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Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VON SON SON SON SON SALESALESALESALESALES

Band 9Band 9Band 9Band 9Band 9

Nach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALES

der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)

herausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Sales

BegründetBegründetBegründetBegründetBegründet von P von P von P von P von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

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Franz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von Sales

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Aus dem Französischen übertragenvon Anneliese Lubinsky und P. Anton Nobis OSFS.

© Franz-Sales-Verlag, Eichstätt 20022. Auflage

ISBN 3-7721-0061-9Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Brönner & Daentler, Eichstätt

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Es muß auffallen, daß seit 200 Jahren keine deutsche Ausgabe vonPredigten des hl. Franz von Sales erschienen ist. Dadurch entsteht eineinseitiges Bild des Wirkens und der geistlichen Lehre des Bischofs vonGenf. Durch die beiden Hauptwerke, die er verfaßt und selbst herausge-geben hat, die „Anleitung zum frommen Leben“ und die „Abhandlungüber die Gottesliebe“, die auch am häufigsten ins Deutsche übersetztwerden, hat er sich Rang und Namen als einer der bedeutendsten Leh-rer der christlichen Spiritualität erworben; die geistlichen Briefe, vondenen es einen Teil in deutscher Übersetzung gab, sind Zeugnisse seinerausgedehnten persönlichen Seelenführung; die „Geistlichen Gespräche“mit den Schwestern der Heimsuchung,ebenfalls öfter übersetzt, zeigenFranz von Sales als Ordensgründer; – sein pastorales Wirken als Priesteroder Bischof für die Allgemeinheit der Gläubigen scheint jedoch in die-sen Werken nicht auf, nimmt aber in seinem Leben, in seinem Denkenund Wirken einen hervorragenden Rang und Raum ein.

Inhalt und Form seiner Glaubensverkündigung und religiösen Unter-weisung für die breite Öffentlichkeit sind neben der Katechese, die ermehrere Jahre selbst gehalten und in seiner Diözese verpflichtend einge-führt hat, vor allem in der Predigt zu suchen. Daher können in einerdeutsche Ausgabe, die nach der Absicht des Herausgebers das Wesent-liche seiner Werke enthalten soll, die Predigten nicht übergangen wer-den.

Aus zuverlässigen Quellen weiß man, daß Franz von Sales oft undeindrucksvoll gepredigt hat, nach Ansicht seines eigenen Vaters schonals Neupriester zu oft und zu einfach. Während seiner Missionstätigkeitim Chablais war die Predigt das wichtigste Mittel in der Rückführungdes Volkes zum Glauben der Kirche. Als Bischof nahm er die Mahnungdes Konzils von Trient sehr ernst, daß die Predigt die vorzüglichste Pflichteines Bischofs ist; er predigte nicht nur regelmäßig an Sonn- und Feier-tagen in seiner Kathedrale, sondern bei seinen Visitationen täglich ein-mal und öfter in den Pfarreien und oft in Klöstern, besonders in der von

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ihm gegründeten Heimsuchung. Dazu kamen große Advent- und Fasten-zyklen in- und außerhalb seiner Diözese. Er hat selbst 1620 die Zahlseiner Predigten auf 3000 bis 4000 in 28 Jahren geschätzt (OEAXIX,321).

Obwohl die Annecy-Ausgabe seiner Werke zahlreiche bis dahin unbe-kannte Predigten veröffentlicht hat, ist doch offenkundig, daß die invier Bänden erhaltenen Predigten nur ein geringer Bruchteil derer seinkönnen, die er in 30 Jahren tatsächlich gehalten hat.

Das mag es in etwa rechtfertigen, daß daraus für die deutsche Ausga-be eine Auswahl getroffen wurde, die diesen 9. Band bildet und einenQuerschnitt der überlieferten Predigten des Heiligen zeigen soll. Sie folgtder Planung, die P. Franz Reisinger, der Begründer dieser Ausgabe, schonvor Jahren getroffen hatte. Er sah allerdings ursprünglich zwei Predigt-bände vor, konnte aber seine Auswahl, nachdem er sich auf einen Bandfestgelegt hatte, nicht mehr revidieren. Als sein Schüler und langjährigerMitarbeiter an der deutschen Ausgabe der Werke des hl. Franz von Salesdarf ich den Band mit den notwendigen Abweichungen von seiner Pla-nung der Öffentlichkeit übergeben, hoffend, daß er den Intentionen desbisherigen Herausgebers entspricht und das Bild des hl. Franz von Salesdurch eine wichtige Seite seines Wirkens und seiner Lehre ergänzt.

Eichstätt, 21. August 1976P. Anton Nobis OSFS

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InhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersicht

Vorwort 5Zur Einführung 10

A. Autographe Predigten

2 29. 6. 1593 Zum Fest des hl. Petrus 168 1. 1. 1594 Zum Fest der Beschneidung des Herrn I 329 1. 1. 1594 Zum Fest der Beschneidung des Herrn II 3410 6. 2. 1594 Zum Sonntag Septuagesima 35

Fastenpredigten 1594 in Annecy

12 E. 2. 1594 Einleitung 4213 3. 3. 1594 Zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 4314 18. 3. 1594 Zum Freitag der 3. Fastenwoche 4615 20. 3. 1594 Zum 4. Fastensonntag 5017 12. 4. 1594 Zum Osterdienstag 5218 3. 5. 1594 Zum Fest der Kreuzauffindung 5627 5. 2. 1595 Zum Sonntag Quinquagesima 6130 21. 5. 1595 Zum Fest der heiligsten Dreifaltigkeit 6741 9. 2. 1597 Zum Sonntag Sexagesima 7343 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie I 7744 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie II 8245 Juli 1597 Über die heilige Eucharistie III 9250 11. 3. 1601 Zum 1. Fastensonntag 9751 6. 4. 1601 Zum Freitag der 4. Fastenwoche 10061 15. 8. 1602 Zum Fest der Aufnahme Marias 102

Fastenpredigten 1604 in Dijon

66 10. 3. 1604 Zum Mittwoch der 1. Fastenwoche 12267 12. 3. 1604 Der Teich und der Kranke 12368 15. 3. 1604 Zum Montag der 2. Fastenwoche 12469 17. 3. 1604 Zum Mittwoch der 2. Fastenwoche 12670 1604 Über die heilige Kommunion 12771 12. 3. 1606 Zum Passionssonntag 12872 24. 5. 1607 Zum Fest Christi Himmelfahrt 13174 8. 12. 1608 Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis 134

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78 4. 3. 1609 Zum Aschermittwoch 13680 20. 11. 1610 Zum 1. Adventssonntag I 14282 27. 11. 1611 Zum 1. Adventssonntag II 143

Fastenpredigten in Chambéry

84 7. 3. 1612 Zum Aschermittwoch 14586 2. 4. 1612 Zum Mittwoch der 4. Fastenwoche 15187 6. 4. 1612 Zum Freitag der 4. Fastenwoche 15588 20. 4. 1612 Zur Verehrung des heiligen Kreuzes 15695 24. 12. 1613 Zur Weihnachtsvigil 15896 19. 3. 1614 Zum Fest des hl. Josef 161104 20. 3. 1615 Zum Freitag der 2. Fastenwoche 162105 22. 3. 1615 Zum 3. Fastensonntag 164106 10. 4. 1615 Zum Freitag nach dem Passionssonntag 165110 Juli 1616 Paraphrase zu Psalm 125 166

Fastenpredigten in Grenoble

131 23. 2. 1617 Zum Donnerstag der 2. Fastenwoche 170135 28. 2. 1617 Zum Dienstag der 3. Fastenwoche 172136 1. 3. 1617 Zum Mittwoch der 3. Fastenwoche 175137 2. 3. 1617 Zum Donnerstag der 3. Fastenwoche 177141 8. 3. 1618 Am Donnerstag der 1. Fastenwoche 179142 9. 3. 1618 Am Freitag der 1. Fastenwoche 183143 11. 3. 1618 Am 2. Fastensonntag 186144 12. 3. 1618 Am Montag der 2. Fastenwoche 187145 13. 3. 1618 Am Dienstag der 2. Fastenwoche 189147 15. 8. 1618 Zum Fest der Aufnahme Marias 192154 19. 3. 1621 Zum Fest des hl. Josef 193156 1. 5. 1621 Zum Fest der Heiligen Philippus und Jakobus

(5. Sonntag nach Ostern) 196158 undatiert Zum Fest der Kreuzerhöhung 198

B. Gesammelte Predigten

1 24. 12. 1613 Zur Weihnachtsvigil 2064 23. 2. 1614 Zum 2. Fastensonntag 2167 22. 3. 1615 Zum 3. Fastensonntag 2198 29. 3. 1615 Zum 4. Fastensonntag 2239 5. 4. 1615 Zum Passionssonntag 228

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10 12. 4. 1615 Zum Palmsonntag 23411 6. 5. 1617 Zum Fest des hl. Johannes vor der

lateinischen Pforte 24012 6. 6. 1617 Zur Einkleidung am Fest des hl. Claudius 24815 1. 11. 1617 Zum Fest aller Heiligen 25218 8. 6. 1618 Zur Profeß am Freitag der Pfingstoktav 26319 2. 7. 1618 Zum Fest der Heimsuchung Mariä 26921 15. 8. 1618 Zum Fest der Aufnahme Mariens 27923 9. 10. 1618 Zu einer Einkleidung 29026 21. 11. 1619 Zum Fest der Darstellung Marias 29428 2. 2. 1620 Zum Fest Maria Reinigung 30129 17. 4. 1620 Zum Karfreitag 31330 21. 4. 1620 Zum Osterdienstag 32832 7. 6. 1620 Zum Pfingstfest 34633 28. 8. 1620 Zum Fest des hl. Augustinus 35236 1. 11. 1620 Zum Fest aller Heiligen 36543 17. 1. 1621 Zum 2. Sonntag nach Epiphanie 37649 28. 8. 1621 Zum Fest des hl. Augustinus 38951 1. 11. 1621 Zum Fest aller Heiligen 40252 1. 1. 1622 Zum Fest der Beschneidung 41356 17. 2. 1622 Zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 42759 27. 2. 1622 Zum 3. Fastensonntag 44167 8. 12. 1622 Zum Fest der Unbefleckten Empfängnis 45368 21. 12. 1622 Zum Fest des hl. Thomas 45869 25. 12. 1622 Zum Weihnachtsfest 463

Namen- und Sachregister 467

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Zur EinführungZur EinführungZur EinführungZur EinführungZur Einführung

Der Ruf des hl. Franz von Sales als großer Prediger reichte weit über dieGrenzen seines Bistums und seiner Heimat Savoyen hinaus. Wo immer erpredigte, drängten sich die Menschen unter seiner Kanzel selbst in Paris, wo erauch mehrmals vor dem königlichen Hof zu predigen hatte. Man hat dahermehrfach versucht, ihn mit der „klassischen“ französischen Predigt in Verbin-dung zu bringen und ihn als unmittelbaren Vorläufer der großen Kanzelrednerdieser Periode zu bezeichnen, eines Bossuet, Fénelon und anderer. Diese Ein-stufung wird der eigentlichen Bedeutung seiner Predigt kaum gerecht.

Das Breve seiner Ernennung zum Kirchenlehrer1 nennt Franz von Sales ei-nen „Erneuerer und Lehrer der Beredsamkeit“ und sagt, daß aus seiner Schulejene bedeutenden Prediger hervorgingen, die überreiche Früchte über die gan-ze Kirche verbreiteten. Sein Hauptverdienst sieht das Breve darin, daß durchihn „die Würde der heiligen Beredsamkeit, die durch die Unsitte der Zeitverfallen war, nach dem Vorbild der heiligen Väter im alten Glanz wiederher-gestellt wurde“ (p XX). Tatsächlich lag die katholische Predigt zu Beginn derWirksamkeit des hl. Franz von Sales sehr im Argen; sie war weitgehend huma-nistisch verweltlicht und gekünstelt, lebensfremd und oft würdelos trivial. Indiesem Sinn darf Franz von Sales sicher zu den Wegbereitern einer heilsamenErneuerung der katholischen Predigt in Frankreich durch Lehre und Beispielgerechnet werden.2

Formal und methodisch war er gewiß noch stark der Predigtweise seiner Zeitverhaftet, doch nach Ziel und Inhalt war die Predigt für ihn von Anfang an einwesentliches Mittel der Verkündigung des Glaubens sowie der Erneuerung undVertiefung des christlichen Lebens. Gedrängt von seinem apostolischen Eiferergriff er bereitwillig jede Gelegenheit zu predigen. Er suchte nicht den Ruhmdes Kanzelredners, sondern einzig die Ehre Gottes und das Heil der Men-schen, wie er selbst in der Einleitung einer Fastenpredigt in Chambéry feier-lich beteuert. Daher predigte er vor einem Dutzend Zuhörer in Thonon mitgleicher Hingabe wie in einer überfüllten Kathedrale, vor dem königlichenHof nicht lieber und nicht besser als vor den Schwestern der Heimsuchung.Um seine Zuhörer anzusprechen, zu überzeugen und zu bewegen, bediente ersich einer verständlichen Sprache und eines „affektiven“ Stils, den er auchanderen Predigern und Schriftstellern nachdrücklich empfahl. Zusammen mitder Ausstrahlung seiner würdevollen gütigen Persönlichkeit und dem zuneh-menden Ruf der Heiligkeit begründete dies alles die außergewöhnliche Wir-kung seiner Predigten.

1 „Dives in misericordia“ Breve Pius IX. vom 16. 11. 1877: lateinischer Text in:OEA I, pp. XV-XXIII; Deutsch in: Jahrbuch 1977 für salesianische Studien(Eichstätt 1977), S. 130-137; und: Salesianisch Leiten, hg. v. InternationalenKomission für salesianische Studien, Eichstätt 2002, S. 39-47.

2 Wichtige Grundsätze der erneuerten Predigt in diesem Sinn enthält derBrief an André Frémyot vom 5. 10. 1604: OEA XII,299-325 (DASal 12,29-49). Vgl. dazu Manfred Tietz, die Predigt bei Saint François de Sales, in:Jahrbuch 1973 für salesianische Studien (Eichstätt 1974), S. 19-84 – ZurPredigtpraxis: M. Tietz, Literarische Untersuchungen zur Predigtpraxis beiFrançois de Sales, in Jahrbuch 1974 (Eichstätt 1975) S. 28-60.

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I.

Franz von Sales hat selbst nur die Leichenrede auf den Herzog de Mercoeurveröffentlicht; die Predigt zu Maria Himmelfahrt 1602 in Paris (Nr. A 61)dieser Ausgabe) wurde ohne sein Wissen in einem Predigtwerk abgedruckt.Nach seinem Tod erschienen erstmals 60 Predigten in den Oeuvres, die derCommandeur de Sillery 1641 herausgab. Davon waren 27 autographe Predig-ten, d. h. solche nach Manuskripten des Heiligen und 33 gesammelte, d. h.mit- oder nachgeschriebene. Zwei Jahre später erschienen diese Predigtengetrennt, vermehrt um eine autographe (Nr. A 2) und zehn gesammelte, d. h.mit- oder nachgeschriebene. Diese Ausgabe von 1643 blieb lange für die Wie-dergabe und Übersetzung der Predigten maßgebend,3 bis Blaise (1821) undnach ihm Vivès (1856-58) in ihrer Gesamtausgabe der Werke des hl. Franzvon Sales die Predigten ohne Unterscheidung in autographe und gesammeltenach dem Kirchenjahr anordneten; Migne (1860/61) hat außerdem die Spra-che „modernisiert“ und fünf unveröffentlichte Predigten aufgenommen.

Die Annecy-Ausgabe enthält in vier Bänden 160 autographe Predigten, Frag-mente, Zusammenfassungen und Entwürfe (Band VII und VIII) sowie 70 ge-sammelte (und 2 nachträglich aufgefundene autographe) Predigten (Band IXund X), beide Gruppen in chronologischer Ordnung.

Die auffallende Vermehrung vor allem der Autographen führte vorüberge-hend sogar zum Zweifel an ihrer Echtheit, dies allerdings zu Unrecht. Franzvon Sales hat seine Predigten in der Regel nicht ohne schriftliche Vorberei-tung gehalten, wenn auch die Zahl der vollständig ausgearbeiteten innerhalbder Gesamtzahl relativ gering sein dürfte. Manchmal hat er seine Entwürfe auffliegende Blätter geschrieben, er hat aber auch Hefte mit solchen Vorberei-tungen angelegt. Frau von Chantal schickte 1637 dem Commandeur de Sillerymit den Manuskripten der 27 veröffentlichten Predigten „15 weitere kleineHefte, geschrieben von der gesegneten Hand“ des Heiligen. Sie enthielten„Gedanken der Predigten in Kurzform; da ist nur der Anfang ausgeführt, dasFolgende durch Punkte“.4 Durch den Tod des Herausgebers unmittelbar nachDrucklegung der Ausgabe 1641 dürften weder die Manuskripte der veröffent-lichten Predigten noch diese Hefte zurückgegeben worden sein (Frau vonChantal starb fern von Annecy im gleichen Jahr); Abschriften waren abernicht angefertigt worden.

3 Vgl. Des hl. Franciscus von Sales, Bischofs zu Genf, sämmtliche und ächteReden auf alle Festtage des Jahres, auf die Fasten und das Advent. Aus demFranzösischen übersetzt von P. Vital Mösl, Benediktiner von St. Peter inSalzburg. Salzburg, gedruckt und zu finden bey Johann Joseph Mayrs sel.Erbin 1777 (4 Bände).

4 Sainte Jeanne-Françoise Frèmyot de Chantal, sa vie et ses Oeuvres (Paris1879), Bd VII, Brief Nr. 1476.

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Seit dem Erscheinen der „Anleitung“ wurde Franz von Sales von verschiede-nen Seiten gedrängt, weitere Schriften dieser Art herauszugeben. Das hatte ertatsächlich bis zu seinem Lebensende vor5 und er hat von da an systematischMaterial gesammelt, auch in großformatigen Heften und Predigtentwürfen.Sein Neffe Charles-Auguste de Sales hat im Zusammenhang mit der Heilig-sprechung seines Onkels freigiebig dessen Manuskripte verschenkt; ein kleinesPaket kam durch Mère Chaugy nach Turin und blieb dort bis 1867 ungeöffnet.Es enthielt Reste eines dieser Hefte: 58 von ursprünglich mindestens 350Blättern, die auf der Vorder- und Rückseite beschrieben sind. Ein zweitesHeft gleichen Umfangs ist ebenso unauffindbar wie die fehlenden Blätter desHeftes von Turin.

II.

Das in den vier Bänden der Annecy-Ausgabe gebotene Material läßt sowohldie Arbeitsweise des hl. Franz von Sales bei der Vorbereitung seiner Predigtenaus den Autographen erkennen als auch seine Predigtweise aus den gesammel-ten Predigten.

Die zwei Bände mit den Autographen enthalten zahlreiche vollständig aus-gearbeitete Predigten oder Fragmente davon, uzw. nicht nur aus den erstenJahren, wenn auch ihre Zahl später zurückgeht. Bei den Entwürfen ist viel-fach die Einleitung ausgearbeitet6 und eine mehr oder weniger ausführlicheDisposition gegeben, wie es Frau von Chantal von den „kleinen Heften“ be-schrieben hat. Dazu werden die Schriftstellen angegeben, Zitate von Kirchen-vätern und gelegentlich von profanen Autoren, meist aus der Antike, sowieBeispiele. Vielfach genügte ihm ein Stichwort, besonders für die „similitudines“,die Bilder und Vergleiche aus der „Naturgeschichte“ des Plinius; davon hatteer eigene Sammlungen angelegt (s. OEA XXVI,100-164). Die Entwürfe imHeft von Turin sind aus dem angegebenen Grund (als Materialsammlung) ziem-lich ausführlich.

