) untersucht wird. In neueren Policy-Analysen der IB- und Europaforschung bleibe daher häufig unklar, inwiefern Politikwandel als das Ergebnis von Lern- statt bloßen An-passungsprozessen bezeichnet werden kann. Gegen das Missverhältnis von inflationärer Verwendung und konzeptueller Unterentwicklung des Lernbegriffs führen die Autorinnen den systematischen Vergleich der einschlägigen Lernstrategien Imitation, Bayesianisches Updating und Deliberation ins Feld. Im Rückgriff auf den normativen Lernbegriff des Ver-besserungslernens werden diese Lernstrategien als mehr oder weniger voraussetzungsvolle Lernprozesse mit unterschiedlichen Potentialen und Risiken beschrieben.

Friedbert Rüb rückt die Frage nach dem Zusammenhang von Kontingenz und politi-schem Entscheiden in den Vordergrund seiner Überlegungen. Hatte diese Verknüpfung im frühneuzeitlichen politischen Denken Machiavellis noch einen zentralen Platz eingenom-men, so ist seine Vernachlässigung heutzutage häufig die Kehrseite des scientistischen Zugangs zur Politikanalyse. Ausgehend von der These, dass die Politik gegenwärtig von der zielorientierten Rationalität auf "zeitorientierte Reaktivität" umstellt, spürt der Autor der Radikalisierung gesellschaftlicher Kontingenzerfahrung in den fünf Dimensionen räum-lich, kognitiv, interaktiv, institutionell und temporal nach. Auf diese zeitdiagnostischen Ausführungen folgt die Weiterentwicklung der kontingenzsensibilisierten Policy-Analyse von John Kingdon und Nikolaos Zahariadis. Zu Ende gedacht sind die Implikationen für die Policy-Analyse dann vielfach weit reichender als eingangs vermutet, denn diese müsste nicht nur gründlich von der technokratischen Problemlösungsperspektive auf die Politik Abschied nehmen, sondern ferner auch den Anspruch einer möglichst umfassenden Rekon-struktion kausaler Wirkungsmechanismen aufgeben.

Frank Janning beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Ertrag und den möglichen Problemen eines Theorietransfers. In aktuellen Studien zur nationalen wie transnationalen regulativen Politik wird vermehrt auf das Regime-Konzept zurückgegriffen. Dieses Kon-

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zept – und die Erforschung internationaler Regime – hatte in den 80er Jahren in der Analy-se der internationalen Beziehungen eine große Popularität erlangt. Die Verwendung des Regime-Konzeptes in den neuen Analysekontexten regulativer Politikfelder verdeutlicht allerdings einen gewissen Perspektivenwechsel. Regime werden hier nicht nur als für Re-gimemitglieder verbindliche Regelsysteme verstanden, vielmehr verbindet sich mit diesem Leitkonzept eine neue Vorstellung von politischer Autorität in Politikfeldern. Diese Autori-tät wird von staatlicher Seite an Politikfeld-Akteure delegiert oder im Politikfeld selbst generiert. Die Beschäftigung mit regulativen Regimes zwingt deshalb zu einer Neubewer-tung der staatlichen regulativen Politik und deren Steuerungspotentiale.

Diana Panke und Tanja Börzel untersuchen die Bedeutung aktueller Policy-Forschung für die Europäisierungsdebatte. Dass Policy-Variablen bisher in der Europäisierungsfor-schung nicht explizit berücksichtigt wurden, führt dazu, dass Varianzen und Erfolgsunter-schiede europäischer Politik in den unterschiedlichen Politikfeldern, auf denen die EU gesetzgeberisch tätig ist, nicht hinreichend erklärt werden können. Ausgehend von der Beschreibung verschiedener Forschungsstränge innerhalb der Europäisierungsdebatte, die sowohl top-down wie auch bottom-up Mechanismen der Wechselwirkung zwischen EU und nationalstaatlicher Politik in den Blick nimmt, konzentrieren sich die Autorinnen auf die Untersuchung der Bedeutung von Policy-Variablen in der Analyse europäischer Rechts-setzung und mitgliedstaatlicher Implementation. Im Ergebnis zeigt sich, dass Policy-Faktoren vielfach eine Rolle spielen. Als intervenierende Variablen beeinflussen sie die Erfolgsbedingungen für den durch die EU ausgelösten innerstaatlichen Wandel und die Übertragung nationalstaatlicher Politik in das Sekundärrecht der EU, als abhängige Variab-len differenzieren Policy-Faktoren politikfeldspezifische Ausmaße der Europäisierung.

Reimut Zohlnhöfer gibt einen Überblick über Stand und Perspektiven der vergleichen-den Staatstätigkeitsforschung. Die vergleichende Staatstätigkeitsforschung wurde im Um-feld von Manfred G. Schmidt entwickelt und fokussiert auf die vergleichende Analyse der Regierungspolitik vornehmlich westlicher Länder. Unter der besonderen Berücksichtigung der Makrozusammenhänge des Regierens steht hier die Frage im Vordergrund, wie länder-spezifische Unterschiede im jeweils betrachteten Politikfeld zustande kommen. Im An-schluss an die Darstellung theoretischer und methodischer Prämissen dieses Ansatzes cha-rakterisiert Zohlnhöfer empirische Forschungsergebnisse sowie Defizite und zukünftige Lösungsperspektiven. Sein Beitrag macht deutlich, dass (a) die vergleichende Staatstätig-keitsforschung eine Vielzahl an unterschiedlichen Bestimmungsfaktoren des Regierens anhand der Kombination verschiedener Theorieansätze untersucht, und (b) die prinzipielle Offenheit gegenüber anschlussfähigen Theorien und Methoden ein Entwicklungspotential dieser Denkschule darstellt, das ihr bei noch ausstehenden Aufgaben und zu lösenden Prob-lemen zum Vorteil gereichen kann.

Nicolai Dose verweist mit seinem Beitrag auf eine spezifische Ambivalenz in der deutschen Policy-Forschung, die zwar einerseits den Anspruch der Problemlösung aus dem amerikanischen Pragmatismus übernimmt, andererseits jedoch praxisuntaugliche Lösungen formuliert. Er empfiehlt daher die eigene Praxis- und Beratungsrelevanz durch Komplexi-tätsreduzierung und ergebnisorientierte Politikempfehlungen zu befördern und zu optimie-ren. Da Politikentscheidungen zusehends unter Zeitdruck gefällt werden müssen, steht auch die Policy-Forschung unter dem Druck, binnen kürzester Zeit aussagekräftige Analysen zu liefern. Die Rückbesinnung auf "einfache" Modelle aus der amerikanischen Implementati-ons- und Evaluationsforschung, die Steuerungskonzeptionen in Kausal-, Interventions-, und

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Aktionshypothese zerlegt, soll hier weiterhelfen und der Politik griffige Anleitungen zur Problemlösung und Überwindung gesellschaftlicher Widerstände gegen Policies an die Hand geben. Mit Blick auf die meisten anderen Beiträge des Bandes, die gesellschaftliche Komplexität zum Anlass der konzeptuellen Fortentwicklung policy-analytischer Forschung nehmen, dürfte dieser Vorschlag allerdings zu einigen Diskussionen Anlass geben.

Der zweite Teil des Buches thematisiert Methodenfragen und Anwendungsaspekte.