Diese Texte sind in der Regel lateinisch wiedergegeben, wie in den zeitgenös-sischen Predigthilfen, deren Franz von Sales sich bediente. Im Heft von Turinsind ganze Entwürfe lateinisch geschrieben, abgesehen von einzelnen franzö-sischen Ausdrücken oder Sätzen. Aber auch in den ausgearbeiteten Predigtender ersten Zeit sind die Texte der Heiligen Schrift (nach der Vulgata) durch-wegs lateinisch zitiert. Im Vortrag der Predigt dagegen verwendete Franz von

5 Vgl. u. a. E. J. Lajeunie, Franz von Sales, Leben, Lehre, Werk. Übersetztvon P. Johannes Ehle OSFS, (Eichstätt und Wien 1975), S. 579. – Am 16.8. 1620 schrieb Franz von Sales an P. Antoniotii SJ, der die Introduction insItalienische übersetzt hat: „Ich hätte viel zu schreiben über die Nächstenlie-be und über Dinge, die ich in 3000 oder 4000 Predigten, die ich in 28Jahren hielt, gepredigt habe, die zu veröffentlichen nach der Ansicht vielernützlich wäre ... Es ist aber unmöglich, sie unter der Last des Hirtenamtesfür den Druck zu schreiben“ (OEA XIX,321f).

6 Vgl. die fünf verschiedenen Fassungen für die Predigt zum Aschermittwoch1612 in Chambéry (Nr A 84).

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Sales das Latein äußerst sparsam, wie die gesammelten Predigten zeigen.7 Derdamaligen Gepflogenheit entsprechend wurde die Schriftstelle des „Vor-spruchs“ lateinisch zitiert und sogleich in der Übersetzung wiederholt. Darü-ber hinaus bot Franz von Sales gelegentlich sehr bekannte oder geläufige Stel-len aus der Liturgie, meist anschließend in (oft interpretierend freier) Über-setzung. Für die Predigtweise aufschlußreich ist ein Vergleich zwischenautographem Entwurf und nachgeschriebener Predigt; er ist nach dem vorlie-genden Material nur vereinzelt möglich, so bei der Predigt zur Wehnachtsvigil1613 (Nr. A 95 u. B 1), zum 3. Fastensonntag 1615 (Nr. A 105 und B 7) undzum Fest der Aufnahme Mariens 1618 (Nr. A 147 u B 21; vgl. aber Anm. 1 zuA 147). Darin wie in den übrigen gesammelten Predigten wird erkennbar, daßFranz von Sales gern der Eingebung des Augenblicks folgt, einen Punkt sobreit ausführt, daß er den letzten nicht mehr behandeln kann, ja sogar dieDisposition während des Vortrags ändert (Nr. B 49), daß er mehrfach denSchluß ankündigt und dann immer noch einen Gedanken hinzufügt. Insge-samt entsteht der Eindruck einer lebendigen, recht persönlichen Predigtweise.

III.

Die in diesem Band der deutschen Ausgabe gebotene Auswahl folgt derAnnecy-Ausgabe mit der Unterscheidung in (A) autographe und (B) gesam-melte Predigten sowie mit der chronischen Abfolge in beiden Gruppen. Aufdiese Weise ergibt sich einerseits ein Querschnitt der Predigten des hl. Franzvon Sales nach ihrer Art und Thematik, andererseits die Möglichkeit, durchden Vergleich von Predigten aus verschiedenen Jahren eine Entwicklung sei-ner Predigtweise festzustellen. In den Jahren bis zur Bischofsweihe (1602)überwiegt die doktrinäre Predigt mit der Darlegung, Begründung und Vertei-digung der katholischen Lehre, besonders ausgeprägt in den Jahren seinesWirkens im Chablais (1594-1598). Die Predigten des Bischofs haben zuneh-mend einen väterlichen Zug und seit dem Erscheinen der „Anleitung“ (1608/09) immer mehr das christliche Leben zum Inhalt.

Dies zeigt sich auch in der Art, wie er die heilige Schrift verwendet. Sie dientihm häufig nicht als eine Begründung der vorgetragenen Lehre, sondern alsBeispiel in ähnlicher Funktion wie Erzählungen aus Heiligenleben oder Ver-gleiche aus der Natur. Außerdem werden die Schrifttexte vielfach nicht ihremWortsinn verwendet, sondern nach der damals verbreiteten vierfachen Schrift-auslegung im übertragenen Sinn; das gilt vor allem für das von ihm sehr oftzitierte Hohelied.

7 Die früheste stammt allerdings vom 24. 12. 1613, also aus einer Zeit, daFranz von Sales bereits 20 Jahre predigte. Die ausgearbeitete Predigt zuMaria Himmelfahrt 1602 enthält vergleichsweise mehr lateinische Zitate,wohl mit Rücksicht auf den gehobenen Zuhörerkreis in Paris.

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Die Auswahl kann auch deutlich machen, daß einerseits bestimmte Themenin verschiedenen Formen und Zusammenhängen oft wiederkehren, so dieMenschwerdung, die Eucharistie, das Kreuz, die Gnade, die Tugenden, dasGebet, Maria; andererseits behandeln Predigten zum gleichen Anlaß verschie-dene Themen und Varianten eines Themas. Unter diesem Gesichtspunkt lohntsich ein Vergleich der Predigten zum Fest der Beschneidung 1594 und 1622(Nr A 8, 9 u. B 52), zum Aschermittwoch 1609 und 1612 (Nr. A 78 u. 84),zum Donnerstag der 1. Fastenwoche 1594, 1618 und 1622 (Nr. A 13, 141 u.B 56), zu Maria Himmelfahrt 1602 und 1618 (Nr. A 61, 147 u. B 21), zurUnbefleckten Empfängnis 1608 und 1622 (Nr. A 74 u. B 67) der dreiAllerheiligenpredigten 1617, 1620 und 1621 (Nr. B 15, 36, 51) und anderer.

Da für wissenschaftliche Studien die Predigten des hl. Franz von Sales derRückgriff auf die französische Ausgabe unerläßlich ist, wurde hier auf denumfangreichen „Apparat“ der Annecy-Ausgabe weitgehend verzichtet, um dasLesen des Textes zu erleichtern. Die Annecy-Ausgabe gibt ausführlich Re-chenschaft über die Arbeitsweise der Redaktion, über die Herkunft der Texte,die Datierung der Predigten und ähnliches. Darauf wie auf der Einleitung dereinzelnen Bände beruht diese Einführung wie auf die wenigen Anmerkungenund die folgenden Angaben:

In der Zeile nach der Überschrift der Predigt, die übernommen wurde, sindangegeben: die Nummer der Predigt in der Annecy-Ausgabe, das Datum undwomöglich der Ort der Predigt sowie rechts außen der Band und die Seiten-zahlen in der Annecy-Ausgabe.

Beibehalten wurden Bezeichnungen von liturgischen Tagen, die inzwischengeändert s ind oder n icht mehr ge l ten , z . B . Fest der Beschneidung,Quinquagesima u. ä.

Verzichtet wurde im allgemeinen auf den Nachweis der Zitate von Kirchen-vätern, geistlichen und profanen Autoren, soweit sie nicht in den Entwürfenvom Heiligen selbst angegeben sind, oder als Beispiele. Die Stellen der Heili-gen Schrift sind in Klammern im Text angegeben, der ohne Anführungszeichendurch Kursivdruck hervorgehoben ist; dadurch werden die Häufigkeit und dieArt der Schriftzitation durch den Prediger sichtbar.

Ein Namen- und Sachregister am Schluß des Bandes soll das Auffinden vonThemen erleichtern; es wird zugleich die oftmalige Wiederkehr bestimmterNamen und Gedanken auf einen Blick zeigen.

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A. Autographe PredigtenA. Autographe PredigtenA. Autographe PredigtenA. Autographe PredigtenA. Autographe Predigten

Seine erste Predigt hielt Franz von Sales als Subdiakon am 24. Juni 1593, demOktavtag von Fronleichnam; sie ist nicht überliefert. Die an erster Stelle derAnnecy-Ausgabe (VII,1-30) wiedergegebene Pfingstpredigt hat er wohl geschrie-ben, aber nicht gehalten. Die hier als erste angeführte Predigt zum Fest des hl.Petrus (Nr. A 2) wurde von der Annecy-Ausgabe den Predigten von 1643 ent-nommen.

Von den Predigten im Chablais werden hier nur vier Beispiele angeführt, weite-re sind in Band 10 (Kontroversschriften I) veröffentlicht. Eine deutliche Lückebilden die Jahre 1598-1600 infolge einer langen Krankheit des Heiligen, seinerRomreise und der langwierigen Verhandlungen über die kirchliche Reorganisationdes Chablais (vgl. dazu Band 8 dieser Ausgabe, S. 49ff). Auch von den zahlrei-chen Predigten in Paris 1618/19 findet sich keine Spur, ebenso nicht von denPredigten bei der Visitation der Pfarreien.

Die ersten Fastenpredigten außerhalb seiner Diözese hielt der Bischof 1604 inDijon; was davon erhalten ist (Nr. A 66-70) wird hier wiedergegeben. Von denFastenpredigten 1617 in Grenoble, deren Entwürfe die Annecy-Ausgabe fast voll-ständig enthält, wurden vier Entwürfe aufgenommen; von den Fastenpredigten1618, ebenfalls in Grenoble, was davon überliefert ist.

Die letzte der datierten autographen Predigten ist vom 1. 5. 1622; nach ihrwird noch die undatierte Predigt (Nr. A 158) zum Fest der Kreuzerhöhung wie-dergegeben.

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Zum Fest des hl. PetrusZum Fest des hl. PetrusZum Fest des hl. PetrusZum Fest des hl. PetrusZum Fest des hl. Petrus

Nr. 2: Annecy, 29. Juni 1593 VII,31-54

Du bist Petrus, und auf diesem Felsen will ichmeine Kirche bauen (Mt 16,18).

Meine lieben Zuhörer, in der vergangenen Woche habe ich euch vondieser Kanzel Brot gereicht mit den Worte: „Das ist das Brot, das vomHimmel herabgekommen ist.* Es könnte manchen befremden, daß icheuch heute hier einen Stein reiche mit den Worten: Du bist Petrus, undauf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen. Trotzdem versprach icheuch, als ich euch zu dieser Predigt einlud, eine ähnliche geistlicheNahrung wie jene, die ich euch damals bot. Nein, ich täusche michnicht, denn ich reiche euch diesen Stein nach dem allmächtigen WortUnseres Herrn; das gibt uns die Gewißheit, daß dieser Stein uns allenähren wird: Petrus, liebst du mich? Herr, du weiß, daß ich dich liebe.Weide meine Schafe (Joh 21,17).

Wenden wir uns an unsere glorreiche Herrin, die heilige Jungfrau;bitten wir sie, daß sie zu ihrem göttlichen Sohn sage, nicht um ihn zuversuchen, sondern um ihn zu verherrlichen: Sag, daß dieser Stein zuBrot werde (Mt 4,3). Seid überzeugt, wie Unser Herr euch in der ver-gangenen Woche gespeist hat mit dem Mark des Weizens, wird er euchjetzt sättigen mit Honig aus dem Felsen (Ps 81,17). Dazu erbitten wirden Beistand der heiligen Jungfrau und sagen: Ave Maria.

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: als du jünger warst, hast du dichselbst gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älterbist, wirst du deine Hände ausbreiten und ein anderer wird dich gürtenund dich führen, wohin du nicht willst (Joh 21,18). Alles hat seine Zeit:eine Zeit, geboren zu werden, und eine Zeit zu sterben (Koh 4,1f), sagtdie Heilige Schrift. Das veranlaßt mich, unsere Mutter, die heiligeKirche zu bewundern, die nicht ohne Grund angeordnet hat, daß manwährend der Oktav von so großer Freude, wie die der Geburt des hl.Johannes ist, das glorreiche Gedächtnis des Martyriums des hl. Petrusfeiert, des großen Lenkers der streitenden Kirche. Wenn die HeiligeSchrift (Sir 22,6) sagt, Musik während der Trauer ist wie ein Geschwätzzur Unzeit, und wenn es eine Zeit zu sterben und eine Zeit, geboren zu

* Über dieses Thema hatte Franz von Sales am 24. Juni 1593, dem Oktavtag vonFronleichnam, seine erste Predigt gehalten, deren Text nicht überliefert ist.

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werden, gibt, warum hat man dann in der gleichen Oktav den Tod deshl. Petrus mit der Geburt des hl. Johannes vereinigt? Es wäre gewißganz leicht, eine Antwort auf diesen Einwand zu finden und diese Be-wunderung zu rechtfertigen. Aber vielleicht sagt ihr mir, die Kirchehalte jene nicht für tot, die als Märtyrer sterben, sondern für lebendig.Da sie in ein besseres Leben eingehen, habe man allen Grund, sichüber ihren Tod zu freuen; da ihre Geburt von der Sünde begleitet ist,bringe sie ihnen Leid, ihr Tod aber führe sie zur Herrlichkeit, deshalbfeiere man ihre Geburt an ihrem Todestag.

Wenn aber die Geburt der Heiligen armselig ist und ihr Tod glor-reich, warum gibt man dann einer glorreichen Sache wie dem Tod denbeklagenswerten Namen Geburt? Ich finde soviel Ähnlichkeit zwi-schen der Geburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus, daßbeide als Tod und beide als Geburt bezeichnet werden müssen; es ist jaunwahrscheinlich, daß zwei so ähnliche Dinge verschiedene Namenhaben müßten. Wenn ich die Ähnlichkeit und herrliche Übereinstim-mung zwischen der Erschaffung der Welt und ihrer Erneuerung undWiederherstellung betrachte, bin ich voll Bewunderung für den gro-ßen Schöpfer. Er verstand es vorzüglich, durch ein so schönes Mittelund göttliches Geschick in der Erschaffung und Erneuerung die Ein-heit des Schöpfers und Erlösers zu zeigen. Aber heute will ich michnicht bei diesen Dingen aufhalten, um sie zu erläutern; ich will nur dasaufgreifen, was meinem Vorhaben für diesen Festtag entspricht.

Wenn ich überlege, daß die Mutter Kirche uns in der festlichen Ok-tav der Geburt des hl. Johannes das Fest des schmerzlichen Todes deshl. Petrus vorschlägt, und wenn ich weiß, daß sie vom Heiligen Geistgeleitet ist, dann glaube ich, daß sie das tut wegen einer gewissen Ähn-lichkeit und Beziehung zwischen dem Tod des einen und der Geburtdes anderen. In diesem Gedanken werde ich um so mehr bestärkt, daich sehe, daß die gleiche Kirche ebenso den Tod des hl. Petrus alsGeburt bezeichnet wie die Geburt des hl. Johannes. Ich sehe, daß ichnicht nur in ihrem Tod sondern auch in ihrem Leben selbst eine Ver-bindung und Ähnlichkeit finde, wenn es auch in bestimmten Punkteneinen Unterschied gibt, wie es stets zwischen Dingen des Alten unddes Neuen Bundes zutrifft.

Gewiß, als ich in der Genesis (1,1) las, daß Gott zwei große Leuch-ten am Himmel schuf, die eine, um den Tag zu beherrschen und zuerhellen, die andere für die Nacht, da dachte ich sogleich, daß dies diebeiden großen Heiligen seien, der hl. Johannes und der hl. Petrus.Dünkt euch nicht, daß der hl. Johannes das große Gestirn des mosai-

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schen Gesetzes ist, das nur ein Schatten oder wie eine Nacht war imVergleich zur Helle des Gesetzes der Gnade, obgleich er mehr als einProphet (Mt 11,9) war? Obwohl er nicht das Licht war, gab er dennochZeugnis für das Licht durch eine gewisse Teilnahme am Licht, das inder Finsternis leuchtet (Joh 1,5.8). Und meint ihr nicht, daß der hl.Petrus die größere Leuchte des Evangeliums ist, weil er dem Tag desEvangeliums vorsteht? Diese zwei Leuchten wurden von Jenem amHimmel der Kirche angebracht, der sie geschaffen und gebildet hat,Unser Herr Jesus Christus.

Wir lesen (Ex 25,18-20), daß auf dem Gnadenthron zwei Kerubimwaren, die einander zugewandt waren. Der Gnadenthron, meine lie-ben Zuhörer, ist Unser Herr. Der ewige Vater hat ihn uns gegeben, daßer das Sühneopfer für unsere Sünden (1 Joh 2,1) sei; ihn hat Gott alsSühneopfer dargestellt (Röm 3,25). Die zwei Kerubim, glaube ich, sindder hl. Johannes und der hl. Petrus; sie sehen einander an, der eine alsProphet, der andere als Apostel. Meint ihr nicht, daß sie einanderansahen, als der eine sagte: Seht das Lamm Gottes (Joh 1,29.36), undder andere: Du bist Christus, der Sohn Gottes (Mt 16,16)? Es ist wahr,daß das Bekenntnis des hl. Johannes noch ein wenig nach dem altenGesetz klingt, wenn er Unseren Herrn Lamm nennt, denn er sprichtvom Gleichnis; das des hl. Petrus dagegen verrät den Tag, weil Johan-nes der Nacht vorstand, Petrus dem Tag. Das sage ich nicht, um euchzu verstehen zu geben, der hl. Johannes hätte die Wahrheit nicht gutgekannt, sondern damit ihr wißt: so wie der hl. Petrus, der als dasgroße Gestirn über dem Tag stand, offen spricht, so paßt sich der hl.Johannes der Zeit an, der er vorstand, die eine Zeit der Schatten undBilder war, und spricht geheimnisvoller.

Bei der Erschaffung der Welt heißt es (Gen 1,2): Der Geist des Herrnschwebte über den Wassern. Der einfache Text will im Grunde sagen: be-fruchtete, belebte. So, scheint mir, hat Unser Herr bei der Erneuerung derWelt die Wasser fruchtbar gemacht, als er am See Gennesaret wandelte.Und mit dem Wort, das er zum hl. Petrus und zum hl. Andreas sprach:Folgt mir nach, ließ er bei den Seemuscheln den hl. Petrus und den hl.Andreas hervorgehen (Mt 4,18f). Darin ist der hl. Johannes dem hl. Petrusauch in etwa ähnlich, da es am Ufer des Wassers war (Joh 1,28), wo der hl.Johannes zum erstenmal die Ehre hatte, Jenen zu sehen, den er ankündig-te, so wie der hl. Petrus am Wasser seinen göttlichen Meister erkannte undihm folgte. Da wir aber beim Geheimnis der Berufung des hl. Petrus sind,will ich euch darüber eine tiefe Erwägung darlegen.

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Pharao hatte den Hebammen der Hebräer befohlen, alle KnabenIsraels zu töten. Die Mutter des Mose hegte diesen nach seiner Geburtdrei Monate, und als sie ihn schließlich nicht mehr verbergen konnte,legte sie ihn in einen Binsenkorb, den sie so gut als möglich zurechtge-macht hatte, dann setzte sie ihn bei bestimmten Wasserpflanzen amUfer des Wassers aus. Als die Tochter des Pharao dorthin kam, um zubaden, sah sie ihn, ließ ihn holen, und da sie sah, daß der kleine Knabesehr schön war, ließ sie ihn zum Glück von seiner eigenen Mutterernähren. Weil sie ihn aus dem Wasser gezogen hatte, nannte sie ihnMose, d. h. der Herausgezogene (Ex 1 u. 2). Erkennt ihr nicht dasGeheimnis, das diese Geschichte enthält? Mose war das Haupt derSynagoge und wurde durch die Vorsehung Gottes dazu gerettet undaus dem Wasser gezogen. Seht, Unser Herr, die einzige Weisheit desewigen Vaters (Spr 8,12), holt das Oberhaupt der streitenden Kirche,den hl. Petrus, aus dem Wasser am See von Cäsarea. Man könnte ihnsehr wohl Mose nennen, weil er aus dem Wasser gezogen wurde wieMose. Und tatsächlich will Simon, einer der Namen des hl. Petrus, dasgleiche aussagen, denn Simon bedeutet gehorsam. Mose bedeutet ein-fach herausgezogen, da er noch nicht den Gebrauch der Vernunft be-saß, als man ihn herauszog. Der hl. Petrus wird gehorsam genannt,weil er, im Gebrauch der Vernunft berufen, durch den Gehorsam her-ausgezogen wurde: Folgt mir nach. Und sogleich folgten sie ihm (Mt4,19). Der hl. Petrus war also Mose und dem hl. Johannes ähnlich.

Doch betrachten wir jetzt die Ähnlichkeit der Geburt des hl. Johan-nes und des hl. Petrus, jedoch unter der Voraussetzung, daß wir die deshl. Johannes nur streifen, um uns mehr beim hl. Petrus aufzuhalten.Zunächst finde ich, daß die Geburt des hl. Johannes durch den Engelvorhergesagt wurde: Und viele werden sich über seine Geburt freuen(Lk 1,14). Die des hl. Petrus wurde ebenfalls vorhergesagt; der großeUnterschied liegt aber darin, daß die des hl. Johannes der Engel vor-hersagt, die des hl. Petrus von Unserem Herrn vorhergesagt wurde(Joh 21,18f).

Der hl. Johannes wurde geboren, um das mosaische Gesetz zu been-den, der hl. Petrus starb, um die katholische Kirche zu beginnen. Nichtals ob der hl. Petrus der grundlegende Beginn der Kirche, noch der hl.Johannes das Ende der Synagoge wäre, denn es ist Unser Herr, derdem Gesetz des Mose ein Ende setzte, als er am Kreuz sagte: Es istvollbracht (Joh 19,30), und in seiner Auferstehung die neue Kirchebegann; denn wie er sich selbst erneuerte, so erneuerte er auch seineKirche. Er erneuerte sich, sage ich, indem er bei der Auferstehung mit

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Unsterblichkeit bekleidet wurde, er, der zuvor mit unserer Sterblich-keit bekleidet war: Und er wurde im Äußeren als Mensch erfunden(Phil 2,7). Der Rabbi Saadias sagt, wenn der Adler durch das Feuerfliegt und sich dann ins Meer stürzt, erneuert er seine Schwingen undseine Jugend. So verbrannte Unser Herr im Feuer seiner übergroßenLiebe und stürzte sich dann in das Wasser des Roten Meeres seinerPassion; dadurch erschien er, als er aus ihr auferstand, glorreich, er-neuert wie der Adler, wie es in den Psalmen heißt: Wie dem Adler wirddir deine Jugend erneuert (Ps 103,5).

Die Geburt des hl. Johannes wurde dem Zacharias angekündigt, alser dem Herrn das Rauchopfer bereitete, wie es beim hl. Lukas (1,9)heißt: Als Zacharias dem Herrn das Rauchopfer darbrachte. Doch wasglaubt ihr, welches Rauchopfer der hl. Petrus dem Herrn darbrachte,als er ihm antwortete: Herr, du weißt, daß ich dich liebe (Joh 21,17), alseinzigen Wohlgeruch, der seiner göttlichen Majestät wohlgefällig ist.

Der hl. Johannes wurde im Schoß seiner Mutter geheiligt in Gegen-wart der heiligen Jungfrau; ebenso wurde der hl. Petrus im Schoß derstreitenden Kirche geheiligt.

Ihr müßt aber wissen, daß die Heiligen auf fünffache Weise geheiligtwerden: 1. aus notwendiger Konsequenz; so war Unser Herr geheiligt,der als wahrer Sohn Gottes nur heilig sein konnte. Da er seiner Naturnach heilig ist, heißt er heilig schlechthin: Der Heilige wird Sohn Got-tes genannt werden (Lk 1,35), da er einer der drei Sanctus, Sanctus,Sanctus ist (Jes 6,3), die die Serafim, die Jesaja sah, im Himmel unab-lässig zu Ehren der heiligsten Dreifaltigkeit singen. Die zweite Art istdie jener, die bedingt und durch keine andere Notwendigkeit als durchden Willen Gottes heilig sind; gleichwohl sind sie es immer. Von die-ser zweiten Art haben wir nur die heilige Jungfrau, von der David sagt:Herr, du hast dein Land gesegnet, hast die Gefangenschaft Jakobs ab-gewendet (Ps 85,1). Die dritte Weise der Heiligung ist die jener, dienicht immer heilig sind, sondern erst im Schoß ihrer Mutter geheiligtwurden. Solche waren der hl. Johannes, Jeremia und nach der Auffas-sung einiger der hl. Josef. Auf sie wendet man die Worte (Jer 1,5) an:Ehe du aus dem Mutterleib hervorgingst, habe ich dich geheiligt. Dievierte Weise ist die jener, die geheiligt wurden durch eine allgemeineHeiligung für alle Gerechten vor ihrem Tod; von ihnen heißt es (Weish3,1): Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand. Die letzten abersind geheiligt, nicht durch eine allgemeine Heiligung, die man Recht-fertigung nennt, sondern durch eine besondere Heiligung, die sie nichtmehr verlieren können. Dafür haben wir das Zeugnis des hl. Paulus,der (Röm 8,38f) sagt, er sei überzeugt, daß nichts, nicht einmal der

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Tod ihn von der Liebe Jesu Christi trennen könne: Ich weiß, daß nichteinmal der Tod uns von der Liebe Christi trennen wird.

Um euch nun zu zeigen, welche Beziehung zwischen dem hl. Johan-nes und dem hl. Petrus besteht, finde ich, daß die heilige Jungfrau beiihrer Heiligung gegenwärtig war. Über die des hl. Johannes heißt es:bei ihrer Ankunft bei der hl. Elisabet hüpfte das Kind vor Freude (Lk1,44). Dasselbe kann man von der Heiligung des hl. Petrus sagen, dieim Abendmahlssaal erfolgte, wo auch die heilige Jungfrau zugegenwar, bei der Herabkunft des Heiligen Geistes. So kann man von ihmwie vom hl. Johannes sagen: Das Kind jubelte, weil der hl. Petrus vor-her wie ein Kind gleichsam nie gesprochen hatte und sogleich seinenMund öffnete (Apg 2,14), zu predigen und die Menschen zu Tausen-den zu bekehren begann.

Der hl. Johannes war der letzte Prediger des mosaischen Gesetzes,der hl. Petrus der erste des Evangeliums. Ihr zwei brennende Leuchtender Predigt, helft durch eure heilige Fürsprache meiner Jugend, damites Gott gefalle, sich meiner in dieser Aufgabe zu bedienen, um seinemVolk die Erkenntnis des Heiles zu schenken, zur Vergebung ihrer Sünden(Lk 1,77), auf daß ich meine Lippen durch Unseren Herrn so zu öff-nen vermöge, daß mein Mund sein Lob verkünde, daß ich das Rechtelehre, und was ich lehre, in der Tat vollbringe, damit ich nicht anderenpredige und selbst verworfen werde (Ps 1,17; 1 Kor 9,27).

Bis jetzt habt ihr gesehen, welche Übereinstimmung zwischen derGeburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus besteht. Jetztwollt ihr vielleicht wissen, wer der Größere ist im Himmelreich (Mt18,1). Das ist eine Frage, die ich nicht gut beantworten kann. Ichwill euch nur sagen: ahmt die Heiligkeit des einen wie des anderennach, dann werdet ihr es wissen, sobald ihr im Himmel seid. Alsdie Philosophen vor mehr als 2000 Jahren die Ursache von Flutund Ebbe suchten, konnten sie diese nie finden; aber ich will euchnicht dieses Ziel setzen, um die Lösung dieser Frage zu kennen:studiert nur die Heiligkeit dieser zwei großen Heiligen durch dieNachahmung, und die meisten der hier Anwesenden werden sie inkurzer Zeit wissen.

Übrigens nennt die Kirche den Tod des hl. Petrus eine Geburt, weiler im Tod das Leben gefunden hat. Der Tod des hl. Johannes konnteaber nicht als Geburt bezeichnet werden, da er in den Vorhimmeleingehen mußte, weil der Himmel damals noch nicht geöffnet war.Seit der Himmelfahrt des Herrn nun haben diejenigen, die diese Sterb-

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lichkeit geringschätzen, aus ihrem Tod eine Geburt gemacht. Ich täteaber der Schriftstelle Unrecht, die ich am Anfang dieser Predigt ange-führt habe, wenn ich noch länger den Ähnlichkeiten zwischen derGeburt des hl. Johannes und dem Tod des hl. Petrus nachginge, da ichsoviel Gelegenheit habe, einen höheren Vergleich anzustellen, näm-lich zwischen dem Tod des hl. Petrus und dem unseres göttlichenErlösers.

Niemand soll sagen, alle Vergleiche seien verpönt und es gebe kei-nen Vergleichspunkt zwischen dem Herrn und dem Diener, da UnserHerr keine Bedenken hatte, sich mit den Hirten und den Schafen zuvergleichen, mit dem Weinstock und mit den Steinen. Der hl. Paulussagt im Römerbrief (8,29): Die er vorherwußte, hat er auch vorherbe-stimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu werden. Er nennt sichunseren Bruder (Joh 20,17), er nennt uns seine Freunde (Joh 15,14f)und seine Miterben (Röm 8,17); außerdem gibt er uns einen Namen,dessen Grundlage überhaupt nicht mitteilbar ist: Ich habe gesagt,Götter seid ihr und Söhne des Allerhöchsten (Ps 82,6). Aber beachtetdas, denn Gott nennt uns Götter; der Teufel nennt uns Götter, wennauch nicht unbedingt, wenn er sagt: Ihr werdet wie Götter sein, Gut undBöse erkennend (Gen 3,5). Gott gibt uns diese Namen, um uns zudemütigen und uns seine Liebe zu zeigen; der Teufel wendet sie aufuns an, um uns in Hochmut fallen zu lassen und auf diese Weise vonder Liebe zu trennen. Schließlich zeigen diese Namen, die den Men-schen gegeben wurden, mehr die Ehre Gottes als die der Menschen: Erist so gütig, daß er uns ihm ähnlich machen will, soweit unsere Nied-rigkeit das zuläßt.

Meine lieben Zuhörer, wir dürfen es also nicht mit unserem kleinenVerstand kritisieren und verurteilen, wenn wir sehen, daß die Kirchebestimmten großen Heiligen, namentlich unserer glorreichen Herrin,hervorragende Titel gibt. Sie hat ja mehrere Namen, die ihr nicht nurbild- und gleichnishaft zukommen, sondern in Wahrheit, wie Mutterder Gnade, Mutter Gottes und folglich Königin der Engel, Königindes Himmels und der Erde, Zuflucht der Sünder, Mutter der Barm-herzigkeit. Sie, die wahrhaft die Mutter Gottes ist, besitzt ja alle Titeloffenbar mit größerem Recht, als ein König den Namen seines König-tums trägt. Die übrigen Namen der heiligen Jungfrau verstehen sichals angemessen durch Teilnahme, so wenn wir sie unsere Zuflucht,unsere Hoffnung nennen, weil sie es tatsächlich ist, obwohl sie es nurdurch Anteilnahme und durch ihr Ansehen ist.

Als Unser Herr zum hl. Petrus gesagt hatte, wenn er älter gewordensei, werde er seine Hände ausstrecken, werde gebunden und geführt,

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wohin er nicht wolle, da sagte er zu ihm: Folge mir (Joh 21,19). Der hl.Augustinus fragt, warum Unser Herr zum hl. Petrus sagt: Folge mir; erantwortet: Das ist, als wollte er ihm sagen: Was dich betrifft, Petrus,du wirst mir nicht nur in den Tod folgen, sondern auch in der Art desTodes. Dem stimmt auch Euthymius zu, obwohl Theophylact diesesWort so versteht, als wollte ihm Unser Herr sagen: Sei mein Stellver-treter. Die eine wie die andere Auslegung ist gut, denn Unser Herrsagte ihm: Folge mir, in der Folge dessen, was er ihm vorher gesagt hat.Nun hat er ihm zwei Dinge gesagt: 1. Weide meine Lämmer; 2. Wenndu aber älter geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken ... Infol-gedessen sagt er ihm zweimal: Folge mir: das erste Mal, nachdem erihm seinen Tod vorhergesagt hat: Nach diesen Worten sagte er zu ihm:Folge mir nach (Joh 21,19), als wollte er sagen: Du wirst gekreuzigt,um zu zeigen, daß du meine Schafe nicht nur mit meinem Wort nährst,sondern auch nach meinem Vorbild; sei also Hirte, mein Statthalterund mein Stellvertreter. Das zweite Mal sagt er zu ihm: Folge mir, alsPetrus wissen wollte, was mit dem hl. Johannes geschehen soll (Joh21,22). Der hl. Johannes wird bleiben, wie es mir gefallen wird; wasdich betrifft, mußt du mir nachfolgen, nicht nur als Stellvertreter inder Leitung der Kirche, sondern auch darin, daß du an einem Kreuzstirbst wie ich.

Der Ort, wo der hl. Petrus gekreuzigt wurde, ist ohne Zweifel Rom,denn das berichtet die ganze alte Überlieferung. Damit sind unsereGegner nicht einverstanden; sie wollen nicht nur leugnen, daß er inRom gestorben ist, sondern auch, daß er dort seinen Sitz hatte, und dasmit den lächerlichsten und haltlosesten Begründungen, die man sichvorstellen kann. Indessen bestätigt es der Apostelschüler Papias (nachdem Bericht des Eusebius) und führt als Beweis dafür an, daß der hl.Petrus seinen ersten Brief von Babylon datiert, d. h. von Rom. DieserAuffassung folgte auch der große hl. Hieronymus in seinem Werk „Deviribus illustris“. Jemand, der in Fragen des Glaubens wenig bewan-dert ist und schlecht mit ihnen vertraut, wird mir sagen: Rom wirdalso Babylon genannt? Es grüßt euch die mit auserwählte Gemeinde inBabylon, schreibt er (1 Petr 5,13). Ja wirklich, denn in Rom, das durchdie Schreckensherrschaft Neros mit dem Blut der Märtyrer getränktwar, herrschte damals der Götzendienst; deshalb mußte es dieneronische Stadt oder Babylon genannt werden, nicht eine christlicheStadt. Beachtet deshalb, daß der hl. Petrus nicht sagt: Es grüßt euchdie Gemeinde von Babylon, sondern: Es grüßt euch die mit auser-wählte Gemeinde in Babylon. Die römische Christengemeinde war inBabylon, nicht von Babylon, so wie viele Antichristen aus uns hervor-

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gegangen sind, aber sie waren nicht von uns (1 Joh 2,18f). So mußman auch die andere Stelle verstehen: Babylon saß auf den siebenHügeln (Offb 17,9).

Der hl. Petrus war also in Rom und trat dem Magier Simon entge-gen. Nachdem er die Kirche ungefähr 25 Jahre geleitet hatte, wollteNero ihn töten lassen. Die Christen baten ihn aber, sich in Sicherheitzu bringen, da er für die Kirche sehr notwendig sei, die nicht ihr Ober-haupt verlieren könne, ohne Schaden zu nehmen. Deshalb verließ erRom. Außerhalb des Tores erschien ihm Unser Herr. Da fragte ihn dergroße Heilige in seiner gewohnten Einfalt, wohin er gehe: „Herr, wo-hin gehst du?“ Unser Herr antwortete ihm: „Ich gehe nach Rom, umnoch einmal gekreuzigt zu werden.“ Durch diese Worte erkannte derhl. Petrus, daß Unser Herr in seiner Person gekreuzigt werden wollte,da er gesagt hat: Was ihr einem meiner Geringsten getan habt, das habtihr mir getan (Mt 25,40). Er kehrte schnell in die Stadt zurück, wurdesogleich ergriffen und zur Kreuzigung verurteilt. Aus Demut bat erjedoch, daß er mit dem Kopf nach unten und mit den Füßen nach obengekreuzigt werde, da er aus Ehrfurcht nicht genau so wie sein göttli-cher Meister sein wollte. So verherrlichte der große hl. Petrus, altgeworden, Gott, indem er seine Hände ausstreckte, wie ihm vorherge-sagt war. Nun wird alles, was ich euch gesagt habe, von unwiderlegba-ren Gewährsmännern berichtet, deren Auffassung kein Mensch vongutem Urteil zu widersprechen wagt. Da ist der hl. Ambrosius in sei-ner Rede gegen Auxentius, der hl. Athanasius in der Rechtfertigungseiner Flucht, der hl. Hieronymus in einer Predigt über den hl. Petrus,abgesehen von den Erinnerungen, die in Rom noch erhalten sind. Sofolgte also der hl. Petrus Unserem Herrn nach, nicht nur darin, daß ersein Stellvertreter auf Erden war, sondern auch darin, daß er am Kreuzstarb wie er.

Als Gott diese Welt erschuf und den Menschen erschaffen wollte,sagte er: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleich-nis, daß er herrsche über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmelsund die Tiere des Landes (Gen 1,26). So, scheint mir, hat er es auch beiihrer Erneuerung gemacht. Als er den hl. Petrus zum Vorsteher undLeiter seiner ganzen Kirche machen wollte, daß er ebenso Befehlsge-walt habe über jene, die im Meer dieser Welt sind, wie über jene, diesich ins Kloster zurückziehen, um in der Luft der Vollkommenheit zufliegen, da wollte er ihn sich ähnlich machen, und mir scheint, daß ersagte: Laßt uns ihn nach unserem Bild machen, d. h. dem gekreuzigtenJesus ähnlich; deshalb sagte er: Folge mir.

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Nach der Sage war Narziß ein so stolzer Jüngling, daß er nie jemandseine Liebe schenken wollte. Als er sich aber schließlich in einer kla-ren Quelle betrachtete, war er von seiner Schönheit ganz hingerissen.Wenn wir uns in einer Quelle betrachten, erscheinen wir darin ver-kehrt dargestellt, den Kopf unten und die Füße oben. Meint ihr nicht,daß Unser Herr den hl. Petrus in seinem Martyrium betrachtete, daseine Augen auf den Armen schauen (Ps 11,32)? Er sah ihn wie imMeer der Bitterkeit und Drangsal, mit den Füßen nach oben gekreu-zigt, so daß er wie sein wahres Abbild war. Und wenn Narziß, der niejemand liebte, von seinem eigenen Spiegelbild so hingerissen war, wie-viel mehr Unser Herr, der nur liebte? So sagt auch sein Lieblings-jünger von ihm: Da er die Seinen liebte, liebte er sie bis zum Äußersten(Joh 13,1). Und an einer anderen Stelle heißt es: Mit ewiger Liebehabe ich dich geliebt (Jer 31,5). Was meint ihr, sage ich, um wievielmehr der göttliche Heiland von der Liebe des hl. Petrus hingerissenwar, der wie sein Ebenbild war, versenkt im Meer der Trübsal desMartyriums? Zu den Jüngern von Emmaus sagte er: Mußte nicht Chris-tus leiden, und so in seine Herrlichkeit eingehen? (Lk 24,26). Ebensomöchte ich sagen: Mußte nicht Petrus leiden, und so in die Herrlich-keit seines Herrn eingehen? Ja, ohne Zweifel, denn Unser Herr hatteihm gesagt: Folge mir; komm in die Herrlichkeit, aber so wie ich.

Schaut auf die Passion: ihr werdet sehen, als Unser Herr das Kreuznicht tragen konnte, da er von den Martern so zerschlagen war, da ließman einen Mann kommen, um ihm zu helfen; er folgte ihm und trugdas Kreuz auf seinen Schultern. Der Evangelist nennt nicht viele beimNamen, die bei der Passion anwesend waren; diesen aber nennt er, undnicht ohne Geheimnis nennt er ihn Simon. Simon trägt Unserem Herrndas Kreuz nach. Das Kreuz ist das Königszepter Unseres Herrn: Undseine Herrlichkeit ruht auf seinen Schultern (Jes 9.6), wie es der hl.Hieronymus auslegt. Dieses Zeichen war für den hl. Petrus wie einVorzeichen, daß er eines Tages das Kreuz und das Szepter UnseresHerrn tragen werde, nicht nur im Leiden, sondern auch im Herrschen.Simon von Zyrene trug das Kreuz, um anzudeuten, daß unser Simondas Kreuz Unseres Herrn in der Hand halten werde wie ein Szepter,um in der streitenden Kirche zu herrschen und zu leiden.