Sylvia Kritzinger und Irina Michalowitz zeigen wie die Erforschung komplexer Politikzu-sammenhänge im Mehrebenesystem der EU von der Zusammenführung qualitativer und quantitativer Methoden profitieren kann. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur methodi-schen Triangulation bildet die Beobachtung, dass die europäische Policy-Forschung trotz vielfacher Lippenbekenntnisse zum Methodenmix immer noch unter der methodischen Engführung des Entweder-oder leidet. Dabei zeigen die Autorinnen, dass die jeweiligen Instrumente der beiden Methodenstränge nur eingeschränkte Analysen liefern können. Der Tiefenstruktur des Policy-Wandels im europäischen Mehrebenensystem ist ihnen zufolge nur durch die Triangulation qualitativer und quantitativer Methoden beizukommen. Anhand der exemplarischen Anwendung des vorgeschlagenen Methodenpluralismus auf zwei fikti-ve Fallstudien werden die Synergieeffekte dieser Vorgehensweise veranschaulicht. Dabei wird deutlich, dass dieser insbesondere mit Blick auf schwierige empirische Forschungsge-genstände, wie beispielsweise die "Informalisierung der Politik", zielführend sein kann.

Marteen A. Hajer befasst sich mit der Bedeutung der Argumentativen Diskursanalyse für die Policy-Forschung. Wie er am Beispiel der Verhandlungen zur Wiederbebauung des Ground Zero zeigt, dient diese Methode vor allem dem Sichtbarmachen sprachlicher bzw. symbolischer Bedeutungsdimensionen von Politik und politischem Handeln, die Interes-senkonflikte nicht ausschließen, diese aber oftmals transzendieren. Mit Sprache wird Politik gemacht. Fragen nach dem „wie“ und „zu wessen Gunsten“ können jedoch nur basierend auf der Identifikation unterschiedlicher Bedeutungsdimensionen der relevanten politischen Interaktionen angegangen werden. Je nachdem ob Ground Zero als "gewöhnlicher Bau-grund", "Friedhof", "Nachbarschaft" oder "Amerikas Phönix aus der Asche" betrachtet wurde, sind ein und demselben Gegenstand völlig unterschiedliche Bedeutungen beigemes-sen worden. Diskurskonstruktionen, wie Metaphern, Narrative und Erzählverläufe dienen der Argumentativen Diskursanalyse als Schlüsselkonzepte der Policy-Analyse. Schließlich listet Hajer die methodischen Möglichkeiten der Argumentativen Diskursanalyse auf, mit der speziell das Ziel verfolgt wird, Argumentation im besonderen Kontextgefüge interakti-ver Handlungen zu analysieren.

Achim Lang und Philip Leifeld leisten eine theoretische und methodische Be-standsaufnahme der Netzwerkanalyse. Ausgehend von der Annahme, dass neuere politik-wissenschaftliche Theorieansätze relativ stark auf beziehungsstrukturellen Annahmen und Hypothesen aufbauen, wird auf die wachsende Bedeutung der Netzwerkanalyse für die Policy-Forschung verwiesen. Die Autoren geben einen Überblick über die Theorieland-schaft, auf der viele Netzwerkanalysen aufbauen. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Theorieansätzen (z.B. Tauschtheorie, Elitentheorie, Sozialkapital- und Partizipationstheo-rien, Governance- und Interessenforschung), untersuchten Beziehungsformen und verwen-deten Methoden deutlich. Im Ergebnis kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es in der Zukunft nicht einer eigenen Netzwerktheorie bedarf, um die Wirkungsweise von Netzwer-ken zu analysieren. Vielmehr werden die bereits vorhandenen beziehungsstrukturellen

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Annahmen und Hypothesen in Kombination mit den netzwerkanalytischen Methoden als hinreichend für die Durchführung von Metaanalysen betrachtet.

Claudius Wagemann diskutiert den Nutzen der Forschungsmethode des strukturierten Fallvergleichs als „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA) für die Policy-Forschung. Wie die amerikanischen Sozialwissenschaftler King, Keohane und Verba startete auch Charles Ragin mit der Entwicklung und Anwendung von QCA den Versuch, das bis dahin ungelöste Problem einer wissenschaftlichen Systematik in qualitativer Sozialforschung anzugehen. Der Beitrag diskutiert insbesondere die Idee der Kausalität und räumt übliche Missverständnisse von QCA aus dem Weg. Dabei wird insbesondere auf die Anwen-dungsmöglichkeiten der fuzzy-set-Variante von QCA hingewiesen. Sie eignet sich beson-ders für die Analyse komplexer, nicht einfach quantifizierbarer Phänomene, wie sie für die Policy-Forschung ja typisch sind. Da jedoch auch QCA für das Problem vieler Variablen und weniger Fälle keine abschließende Lösung bereithält, ist Komplexität zugleich die Ursache für Anwendungsprobleme, die sich lediglich durch die sparsame und vorsichtige Verwendung von QCA eindämmen lassen.

Christine Trampusch erprobt am empirischen Beispiel der Riester-Rente die analyti-sche Reichweite der sequenzorientierten Policy-Analyse. Die Sequenzorientierte Policy-Analyse eignet sich besonders zur Erklärung innovativen Politikwandels. Anders als die am Rationalitätswahlansatz orientierte Interaktionsanalyse betrachtet die Sequenzanalyse Poli-tik dynamisch und stellt die Selbsttransformation von gesellschaftlichen Problemen, Präfe-renzen und institutionellen Rahmenbedingungen aufgrund von Rückkoppelungseffekten in Rechnung. Dadurch werden die Ursachen für innovativen Politikwandel nicht – wie in den Interaktionsanalysen üblich – exogenisiert, sondern neben exogen bedingten Präferenzen ebenso endogene Ursachen für Präferenzwandel identifiziert. Aus dieser Analyseperspekti-ve können Prozesse der schöpferischen Selbstzerstörung des bundesdeutschen Sozialversi-cherungssystems in den Blick genommen werden, die dann einzusetzen schien, als die sozialintegrative Wirkung herkömmlicher Policies nicht mehr gewährleistet war. Um den kritischen Punkt der erschöpften sozialintegrativen Wirkung von Policies aufspüren zu können, müsste sich die Policy-Analyse in Zukunft stärker neueren Analysekonzepten des institutionellen Wandels öffnen, die die Bedeutung graduellen institutionellen Wandels für radikalen Politikwandel betonen. Die sequenzorientierte Policy-Analyse bietet eine Mög-lichkeit dazu.

Nicole Deitelhoff und Anna Geis thematisieren die Grenzen aktueller Policy- und Go-vernance-Forschung, die den Autorinnen zufolge Defizite einer einseitig an Outputs orien-tierten Politik nicht angemessen in den Blick nehmen kann. Der Beitrag beschreibt Prozes-se der Ver- und Entstaatlichung in der aktuellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die zu Lasten der demokratischen Kontrolle politischer Entscheidungen innerhalb dieses Poli-tikfeldes gehen. Zur Analyse derartiger Prozesse bedarf es einer kritischen politikwissen-schaftlichen Perspektive, die die technokratische Governance-Perspektive der Regierenden nicht einfach übernimmt. Die Governance-Forschung halten die Autorinnen zwar insofern für instruktiv, als sie unter anderem dazu geführt hat, die erkenntnishemmende kategoriale Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik aufzulösen. Allerdings führt der Problemlö-sungs-Bias, den die Governance-Forschung von der Policy-Analyse übernommen hat, dazu, dass wesentliche Aspekte von Herrschaft und Demokratie dieser Output-Orientierung un-tergeordnet werden. Die Frage, ob sich das Governance-Paradigma im Sinne einer kon-

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struktiven Verknüpfung mit machttheoretischen Ansätzen für die herrschaftskritische Ana-lyse nutzen lässt, wird in diesem Beitrag jedoch bewusst offen gelassen.