Von da aus kann ich euch zum Verständnis einer weiteren Schwie-rigkeit führen, die ich euch erklären will. Sie besteht darin, daß UnserHerr, als er dem hl. Petrus die Leitung seiner Herde übergeben wollte,ihn stets Simon, Sohn des Johannes nennt, nicht Petrus, obwohl erselbst seinen Namen geändert hat. Woher kommt das? Ein hervorra-

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gender Theologe unserer Zeit glaubt, das sei geschehen, um den hl.Petrus zu warnen, sich nicht zu überheben und sich zu erinnern, was erwar, bevor Unser Herr ihn Petrus nannte. Ich glaube aber, daß darinein tieferes Geheimnis liegt. Als Unser Herr dem hl. Petrus zeigenwollte, er werde ihn zum Haupt der Kirche bestellen, sagte er zu ihm:Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Wenner ihm damit die Sorge für seine Herde übertrug, so gab er ihm aucheinen seiner Namen, der Macht bedeutet; denn der Stein ist einer derNamen, die die Heilige Schrift Unserem Herrn beilegt: Der Stein aberwar Christus (1 Kor 10,4). Der Stein, den die Bauleute verworfen ha-ben, ist zum Eckstein geworden (1 Petr 2,7). Er verhieß ihm also seineStellvertretung in der Leitung der Kirche und gab ihm dazu einen sei-ner Namen, der Macht bedeutet.

Da er ihn aber nicht nur zu seinem Stellvertreter machen wollte,sondern auch vorhersagen, daß er den Tod am Kreuz erleiden werde,gab er ihm noch einen Namen des Leidens, des Kreuzes und des Mar-tyriums, einen Namen, der Unserem Herrn zueigen war. Und welchenNamen des Martyriums, des Leidens und Duldens hatte unser Herr?Den Namen, der uns allen am Herzen liegen müßte, um uns zur Beob-achtung der Gebote Gottes zu ermutigen; das ist der Name des Gehor-sams. Hört, was der Apostel sagt: Er ist gehorsam geworden bis zumTod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Im Hebräischen bedeutet derName Simon „gehorsam“. Unser Herr, der ihm den Namen der Machtgab, als er ihm die Macht übertrug, gibt ihm also jetzt seinen Namendes Leidens und des Duldens, da er ihm seinen Tod vorhersagt: sokann man sagen, daß Simon Petrus geworden ist bis zum Tod.

Der hl. Petrus gab sich einmal als der Mutige, da er zu UnseremHerrn sagte: Auch wenn ich mit dir sterben müßte, werde ich dich nichtverleugnen (Mt 26,35). Dann hat er ihn auf das Wort einer Magd hindreimal verleugnet. Als er seine Sünden erkannte, zog er sich sogleichzurück, um sie bitterlich zu beweinen, und nicht nur damals, sonderner beweinte sie ein Leben lang, wie der hl. Klemens sagt, so daß erwohl sagen konnte: Herr, besprenge mich mit Ysop der Reue, und ichwerde von meiner Sünde gereinigt; wasche mich im Wasser meinerTränen, und ich werde weißer als Schnee (Ps 51,9). Trotzdem tadelndie Centuriatoren von Magdeburg diese Sünde des hl. Petrus unauf-hörlich, nennen sie schrecklich und abscheulich. Es war tatsächlicheine Sünde, die ihn die Furcht vor dem Tod begehen ließ. Sie tätenaber besser, sich vor der Sünde zu hüten, als den Fehltritt des hl. Pe-trus so zu übertreiben. Mir scheint nun, der große Heilige habe amKreuz zu solchen Leuten die Worte des hl. Paulus gesagt: Fürderhin

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falle mir niemand lästig, denn ich trage die Wundmale meines Herrn anmeinem Leib (Gal 6,17), so als wollte er sagen: Niemand werfe mirweiterhin meine Sünde vor; denn darüber hinaus, daß ich mich inmeinen Tränen reingewaschen habe, habe ich jetzt einen Beweis mei-ner Treue geliefert und mache durch meinen Tod den Fehler wiedergut, den ich aus Furcht vor dem Tod begangen habe.

Bevor ich schließe, will ich der Wißbegier jener gerecht werden, diefragen könnten, warum der hl. Petrus mit dem Kopf nach unten ge-kreuzigt werden wollte.

Der erste Grund dafür war die Demut. Der zweite Grund war, daßUnser Herr die Füße zur Erde gerichtet hatte, um zu zeigen, daß ervom Himmel auf die Erde gekommen ist; der hl. Petrus hatte die Füßehimmelwärts gerichtet, um zu zeigen, daß er von der Erde in den Him-mel ging. Außerdem hatte Unser Herr, als er starb, das Gesicht unddie Augen stets auf die Erde gerichtet, um zu zeigen, daß er für seineKirche nach seinem Tod nicht weniger Sorge trage als zuvor und daßer stets ihr Hirte sein wolle; der hl. Petrus wandte das Haupt gegen dieErde und die Augen zum Himmel, um zu zeigen, daß er sterbend seinAmt an seinen Nachfolger übergebe. So ist Unser Herr immer dasHaupt der Kirche, nicht aber der hl. Petrus; Unser Herr hat seinenStellvertreter, der hl. Petrus seinen Nachfolger.

Der hl. Petrus wandte außerdem das Haupt gegen die Erde, um zuzeigen, daß er wohl in den Himmel ging, aber seine Nachfolge den-noch auf Erden zurückließ, von der Unser Herr ihm gesagt hat: Dubist Petrus, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen. Stellteuch vor, daß nächst Christus der hl. Petrus das erste Fundament derKirche ist; auf ihm sind dann seine Nachfolger nacheinander aufge-baut als Ecksteine, die miteinander das Bauwerk der Kirche tragen.Das ist der Prüfstein, mit dem man stets den Irrtum oder die Irrlehreerkennt; das ist der Quaderstein des Tempels Salomos. Es heißt (1Kön 5,17), daß der König Steine für das Fundament suchen und sieviereckig behauen ließ. Als Unser Herr den heiligen Apostel erwählthatte, um nächst ihm der erste Stein des Fundamentes der Kirche zusein, ließ er ihn formen am Kreuz. Wie das mosaische Gesetz aufeinen Stein geschrieben wurde, ebenso wurde auf diesen lebendigenStein das Gesetz des Evangeliums geschrieben. Wenn ihr im Zweifelseid, wie das Gesetz des Evangeliums zu verstehen ist, dann geht zudiesem Felsen, um zu lernen, wie man glauben muß. Ich will michnicht lange dabei aufhalten, das des langen und breiten zu beweisen,da ich mir als Gegenstand dieser Predigt nur den Tod des hl. Petrus

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vorgenommen habe. So will ich mich damit begnügen, euch für jetzteinen einzigen Grund vorzutragen, der aber grundlegend ist.

Die Kirche ist eine Monarchie; deshalb braucht sie ein sichtbaresOberhaupt, das sie als oberster Statthalter Unseres Herrn regiert. Wemsollten wir es sonst sagen und wie die Einheit des Glaubens wahren, daUnser Herr gesagt hat: Sag es der Kirche (Mt 18,17)? Und wenn je-mand sich losreißen wollte, wer könnte ihn zum Schafstall zurückfüh-ren? Wie könnte man verhindern, daß es Spaltungen in der Kirchegibt? Wie anders sollte, wenn „die ganze Welt erstaunt ist, daß siearianisch geworden ist“, wie der hl. Hieronymus sagt, die Welt bekehrtwerden? Jedes Reich, das in sich uneins ist, wird verwüstet werden“ (Lk11,17).

Es ist also wahr, daß die Kirche einen obersten Statthalter braucht.Sehen wir nun, wer das sein kann. Gewiß kein anderer als der hl. Pe-trus und seine Nachfolger. Abgesehen von der allgemeinen Überein-stimmung aller Jahrhunderte, vor allem der ersten acht, wie aus der„Sichtbaren Monarchie“ von Sanders ersichtlich ist, gibt es einen ge-wichtigen Grund: Es gab nie einen Bischof, der gedacht hätte, er seider oberste und allgemeine Hirte der ganzen Kirche, außer die Nach-folger des hl. Petrus; und man hat nie in Erwägung gezogen noch be-hauptet, daß es ein anderer sei. Außerdem gibt es jetzt keinen Bischofin der ganzen Christenheit, der sich diese Eigenschaft zuschriebe odervon dem man behauptete, er sei Oberhirte und Papst. Die Häretikerwollen kein Oberhaupt; deshalb sind sie auch in so viele Sekten ge-spalten. Die Katholiken anerkennen den Papst als den gemeinsamenVater und das einzige sichtbare Oberhaupt der ganzen Kirche; dieSchismatiker anerkennen ihn nicht. Was können wir also sagen? Nie-mand als die Nachfolger des hl. Petrus hat je in Anspruch genommen,es zu sein; niemand beansprucht es und von keinem hat man es jegedacht, außer vom Papst. Das ist eine der Wahrheiten, die man in derKirche immer geglaubt hat. Andererseits muß es einen geben; also ister es ohne Zweifel. Er ist es, von dem der hl. Hieronymus im Brief anDamasus spricht, wo er sagt: „Ich kenne Vitalis nicht; Meletius lehneich ab; Paulinus anerkenne ich nicht. Wer nicht mit dir sammelt, derzerstreut (Mt 12,30); d. h., wer nicht zu Christus gehört, ist des Anti-christ“ (Epist. XV, § 2).

Man könnte mich aber fragen, warum der hl. Petrus den Sitz desStellvertreters Unseres Herrn nach Rom verlegte, da doch Unser Herrin Jerusalem gestorben ist. Die Begründung dafür ist leicht zu geben:Gott hatte die Absicht, die Heiden als sein Volk anzunehmen, indemer das undankbare Volk der Juden absetzte; nicht als ob er ihm die

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notwendigen Hilfen zu seinem Heil vorenthielte; er entzog ihm aberdie Privilegien, die er ihm gewährt hatte, deren es sich unwürdig er-wies. Ihr wißt doch, was die heiligen Apostel Paulus und Barnabas zuden Juden sagten: Euch mußte das Wort Gottes zuerst verkündet wer-den; weil ihr es aber zurückgewiesen habt, wenden wir uns an die Hei-den (Apg 13,46). Und wißt ihr nicht, was Hosea sagte? Ich werde zuNicht-mein-Volk sagen: Mein Volk bist du; und es wird sagen: MeinGott bist du (Hos 2,24). Davon spricht der hl. Paulus im 9. Kapitelseines Briefes an die Römer. Unser Herr ist also in Jerusalem gestor-ben, damit von Zion das Gesetz und von Jerusalem das Wort Gottes(Mi 4,2) ausgehe, weil es die Hauptstadt von Judäa war. Ebenso wollteer den Sitz seiner Kirche nach Rom, der Hauptstadt des Heidentumsverlegen, um zu Nicht-mein-Volk zu sagen: Mein Volk bist du. Der hl.Petrus ist also in Rom gestorben, nicht als der erste Grundstein, son-dern der zweite. Unser Herr ist ja der große erste grundlegende Eck-stein, nicht nur der streitenden Kirche, sondern auch der triumphie-renden. Der hl. Petrus ist als Grundstein auf den ersten gegründet, undnur für die streitende Kirche: ein fester Stein, ein sicherer Fels imMeer dieser Welt; je mehr er bestürmt wird, um so weniger rückt ervon seiner Stelle.

Damit ist genug über den Tod des hl. Petrus gesagt. Was kann icheuch als Anwendung mitgeben? Als erstes fordere ich euch auf, Gottdafür zu danken, daß er uns einen solchen Fels gegeben hat, so daß wirnie untergehen, wenn wir uns auf ihn stützen. Als zweites wünsche ichzur Erneuerung unseres Geistes, daß wir einfach und fest seien imGlauben, den uns die heilige Kirche lehrt, und fest glauben, was aufdiesem Stein geschrieben steht; ich habe euch ja gesagt, daß auf ihmdas Gesetz des Evangeliums geschrieben ist. Glauben wir also ein-fach, unterwerfen wir unseren Verstand dem Glauben, den Unser Herrauf diesen Fels gegründet hat, denn die Pforten der Hölle werden sienicht überwältigen (Mt 16,18). Christus bat für Petrus, daß sein Glau-be nicht wanke (Lk 22,32); das Haupt der Kirche ist die Säule undGrundfeste der Wahrheit, wie der hl. Paulus (1 Tim 3,15) sagt.

Selig, wer seine Kindlein an den Felsen schmettert (Ps 137,9), sagt derPsalmist. Was sollt ihr tun, wenn irgendwelche Vorstellungen in Glau-bensfragen kommen, bestimmte Einwände, Einbildungen und Gedan-ken des Unglaubens? Wenn ihr sie in euren Geist einlaßt, werden sieeuch verwirren und den Frieden rauben. Zerschlagt diese Gedankenund Vorstellungen, zerschmettert sie an diesem Felsen der Kirche undsagt zu eurem Verstand: Ach, mein Verstand, Gott hat dir nicht aufge-tragen, dich selbst zu nähren; das ist Sache dieses Felsens und seiner

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Nachfolger; deshalb selig der Mann, der seine Kindlein an den Felsenschmettert.

Die Schriftsteller, die über die Natur der Tiere geschrieben haben,sagen, der Adler habe einen so scharfen Schnabel und er wachse sostark, daß er ihn hindert, seine Nahrung aufzunehmen. Sie versichern,daß er nie stirbt, außer weil sein Schnabel zu lang und zu krumm ist.So, scheint mir, machen es manche, die nur einen zu lebhaften Geistaber nicht genügend Urteilsfähigkeit haben; sie wollen trotzdem alleswissen, alles kritisieren, vor allem theologische Fragen; denn die Theo-logie ist das einzige, sagt der hl. Hieronymus, worin jeder sich einmi-schen will. Die Spitze ihres Geistes ist zu lang, daher können sie dieNahrung des Glaubens nicht aufnehmen, wie es sich gehört. Aber washilft dagegen? Sie müssen tun, was der Adler nach den Worten des hl.Augustinus tut: er bricht die Spitze seines Schnabels ab, indem er ihngegen den Felsen schlägt. Wenn er dann von diesem Hindernis befreitist, kann er wieder besser fressen. So möchte ich auch jenen raten, dieetwas zu wissen meinen und gestützt auf diese Einbildung die Spitzeund Lebhaftigkeit ihres Geistes durch eine bestimmte menschlicheDenkweise so weit wachsen lassen, daß sie infolge einer gewissen Selbst-überhebung die gesunde Lehre der Kirche nicht mehr annehmen wol-len: sie sollen ihr Räsonieren an diesem Felsen brechen: Selig, werseine Kindlein an den Felsen schmettert. Beachtet, daß der Psalmistnicht einfach Kindlein sagt, sondern seine Kindlein. Warum? Weil dieGedanken des Unglaubens von uns kommen, die Gedanken des Glau-bens von Gott. Wir sind unfähig, etwas von uns aus zu denken, alskäme es von uns, sondern all unser Können kommt von Gott (2 Kor3,5). Beachten wir diese Gedanken gegen den Glauben niemals; siekommen nicht von Gott und sind nicht gegründet auf dem Felsen derkatholischen Kirche. Brechen wir sie vielmehr, schlagen wir ihre Spit-ze gegen diesen Felsen, d. h. mit der Autorität der Kirche.

Aber außer diesen Gedanken, die Kinder des Verstandes sind,von denen der Psalmist spricht, gibt es andere Kinder des Wil-lens; das sind unsere Sünden, von denen ich ebenfalls sage: Selig,wer seine Kindlein an den Felsen schmettert; denn Gott hat diesemFels die Macht gegeben, die Sünden nachzulassen und zu tilgen(Mt 16,19). Wenn man zum Priester kommt, um sie zu beichten,was ist das anderes, als diese Kinder des Willens zum Felsen brin-gen? Und beachtet noch, meine lieben Zuhörer, daß er sagt: seineKinder, um zu zeigen, daß man mit der Beichte nicht warten darf,bis unsere Sünden alt geworden sind; denn wenn sie alt gewordensind, ist es sehr schwierig, sie gut zu bekennen, und noch mehr, sie

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zu bessern! Weil ich schwieg, sind meine Gebeine alt geworden,sagt David (Ps 32,3). Zerbrechen wir unsere Sünden zu Beginn andiesem Felsen.

Ich weiß, daß ihr alle sehnlichst den Frieden wünscht. Deshalb willich euch mit dem königlichen Propheten sagen: Wenn ihr ihn erlangenwollt, dann wendet euch an Gott mit Bitten und Gebeten: Erfleht, wasJerusalem zum Frieden dient (Ps 122,6). Liebt ihn von ganzem Herzen,dient ihm treu, meidet sorgsam alles, was ihn beleidigen kann. Aufdiese Weise werdet ihr den Frieden erlangen, denn es heißt: ReicherFriede denen, die das Gesetz Gottes lieben, und nichts gibt ihnen An-stoß (Ps 119,165). Da nun niemand so heilig ist, daß er nicht manch-mal gegen das Gebot Gottes verstieße, bekennen wir wenigstens, daßwir dieses Gebot lieben, indem wir Gott um Vergebung bitten undunsere Sünden durch die Beichte und Buße zu Füßen des Priesterstilgen wie an einem Stein, der auf dem Felsen des Glaubens gegründetist: Selig, wer seine Kindlein an den Felsen schmettert.

Schließlich wünschte ich, daß wir alle nach dem Beispiel des hl.Petrus gekreuzigt wären. Der Krieg, die Armut und die übrigen Nötekreuzigen uns, das ist wahr; aber sie kreuzigen uns wie den linkenSchächer, nicht wie den hl. Petrus; d. h. statt aus diesen Übeln Nutzenzu ziehen, werden wir durch sie schlechter. Ach, der hl. Petrus wurdeam Kreuz Christi gekreuzigt. Es genügt nicht, sein Kreuz auf sich zunehmen, man muß auch Unserem Herrn nachfolgen, denn nachdem ergesagt hat: Er nehme sein Kreuz auf sich, fügt er hinzu: und folge mirnach (Mt 16,24). Dann wird das Kreuz uns süß werden, dann werdenwir das Leben finden im Tod und Tröstungen in Widerwärtigkeiten.

Als Elija vor der Verfolgung Isebels floh, einen Tag gewandert warund sich unter einem Ginsterstrauch befand, heißt es: Er wünschte sei-ner Seele, daß er sterbe, und sagte: Es ist genug für mich, Herr: nimmmeine Seele (1 Kön 19,4). Wie zufrieden, meine ich, war der hl. Petrusam Kreuz, daß er das Gebot des Herrn, ihm zu folgen, erfüllt sah; dasah er sein Verlangen erfüllt. Als Unser Herr ihm begegnete und ihmsagte, daß er gekreuzigt werden soll, da kehrte er auch sogleich in dieStadt zurück, beseelt von dem großen Verlangen, im Schatten des hei-ligen Kreuzesbaumes zu sein. Er sagt nichts zu seinem göttlichen Mei-ster und hält sich nicht damit auf, mehr mit ihm zu sprechen, sondernkehrt im selben Augenblick zurück. Doch meint ihr nicht, daß er da-mals mit der Braut im Hohelied (2,3) sagte: Im Schatten dessen, nachdem ich mich sehnte, sitze ich, und seine Frucht ist süß? Was ist dieseFrucht?

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Das ist das ewige Leben. Da also all sein Sehnen erfüllt war, glaubeich, wiederholte er auch wie Elija: Es ist genug für mich, Herr: nimmmeine Seele. Es heißt, daß der hl. Andreas, sein Bruder, zwei Tagelebendig am Kreuz hing, das Volk belehrte und wohl zeigte, daß diesesHolz der Baum des Lebens ist und daß an diesem Baum der Tod über-wunden wurde. So, glaube ich, hat der hl. Petrus nach dem Beispiel desElija Unseren Herrn gebeten, daß er seine Seele aufnehme: Er wünschteseiner Seele, daß er sterbe. So könnten auch wir sterben, meine liebenZuhörer, an das Kreuz Unseres Herrn geheftet, um Jenem in das ewigeLeben zu folgen, dem wir in den Tod folgen werden. Wer gibt mir Flügelgleich einer Taube? (Ps 55,7).

Glorreicher Apostel, erwirke uns die Gnade, daß wir unseren Glau-ben stets auf die Kirche stützen. Da sie nächst Unserem Herrn auf dirals einem sicheren Felsen gegründet ist, ist sie die echte Säule undGrundfeste der Wahrheit. Ich lege dir stets zu Füßen, was ich je auf derKanzel und außerhalb von ihr sagen werde. Du bist ja dieser Fels, aufdem die Kirche Jesu Christi gegründet ist; ihm sei Ehre und Herrlich-keit in alle Ewigkeit. Amen.

Zum Fest der Beschneidung des HerrnZum Fest der Beschneidung des HerrnZum Fest der Beschneidung des HerrnZum Fest der Beschneidung des HerrnZum Fest der Beschneidung des Herrn

I.

Nr. 8 (Entwurf): 1. Januar 1594 VII,114-116

... Das alles sind also Mittel, um in den Himmel zu kommen. Den-noch bleibt immer die Gnade, immer das Erbarmen.

1. Aufgrund der Erbschaft. Wenn Kinder, dann auch Erben (Röm8,17). Er gab ihnen die Macht, Kinder Gottes zu werden (Joh 1,12).Den Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba, Vater (Röm 8,15).Ebenso Kinder ... (Hebr 2,13 f). Das hat nichts mit unseren Werken zutun.

2. Durch den Anspruch des Verdienstes. Die Seelen der Gerechten ...Gott hat sie geprüft und sie seiner würdig befunden (Weish 3,1.5). DerApostel dankt (2 Thess 1,4f) für die Ausdauer der Thessalonicher undsagt, das führe dazu, daß ihr würdig befunden werdet des Reiches Got-tes, für das ihr auch leidet. Offb (3,4): Sie werden in weißen Kleidernmit mir wandeln, denn sie sind würdig. „Die Ausdauer bewirkt die ewi-ge Fülle der Herrlichkeit.“ Beachte das.

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In dieser zweiten Sicht kommt alles von der Barmherzigkeit, dennalle guten Werke sind von Gott. Niemand kann zu mir kommen ... (Joh6,4). Wer gibt dir einen Vorrang? Was hast du, das du nicht empfangenhättest? Wenn aber ... (1 Kor 4,7). Zieh mich an dich, wir werden demWohlgeruch nacheilen (Hld 1,3). Und wer hat uns diese Barmherzig-keit verdient? Unser Herr; denn ohne ihn haben wir nichts. Beispielevom Baum, vom Edelmut, vom Weinstock, vom Haupt.

Aber über all das hinaus hat Unser Herr uns noch die Herrlichkeitverdient. Freut euch und frohlockt, denn euer Lohn wird groß sein imHimmel (Mt 5,12). Ein gutes, gehäuftes, gerütteltes und überfließendesMaß wird man euch in den Schoß schütten (Lk 6,38). O Blut, kostba-res Blut! Wer will sich also noch auf die Unkenntnis der Absicht derKirche berufen? Sie bekennt, daß alles von Gott kommt. Wenn wir anKindes statt angenommen sind, ist es das Verdienst Unseres Herrn;wenn wir den Glauben haben, kommt es von Unserem Herrn; dieHoffnung: von Unserem Herrn; die Liebe: von Unserem Herrn; dieSakramente: von Unserem Herrn; gute Werke: von Unserem Herrn.Man weiß ja sehr wohl: Wir sind nicht fähig, aus eigener Kraft etwas zudenken, als käme es von uns (2 Kor 3,5). Aus seiner Fülle haben wiralle empfangen (Joh 1,16). Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn (1 Kor1,31). „Ohne Gnade gelangt man nicht zur Gnade“ (Prosper v. A.).„Wenn Gott uns den Himmel schenkt, krönt er in uns seine eigenenGaben“ (Aug.). Sieh, wie ihm der Name Jesus gegeben wurde, als erden ersten Tropfen Blut vergoß (Lk 2,21), weil er uns durch sein Blut,gleichsam durch das Rote Meer, erretten sollte. Wie ausgegossenes Ölist also Dein Name (Hld 1,2). O heilbringender Name, Name derHoffnung. Er gab ihm einen Namen, der über alle Namen erhaben ist,damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge ... (Phil 2,9f).

O Herr! Herr, du mein Gott, wir beugen das Knie vor deinem heili-gen Namen; wir bekennen, daß wir in keinem anderen Namen Heilfinden können (Apg 4,12). Er ist das Losungswort, um in das Paradieseingelassen zu werden.

Das Blut Unseres Herrn ruft nach Barmherzigkeit (Hebr 12,24),anders als das Blut Abels.

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II.

Nr. 9 (2. Entwurf: Eodem die): 1. Januar 1594 VII,117f

Aus ganzem Herzen bitte ich Gott, andächtige Zuhörer: wie es ihmgefallen hat, euch diesen Tag, diese Woche, diesen Monat und diesesJahr „so gut beginnen zu lassen“, so möge er euch „gesund und heilerhalten“. Damit in euch stets die Gesinnung erneuert werde, ihm zudienen und ihn zu ehren, möge „euer Tun und Denken mit ihm begin-nen“ (Brev.), mit Gott, hochgelobt in Ewigkeit (Röm 9,5). Gewiß, dieKirche trägt uns zu diesem Beginn das kürzeste Evangelium vor, aberes ist überaus gehaltvoll. Ich werde darüber nur sprechen, soweit esunserem Vorhaben dient.

1. Beachtet, daß es früh beginnt: Am Anfang des Buches steht vonmir geschrieben (Ps 40,38). Außerdem wird er sagen: Ich muß eineTaufe empfangen, und wie drängt es mich (Lk 12,50). Welche Liebe!

2. Beachtet ferner den Gehorsam, den er der Kirche leistet. Für ihnbestand keine Notwendigkeit, er zeigte sich aber stets dazu bereit. Ermußte die Kirche verändern, er verachtet sie dennoch nicht, sondernist darauf bedacht, sie geläutert und ehrenvoll zu bekleiden.

3. Er heißt Jesus, und man verwundet ihn oftmals; er muß leiden undso in die Herrlichkeit eingehen (Lk 24,26). Ben-Oni, Benjamin (Kindder Schmerzen, Kind des Glückes: Gen 35,18).

a) Lernen wir, Gott gern und frühzeitig zu dienen: Zur Morgenstun-de werde ich deiner gedenken (Ps 63,7). Es ist gut, daß der Mann dasJoch von Jugend auf trage (Klgl 3,27). Kain verhielt sich nicht gut. Werals Knabe verweichlicht lebt, wird Sklave sein (Spr 29,21). Man weißnicht, wann man stirbt.

b) Seid nicht lau gegenüber den Sakramenten. Ihr Empfang ist not-wendig. Sie sind die Mitteilung und Zuwendung des Blutes UnseresHerrn: In seinem Blut hat er uns reingewaschen (Offb 1,5). Im Blut desLammes haben sie ihre Kleider weißgewaschen (Offb 7,14). Man darfnicht auf jene hören, die das Gegenteil sagen. Man darf die Kirchenicht verachten. Unser Herr achtet die sichtbare Kirche, und manmißachtet die geistige.

c) Man muß große Ehrfurcht vor dem heiligen Namen unseres Herrnhaben. Hat man Ärger, macht der Name Jesus wieder froh; in derVersuchung hilft er; ist man verwundet, er heilt. Es ist der Name unse-rer Zuversicht. Die Schatzkammer ist geöffnet.

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Zum Sonntag SeptuagesimaZum Sonntag SeptuagesimaZum Sonntag SeptuagesimaZum Sonntag SeptuagesimaZum Sonntag Septuagesima

Nr. 10: Seyssel, 6. Februar 1594 VII,119-129Jesus trug seinen Jüngern folgendes Gleichnis vor:Das Himmelreich ist einem Hausvater gleich, deram frühen Morgen ausging, um Arbeiter für seinenWeinberg zu dingen. Als er sich mit den Arbeiternauf einen Denar Tageslohn geeinigt hatte, schickteer sie in seinen Weinberg. (Mt 20,1f)

Das Volk Israel im Alten Bund zeigte sich den Geboten Gottes ge-genüber stets hartherzig. Besonders widerspenstig aber verhielt es sich,als es sich nach dem günstigen Bericht Josuas und Kalebs über dieFruchtbarkeit des Gelobten Landes und nach der Aufforderung, diesie ermutigen sollte, dorthin zu ziehen, beschlossen, dies nicht zu tun(Num 14,1-4). Und als dann Gott die Israeliten warnte, nicht weiter-zuziehen, da drängten sie mit aller Gewalt vorwärts und zogen allezum Gebirge, wo sie dann das Unheil ereilte (14,40-45). Ihr ganzesUnglück kam daher, daß sie gar zu leicht falschen Berichten derKundschafter ihr Ohr liehen, die in das Land der Verheißung gezogenwaren; nicht Kaleb und Josua wollten sie glauben, die ihnen einenheiligen Rat gaben.

Ebenso kommt ein großer Teil des Unheils bei den Christen heutedaher, daß sie denen glauben, denen sie nicht glauben dürfen, und daßsie jenen nicht glauben, denen sie glauben müssen: Die Menschen lieb-ten die Finsternis mehr als das Licht (Joh 3,19). Deshalb sehen wir imEvangelium ein untrügliches Kennzeichen derjenigen, denen wir glau-ben sollen, ebenso auch derjenigen, denen wir nicht glauben dürfen;derjenigen, die echte Arbeiter sind, und jener, die eher Zerstörer sind.Da ich für diesen Tag als Arbeiter im Weinberg Gottes zu euch gesandtbin, möchte ich euch nun zeigen, wie man gewisse Leute fliehen muß,die behaupten, das Land der Heiligen Schrift erkundet zu haben, undwie man der Stimme jener Gehorsam leisten muß, die sich durch ge-sunde Lehren auszeichnen.

Herr, besprenge deinen Weinberg mit dem milden Regen deinerGnade, damit Hacke und Spaten gut eindringen können; mache ihnaufnahmefähig und gib deinem unwürdigen Winzer die Kraft und dasGeschick, die Dornen und die Unzahl falscher Auffassungen auszu-reißen, welche die Zeit treiben ließ, damit dir der Weinberg zur rech-ten Zeit Frucht bringe (Ps 1,3) und der Winzer den versprochenenDenar erhalte, den ewigen Tag. Dazu wollen wir die Hilfe der heiligenJungfrau erbitten: Ave Maria.

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Mose, der Führer von großer Rechtschaffenheit, wurde von Gottgerufen, als er die Schafe seines Schwiegervaters Jitro am Berg Horebweidete. Er erhielt den Auftrag, die Führung und oberste Leitung Isra-els zu übernehmen, um es aus den Händen Pharaos zu befreien. Alsdie Majestät Gottes ihm in einem brennenden Dornbusch erschien,wandte er alle geeigneten Mittel an und erbat von Gott alle erforderli-chen Eigenschaften, Kennzeichen und Voraussetzungen, mit denen eres wagen konnte, im Namen Gottes zum Volk zu sprechen und es zuleiten.

1. bekennt er seine Unwürdigkeit: Wer bin ich, daß ich zu Pharaogehen und Israel aus Ägypten führen soll? (Ex 3,11). – 2. fragt er nachdem Namen dessen, der ihn sendet: Wenn sie mich fragen: Wie ist seinName?, was soll ich ihnen dann sagen? (3,13). – 3. erbittet er ein Zei-chen: Sie werden mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondernsagen: Der Herr ist dir nicht erschienen (4,1).

Heiliger Prophet, großer Hirte Israels, weiser Mose, würdiger Ge-sandter Gottes, geeigneter Botschafter Gottes, wie gut kanntest du dievor allem erforderlichen Voraussetzungen für einen solchen Auftrag!Er hält sich für unwürdig, er fragt nach dem Namen, er bittet um einZeichen.

Sagt mir, wie anders konnte er würdig werden, als daß er sich fürunwürdig hielt? Ebenso machte sich Maria bereit, Mutter Gottes zusein, indem sie sich als seine niedere Magd (Lk 1,38) bekannte. Undwäre er würdig gewesen, wie hätte man ihn angenommen, wenn er denNamen des Herrn nicht nennen konnte, der ihn gesandt hat? Wäre erwürdig gewesen und hätte den Namen seines Herrn nennen können,wie hätte man ihm geglaubt, wenn er nicht klare Kennzeichen für sei-ne Sendung vorwies?

Dies, meine Brüder, ist der Prüfstein, an dem ihr erkennt, ob jene,die sich des Wortes Gottes rühmen, echte oder falsche Propheten sind.Es gab wohl nie eine Sekte, die nicht behauptet hätte, daß sie im Auf-trag Gottes spreche, daß ihre Predigten das wahre Wort Gottes seien,und die sich nicht auf die Heilige Schrift berufen hätte. So machten esLuther, Calvin und alle anderen nach dem Beispiel des Teufels, derJesus Christus versuchen wollte, indem er sich auf die Schrift berief:Er hat seinen Engeln deinetwegen befohlen (Ps 91,11; Mt 4,6). Sie allebehaupten, daß sie gesendet seien; sie nennen den Namen dessen, dersie gesandt habe. Wenn Gott es ist, so kann er es mittelbar oder unmit-telbar sein: Wenn mittelbar, dann sollen sie die Nachfolge nachwei-sen; wenn unmittelbar und in außergewöhnlicher Weise, dann sollensie dafür Beweise erbringen und Wunder wirken. Die Katholiken, die

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durch rechtmäßige Nachfolge gesandt sind, können sagen: Wie er zuunseren Vätern gesprochen hat (Lk 1,55), und auf den Ursprung ihrerSendung hinweisen: Jesus hat Petrus gesandt, Petrus ... usw. Wir kön-nen sagen: Gott, wir haben es gehört mit unseren Ohren; unsere Väterhaben es uns verkündet (Ps 44,1).

Der Herr warnt durch Jeremia (23,16): Hört nicht auf die Wortejener Propheten, die euch prophezeien und euch täuschen. Sie verkün-den Trugbilder des eigenen Herzens, nicht die Worte, die aus dem Munddes Herrn kommen; und dann (23,21): Ich habe diese Propheten nichtgesandt, sie gingen selbst; ich habe nicht zu ihnen gesprochen, sie pro-phezeien von sich aus. Als David einmal in bestimmten Irrtümern be-fangen war, sagte er in Psalm 12 (1-4): Rette mich, Gott, es gibt keinenHeiligen mehr, denn die Wahrheit ist von den Menschen gewichen. Jedersagt Falsches zu seinem Nächsten; ihre heuchlerischen Lippen redendoppelsinnig. Gott möge alle heuchlerischen Lippen vertilgen. Sie ha-ben gesagt: wir machen die Macht unserer Sprache offenbar; unsereLippen sind uns zu eigen; wer ist unser Herr? Und bei Jeremia (14,14)heißt es: Ich komme über die Propheten, spricht der Herr, die nach ihrereigenen Zunge reden. Den Willen des Herrn aber können wir daranerkennen: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch; und nachseiner Auferstehung fügte er hinzu: Empfangt den Heiligen Geist (Joh20,21f). Vor der Himmelfahrt schließlich sagte er: Mir ist alle Gewaltgegeben im Himmel und auf Erden; ferner: Geht hin und lehrt alleVölker (Mt 28,18f).

Meine Brüder, betrachtet dieses Kennzeichen als wesentlich undfragt jene, die euch vom Schoß der Kirche fernhalten wollen: Wer hatdich gesandt? (Ex 2,14). Johannes der Täufer war ein großer Refor-mator und in außergewöhnlicher Weise von Gott gesandt. Wenn erauch nichts sagte, was im Gegensatz zur jüdischen Kirche stand, da ermit einem großen Auftrag kam, so seht ihr doch, daß er die Kennzei-chen hatte, um sich auszuweisen. Sein wundervolles Leben, seine Ge-burt veranlaßten die Frage: Was meint ihr, was aus diesem Kind werdensoll? (Lk 1,66). Der hl. Paulus, der in besonderer Weise gesandt war,wünschte zudem ein sichtbares Zeichen durch die Auflegung der Hän-de des Hananias (Apg 9,17): Damit du sehend und vom Heiligen Geisterfüllt wirst, sagte Hananias.

Was soll ich euch noch sagen? Obwohl die Sendung. Unseres Herrnmit allen Umständen vorhergesagt war, wollte er sie noch deutlichermachen; er berief sich ständig auf sie und sagte wiederholt: Wie michder Vater gesandt hat (Joh 20,21; 6,58). Meine Lehre stammt nicht vonmir, vielmehr von dem, der mich gesandt hat (Joh 7,16). Dann rief er

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aus: Ihr kennt mich und wißt, woher ich bin. Ich bin nicht aus mir selbstgekommen (Joh 7,28). Ihr seht also, wie er sich auf seine Sendungberuft, obwohl er keines anderen Beweises bedurft hätte als der Heili-gen Schrift. Er war ja so ausdrücklich vorhergesagt, daß man ihn klarerkennen konnte: Forscht in den Schriften; sie legen Zeugnis von mirab (Joh 5,39). Trotz all dem begnügte er sich nicht damit zu sagen, daßer gesandt ist, und war er nicht damit zufrieden, daß seine Sendungdurch die Heilige Schrift verbürgt wurde: er wollte ein sichtbares undklares Zeugnis seines Vaters bei der Taufe (Mt 3,17) und bei der Ver-klärung (Mt 17,5; Lk 9,35): Das ist mein geliebter Sohn, an dem ichmein Wohlgefallen habe; ihn sollt ihr hören; und wiederum beim hl.Johannes (12,28): Ich habe ihn verherrlicht und will ihn weiter verherr-lichen. Er beglaubigt seine Sendung durch Wunder und versichert, daßohne Wunder seine Sendung dem Volk nicht hinreichend bewiesenwäre. So heißt es beim hl. Johannes (14,10): Die Worte, die ich zu euchspreche, sage ich nicht aus mir selbst; und weiter (14,12): Glaubt we-nigstens aufgrund der Werke; und (15,24): Hätte ich nicht unter ihnenWerke getan, die kein anderer getan hat, so wären sie ohne Sünde.

Ziehen wir daraus folgende ganz sichere Schlüsse: 1. Die Sendungist notwendig, wie der hl. Paulus (Röm 10,14f) sagt: Wie können sieden anrufen, an den sie nicht glauben? Wie können sie an den glauben,von dem sie noch nichts gehört haben? Wie können sie von ihm hören,wenn niemand predigt? Wie können sie predigen, wenn sie nicht ge-sandt sind?

2. Es genügt nicht zu sagen, daß man gesandt ist, sondern man mußnachweisen, wie: ob mittelbar wie Timotheus durch den hl. Paulus,der an ihn schrieb: Ich ermahne dich, die Gnade neu zu beleben, die indir ist, die dir gegeben wurde durch die Auflegung meiner Hände (2 Tim1,6); oder ob man unmittelbar gesandt ist wie der hl. Paulus undBarnabas (Apg 13,2f): Sondert mir Paulus und Barnabas aus, sprachder Heilige Geist, für das Werk, zu dem ich sie berufen habe. Nachdemsie nun gefastet und gebetet hatten, legten sie ihnen die Hände auf undentließen sie. Das gibt auch Calvin (Inst. 4,3) zu.

3. Wer sich auf eine außergewöhnliche Sendung beruft, muß sie be-weisen. Denn an welche Regel könnten wir uns halten, wenn man sienur zu behaupten bräuchte? So haben Mose, der hl. Johannes, ja selbstUnser Herr den Beweis erbracht.

4. Eine außergewöhnliche Sendung ist nie echt, wenn sie nicht vomordentlichen Lehramt anerkannt wird. Seht den hl. Paulus, wie er von

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der außerordentlichen Sendung zur ordentlichen kommt (Apg 9,17).Das zeigt auch ein weiteres Beispiel: War der hl. Johannes nicht vonden Priestern und Schriftgelehrten anerkannt, die jene würdevolleAbordnung zu ihm sandten: Wer bist du? (Joh 1,19), und seine Lehreimmer billigten? Unser Herr brauchte von niemand eine Vollmachtzu empfangen; für ihn genügte es zu beweisen, daß er der Sohn desAllerhöchsten ist. Trotzdem anerkennen ihn Simeon, Zacharias, derhl. Johannes, selbst Kajaphas, der weissagte (Joh 11,49-52). Doch seitJesus Christus und der Gründung der Kirche sei dir jeder, der nichtdurch die Kirche anerkannt wurde, wie ein Heide und öffentlicher Sün-der. Sag es der Kirche (Mt 18,17). Die Kirche ist das Fundament unddie Säule der Wahrheit (1 Tim 3,15). Ich bleibe bei euch bis ans Endeder Zeit (Mt 28,20).