Silke Bothfeld diskutiert Politiklernen am Beispiel der Elternzeitreform. Ähnlich wie Landwehr und Toens grenzt sich auch Bothfeld von policy-analytischen Ansätzen ab, die jegliche Form kognitiv bedingten Politikwandels als Lernen bezeichnen. In Auseinander-setzung mit der Elternzeitreform geht es Bothfeld um die Entwicklung eines handlungs- und demokratietheoretisch anschlussfähigen kritischen Lernbegriffs. Im Rückgriff auf sozi-alkonstruktivistische Ansätze, den Foucaultschen Diskursbegriff und Deliberationstheorien entwirft sie ein Analyse-Konzept zur Untersuchung deliberativen Lernens, das Mikro-Aspekte organisationalen Handelns berücksichtigen kann. Maßgeblich sind unterschiedli-che Stufen im Lernprozess, von der responsiven Problemthematisierung bis zur koordinier-ten Prioritätensetzung, an denen sich deliberatives Handeln von Organisationen festmachen lässt. Schließlich zeigt Bothfeld am Beispiel der Elternzeitreform, dass die Deliberation eine extrem voraussetzungsvolle Form des Politiklernens darstellt.

Frank Bönker nimmt sozialpolitische Entwicklungen seit Beginn der 1990er Jahre zum Anlass der Thematisierung von Interdependenzen zwischen Politikfeldern. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Policy-Analyse Aspekte der Politikfeldverflechtung bisher eher vernachlässigt hat, werden unterschiedliche Dimensionen sektoraler Verflechtung aufgezeigt. Dabei geht es Bönker um die Entwicklung eines Analyserahmens zur Untersu-chung der Verflechtung sektoraler Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Maßgeb-lich dafür ist die Unterscheidung zwischen vier Verflechtungsformen: wechselseitige An-passung, positive Koordination, sektorales Lernen und die Intervention politikfeldexterner Akteure. Die Illustration und Überprüfung des Analyserahmens am Beispiel bundesdeut-scher Sozialversicherungspolitiken im Zeitverlauf zeigt, dass die Verflechtung der Diskus-sions- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Sozialpolitik zugenommen hat und ver-mutlich weiter an Bedeutung gewinnen wird. Wie sich die sektorale Politikverflechtung zu anderen Formen der Politikverflechtung im internationalen Handlungsrahmen verhält, und inwieweit auch andere Politikbereiche von ihrer Zunahme betroffen sind, das sind offene Fragen, denen sich die Policy-Forschung in der Zukunft stärker widmen sollte.

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Teil I

Theorieentwicklung und

Forschungsperspektiven

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„Politik“ als Problemlösung und als vernachlässigte Problemursache. Anmerkungen zur Policy-Forschung

Michael Th. Greven

1 Der Anfang der Policy-Debatte in Deutschland Diesem Beitrag zur Policy-Forschung geht eine kleine Intervention auf einer Konfe-

renz 1984 im Leibniz-Haus in Hannover voraus, auf der eine erste Bestandsaufnahme über die damals in Deutschland noch ziemlich neue und von wenigen betriebene „Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland“ versucht wurde; die Konferenz sollte da-mals deren „Selbstverständnis und Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft“ (Hartwich 1985) erhellen.

Mein Beitrag kann nach mehr als zwanzig Jahren natürlich weder sentimental noch rechthaberisch intendiert sein und meine damaligen Thesen (Greven 1985) lediglich wie-derholen, wenn auch heute wie damals Anlass besteht, die Entwicklungen innerhalb der Disziplin mit den gesellschaftlichen und politischen insgesamt kritisch in ein Verhältnis zu setzen. Was das “Selbstverständnis und die Grundfragen der Politikwissenschaft“ letztlich ausmacht, mag auch fürderhin im von mir gewünschten Pluralismus der Lehrmeinungen und wissenschaftlichen Ansätze umstritten bleiben; wichtig bleibt nur, dass wie damals überhaupt darüber gesprochen und von mir aus gestritten wird und zwar gerade über die Grenzen der jeweiligen Lehrmeinungen und Ansätze hinweg. Dabei kann es sich die Poli-tikwissenschaft als historische Sozialwissenschaft wissenschaftlich keineswegs länger er-lauben, ihre eigene Entwicklung nur immanent und unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen zu betrachten. Es fällt einem doch nur noch das biblische Zitat vom übersehenen Balken im eigenen Auge ein (Mt 7, 3-5), wenn man beobachtet, dass in der Policy-Forschung inzwischen „wissenspolitologisch“ von „vermachteten Wissensmärk-ten“ in Politikfeldern die Rede ist (Rüb 2006: 348), während Einführungen und Lehrbücher die eigene Disziplin weiterhin als rein wissenschaftsimmanenten kognitiven Prozess be-schreiben, in dem allein der wissenschaftliche Be- oder Nachweis, der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ und die größere Raffinesse des analytischen Designs zählen. Gerade Aufkommen und Erfolg der Policy-Forschung und die damit verbundenen Verände-rungen des Selbstverständnisses der Disziplin insgesamt standen nicht nur an ihrem Beginn in einem sie mit bedingenden gesellschaftlichen und politischen Umfeld.

Abgrenzungen, „Grenzen“ wurden damals man möchte fast sagen „identitätspolitisch“ von den Vertretern der neuen Ansätze sehr bewusst gezogen, meine einleitende Ver-wendung des Begriffes „Zunft“ war nicht polemisch gemeint. Ein Jahr vor der Hanno-veraner Konferenz hatte Fritz W. Scharpf als Berichterstatter der Arbeitsgruppe A „Politik-felder“ des Plenums des DVPW-Kongresses von 1982 in Berlin u.a. resümiert:

„Was in den Referaten vorgeführt wurde, war gewiß nicht Politikwissenschaft im klassischen Sinne, aber noch weniger decouvrierte sich hier eine auf fremden Feldern mit unzulänglichen Mitteln dilettierende Pseudo-Politologie. Wer sich dafür interessierte, erlebte stattdessen die Vorstellung einer für die Bundesrepublik relativ neuen, interdisziplinären Forschungsrichtung... Sachlich geht es dabei in erster Linie um die empirische Aufklärung der Wirkungsweise und

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24 Michael Th. Greven

Wirksamkeit politischer Programme und Maßnahmen; methodisch kommen je nach Untersu-chungsthema und Datenlage prinzipiell alle Forschungsansätze der empirischen Sozialforschung in Frage. Nach meinem Urteil war jedenfalls bei einigen der vorgestellten Untersuchungen die professionelle Qualität extrem hoch. Die Diskussion, die, wie immer, unter extremem Zeitdruck zu leiden hatte, hat auch gezeigt, daß hier eine scientific community entstanden ist, die in der Lage ist, Policy-Untersuchungen im Forschungsansatz wie im technischen Detail mit Sachvers-tand und professioneller Skepsis zu kritisieren und zu bewerten“ (Scharpf 1983: 505 f., hervorg. i.O.).

Der Bericht von Scharpf wie Anlass und Untertitel der Konferenz von Hannover ma-chen deutlich, wie sehr die eigentlich erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in der weiteren Fachöffentlichkeit wahrgenommene neue Fragestellung und Untersuchungsme-thode auf beiden Seiten der Unterscheidung „klassische Politikwissenschaft“ wie „Policy-Forschung“ als etwas grundstürzend Neues begriffen wurde, wie groß damals die Ver-unsicherung war, ob dieses „Neue“ und wie die Wortwahl von Scharpf deutlich belegt durchaus selbstbewusst auftretende „Paradigma“ mit dem bisherigen Fachverständnis und der Rolle der Politikwissenschaft in Lehre und Forschung in Einklang zu bringen wäre. „Fremde Felder“, das hieß, dass wahrscheinlich erstmals auf einem Politologentreffen in Deutschland überhaupt Fragen der „Beschäftigungspolitik“ oder der „Arbeitspolitik“ (so der damals neue Terminus der Arbeitsgruppe unter der Leitung von Frieder Naschold) diskutiert wurden. In der Tat war die Politikwissenschaft, wie ich und viele sie ja noch studiert haben, gemessen an den praktischen Fragen des Regierens in der Nachkriegszeit ein merkwürdig ignorantes Fach: was in der Alltagsperspektive der Regierten wie Regie-renden wohl immer schon einen entscheidenden Platz einnahm, vielleicht sogar manchmal als pars pro toto des Politischen überhaupt genommen wird, also Wirtschafts- und Finanz-politik, die wichtige Frage der Steuern, Sozial- und Bildungspolitik, spielte damals in der Politikwissenschaft kaum eine Rolle und blieb, wie etwa die Sozialpolitik, aus disziplinge-schichtlichen Gründen den Sektionen anderer Fächer vorbehalten. Von den zentralen Poli-cies war allein die Außenpolitik routinemäßiger Bestandteil des politikwissenschaftlichen Kanons und gemessen am Policy-Zyklus dominierten, ohne dass die analytischen Begriffe bereits Verwendung fanden, Darstellungen des Agenda-settings und der Programmformu-lierung seitens der Parteien und seltener einzelner Verbände, also das, was man damals und teilweise heute noch auf deutsch als „politische Willensbildung“ bezeichnet.

Man achte auf die „identitiätspolitische“ Semantik bei Scharpf: diese Policy-Forschung beanspruchte über die Erschließung der für Politikwissenschaft „fremden Poli-tikfelder“ „interdisziplinär“ und „professionell“ zu werden, betreibe „empirische Sozialfor-schung“, die „professionelle Qualität“ sei teilweise „extrem hoch“ gewesen und man fühle sich im Kreise der Beteiligten als eigene „Scientific Community“, die etwas „Neues“ zu tun beanspruche.

Man muss vielleicht heute in Erinnerung rufen, dass damals eine Ausbildung in empi-rischen Methoden nur an den wenigsten Standorten für angehende Politologen und Polito-loginnen verbindlich war, dass „die Methoden“ erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre über die Rahmenordnungen der KMK als eigenständiger Kernbereich politikwissen-schaftlicher Ausbildung kanonisiert wurden. Bis dahin war für die meisten Politologen und Politologinnen „empirische Sozialforschung“ jenseits der Wahl- und Einstellungsforschung eine Sache der Soziologie. Auch der damit anklingende Anspruch, im Unterschied zur „klassischen“ Politikwissenschaft „professionell“ zu arbeiten, war kritisch absetzend ge-

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meint und führte innerhalb der Politikwissenschaft zu einer eigenen Selbstverständigungs-debatte (Hartwich 1987) mit häufig problematischen Entgegensetzungen wie Professionali-sierung versus Wissenschaftsimmanenz oder etwas bemüht anmutenden Anpassungsversu-chen, wenn etwa unter dem damals neu empfundenen Professionalisierungsdruck von der „Nutzanwendung der ideengeschichtlichen Tradition für die moderne Politikwissenschaft“ (Euchner 1987) die Rede war hier also mit der nicht weniger problematischen Entgegen-setzung und Zuordnung von Tradition und Moderne.

Nimmt man die fachliche Intensität der damaligen Debatte als Indikator für die Ver-unsicherung des institutionalisierten und verbandlich organisierten Faches, so wird man heute sagen dürfen: die Sache ist wohl seit langem ausgestanden. Damalige Einschät-zungen, das Fach unterliege seit Mitte der siebziger Jahre einem schnellen radikalen Wan-del, waren nicht falsch aber die damals damit von einigen verbundenen Befürchtungen für Weiterexistenz1 und Identität des Faches scheinen zwanzig Jahre später im Alltag des Fa-ches marginalisiert. Im Großen und Ganzen hat die Policy-Forschung, ursprünglich von einigen wenigen Kollegen aus den USA importiert und eigenständig an wenigen Standorten weiterentwickelt und in der Lehre dominant gemacht, sich zu einem bedeutenden, vielleicht sogar dem bedeutendsten Teilbereich des Faches neben den Internationalen Beziehungen entwickelt. Einzelne Politikfelder, wie frühzeitig die Umwelt-, Technologie und Medienpo-litik, entwickelten sich wegen ihrer schnell wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung oder sogar Brisanz nicht ganz zufällig zu politikwissenschaftlichen Schwerpunkten, durch die das Fach insgesamt in der Konkurrenz zu andern Fächern Terraingewinne verzeichnen konnte.

Die damit verbundene empirische Wendung hat in vielen Teilen der Disziplin Erfolge und Anerkennung produziert, insgesamt dem früher durch den Aspekt der Allgemein- und Lehrerausbildung dominierten Fach eine stärkere Forschungsprofilierung ermöglicht, was in anderen Disziplinen und teilweise wohl auch politisch zu einer größeren Anerkennung führte. Früh erschien 1987 von Adrienne Héritier ein eigenes Einführungs- und Lehrbuch der Teildisziplin (Windhoff-Héritier 1987) und Anfang der neunziger Jahre, ebenfalls von Héritier herausgegeben, als PVS-Sonderheft bereits eine eindrucksvolle Zwischenbilanz (Héritier 1993); inzwischen sind vor allem aus dem Umkreis des WZB und des MPI in Köln zahlreiche zunehmend auch international vergleichende Einzelstudien publiziert wor-den und auf dem Markt konkurrieren jüngst gleich mehrere neu erschienene Einführungs- und Lehrbücher.

An all dem ist nichts weiter auszusetzen, denn auch jene im Fach, die selbst nicht em-pirische Policy-Forschung betreiben, könnten von den empirischen Ergebnissen der zahlrei-chen Studien vieles über konkrete Politikabläufe und die Inhalte von Einzelpolitiken lernen, das so vorher nicht bekannt war. Die Reichhaltigkeit der dabei angewandten theoretischen Modelle und analytischen und methodischen Instrumentarien, die Vielfalt der konkurrie-renden Ansätze und Fragestellungen erlaubt es kaum noch, von der Policy-Forschung zu sprechen. „The lack of unity to the study of public policy reflects the nature of the research topic“, schreibt Peter John in seiner mehrfach aufgelegten kritischen Einführung (John 1998: 9); insofern ist es für den eher außen stehenden Beobachter erst recht schwierig und riskant, generalisierende Aussagen und Kritiken vorzubringen.

1 Sie waren angesichts der mancherorts praktizierten und manchmal generell propagierten Forderung einer „integ-rierten Ausbildung“ als Alternative keineswegs gänzlich aus der Luft gegriffen, siehe z.B. Lehner 1987 ; im Zuge der Einführung der neuen BA- und MA-Studiengänge stellen sich heute ähnliche Existenzfragen.