Doch hört, ob dies auch nach dem Gesetz des Alten Bundes galt.Euer Hohepriester sei der Vorsteher in allen Angelegenheiten Gottes (2Chr 19,11); und: Wäre einer so vermessen, daß er auf das Gebot desPriesters nicht hörte, so sterbe er nach dem Urteil des Richters (Dtn11,12). Man darf auch nicht sagen, das ordentliche Lehramt fehle bis-weilen, denn seines Reiches wird kein Ende sein (Lk 1,35). Dein Reichist ein Reich für alle Zeiten (Ps 145,13). Ich bleibe bei euch bis zurVollendung der Welt (Mt 28,20).

Was können wir nun zusammenfassend feststellen? Da unsere Irr-lehrer uns nicht sagen können, woher sie kommen, noch wer siegesandt hat, muß man sich hüten, auf sie zu hören. Sie sprechennämlich ihre eigene Sprache, behaupten aber: der Herr spricht (Jer23,31). Da sie die Kirche nicht hören wollen, seien sie uns wie Hei-den und öffentliche Sünder (Mt 18,17). Wir können von ihnen sa-gen, was der hl. Paulus zu den Vorstehern in Ephesus vor seinerAbreise sagte: Ich weiß, daß nach meinem Weggang wilde Wölfe beieuch eindringen und die Herde nicht schonen werden. Und selbstaus eurer Mitte werden Männer auftreten, die Falsches lehren, damitsie die Jünger auf ihre Seite ziehen (Apg 20,29f). 1. Sie werden ein-dringen, also nicht gesandt sein. 2. Es sind Wölfe, keine Hunde; imWald lebende, nicht gezähmte; wilde, nicht den Hirten gehorchen-de. 3. Aus eurer Mitte sind sie; nicht die Katholiken kommen vonden Calvinisten, sondern umgekehrt, weil die Katholiken früher dawaren als die Häretiker. 4. Damit sie die Jünger auf ihre Seite zie-hen; nicht die Katholiken haben die Jünger Calvins zu sich her-übergezogen, sondern Calvin manche von den Katholiken. Ihr sehtalso, das sind keine richtigen Arbeiter, da der Hausvater sie nichtgedungen, nicht ausgesandt und zu ihnen nicht gesagt hat: geht. Sie

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sind vielmehr eingedrungen, sie sind von selbst gekommen: Sie eil-ten, und doch sandte ich sie nicht (Jer 23,21).

Dies alles ist von der Berufung der Priester, Lehrer und Hirten derKirche zu verstehen, die nicht allen zuteil wird (1 Kor 12,28-30; Eph4,11). Denn wenn jeder Hirte wäre, wo bliebe dann die Herde? Sie giltnur einigen, die gesandt sind wie Mose, Aaron, Johannes, Jesaja,Jeremia, Elija, David usw. Nun gibt es aber noch eine andere Beru-fung, die allgemein ist; und wie nicht jeder denken kann, daß er auf dieerste Weise berufen sei, so muß jeder sich in der zweiten Art berufenwissen. Und wie es eine große Sünde wäre, wenn jeder sich zur erstenGruppe rechnen wollte, so wäre es auch eine große Sünde, wenn einerder zweiten Art der Berufung nicht entsprechen wollte. Kurz gesagt:wie es eine große Sünde ist, der Stimme falscher Hirten zu folgen, soist es auch eine Sünde, die Stimme der echten nicht zu hören und ihrnicht zu gehorchen. Den ganzen Tag, sagt der Herr, habe ich meineHände über dieses ungläubige und widerspenstige Volk ausgebreitet (Jes65,2; Röm 10,21). Wen dürstet, der komme zu mir (Joh 7,37). Ich stehevor der Tür und klopfe an (Offb 3,20). Er tut es durch die Prediger: Wereuch hört, der hört mich (Lk 10,16). Wenn ihr heute seine Stimme hört(Ps 94,8). Welche Stimme? Was steht ihr den ganzen Tag hier müßig?Geht auch ihr in meinen Weinberg (Mt 20,6f). Es kommt die Nacht, daniemand mehr wirken kann (Joh 9,4). Bande des Todes umfangen mich,die Gefahren der Hölle umgeben mich (Ps 116,3).

Wartet nicht, bis die Fastenzeit euch drängt. Wißt ihr denn, ob ihrsie erleben werdet? Sie verbringen ihre Tage in Freude; in einem Augen-blick steigen sie zur Unterwelt hinab (Ijob 21,13). Schmerzen des Todesumgeben mich. Wir sind nur dann befreit, wenn uns ein Fuß fehlt. Wielange willst du schlafen, Faulenzer? Du willst ein wenig schlafen, einwenig schlummern, und die Armut wird über dich kommen wie ein Be-waffneter (Spr 6,9-11); das heißt, du kannst ihr nicht entgehen. Wennihr nicht Buße tut, werdet ihr alle in gleicher Weise zugrundegehen (Lk13,3.5). Oder wißt ihr nicht, sagt der hl. Paulus, daß die Langmut Got-tes erwartet, daß du Buße tust? Du aber mit deinem unbußfertigen Her-zen ... (Röm 2,4f). Fang heute an, aus Furcht, daß du überrascht wer-den könntest. Ich rief, und ihr habt euch geweigert. So lache ich übereuren Untergang (Spr 1,24.26). Laßt uns das Gute tun, solange wir Zeithaben (Gal 6,10). Abner fragte Davids Feldherrn Joab: Wie lange nochsoll denn dein Schwert wüten? Joab sagte: So wahr der Herr lebt, wenndu heute morgen gesprochen hättest, dann hätte das Volk schon vonder Verfolgung abgelassen (2 Sam 2,26f). Pharao wollte den Rückzug

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aus der Mitte des Roten Meeres antreten, aber er konnte nicht mehr.„Er hat den Bußfertigen Verzeihung verheißen, aber er hat nicht dieZeit zur Buße versprochen“ (Aug.).

Welche Gelegenheiten haben wir doch, um unsere Trägheit abzule-gen! Soviel Leid, das wir jeden Tag sehen ... Unser Herr macht es wieder Vater, der die Rute in der Hand hält und zu seinen Kindern, die erzüchtigt, sagt: Werdet ihr denn nie vernünftig? – Gebete, Reue, Beich-te, gute Werke.

Die Welt ruft: Deficio (ich vergehe: 1 Joh 2,17); das Fleisch ruft:Inficio (ich töte: Röm 8,13); der Dämon ruft: Decipio (ich täusche:Gen 3,13); Christus ruft: Reficio (ich erquicke: Mt 11,28).

Geht auch ihr in den Weinberg des Herrn; er wird euch geben, waseuch zusteht. Es ist gerecht, daß jene, die er gerufen hat und die ihm indieser Welt gefolgt sind, ihm auch in die andere folgen werden: Woimmer ich bin, soll auch mein Diener sein und er wird seinen Lohnempfangen (Joh 12,26; 4,36). Ich bin dein überreicher Lohn (Gen 15,1).Mut, meine Brüder! Alle sind berufen, doch nicht alle sind auserwählt(Mt 20,16). Von uns hängt es ab, ob wir hingehen, um in seinem Wein-berg zu arbeiten. Es macht Mühe, aber die Leiden dieser Zeit sind nichtzu vergleichen mit der künftigen Herrlichkeit (Röm 8,18). Einen Tagder Arbeit vergilt er mit dem ewigen Tag. Für die Mühe eines Tagesgibt er ewige Ruhe im Paradies dort oben. Das sei in Ewigkeit der Ortunserer Ruhe; hier werden wir wohnen, wenn wir ihn erwählt haben(Ps 132,14). Dort werden wir dich loben in alle Ewigkeit, wenn wir dirden kurzen Tag dieser Welt gedient haben. Daher bitten wir dich, Herr,gib uns dazu die Gnade, denn du bist ja der Gott des Erbarmens, Vater,Sohn und Heiliger Geist.

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Fastenpredigten 1594 in AnnecyEinleitungEinleitungEinleitungEinleitungEinleitung

Nr. 12: Ende Februar 1594* VII,139-141

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe (Mt 3,2;4,17).

Das sind die ersten oder vielmehr fundamentalen Worte der PredigtUnseres Herrn. Nachdem er vierzig Tage im Gebirge gefastet hatte(Mt 4,2), stieg er von dort herab und begann den Juden und dann derganzen Welt die heilige Buße zur Vergebung der Sünden (Mt 1,4) zupredigen. Dadurch belehrt er uns, daß er dieses heilige Fasten auf sichgenommen hat als eine nicht notwendige Buße (denn wer nie gesün-digt hat und niemals sündigen kann, bedarf der Buße nicht), sondernals Vorbild der Buße. Er verlangt von uns ebenfalls Buße und daß wirin gleicher Weise die Versuchungen überwinden. So wurde diese Leh-re von allen Kirchenvätern verstanden, selbst von den Aposteln undihren Nachfolgern in den Jahrhunderten, und sie wurden so ausgelegtdurch den Mund der Heiligen, die von Christus her Propheten sind.Deshalb haben sie durch „Überlieferung von Hand zu Hand“ die hei-lige Fastenzeit sehr genau eingehalten und das Fasten angeordnet, da-mit man besonders in dieser Zeit Buße tut, um möglichst würdig demHimmelreich zu nahen oder sich seiner nicht unfähig zu erweisen. Esnaht sich uns durch die Mitteilung des kostbaren Leibes Unseres Herrn,des lebendigen Gedächtnisses des Todes Unseres Herrn und seinesKreuzes, durch das das Reich Gottes (Mt 1,15), das nur in Gott alleinwar, selbst den Menschen zuteil wurde.

Aus diesem Grund habe ich dieses Schriftwort gewählt, ehe ich einegeeignete Predigt wählte, durch die ich euch an einigen Tagen Schrittfür Schritt im Geist an des Fuß des Kreuzes auf dem Kalvarienbergund tatsächlich zum heiligen Leib und Blut Unseres Herrn führen unddort glücklich ankommen lassen möchte. Durch diese Worte werdenwir belehrt, daß wir uns dem Reich Gottes, wenn es naht, auch unserer-seits nähern müssen. Wir sind im Meer dieser Welt, inmitten der Wo-gen und Stürme unserer eigenen Sünden, in die wir durch den bekla-genswerten Schiffbruch unserer Taufunschuld geraten sind, den wir

* In seinem ersten Priesterjahr hielt Franz von Sales die Fastenpredigten in Anne-cy. Davon sind außer dieser Einleitung (von der er offenbar nicht mehr ge-

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selbst verschuldet haben. Um uns dem Reich Gottes zu nähern, müs-sen wir uns am Nachen der Buße festhalten, der einzigen Zuflucht,dem einzigen Trost in diesen Gefahren. Wenn wir in ihm auch nichtohne Furcht und Leid, ohne Seufzer, Hunger und ähnliche Nöte sind,so sind wir doch sicher: wenn wir guten Mut haben, werden wir imersehnten Hafen des Kreuzes und dann der Glorie ankommen. Wirwissen: wenn wir wollen, wird das Himmelreich, das wahre Land derVerheißung, unser sein. Wir müssen nur aus Ägypten ausziehen undBuße tun, um bald dort anzukommen. Über diese Reise, über diesePilgerfahrt will ich sprechen und euch an Hand der Erwägung gleich-sam von Station zu Station (Num 33,1) führen bis zu dem Ort, den ihranstreben müßt.

Da aber der Weg, auf dem wir gehen müssen, eine große Wüste derBuße ist, will ich euch vor allem ein wenig über deren Bedingungenund Eigenschaften sagen, damit ihr mit Hilfe der Dinge, die wir dabeiim einzelnen sehen werden, nicht so unerfahren seid; dann werden wiruns ankommen sehen.

Zum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 13 (Fragment): 3. März 1594 VII,142-145

– – – Ich liebe die Zierde deines Hauses und die Stätte deiner Herr-lichkeit (Ps 26,8). Selig, die in deinem Haus wohnen, Herr (Ps 84,5).

Nun nimmt er sich vor, nicht mehr zu sündigen; er bedauert, seinParadies verloren zu haben, und beklagt seinen Verlust. Dann blickt ernach oben und sieht den Himmel geöffnet mit dem Schlüssel des Kreu-zes (Jes 22,22). Er steigt auf den Hügel der Hoffnung, der mit Blumenbedeckt ist und erfüllt vom Duft der Oliven der Gnade und des Lor-beers der Glorie. Da atmet die Seele auf; der Geist erwacht, um sichdem Paradies zuzuwenden und die Sünde zu verlassen. Wer an dieFreuden der Sünde gewöhnt ist, beginnt auf diesem Hügel der Hoff-nung bereits die Freuden der Gnade zu ahnen, zu fühlen und zu verko-sten. Er bedauert unendlich die verlorene Zeit; und wenn er den ewi-gen Lohn der Tugend bedenkt, kann er mit Recht sagen: Meine Augenschmachten nach deinem Wort, und sagen: Wann wirst du mich trös-ten? (Ps 119,82). Meine Augen werden schwach, wenn sie zum Himmelaufschauen (Jes 38,14). Wer gibt mir Schwingen gleich der Taube, daßich fliege? (Ps 55,7)

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Der hungrige Sperber späht nach der schönen Beute aus, will sich imFlug auf sie stürzen und sie ergreifen, um seinen Hunger und seineGier zu stillen. Wenn er sich beim ersten Aufschwung gefesselt fühlt,schlägt er zornig mit den Flügeln und zappelt mit den Füßen, um seineFesseln zu sprengen. So ergeht es auch der Seele, die auf diesem grü-nen, freundlichen Hügel der Hoffnung angekommen ist: sie sieht dasParadies, das ihr zur Beute gegeben ist, und versucht sich zu erheben.Da fühlt sie sich durch die Sünde gefesselt, unfähig, es zu erreichen.Welches Leid! Ihr fehlen weder die Flügel noch der Mut. Laßt uns dieFesseln sprengen (Ps 2,3). Der Herr befreit die Gefesselten (Ps 146,7).Nun beginnt sie sich zu bewegen. Sie will einerseits die Hölle fliehen,andererseits die Beute erringen. So gerät sie in den heiligen und ge-rechten Zorn der Reue. Doch stellt euch vor, der Sperber könnte spre-chen und hätte Verstand, oder vielmehr, einer könnte für ihn spre-chen; würde er dann nicht dem Herrn sagen: Laß mich frei, ich bittedich. Ich werde nicht mehr auf Abwege geraten; ich will stets zu dirzurückkehren. Wenn sich die fromme Seele, die ja Verstand besitzt,gefesselt fühlt, macht sie es nicht wie der Vogel, der nur um sich schla-gen kann. Sie schaut vielmehr auf ihren Herrn und sagt: Herr, befreiemich. Herr, meine Tochter wird von einem bösen Geist geplagt (Mt15,22). Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele; mein Gott, auf dich ver-traue ich; nie werde ich zuschanden werden (Ps 25,1f).

Von da gelangt die Seele auf den Berg der Liebe. Sie sieht, daß ihrHerr bereit ist, sie trotz all ihrer Sünden aus der Hölle zu befreien undihr das Paradies zu schenken. So beginnt sie seine Güte zu bewundern:Israel, wie gut ist Gott denen, die aufrechten Herzens sind (Ps 73,1).Wäre ich so weise gewesen, seine Gebote zu befolgen, dann dürfte ichmich jetzt seiner Gunst erfreuen. Wie gut ist er: Preiset den Herrn,denn er ist gut (Ps 18,1). Und dann plötzlich ist er da, mitsamt derAnmut der Liebe: Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke (Ps 18,1). Ichliebe, weil der Herr mich erhören wird (Ps 116,1). Von diesem Berg ausbetrachtet sie von neuem ihre Sünden, die sie verachtet: Ich habe ge-sündigt wider den Himmel und vor dir. Herr, ich bin nicht mehr wert,dein Sohn zu heißen (Lk 15,21). Ich bin nicht würdig, daß du eingehstunter mein Dach (Mt 8,8). Geh nicht ins Gericht mit deinem Diener,Herr (Ps 143,2). Erbarme dich meiner, Herr, nach deiner großen Barm-herzigkeit (Ps 51,1). Wie konnte ich nur die Stirn haben, eine solcheGüte zu beleidigen? Wie konnte es geschehen, daß ich erst jetzt von sogroßer Bosheit mich abwende?

Vielleicht kannst du noch nicht zum Himmel aufsteigen, um dieGüte Gottes zu betrachten; dann schau sie in ihrem Spiegelbild. Der

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Spiegel der Güte Gottes (Weish 7,26) ist die Passion des Erlösers Je-sus. Betrachte diesen schönen, jungen und edlen Mann, die Zierde derWelt, die vollkommene Güte, die Wonne der Engel, der auf die Erdekam, und frage: Warum ist der König des Himmels auf die Erde ge-kommen? Die Engel werden dir antworten: So sehr hat Gott die Weltgeliebt (Joh 3,16). Und ist er freiwillig auf die Erde gekommen? Ganzfreiwillig: freudig, wie ein Krieger seine Bahn durchläuft (Ps 19,6). Undwarum? So sehr hat Gott ... Doch wenn er schon kommen wollte, wa-rum kam er dann nicht in Herrlichkeit, leidensunfähig? Um unseraller Sünden zu tragen (Jes 53,5.6.11). Und hat er das gerne getan? Sogern, daß er mit großer Sehnsucht dieses Pascha erwartet hat (Lk 22,15).Warum? Weil Gott die Welt so sehr geliebt hat. Warum aber wird erdann traurig im Ölgarten, in den ich mit ihm gekommen bin? Um dirzu zeigen, daß er wirklich leidet, und weil er andererseits sieht, daß duseine Erlösung so mißachtest, und weil es wenige Menschen gibt, dietatsächlich auf sie rechnen. Warum wollte er aber so viel leiden? WeilGott die Welt so sehr geliebt hat.

Wohlan, meine Seele, richte dich auf. Wenn Gott die Welt so sehrgeliebt hat, daß er seinen Sohn gesandt hat, um dich von deinen Sün-den reinzuwaschen, so bereue, beklage und beweine die Sünden, diedu begangen hast, und verlaß von nun an nie mehr deinen guten Herrn.Sag ihm Dank für die Vergangenheit; für die Zukunft versprich ihm,daß du die nächste Gelegenheit zur Beichte nützen willst. Um nichtundankbar zu sein, führe ein Leben wahrer Buße; verbringe deine Tagein Reue, Buße und Genugtuung. Meine Brüder, wenn ihr diese Gesin-nung habt, dann seid ihr gut auf dem Ölberg angekommen, d. h. inFrieden und Gnade. Wenn ihr noch nicht so weit seid, dann verbringtdiese Woche in der Verachtung eurer Sünden, und ich bin sicher, wennGott euch dazu hilft, werdet ihr dort ankommen und die gütige Stim-me des Erlösers vernehmen: Seele, dein Glaube ist groß; es sei dir ge-währt, worum du bittest (Mt 15,28).

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Zum FZum FZum FZum FZum Freitag der 3. Freitag der 3. Freitag der 3. Freitag der 3. Freitag der 3. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 14: 18. März 1594 VII,146-152Es kommt die Stunde, und sie ist schon da, in derdie wahren Anbeter den Vater im Geist und in derWahrheit anbeten werden. Solche Anbeter sucht derVater. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssenihn anbeten im Geist und in der Wahrheit (Joh4,23f).

Hier haben wir eine der beachtenswertesten und kennzeichnendstenStellen des Evangeliums. Gott selbst erklärt und gibt die Art an, wiewir ihm gut und wohlgefällig dienen sollen. Im übrigen ist diese Stelleziemlich schwierig und wurde manchmal von den Gegnern der katho-lischen Kirche aufgegriffen, um den Glauben der Väter zu erschüt-tern. Gleichwohl sind in ihr mehrere wunderbare Geheimnisse zurStärkung des Glaubens der Kirche und ihrer Wahrheit verborgen. Essind dies Geheimnisse, die wir selbst niemals entdeckt hätten, wennnicht Er, der sie zu unserem Heil geschaffen hat, sie uns durch seineGnade sichtbar werden ließe. Bitten wir ihn also bei seinem Blut, daßer uns seiner Glorie und seiner Ehre teilhaftig mache, und gewinnenwir seine Mutter als Fürsprecherin; an sie richten wir nun den Grußdes Engels. Ave Maria.