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2 Die Policy-Forschung lag im gesellschaftspolitischen Trend Betrachtet man diese hier natürlich nur sehr knapp angerissene Entwicklung nicht nur

aus der fachimmanenten und wissenschaftsinternen Perspektive, so muss man wohl konsta-tieren: das Fach hat sich bewusst strategisch oder teils unbewusst getrieben durch äußere Umstände gut in einen allgemeinen Trend gefügt. Spätestens Mitte der siebziger Jahre schien der gesellschaftliche Bedarf an der bis dahin betriebenen kritischen Aufklärung und Allgemeinbildung gedeckt und mit der abnehmenden Zahl der Lehramtstudierenden trock-nete auch an den Universitäten eine wichtige Nachfrage allmählich aus. Ich würde auch den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Stimmungswandel seit Mitte der siebziger Jahre zu diesem Trend rechnen, durch den die Emphase einer partizipations- und emanzipa-tionsorientierten Systemreformera durch die finanzpolitisch zunehmend erzwungene Kon-solidierung einzelner Politikfelder durch Einzelreformen ersetzt wurde. Vermittelte der Reformbegriff nach 1966, erst recht unter der ersten Regierung Brandt-Scheel, noch gesell-schaftsweit das vielleicht nachträglich in mancher Hinsicht illusionäre Gefühl des Auf-bruchs in eine neue, bessere Zukunft der Gesellschaft, so verbindet sich mit ihm seitdem zunehmend zumeist das Negativimage von Einschnitten, Rückbau und Kürzungen. Kaum jemand erwartet von „politischen Reformen“ heute noch Fortschritt und Emanzipation. Der Reformbegriff ist nicht mehr wie zwischen Mitte der sechziger bis etwa Mitte der siebziger Jahre mit einer besseren Zukunft der Gesellschaft oder gar „systemverändernd“ konnotiert, sondern mit der Wahrnehmung gegenwärtiger und bedrängender Probleme, um deren Lin-derung oder gar „Lösung“ es eben durch Reformen gehen soll. Für weite Bevölkerungs-kreise haben Begriffe wie Gesundheits-, Arbeitsmarkt- oder Rentenreform deshalb inzwi-schen nicht ohne Anlass einen bedrohlichen Beiklang angenommen. Es deutet sich früh bereits die Aufspaltung der einige Zeit umfassenderen Reformsemantik an. In deren Folge richteten sich die eher emphatischen Reform- und Veränderungshoffnungen auf Emanzipa-tion und Demokratisierung innerhalb der Disziplin wie bei den gesellschaftlichen Akteuren seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend nicht mehr auf den Staat und die Regierungspoli-tik, sondern auf (Reform-)Bewegungen und zivilgesellschaftliche Akteure. Der „kritische“ Flügel des Faches, Jahre zuvor noch in Debatten über Staatsintervention und Staatsautono-mie verstrickt, setzte nun zunehmend auf Bewegungsakteure und die Zivilgesellschaft ins-gesamt, deren Proteste und Diskurse „lebensweltliche Motive“ über den öffentlichen Dis-kurs in die staatliche Willensbildung einspeisen sollten. Reformen im Sinne von Problem-lösungen oder der Abwendung oder Milderung von Krisen erwartete und erwartet man aber weiterhin oder wieder vom Staat, von Regierungen und Bürokratien. Dem widerspricht nicht, dass empirisch zwischenzeitlich beginnend in der Korporatismusdiskussion, dann fortgesetzt unter Konzepten wie „kooperativer“ oder „regulativer“ Staat und heute in die derzeit alles beherrschende „Governance“-Perspektive einmündend beobachtet wird, dass diese staatlichen Akteure, mit ihren ursprünglichen hierarchischen Steuerungsmethoden und begrenzten Instrumentarien in die Defensive geraten und sich deshalb als „kooperative“ Regulierer und Beteiligte in Verhandlungssystem, Policy-Regimen und Advocacy-Coalitions um größere Effektivität der Programmentwicklung und -umsetzung bemühen und bemühen müssen. In dem Maße freilich, in dem die Politikforschung nicht-staatliche Beteiligte des Regierungsprozesses in den Blick nimmt, schreibt sie ihnen zunehmend auch die rationale Problemlösungsperspektive zu; diese Umwertung geschieht so bemerkenswert eindeutig, dass selbst der ehemals eindeutig pejorative Gebrauch des Begriffes „Lobbying“

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heute den Anstrich zivilgesellschaftlicher Partizipation angenommen hat. Ob durch diese größere Beteiligung gesellschaftlicher Akteure „die“ Politik insgesamt, ob insbesondere staatliche Politik dadurch an Macht und Interventionskapazität verloren hat, ist empirisch eben so wenig eindeutig und bleibt bis heute umstritten wie die gerade in der Policy-Forschung häufig anzutreffende Unterstellung, allein schon durch diese Kooperation stie-gen die Problemlösungskapazität oder gar die Rationalität der Politikergebnisse staatlicher Policies.

Auf jeden Fall soll diese kleine Erinnerungsskizze verdeutlichen, wie es in wenigen Jahren zu einer semantischen und inhaltlichen Umpolung des Politik- und Reformbegriffes gekommen ist und wie es dadurch zu jener Aufspaltung des Politikverständnisses kam, nach der sich eine eher technokratisch-gouvernementale Problemlösungsperspektive mit der neuen Policy-Auffassung von „Politik“ in Gesellschaft und Politikwissenschaft ver-band. In dieser technokratisch-gouvenementalen Problemlösungsperspektive macht sich die Politikfeld und Policy-Forschung zumeist gewissermaßen die Gedanken der Regierenden, sieht die Probleme mit deren Augen und orientiert sich an deren Erfolgs- und Effektivitäts-kriterien. Eine lobenswerte Ausnahme macht hier die neue, durchaus ansonsten professio-nell der hier charakterisierten Policy-Forschung zuzuordnende „Einführung“ von Paul Ke-venhörster; sie legt ihren Schwerpunkt bei der Darstellung des Policy-Zyklus auf die Ana-lyse der „Ergebnisse und Wirkungen“ und weist zu deren Bewertung von den Grundrechten über Gerechtigkeitsmaßstäbe bis hin zur Nachhaltigkeit auf normative Kriterien hin, die auch eine gegenüber den Policy-Akteuren kritische Position einzunehmen erlauben (Ke-venhörster 2006: bes. 58 ff.).