Wenn der Jäger auf Hirsch und Hindin Jagd macht, erwartet er siean einer Quelle, an die sie gewöhnlich zum Trinken kommen (denndiese Tiere haben einen besonders starken Durst), um sie zu fangen,wenn die Kälte des Wassers sie erschlaffen ließ, entsprechend demWort des Psalmisten (Ps 42,1): Wie der Hirsch nach der Quelle ruft, sosehnt sich meine Seele nach dir, mein Gott. So ging auch Unser Herr inder Begebenheit des heutigen Evangeliums zu einer Quelle, erwarteteeine arme Sünderin, die in ihrer Sündhaftigkeit lechzte, um sie inmeisterhafter Jagd zu fangen, nachdem er durch seine heiligen Wortedie Regungen der Sünde und der Begierlichkeit in ihr betäubt hat.Doch hört in kurzen Worten den Hergang (Joh 4,1-19); dann wollenwir beim wichtigsten Punkt verweilen, der uns begegnet.

Die Jünger des Herrn tauften viele Menschen in Judäa, viel mehr,als der hl. Johannes der Täufer getauft hatte. Als Unser Herr bemerk-te, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten aus Mißgunst gegen ihn da-rüber aufgebracht waren, zog er weiter nach Galiläa, um dort mit sei-ner heiligen Predigt zu beginnen, da die Zeit seines Leidens noch nichtgekommen war und er zudem sah, daß er in Judäa keinen besonders

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großen Erfolg hatte. Er blieb in Kafarnaum, das an der Grenze vonSebulon und Naftali liegt, wie Jesaja (9,1) vorhergesagt: Früher wardas Land von Sebulon und Naftali verachtet.

Zwischen Judäa und Galiläa lag nun Samaria. Dort war eine Stadtmit Namen Sichem, am Berg Garizim gelegen, einst berühmt als Haupt-stadt des Königreichs Israel, die der abtrünnige Jerobeam erbaute (1Kön 12,25). Abraham hatte hier einen Altar errichtet, als er nach sei-nem Auszug aus Mesopotamien hierher kam, da ihm dieses Land ver-sprochen worden war (Gen 12,6f; 13,14f). Jakob schlug hier sein Zeltauf, als er aus Mesopotamien zurückkam, und kaufte einen Teil desFeldes von Hamor (Gen 33,18f). Hier wurde Dina geschändet, wurdeder Sohn des Königs und viele Männer von den Söhnen Jakobs er-schlagen (Gen 34). Sichem war eine Asylstadt (1 Chr 6,67) Hier wur-de Josef auf einem Grundstück begraben, das Hamor gehörte und Jo-sef zum Erbe gegeben wurde (Jos 24,32).

Hier war ein Brunnen, den Jakob gegraben hatte, und hier war Josefbegraben. Als Unser Herr müde und erschöpft vom Weg, den er hintersich hatte, hier ankam, setzte er sich am Brunnen nieder: Jesus aber,müde vom Weg, setzte sich an den Brunnen. So also, wie er war, müdeund erschöpft, setzte er sich wie jeder andere Mensch. Seht ihr nichtdie Güte des Herrn, die Liebe dieses Jägers, der eilt, um die Seele alsBeute zu gewinnen, obgleich er müde ist und sozusagen gezwungen,sich auszuruhen? Seht unsere Nachlässigkeit: wir sind schon entrüstetüber die geringste Mühe der Welt, die wir auf uns nehmen müssen, umuns selbst zu retten. Unser Herr war nicht ohne Grund müde; er warlange gewandert, und ohne Zweifel zu Fuß, denn das Evangelium sagt:Es war um die sechste Stunde und fast Mittagszeit. Die Juden teilennämlich den Tag in zwölf Stunden ein, ebenso die Nacht.

Während nun der himmlische Jäger sich ausruht, siehe da kommtdie arme, beklagenswerte Hindin zum Brunnen, die jedoch bald dieglückliche und überglückliche Samariterin sein wird. Es kam eine Frauaus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Glückselige Samariterin, dukamst, um vergängliches Wasser zu holen, und du hast das unvergäng-liche Wasser der Gnade des Erlösers gefunden. Glücklich warst du,Rebekka; du kamst an die Quelle und fandest dort den Knecht Abra-hams, der dich zu Isaaks Frau machte (Gen 24,15.51). Glücklichernoch bist du, Samariterin, die du jetzt zum Wasser kommst und dortUnseren Herrn findest, der dich aus einer Sünderin, die du warst, zuseiner Tochter und zu seiner Braut macht.

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Sieh die Gelegenheit, die Unser Herr ergreift, um diese Seele zuretten. Hier an der Quelle sagt er zu ihr: Da mihi bibere; gib mir zutrinken. Unser Herr bittet uns um Werke der Barmherzigkeit, damit erGelegenheit findet, uns Gutes zu tun. Er verlangt den Trunk nicht, umzu trinken, sondern um die Samariterin das Wasser der Gnade trinkenzu lassen. So beginnt er ein Gespräch mit ihr, da seine Jünger in dieStadt gegangen sind, um Nahrung zu kaufen. Discipuli enim ejus abierantin civitatem ut cibos emerent. Da er allein mit ihr redet, ist es auchleichter, sie zum Bekenntnis ihrer Sünde zu veranlassen, von der dieFrau zu ihm spricht. So sagt die Samariterin zu ihm (denn sie hat nochnicht begonnen; Bernhard, De Gratia et Libero arbitrio XIII,1: „DieAnstrengungen unseres freien Willens sind vergeblich, wenn sie nichtunterstützt werden, und nichtig, wenn sie nicht angeregt worden sind.“).Sie sagt: Wie kannst denn du als Jude von mir einen Trunk erbitten, daich eine Samariterin bin? Die Juden verkehren nämlich nicht mit denSamaritern. Die Juden verachteten die Samariter, wie ich später zei-gen werde. Diese Frau hielt ihm das vor, als sie sagte: Ihr Juden be-trachtet die Samariter als Ausgestoßene; wie kannst du mich also umeinen Trunk bitten? Sie weiß wohl, daß es kein verbotener Umgang ist,um ein wenig Wasser zu bitten, aber sie sagt es doch als Vorwurf.

Jesus antwortet ihr und sagt: Wenn du die Gabe Gottes kenntest undwüßtest, wer zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn wohlgebeten, und er würde dir lebendiges Wasser geben. Sieh, Unser Herrbeginnt den Pfeil seiner göttlichen Liebe auf sie zu richten. Zwei Din-ge: 1. Wenn du die Gabe Gottes kenntest, die der Vater der Welt gege-ben hat: So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenenSohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben habe (Joh3,16). 2. Und wer jener ist, der dich um einen Trunk bittet. Er ist jajener, der gekommen ist, nicht um Gerechte zu berufen, sondern dieSünder zur Buße zu führen (Lk 5,32). Wenn du also beides erkannthättest, die Gabe des Vaters, und daß ich diese Gabe bin (Joh 4,26).

Zwei weitere Dinge: Du hättest ihn vielleicht darum gebeten. 1. Viel-leicht: der freie Wille. – 2. Du hättest ihn darum gebeten; du hättest esnicht von ihm erwartet. – Und nochmals zwei Dinge: 1. Er hätte dirgegeben; sich nicht geweigert wie du. – 2. Lebendiges Wasser: vielbesseres als das, worum ich dich bitte.

Da sprach die Frau zu ihm: Herr, du hast nichts, womit du schöpfenkönntest, und der Brunnen ist tief. Woher willst du also lebendigesWasser nehmen? Wie verkennt sie die Absicht Unseres Herrn! Erspricht von der Gabe Gottes, und sie redet von der Erde. – 2. UnserHerr spricht von lebendigem Wasser, sie vom toten: Wie kann der uns

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sein Fleisch zu essen geben? (Joh 6,53). Bist du etwa größer als unserVater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat, der selbst daraustrank mit seinen Kindern und seinen Herden? Seht die List: Sie istschon vom Erlöser erleuchtet; so wagt sie nicht zu sagen: „Nein, dubist es nicht“; sie fragt vielmehr: Bist du etwa? Indessen zeigt sie sehrwohl, daß es ihr schwerfällt zu glauben. Doch achtet darauf, welchehrenvolles Andenken sie Jakob wahrt und wie sie nach und nachzutraulich wird: patre nostro, von unserem Vater Jakob; wir alle stam-men vom gleichen Vater ab.

Jesus antwortet ihr und sagt: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wirdwieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebenwerde, wird in Ewigkeit keinen Durst mehr haben. Betrachten wir einwenig den Unterschied zwischen beiden Arten von Wasser: das einestillt den Durst, aber nicht für lange Zeit; das andere dagegen in Ewig-keit ... Es handelt sich hier um zwei verschiedene Arten von Durst: dendes Leibes und den der Seele, denn die Wünsche sind ein Durst derSeele; von ihm sagt der Herr: Er wird nicht dürsten, und der Psalmist(Ps 42,2: Vulg. ant.): Meine Seele dürstet nach Gott, der lebendigenQuelle. Doch der Heilige Geist stillt dem, der ihn durch die Gnadeempfängt, den Durst des Leibes und der Seele in dieser und in deranderen Welt. In dieser Welt: Ich erachte alles als Kehricht, damit ichChristus gewinne (Phil 3,7f); aber unvollkommen, denn er bleibt stetsim Menschen: Ich fühle in meinen Gliedern ein Gesetz, das dem Gesetzmeines Geistes widerstreitet (Röm 7,23). In der anderen Welt voll-kommen: Ich werde gesättigt sein, wenn deine Herrlichkeit sichtbarwird (Ps 17,15). Die Wasser löschen den ewigen Durst nicht; das kön-nen nur die Wasser des Heiligen Geistes. Denken wir an die Parabelvon Lazarus und dem unglücklichen Reichen (Lk 16,19-31). Dochdas Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer sprudelndenQuelle des ewigen Lebens. Das Wasser steigt ebensoviel, als es fällt. Erwird eure sterblichen Leiber auferwecken durch seinen Geist, der ineuch wohnt (Röm 8,11) ...

Die Frau sagt zu ihm: Herr, gib mir von diesem Wasser, damit ich nichtmehr dürste und nicht mehr hierher kommen muß, um Wasser zu schöp-fen. Sie glaubt, daß Unser Herr größer ist als Jakob und daß er besseresWasser gibt. Aber sie erbittet es für das Zeitliche, da sie noch nichterleuchtet ist.

Jesus sagt zu ihr: Rufe deinen Mann. Sie antwortet: Ich habe keinenMann. Da sagt ihr Jesus: Du hast richtig gesagt, daß du keinen Mannhast. Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht

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dein Mann. Du hast die Wahrheit gesagt. Die Frau sagt zu ihm: Herr, ichsehe, daß du ein Prophet bist. – Sündenbekenntnis. – Ich habe gesagt:Ich gestehe meine Ungerechtigkeit dem Herrn, und du hast mir die Bos-heit meiner Schuld vergeben (Ps 32,5).

Zum 4. FZum 4. FZum 4. FZum 4. FZum 4. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 15 (Fragment): 20. März 1594 VII,153-156

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn anbe-ten im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,24).

Nachdem Elija Rache an den Propheten Baals am Bach Kischongenommen und das große Gemetzel gemacht hat, wie es (1 Kön 18,40)heißt, sagte er Ahab einen großen Regen voraus. Er befahl seinemjungen Diener, vom Berge Karmel siebenmal gegen das Meer auszu-schauen. Beim siebenten Mal sah er eine Wolke kommen, klein wie dieFußspur eines Mannes, und kurz darauf kam eine regenschwere Wolke,ein Wind und ein großer Regen (18,41.45). Wenn ihr die sieben Wortebetrachten wollt, die Unser Herr zur Samariterin gesagt hat, werdetihr in ihnen eine kleine Wolke erkennen, schwer von heiliger Buße. Siewird dann größer und läßt eine große Schar von Samaritern kommen(Joh 4,30). Ihr seid schon beim fünften Wort, da Unser Herr dieSamariterin ihre Sünde bekennen läßt.

Ich glaube, ihr kennt die Geschichte der Auferweckung des Kindesder frommen Schunemitin durch Elischa. Wie es (2 Kön 4,8-35) heißt,wohnte Elischa bei ihr. Als Gegenleistung erbat er ihr ein Kind, aberes starb jung. Sie wandte sich an den Propheten auf dem Berg Karmel,damit er ihrem Kind das Leben erwirke. Elischa kam selbst zurSchunemitin, schloß die Tür hinter sich und dem Knaben, betete zuGott und legte sich zweimal über den kleinen Knaben; schließlich gähntedas kleine Geschöpf siebenmal, öffnete die Augen und erwachte zumLeben. So paßt sich Unser Herr dermaßen der Samariterin an, als erallein mit ihr ist, daß sie siebenmal gähnte und vom Tod der Sündezum Leben der Gnade erstand; das sind die sieben Worte, die siesprach; wir waren beim fünften: Du bist ein Prophet. Ihr müßt euchaber an zwei Dinge erinnern, die ich am Freitag sagte: 1. daß die Um-stände die Samariterin Unseren Herrn als Propheten erkennen ließen;

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2. daß die Juden die Samariter als Häretiker und Heiden ansahen; ichwill mich aber bei den Gründen nicht aufhalten.

Der Ursprung der Samariter ist folgender: Nach der Teilung desReiches Israel durch Jerobeam (1 Kön 12), die der Schilonite Ahija (1Kön 11,31) vorhergesagt hatte (es wäre zu lang, sie zu schildern), fürch-tete Jerobeam, daß die zehn Stämme seiner Untertanen wieder Liebezu ihrem ursprünglichen König Rehabeam faßten, wenn sie den Tem-pel und die ordentliche Nachfolge der Priester in Jerusalem anerkann-ten. Deshalb errichtete er einen Tempel falscher Götter in Samariaund machte Leute aus dem niedrigen Volk zu Priestern, die nicht in derlegitimen Nachfolge Levis waren (1 Kön 12,27-31). Von dieser Spal-tung kam nur Unheil nach Israel. Unter Hosea führte schließlichSalmanassar von Syrien alle diese Schismatiker in Gefangenschaft,wie es der Türke mit unseren Schismatikern gemacht hat. Um einerRebellion vorzubeugen, ließ er sie nach Assyrien ziehen und setzte anihre Stelle Skythen und Babylonier; das waren böse Leute. Gott sandteLöwen; zur Abhilfe sandte man ihnen einen Priester von den Gefange-nen, der sie das Gesetz Gottes lehren sollte. Diese Leute konnten sichaber nicht entschließen, ihren Götzendienst aufzugeben, folglich be-teten sie Gott an und verehrten ihn und die falschen Götter (2 Kön17). Nun darf man annehmen, daß nicht alle abfielen, sondern einigevon ihnen aushielten, andere zurückkehrten; so waren die Samariter.Dann kommt ein Betrüger, ein Abtrünniger, der ihnen verschiedeneIrrlehren in den Kopf setzt.

Unter dieser Voraussetzung haßten nun die Juden die Samariter, 1.weil sie ihre Besitzungen innehatten, denn Samaria gehörte den He-bräern; 2. weil sie zum Volk der Assyrer gehörten, die die Juden sehrgequält hatten; 3. weil bei ihnen das Heidentum neben der wahrenReligion herrschte und jeder sich verhielt, wie es ihm gefiel. 4. DieSamariter hinderten die Juden, die zur Zeit des Artaxeres aus derGefangenschaft zurückkehrten, die Stadt und den Tempel wieder auf-zubauen (Esra, Kap. 4 u. 5). 5. Sie waren unentschiedene Leute, sagtJosephus (XII,7). 6. Weil sie ihnen Ärgernis gaben und ihre Übeltäterzurückhielten, sagt Josephus (XI,8); 7. vor allem aber, weil sieSchismatiker waren und einen Gegenaltar errichtet hatten, indem sieeinen Tempel auf dem Berg Garizim bauten und Priester außerhalbder ordentlichen Nachfolge einsetzten. Darüber kam es zum Streit vordem König von Ägypten, der den Hebräern rechtgab (JosephusXI,XIII); und weil sie nur die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, an-nahmen, die übrigen verspotteten. Das war die hauptsächliche Streit-frage.

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In unserem Fall hatte der Herr die Samariterin ihre Sünde bekennenlassen und sie ihr enthüllt; dadurch erkannte sie, daß er ein Prophetsei: Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist. Weil es ihr aber mißfiel, beidiesem Gespräch zu bleiben, lenkte sie es auf eine Streitfrage der Re-ligion. Das ist ja bei den falschen Religionen das Gewöhnliche, dieStreitgespräche sehr zu fördern, an denen sich das Volk ebenso betei-ligen kann wie die anderen. So wird also diese Frau zur Theologin,will ihr Heil suchen und sagt: Unsere Väter haben auf diesem Bergangebetet; ihr sagt, Jerusalem ist der Ort, an dem man anbeten muß.Jakob hat auf diesem Berg angebetet, als er aus Mesopotamien zurück-kehrte (Gen 33,18-20); ebenso Abraham (Gen 12,7). Wenn also unse-re Väter hier angebetet haben, warum sagt ihr ...

Ihr müßt aber wissen, daß anbeten hier für opfern steht. Was diepersönliche Anbetung betrifft, kann sie überall geschehen; nicht aberdas Opfern, außer am Ort, den der Herr erwählt hat (Dtn 12,5f). Daswar die Frage, die zwischen den Juden und den Samaritern stand, diediese Frau aufwirft. Und ich glaube eine Frau in Genf sagen zu hö-ren: Warum eßt ihr kein Fleisch? Die Apostel haben doch davongegessen. – – –

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Nr. 17: 12. April 1594 VII,166-171

Friede sei mit euch! (Lk 24,37; Joh 20,19)

Ohne Zweifel war in der Arche Noachs die Freude sehr groß, als dieTaube, die kurz zuvor fortgeflogen war, um den Zustand der Erde zuerkunden, schließlich mit dem Ölzweig im Schnabel zurückkam, alssicheres Zeichen dafür, daß die Flut zurückgegangen war (Gen 8,10f)und daß Gott der Welt wieder den Segen seines Friedens geschenkthat. Mit welchem Jubel aber, o Gott, mit welcher Fröhlichkeit undFreude wurde die Schar der Apostel erfüllt, als sie die heilige Mensch-heit des Erlösers nach der Auferstehung in ihre Mitte zurückkehrensahen, der in seinem Mund den Ölzweig eines heiligen und willkom-menen Friedens trug: Friede sei mit euch! Er zeigte ihnen die untrügli-chen Zeichen der Wiederversöhnung der Menschen mit Gott: Und erzeigte ihnen seine Hände und seine Füße (Lk 24,40). Ohne Zweifelwaren ihre Seelen nun ganz vom Trost erfüllt: Die Jünger freuten sich,als sie den Herrn sahen (Joh 20,20). Aber diese Freude war nicht die

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wichtigste Wirkung dieser heiligen Erscheinung: ihr schwankenderGlaube wurde gefestigt, ihre schüchterne Hoffnung wurde gesichertund ihre fast erloschene Liebe wurde neu entfacht. Darüber möchteich in dieser Predigt sprechen. Das kann ich jedoch nur gut tun, undihr könnt nur gut zuhören, wenn der Heilige Geist uns beisteht. Rufenwir ihn also an; um ihn aber besser anrufen zu können, bemühen wiruns um die Fürsprache der heiligen Jungfrau. Ave Maria.