Der ursprünglich in der „klassischen“ politikwissenschaftlichen Perspektive immer mit der Betrachtung des Staates und des Regierens verbundene herrschafts- und machtkritische Aspekt trat aber ansonsten gerade bei der empirischen Analyse der Macht- und Herr-schaftsausübung der Policy-Forschung zunehmend in den Hintergrund. Das „Politik“ nicht nur advokatorische Arbeit am „Gemeinwohl“, durchgeführt von legitimierten „Altruisten“ und „wahren“ Volksvertretern ist, mehr noch, dass „politisch“ und durch „Politik“ nicht nur Probleme gelöst, sondern auch zu allererst erzeugt und verstärkt werden könnten, gerät dem heute dominierenden politikwissenschaftlichen Denken aus dem Blick. Die Politikwissen-schaft wird dadurch gegenüber ihrem ureigensten Untersuchungsmaterial unkritisch und ist in Gestalt der Politikfeld- und Policy-Forschung in der Gefahr, zu einer Art Betriebswirt-schaft der öffentlichen Angelegenheiten zu denaturieren. Nils C. Bandelow und Klaus Schubert stellen denn auch in ihrem einflussreichen Lehrbuch ganz unbefangen fest: „ Poli-tische Akteure stehen damit vor ähnlichen Problemen wie Führungskräfte in Wirtschaftsun-ternehmen“ (Schubert/Bandelow 2003: 3). Besser noch wäre zur Bezeichnung dieser Ten-denz vielleicht die Erinnerung an die vordemokratische Phase der kameralistischen Poli-zey-Wissenschaften des 18. Jahrhunderts, eine Genealogie, auf die ja bereits in den frühen Debatten über die Policy-Forschung etwa von Thomas Ellwein immer wieder verwiesen wurde und die jetzt in dem Lehrbuch von Bandelow und Schubert von Klaus von Beyme erneut rekonstruiert wurde. Von Beyme lässt seinen kenntnisreichen Beitrag mit der An-spielung ausklingen, die Grundgesetzformel von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhält-nisse“, für deren Herstellung dann folglich erfolgreiche Policies zuständig wären, „er-scheint noch als späte Frucht vom Baum dieser preussisch policy-orientierten Staatsgesin-nung“ (von Beyme 2003: 34). Konstitutiv für diese Vergleiche ist die auffällige Gemein-samkeit, „Politik“ dominant als rationales Problemlösungshandeln zu konzipieren, „Macht“

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vorwiegend als dafür notwendige Ressource zu betrachten und die Eigeninteressiertheit und systembezogene Interessenverflochtenheit der politischen Akteure weitgehend auszublen-den. Wo freilich die Betriebswirtschaft mit dem Profit und die obrigkeitsstaatliche Polizey-Wissenschaft mit ihrer autoritativen Interpretation des Gemeinwohls ein eindeutiges Krite-rium für den „Erfolg“ von „Problemlösungen“ zu besitzen vorgeben, da fehlt ein solches eindeutiges Kriterium für politisches Handeln und Entscheiden unter den kontingenten Bedingungen demokratischer Politik.

Wo der herrschaftskritische Ansatz in der Disziplin überhaupt noch vorkam, da aus der Perspektive gruppenbezogener Diskriminierungserfahrung, wie etwa in feministischen Ansätzen oder aber in den zunehmend abstrakten, überwiegend empiriefernen und zumeist an Foucault angelegten Analysen von „Machtdiskursen“ in der neueren Gouvernementali-tätsdebatte. Zwischen diesen weiterhin herrschaftskritischen Ansätzen und dem fachwissen-schaftlichen Mainstream empirischer Politikfeld- und Policy-Forschung scheint aber weit-gehend kein Austausch mehr stattzufinden und wo doch Wahrnehmung existiert, da eher einseitig auf Seiten der kritischen Ansätze, die, wie bereits gesagt, von der empirischen Politikforschung Detailkenntnisse beziehen und in ihre Analysen einbauen. Umgekehrt ist von einer fruchtbaren Rezeption oder Anregungsbereitschaft durch die eher theoretischen Konzepte heutiger Herrschafts- und Machttheorien in der Politikfeld und Policy-Forschung wenig bis gar nichts zu erkennen.

Diese wenigen Bemerkungen über den Zusammenhang mit der politischen und gesell-schaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der siebziger Jahre sollen darüber hinaus diese These durch die Behauptung ergänzen, dass diese Veränderung der semantischen Dominanz überwiegend nicht wissenschaftsintern zu deuten wäre, sondern dass sich in ihr die durchaus teilweise erfolgreiche Etablierung der Politikwissenschaft als praktische Wis-senschaft im politischen Prozess niederschlägt.

3 Der Beitrag der Policy-Perspektive zur Entstehung des politisch-wissenschaftlichen Machtkomplexes und der Verlust der kritischen Distanz „Problemverarbeitung“ und Politik insgesamt als „Problemverarbeitungsprozess“

(Schneider/Janning 2006: 46ff) werden so auf dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Stimmungswandels und veränderter Problemstellungen zu Schlüsselbegriffen der realen Politik wie der Policy- und Politikfeld-Analyse. „Politikfeld-Analyse als Teil einer allge-meinen Policy-Analyse ist durch ihre sozialtechnologische Orientierung vor allem Prob-lemlösungswissenschaft“ (Schneider/Janning 2006: 216, hervorg. i.O.). Ähnlich soll nach Nils C. Bandelow und Klaus Schubert die Politikfeldanalyse „zur erfolgreichen Bearbei-tung der Probleme bzw. bei entsprechender fachlicher Unterstützung und politischer Bera-tung die Chancen zur Durchsetzung von politischen Zielen“ verbessern (Schu-bert/Bandelow 2003: 3). Es wäre eine interessante begriffsgeschichtliche Studie, deren Ergebnis hier nur vermutet werden kann, zu prüfen, welche Rolle semantische Verbindun-gen wie „Problemsetzung, -wahrnehmung, -lösung“ in der politikwissenschaftlichen Litera-tur der fünfziger und sechziger Jahre und danach gespielt haben. Ich möchte hier die These aufstellen, dass die rationalistische Semantik von Politik als Problembearbeitung und -lösung seit Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in den USA wohl einige Jahre früher die vorher lange Zeit dominante macht-realistische Semantik von Politik als

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Auseinandersetzung konfligierender Interessen, bei der es nicht nur mehr oder weniger rationale Problemlösungen, sondern vor allem gesellschaftliche Gewinner und Verlierer gibt, abgelöst und marginalisiert hat. Andeutungsweise scheinen auch Janning und Schnei-der diesen Wandel als Problem und nicht nur Erfolgsstory der Politikwissenschaft insge-samt anzusehen, wenn sie ihre eben zitierte zusammenfassende Diagnose über die Policy-Forschung mit der Bemerkung ergänzen: „Auch wenn dieser Policy-Zyklus letztlich als Entscheidungs- und Diskussionsprozess konzipiert ist, wird häufig ausgeblendet, dass die Auseinandersetzung um öffentliche Politiken in Politikfeldern letztlich ein politischer Pro-zess ist. Aus einer sozialtechnologischen Perspektive wird leicht vergessen, dass öffentliche Politik dominant machtvermittelt ist und dass in ihr Machtkämpfe, Machtressourcen und Machtstrukturen weiterhin eine zentrale Rolle spielen“ (Schneider/Janning 2006: 217). Die Gegenüberstellung der Policy-Forschung mit ihrer „sozialtechnologischen Perspektive“ und „öffentlichen Politiken“ als „letztlich politischem Prozess“ ist vielsagend. Offenkundig scheinen die beiden Verfasser ja die machtrealistische Einschätzung des politischen Prozes-ses mit seinen „Machtkämpfen, Machtressourcen und Machtstrukturen“ und damit einen Begriff des Politischen, der mehr enthält, als die durchaus bedeutsame, aber in ihrer Isolie-rung ideologisch verkürzende Problemlösungsdimension (Greven 2001), irgendwie noch zu teilen. So nutzen Janning und Schneider den Ausblick ihres einführenden Buches in die Politikfeldforschung, um auf eineinhalb Seiten für die Zukunft „das Studium der politi-schen Macht“ auch innerhalb der Politikfeldanalyse einzufordern; dazu dient ihnen u.a. die Referenz auf meinen eingangs erwähnten Text, denn wie sie zutreffend und keineswegs überraschend feststellen, seien auch in „demokratischen Systemen... die Chancen „zur er-folgreichen (Einflussnahme, M.G.) asymmetrisch verteilt“ (Schneider/Janning 2006: 223). Wenn sie dann mit folgender Feststellung fortfahren: „Die Frage worauf sich diese Machta-symmetrien zurückführen lassen, war eine wichtige Frage der politischen Soziologie und Politikwissenschaft der 60er und 70er Jahre. Leider ist diese Frage nach den unterschiedli-chen Gesichtern und Dimensionen der Macht in der heutigen Policy-Forschung und Gover-nance-Analyse weitgehend in den Hintergrund gerückt“ (Schneider/Janning 2006, 224), so darf man angesichts ihrer ansonsten sich auf wenige verstreute machtkritische Bemerkun-gen beschränkenden affirmativen Darstellung des Policy-Zyklus diesen Ausführungen wohl nur den Status einer salvatorischen Klausel zubilligen.

Vielleicht sollte man doch auch die eigene Tradition und die ursprünglich durch-aus kritischen Ansätze der Policy-Forschung ernster nehmen und sie nicht lediglich selektiv im Schlusskapitel rezipieren. Harald D. Lasswell zum Beispiel, von Schneider und Janning als einer der Initiatoren der neuen Policy-Wissenschaft erwähnt, machte bereits im Titel seiner berühmten Programmschrift die Fragestellungen deutlich, um die es ihm primär ging: „Po-litics: Who Gets What, When, How“ (Lasswell 1958) . Das Buch beginnt mit den berühmten Sätzen: “The study of politics is the study of influence and the influential... The influential are those who get the most of what there is to get. Available values may be clas-sified as deference, income, safety. Those who get the most are the elite; the rest are mass“ (Lasswell 1958: 13, hervorg. i.O.). Demgegenüber heißt laut Schneider und Janning, die sich dabei auf T.R. Dye berufen, die zentrale Frage der “public policy analysis“: “finding out, what governments choose to do or not to do..., why they do it, and what difference it makes“ (Schneider/Janning 2006: 16 f.). Ursprünglich dominierte also die substantielle und gesellschafts- bzw. politikkritische Frage nach den Policy-Outcomes in den drei Dimensio-nen Achtung, Einkommen und Sicherheit. In diesen drei Dimensionen geht es um subjektiv

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wahrnehmbare und objektiv messbare Politikergebnisse, wie sie auch im alltäglichen Leben der von Politik Betroffenen zählen und nach Richard Rose auch für die Wissenschaft orien-tierend sein sollten (Rose 1989: 6). Man braucht das nur am Beispiel von „Hartz IV“ und den neuerlich diskutierten „Reformvorschlägen“ Reformen der Reform zu durchdenken, um zu verstehen, was etwa eine Veränderung der Anreizstrukturen, zu Deutsch der Zumut-barkeiten, für einen nach heutigen Maßstäben zumeist arbeitsmarktuntauglichen Mittfünzi-ger mit ehemals durchaus angemessen verwertbarer Qualifikation bedeutet, um zu sehen, wie hier die individuellen und gesellschaftlichen Politikfolgen nicht mehr mit den sozial-technokratischen Erfolgskriterien der Policy-Produzenten übereinstimmen.

Anders als bei Lasswell steht aber praktisch politisch, wie in der Art wie Janning und Schneider die Frage für die Policy-Forschung stellen, heute die abstrakte Frage nach den Effekten, also der Effektivität der Policies, die noch dazu zumeist immanent allein an der gouvernementalen Programmformulierung der politischen Entrepreneurs gemessen wird, im Zentrum. Auch hierzu lohnt es sich nochmals Lasswell zu zitieren: “The act of using new frames of reference for purposes of political analysis will, as usual, modify the prefe-rences of those who use them“ (Lasswell 1958: 168); im Mainstream der heutigen Policy-Forschung ist das bereits geschehen, indem dort die sozialtechnokratische Ideologie eines politischen Expertentums der Berufspolitiker auf wissenschaftlichem Wege überwiegend nur reproduziert wird. Vermeintliche politische Problemlösung und wissenschaftliche For-schung verschränken sich epistemologisch immer mehr zu einem politisch-wissenschaftlichen Machtkomplex, wie man heute in Deutschland beispielsweise an der Wirtschafts- oder Gesundheitspolitik gut beobachten kann. Welchem angeblich funktional mit eigenem autopoetischen Code ausdifferenzierten System gehören die öffentlichen Kommunikationen eines Rürup oder Lauterbach an? „Beraten“ hier die Wissenschaftler nach eigenen Maßstäben die Politik oder „treiben“ die Herren Professoren eben solche in der Maske des Wissenschaftlers? Die Frage nach der einen oder anderen Seite hin eindeutig beantworten zu wollen, setzt eben jene Differenzierung voraus, die in diesem integrierten Machtkomplex nicht mehr gegeben ist. Übrig geblieben sind nur für die Öffentlichkeit inszenierte Rollenspiele, die der medial vermittelten Einflussgewinnung innerhalb dieses Machtkomplexes dienen.

Die akademische Politikwissenschaft kann sich solche Entdifferenzierung nicht dau-erhaft erlauben, auch dann nicht, wenn sie zunächst öffentlich kaum wahrgenommen sich lediglich in den notorisch ungelesen bleibenden empirischen Dissertationen und Habilitati-onsschriften ihrer Adepten vollzieht. Der epistemologischen Entdifferenzierung durch die konzeptuelle und begriffliche Übernahme der gouvernementalen Politiksprache und tech-nokratischen Problemlösungsperspektive entspricht innerwissenschaftlich deren Politisie-rung. Einige wenige treten auf diesem Wege schließlich in den mit mancherlei Incentives versehenen politisch-wissenschaftlichen Machtkomplex ein, werden Teil jenes Reputation und Zusatzeinkommen versprechenden Betriebes von Wissenschaftlichen Beiräten, Exper-tenkommissionen und ausstattungsmäßig privilegierten Beratungs- und Forschungsanstal-ten. Die meisten aber bleiben als akademisches Fußvolk zurück, nicht selten als auf ledig-lich ein Politikfeld und die konzeptionelle Perspektive der Policy-Forschung hochspeziali-sierte Forschungsfacharbeiter, deren Einsetzbarkeit in der akademischen Lehre und „Pflege der Fachdisziplin“ höchst begrenzt bleibt. Auch Kolleginnen und Kollegen, die bei der Rekrutierung in hochkarätige Kommissionen und Räte ihre Einordnung in den Parteienpro-porz wahrnehmen, sollten gewarnt sein, denn sie können sicher sein, dass die jeweils sie

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rekrutierende Partei von ihnen bereits nicht mehr vordringlich wissenschaftliche Kompe-tenz und Expertise, sondern das berechenbar unterstützende Verhalten als Parteigänger erwartet. Jedes abweichende unabhängige Votum produziert hier unmittelbare Enttäu-schung und mittelfristig Exklusion. Nun könnte diese Kritik am technokratischen Grund-verständnis der Policy-Forschung von all jenen als ungerecht oder zumindest unzeitgemäß aufgefasst werden, die, wie allen voran John S. Dryzek (z.B. Dryzek 1989), in ihren eige-nen Beiträgen zur kritischen Policy-Forschung unter Berufung auf neorepublikanische oder habermasianische Ansätze seit langem selbst zu den vehementesten Kritikern der vor allem mit ökonomischen und rationalistischen Modellen arbeitenden Policy-Forschung gehören, oder, wie der bereits zitierte Peter deLeon selbst die „Democratization of the Policy Scien-ces“ gefordert haben“ (deLeon 1992). Und in der Tat können die Vertreter dieser Richtung inzwischen auf eine nicht mehr zu überblickende Anzahl von partizipatorischen Policy-Experimenten mit dem Ziel „Enhancing Citizen Participation“ (Lyn/Martin 1991) verwei-sen. Man könnte geradezu von einer eigenen Subdisziplin des Designs solcher partizipato-rischen Policy-Experimente sprechen, die in Deutschland etwa von der etwas hausbacke-nen, gleich wohl von edlen demokratischen Antrieben gesteuerten “Planungszelle“ Peter Dienels bis zu wissenschaftstheoretisch ausgetüftelten Projekten des Wissenschaftszent-rums Berlin zur Genforschung reichen. Die Zahl solcher Experimente von „Policy-Polling“ über „Advocacy-Planning“, „Negotiated Discourses“ bis heute zu „Participatory Governan-ce“ sind gerade in den USA kaum noch zu überschauen. Auch „Regieren mit Mediation“ (Geis 2005) gehört dazu. Thomas Risse hat in lakonischer Kürze ihren gemeinsamen opti-mistischen appellativen Nenner in der Formel „Let’s Argue“ (Risse 2000) bis auf die Ebene der Weltpolitik hinaufgeschraubt. „Communicative Action“, „Discourse“ und „Arguing“ bilden die normativen Schlüsselbegriffe aller dieser praktisch orientierten Appelle und Unternehmungen, deren wissenschaftliche Bedeutung hier im Einzelnen nicht nachgegan-gen werden kann und soll.

Meine Formulierung „partizipatorische Policy-Experimente“ war allerdings bewusst gewählt, denn wenn es um die Frage geht, ob und inwiefern diese zumeist von Wissen-schaftlern seltener von lokalen Initiativen oder NGOs initiierten Projekte tatsächlich auf den politischen Prozess und seine Veränderung in Richtung auf mehr Partizipation, Interes-senberücksichtigung und kognitives Potential hinwirken, dann wird man zu einem recht skeptischen Urteil kommen müssen. Bereits 1990 hatte Charles Lindblom den tatsächlichen praktischen Effekt der Policy-Sciences generell, trotz aufwendiger Suche, für in der Regel nicht nachweisbar gehalten (Lindblom 1990). Sieht man sich die zahlreichen „Experimen-te“ an, so drängt sich der Eindruck auf, dass ihr praktischer Politikeffekt im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den Erwartungen liegt, die in den viel zahlreicheren eher pro-grammatischen Beiträgen geweckt werden. Am ehesten wird man in zwei Bereichen eine praktischen Effekt der Verbindung von Partizipation und Policy-Analysis erwarten können, nämlich einerseits bei lokalen Einzelprojekten wie der Entscheidung für den Bau und die konkrete Platzierung einer Umgehungsstraße oder Müllverbrennungsanlage und anderer-seits bei politischen Entscheidungsprozessen, in denen die professionelle politische und bürokratische Elite auf wissenschaftliche oder technische Kompetenz angewiesen ist. Beide Fälle eignen sich nicht als Modelle für „Discursive Democracy“ (Dryzek 1990) auf nationa-ler oder gar supranationaler Ebene und für zentrale politische Fragen, wie sie den Alltag der politischen Willensbildung im Parteien- und Verbändesystem auf dem Forum der Massen-medien charakterisieren. Hier ist die Kommunikation, auch wenn sie sich kognitiver Wis-

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senselemente bedient, wie sie von den Policy-Studies bereitgestellt werden, nämlich domi-nant durch den Modus strategischer Kommunikation geprägt. Auch wenn der politische Prozess vielfältig durch argumentative Elemente angereichert ist, deren begrenztes Rationa-lisierungspotential hier keineswegs vollständig geleugnet wird, so dominiert am Ende doch die legitimierte Amtsgewalt oder Mehrheitsentscheidung. „Politische Beratungen müssen aber mit Rücksicht auf Entscheidungszwänge durch Mehrheitsbeschluss beendet werden,“ schreibt selbst Jürgen Habermas (Habermas 1992: 371) ein Satz, den ich in den zahlreichen, sich auf ihn berufenden Texten zur deliberativen oder diskursiven Policy-Forschung noch nie zitiert gefunden habe. Dies zeichnet den fundamentalsten und letztlich unüberbrückba-ren Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Policy-Experimenten und contrafaktischen Annahmen zahlreicher Policy-Theorien und den Politics of Policies in der realen Welt der Politik aus. Der Gedanke an ein politisches System, das nicht länger durch strategische, sondern durch „verständigungsorientierte“ Kommunikation gesteuert würde, in der „kom-munikative Vernunft“ und nicht Interessen und Konfliktaustragung mit den verschiedensten zur Verfügung stehenden Mitteln und Strategien dominierte, stellt heute die zeitgenössische Variante der platonischen Utopie dar. Was sich selbst als Herrschaftslosigkeit begreift, liefe auf die Herrschaft der Policy-Aktivisten hinaus, die in ihren Experimenten und Foren das Framing besorgten und die Rationalitätsstandards vorgäben, so wie jetzt in ihren begrenzten Experimenten. Die Unterstellung, es ließe sich stets ein konsensuelles Ergebnis herbeidis-kutieren, dem noch dazu die Vermutung der Vernunft zugeschrieben wird, hat mehr oder weniger offen anti-pluralistische Tendenzen, wie sie einerseits für technokratische, anderer-seits für vor- oder antimoderne homogene Gemeinschaftsvorstellungen typisch sind. Die Verwirklichung dieser immanenten Utopie ist freilich ebenso unwahrscheinlich wie im Falle des platonischen Philosophenkönigtums.

In dem Maße, in dem dieses Denken sich freilich heute sogar in den weitgehend tech-nokratisch orientierten Policy-Studies seinen prominenten Platz in Büchern und Zeitschrif-ten erobert hat, bewegt es sich von den realen Macht- und Herrschaftsprozessen fort und trägt zu deren Aufklärung auf Seiten der „ordinary people“ kaum etwas bei. Deren Interesse würde durch eine empirisch fundierte, kommunikativ an die breite Öffentlichkeit adressier-te Policy-Forschung mehr wahrgenommen, die zur plausiblen Beantwortung der Lasswell-schen Fragen „Who Gets What, When and How“ etwas beitrüge.

Ich würde noch das fehlende „Why“ hinzufügen, ohne das eine wirklich kritische Po-licy-Forschung nicht auskommt.

Literatur

Beyme, Klaus von, 2003: Vorläufer der Politikfeldanalyse auf dem europäischen Kontinent, in: Schu-bert/Bandelow (Hrsg.): S. 25 – 35.

Dryzek, John, 1989: Policy Sciences of Democracy. Polity. 22/1989: 97 – 11. Dryzek, John S., 1990: Discursive Democracy, New York. Euchner, Walter, 1987: Zur Nutzanwendung der ideengeschichtlichen Tradition für die moderne

Politikwissenschaft: Hartwich. 1987: 49 – 57. Geis, Anna, 2005: Regieren mit Mediation, Wiesbaden. Greven, Michael Th., 1978: Zur Soziogenese und Gestalt von Theorien der Reform, in: M. Greiffen-

hagen (Hrsg.): Zur Theorie der Reform, Heidelberg/ Karlsruhe. S. 35 – 56.