Nunc autem manent fides, spes, charitas, tria haec; major autemhorum est charitas. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, die-se drei; das Größte aber unter ihnen ist die Liebe (1 Kor 13,13). DerGlaube für den Verstand, die Hoffnung für das Gedächtnis, die Liebefür den Willen. Der Glaube ehrt den Vater, denn er stützt sich auf dieAllmacht; die Hoffnung ehrt den Sohn, denn sie ist gegründet auf sei-ne Erlösung; die Liebe ehrt den Heiligen Geist, denn sie umfängt undliebt die Güte. Der Glaube zeigt uns die Glückseligkeit, die Hoffnungläßt uns nach ihr streben, die Liebe bringt uns in ihren Besitz. Alledrei sind notwendig, uzw. für jetzt, denn im Himmel bleibt nur dieLiebe. Der Glaube geht nicht in den Himmel ein, denn dort schautman alles; die Hoffnung noch weniger, denn man besitzt dort alles.Nur die Liebe hat dort ihren Platz, um Gott in allem, durch alles undmit allem zu lieben. Elija ließ seinen Mantel fallen (2 Kön 2,12f): DerMantel des Glaubens und der Schleier der Hoffnung kommen nicht inden Himmel mit, sondern sie bleiben auf der Erde, wo sie notwendigsind. Unser Herr will nichts anderes, als uns diese drei Lehren guteinzuprägen: wie man glauben, hoffen und lieben muß. Das tut er vorallem in diesen vierzig Tagen, in denen er nach der Auferstehung mitseinen Aposteln verkehrt (Apg 1,3), und ganz besonders bei der Er-scheinung, von der heute berichtet wird.

Fürs erste: Die Jünger waren in einem Saal versammelt und hattenaus Furcht vor den Juden die Türen fest verschlossen (Joh 20,19). DerHeiland tritt ein, grüßt sie und zeigt ihnen seine Hände und seineFüße. Warum das?

(I.) Um ihren Glauben zu festigen. Ach, wie war ihr Glaube erschüt-tert! Die arme Magdalena war ihn unter den Toten suchen gegangenund wollte ihn einbalsamieren; nun glaubte sie, daß man ihn geraubthabe. Die Apostel waren in einer Verfassung, daß sie die Kunde fürleeres Gerede hielten; sie glaubten ihnen nicht, nämlich den Frauen,die Botschaft, die sie von den Engeln erfahren hatten (Lk 24,6.11).Die beiden Pilger sagten: Wir hatten gehofft (Lk 24,21). Der große hl.Thomas rief aus: Ich kann nicht glauben (Joh 20,25). Um also diesenGlauben zu festigen, dem der Untergang drohte, kam Er und sagte:

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Friede sei mit euch; und er zeigte ihnen seinen Leib. Aber wie kann esgeschehen, daß sie glaubten, da sie ihn gesehen und berührt haben?(Gregor d. Gr.). Der Verstand hat gehandelt wie der Quartiermeister,der einem anderen die Wohnung bereitet, selbst aber nicht dableibt.So hat er den Glauben in das Herz der Apostel und in das unseregebracht. Dennoch bleibt er nicht länger in Tätigkeit, denn wenn derGlaube gekommen ist, weicht der Verstand, wie die Nadel, die dieSeide einführt ...

Welche Glaubensartikel aber werden begründet? (1.) Die Identitätdes Leibes bei der Auferstehung: Ich werde Gott, meinen Erlöser, inmeinem Leib schauen; von neuem werde ich von meiner Haut umge-ben sein (Ijob 19,26). Seht, ich bin es selbst (Lk 24,39). O bewunde-rungswürdiger Glaubenssatz! Wenn wir daran fest glauben, sind wirgute Christen, denn wir werden daraus ohne Schwierigkeit folgendeKonsequenzen ziehen: Ich darf also meinen Leib nicht entweihen, dennin einem Augenblick, beim Schall der letzten Posaune, werden wir auf-erweckt werden (1 Kor 15,51f). Warum sollte beim ersten Posaunen-schall nicht der gleiche Leib erscheinen? Ist Christus nicht auferstan-den, dann ist unser Glaube nichtig (1 Kor 15,14.17). – (2.) Die Wahr-heit von der Beschaffenheit des Leibes, der den Regungen der Seelefolgt wie die Kleider. Der Leib beschwert die Seele (Weish 9,15); dieSeele macht den Leib leicht. Der gute David konnte sich in der Rü-stung Sauls nicht bewegen (1 Sam 17,39). Solange unsere Seele mitdem irdischen Leib beschwert ist, kann sie sich nicht gut bewegen.Siehe, sie glaubten ein Gespenst zu sehen (Lk 24,37); Magdalena einenGärtner (Joh 20,15); die Pilger einen Pilger (Lk 24,15); die Fischereinen Fischer (Joh 21,4-7). Einmal war er sichtbar, einmal kam erdurch verschlossene Türen. Gesät wird ein Sinnenleib, auferweckt wirdein vergeistigter Leib (1 Kor 15,44). Wie der Adler, der nicht fliegenkann, bis er seine Jugend erneuert hat (Die Rabbiner, Genebrard zuPs 103,5). Was sollten jene tun, die sich für die Toten taufen lassen?Wozu lassen sie sich für jene taufen? Wozu setzen wir uns zu jeder Stun-de so vielen Gefahren aus? Jeden Tag sterbe ich für euren Ruhm, denich in unserem Herrn Jesus Christus habe. Was nützte es mir, daß ich inEphesus gegen wilde Tiere gekämpft habe, wenn die Toten nicht aufer-weckt werden? Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot (1Kor 15,29-32).

II. Die Hoffnung. Nun, ihre Hoffnung war schwach: Wir hatten ge-hofft. Sie fürchteten sich. Die Hoffnung ist der Furcht entgegenge-setzt. Sie trauerten und weinten, sagt der hl. Markus (16,10). Es ist eineernste Sache, wenn man von Gott getrennt ist. Man ist ängstlich, man

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verliert die Kraft. So war es bei den Aposteln, so war es bei Magdale-na. Wie ein Schiff ohne Lotsen und ohne Steuermann im Unwetterund Sturm zerschellt oder vom Wind getrieben wird, so war diesesarme Schifflein ohne Hoffnung: Efraim ist geworden wie eine verirrteTaube ohne Mut (Hos 7,11). O, ich möchte nicht, daß wir ohne Hoff-nung wären, aber ich wollte wohl, daß wir weinen, wenn wir Gott ver-lieren. Der Hirsch ... (Ps 42,1.3). Aber Unser Herr kommt, um Hilfezu bringen, an diesem Ort, der von der Furcht belagert ist: Seht meineHände und meine Seite (Lk 24,39). Braucht ihr Kraft, so seht meineHände; braucht ihr ein Herz, seht hier das meine. Wenn ihr Täubchenseid, so seht die offenstehenden Wundmale (Hld 2,14). Seid ihr krank,hier habt ihr den Arzt: Verschlungen ist der Tod im Sieg (1 Kor 15,54).Estis captivi, en redemptio; seid ihr Gefangene, hier ist die Befreiung(Jes 61,1; Lk 4,19). Ach, wie könnten wir uns fürchten? Seht, er kommt;er blickt durch das Gitter und späht durch die Fenster (Hld 2,8f).

(III.) Die Liebe. Kann denn die Frau das Kind vergessen, das sie inihrem Schoß getragen hat? Und wenn sie es vergäße, so vergesse ichdich nicht. In meine Hände habe ich dich eingeschrieben (Jes 49,15f).Er nimmt unser Elend und adelt es; er legt unser Elend auf sein Herz(Ijob 7,17): Er zeigte seine Seite. Schenken wir ihm also wieder Liebe,sonst wird Er, der uns seine Wunden aus Liebe zeigt, sie uns einesTages in Zorn und Entrüstung zeigen: so wie die Bilder, auf denenrechts eine Frau und links der Tod steht, rechts ein Lamm, links einLöwe; wie die Bienen, die Honig bereiten, aber auch schmerzhaft ste-chen. Seht die Hände, ihr Betrüger, ihr Spötter, ihr Schamlosen. Siewerden aufschauen zu dem, den sie durchbohrt haben (Sach 12,10; Joh19,37). Alle Völker werden wehklagen über sich (Offb 1,7).

Gütiger Jesus, gib, daß wir den Frieden annehmen, den du bringst,und laß uns deine Wunden sehen. Und da der Glaube, die Hoffnungund die Liebe bleiben, mögen wir, festgewurzelt im Glauben (Eph3,17; Kol 2,7), freudig in der Hoffnung, glühend in der Liebe (Röm12,10-12), das beseligende Ziel unserer Hoffnung, deine Ankunft er-warten (Tit 2,13). Gib, daß wir dabei zur Rechten dich als Lammsehen, nicht als Löwen zur Linken. Gib, daß wir anstelle des Glaubensdas Schauen, anstelle der Hoffnung den Besitz und anstelle der unvoll-kommenen Liebe die vollkommene Liebe besitzen, deren wir uns inalle Ewigkeit erfreuen werden. Amen.

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Zum Fest der KreuzauffindungZum Fest der KreuzauffindungZum Fest der KreuzauffindungZum Fest der KreuzauffindungZum Fest der Kreuzauffindung

Nr. 18: 3. Mai 1594 VII,172-179Ferne sei es von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuzunseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Weltgekreuzigt ist und ich der Welt (Gal 6,14).

Wenn schon der Prophet Jona so sehr getröstet war durch denWunderbaum, den der Herr für ihn wachsen ließ, daß die Heilige Schrift(Jona 4,6) von ihm sagt: Und Jona freute sich sehr über den Wunder-baum, wie groß muß dann erst die Freude der Christen sein über dashochheilige Kreuz Unseres Herrn, unter dem sie viel mehr Schattenfinden als Jona durch den Wunderbaum. Sie haben hier mehr Schutzund Sicherheit als Jona unter dem Wunderbaum. So können wir alsosagen: Mag Jona unter dem Wunderbaum wieder froh werden, magAbraham unter dem Baum den Engeln ein Mahl bereiten (Gen 18,4-8), mag Ismael unter dem Strauch in der Wüste erhört werden (Gen21,15f); mag Elija in der Einsamkeit unter dem Ginsterstrauch Nah-rung erhalten (1 Kön 19,4f): wir suchen keinen anderen Schatten alsden des Kreuzes, kein anderes Mahl, als uns hier bereitet ist. Ihmgelten unsere Tränen und unser Rufen. Wir wollen keine andere Nah-rung als die Früchte des Kreuzes. Es sei uns ferne, uns in irgendetwasanderem zu rühmen.

Was bedeutet es nun tatsächlich, sich einer Sache zu rühmen? Esbedeutet, sich ihretwegen hochschätzen, eine hohe Meinung von sichhaben, ihretwegen sich für glücklich und stark halten. Jeder rühmtsich der Dinge, in denen er sich groß dünkt, sagt der gelehrte Doctorangelicus, der hl. Thomas. Die Güter nun, in denen wir uns für großerachten, sind von dreierlei Art: Werte der Seele, des Leibes, des Glük-kes. Der eine rühmt sich seines Wissens, der andere seiner Gesund-heit, Kraft und Schönheit, jener seiner Anlagen, seines Ranges undseines Reichtums. Wozu aber? O Eitelkeit der Eitelkeiten; alles ist Ei-telkeit (Koh 1,2). Der Mensch vergeht wie der Schatten (Ps 38,7). Wasdas Wissen betrifft, gleicht er unvernünftigen Tieren (Ps 48,13.21); wasden Leib betrifft: Staub ist er (Gen 3,19); von Reichtum und Glücks-gütern gilt: Die Welt vergeht samt ihrer Lust (1 Joh 2,17). So kommt esalso dazu, daß man sich wegen so nichtiger Dinge rühmt und für großhält. Doch im Kreuz Unseres Herrn, welche Ehre! Wenn Er, der großwar, weil er Gott ist, in ihm seine Erhöhung findet (Joh 3,14; 12,32),seine Verherrlichung (Joh 12,23; 17,1), wenn er es das Tor zu seinerHerrlichkeit nennt (Lk 24,26), was bleibt euch dann anderes zu tun,was bleibt mir anderes zu sagen als: Habt in euch die gleiche Gesin-

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nung, wie sie auch in Jesus Christus war. Obwohl er in der Gottesgestaltwar, glaubte er dennoch nicht, gewaltsam an seiner Gottgleichheit fest-halten zu müssen. Vielmehr entäußerte er sich selbst; deshalb hat Gottihn so hoch erhoben ... (Phil 2,5f.9).

Doch betrachten wir ein wenig, welche Art von Ehre Unser Herrdurch das Kreuz gewann. Lest eifrig in diesem Buch des Kreuzes, undihr werdet den Ruhm begreifen, den Unser Herr in ihm erwarb. Findetes nicht befremdend, daß ich euch auf dieses Buch verweise, um hiereure Lektion zu lernen; denn es ist das vortrefflichste Buch von allen,die jemals geschrieben wurden. Wer daher den Ruhm des Wissenserstrebt, der nahe ihm in heiliger Absicht und lese in diesem heiligenBuch; er wird hier die tiefste Lehre finden, die es je gab. Denn waskönnte ich je Herrlicheres sagen, als was ich jetzt sagen will? DaßUnser Herr selbst in diesem Buch etwas erfahren hat, was er nochnicht wußte, eine Erfahrung, die er in seiner ganzen Ewigkeit nochnicht gemacht hatte. Von dieser Erfahrung sagt der hl. Paulus imHebräerbrief (5,8): Aus dem, was er gelitten hat, lernte er Gehorsam.Will man sich also des Wissens rühmen, so sei es in diesem Buch desNeuen Bundes.

Wo der hl. Paulus im Hebräerbrief (9,19) berichtet, wie der AlteBund begründet wurde, sagt er: Nachdem Mose alle Gebote des Geset-zes vorgelesen hatte, nahm er das Blut der Rinder und Böcke mit Was-ser, roter Wolle und Ysop; damit besprengte er das Buch selbst und allesVolk. Das alles aber geschah ihnen als Gleichnis (1 Kor 10,11). Undwas ist im Neuen Bund das Buch, das Unser Herr mit seinem Blutbesprengte, wenn nicht das Kreuz? An ihm rief er mit lauter Stimme:Vater, vergib ihnen. In deine Hände ... (Lk 23,34.46), nachdem er alleGebote des Gesetzes verkündet hatte, das in nichts anderem bestehtals darin: Du sollst den Herrn lieben ... (Dtn 6,7; Mt 22,37), und: Einneues Gebot gebe ich euch: daß ihr einander liebt (Joh 13,34). Er be-sprengte die ganze Welt mit seinem Blut durch die Einsetzung derheiligen Sakramente, besonders jenes des Altares.

Das Kreuz ist das wahre Buch der Christen. Ich rufe dich zum Zeu-gen an, hl. Bernhard, du gütiger und frommer Lehrer; denn wo andersals in diesem Buch hättest du die Kenntnis der überaus milden undköstlichen Lehre gewonnen, von der du uns die heiligen Unterweisun-gen hinterlassen hast, indem du (Sermo 43 in Hld § 3) sagst: MeinGeliebter ist mir ein Myrrhenstrauß? Ich rufe dich zum Zeugen an, gro-ßer hl. Augustinus; zwischen den beiden Geheimnissen der Geburtund der Passion stehend, kannst du sagen: Hinc lactor ab ubere, hincpascor a vulnere (einerseits werde ich von der Brust mit Milch ge-

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nährt, andererseits werde ich aus der Wunde erquickt). Ich rufe dichzum Zeugen an, serafischer hl. Franziskus; denn nur aus diesem Buchhast du die heiligen und bewundernswerten Sätze deiner Predigtenund Gespräche gewonnen. Ich berufe mich auf dein Zeugnis, engel-gleicher hl. Thomas; nie hast du zu schreiben begonnen, ohne deineZuflucht zum Kreuz zu nehmen. Und du, überaus heiliger serafischerLehrer Bonaventura, scheinst mir kein anderes Blatt gekannt zu habenals das Kreuz, keine andere Feder als die Lanze, keine andere Tinte alsdas Blut meines Erlösers, als du deine gottbegnadeten Opusculaschriebst. Welch schöne Stelle ist dein Satz (Stim. amoris, c. 1): „Wiegut ist es, beim Kreuz zu sein; hier will ich drei Hütten bauen (Mt 17,4):eine in seinen Händen, die andere in seinen Füßen und die dritte inseiner Seitenwunde. Hier will ich ruhen, will ich wachen, will ich le-sen, will ich sprechen.“

Hier hat auch die fromme Magdalena ihre heiligen Gedanken ge-faßt, die sie später den Provencalen mitteilte; hier ebenfalls die from-me Katharina von Siena, die uns, noch später, ihre frommen Erinne-rungen hinterlassen hat.

Was aber veranlaßt uns, in einer so klaren Sache so viele Zeugenanzuführen? Unser Herr will, daß wir gründlicher als alles andere dieSanftmut und die Demut kennenlernen (Mt 11,29). Wohin sonst wolltihr gehen, um sie kennenzulernen, wenn nicht zum Kreuz? Von ihmschrieb der hl. Paulus, der weiseste aller Menschen, die je waren: Icherachte es als richtig, nichts zu kennen als Jesus Christus, und zwar alsden Gekreuzigten (1 Kor 2,2).

Ich habe ausführlich über diese erste Art gesprochen, wie wir uns imKreuz rühmen müssen, um euch zu beschwören, daran alle Tage im-mer wieder zu denken, sooft ihr könnt, ebenso nachts jedesmal, wennihr aufwacht. Lest also in diesem göttlichen Buch, das euch die Wis-senschaft des Heiles lehrt; aus ihm hat Jesus Christus selbst den Ge-horsam gelernt, der Gott gebührt. Das ist die erste Aufgabe, die wirhaben: uns im Kreuz zu rühmen.

Nun zur zweiten Art des Rühmens. Sie beruht darauf, daß hier unserHeil ist, daß Unser Herr uns im Kreuz erlöst hat. Denn obwohl alleAkte seines Lebens, selbst die geringsten, unendlich hinreichend wa-ren, unser Heil zu wirken, war es dennoch der Wille seines göttlichenVaters und sein eigener, daß es nicht anders vollendet werde als imKreuz. Grund genug, uns seiner zu rühmen! Ferne sei es von mir, michzu rühmen ... In ihm finden wir uns außerdem wiederhergestellt in der

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ganzen Gesundheit, Kraft und Schönheit der Seele und des Leibes, dennunsere Unsterblichkeit und unsere Auferstehung hängt von ihm ab.

Lest also von neuem in diesem Buch, und ihr werdet da den NamenJesus finden (Joh 19,19). Er bedeutet Erlöser, uzw. Erlöser, der seinVolk von seinen Sünden heilt (Mt 1,21). Lest weiter, und ihr findet:Nazarener! das bedeutet „blühend“. Das ist ein weiterer Grund zumRühmen; denn durch das Kreuz ist unsere Seele geschmückt mit denschönen, heiligen Blumen so vieler Tugenden, so vieler duftender Krän-ze. Hier war Unser Herr die Rose des Martyriums, das Veilchen derErniedrigung, die Lilie der Reinheit. Er war nicht nur selbst rein, son-dern machte auch rein: Unser Lager ist mit Blumen bedeckt (Hld 1,15).Schöner Weißdorn, in deinen Zweigen wohnen die Vögel des Himmelsder Kirche in der Betrachtung, hier zwitschern sie lieblich in heiligemLobpreis. Ferne sei es von mir ... Denn wenn man sich der Schönheitrühmen kann, welche Schönheit ist mir doch durch das Kreuz verlie-hen! Wie habe ich doch ein Wasser gefunden, das mich nicht nur weißund rein, sondern außerdem strahlend macht: „In ihm ist unser Leben,unser Heil und unsere Auferstehung“ (Introitus).

Schließlich werdet ihr hier lesen: König der Juden. Alle Christensind Juden und Kinder Abrahams nach dem Schriftwort (Röm 9,8;Gal 3,7): Die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen betrach-tet. Dieses Königreich steht ihm von Natur aus zu und durch das Ver-dienst am Baum des Kreuzes: Deshalb hat Gott ihn auch erhöht ...;daß im Namen Jesu jedes Knie sich beuge (Phil 2,9f). Deshalb hüllt beiseinem Tod die ganze Welt sich in Trauer (Mt 27,45.51; Lk 23,44f)und verkündet, daß ihr König gestorben ist. Das war durch David (Ps96,9f) vorhergesagt worden: Bei seinem Anblick wird die ganze Welterzittern; verkündet unter den Völkern, daß der Herr vom Holz her re-giert. O heiliges Königreich! Wenn ich von der Erde erhöht bin, werdeich alles an mich ziehen. Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgestoßen(Joh 12,32.31). Die Kirche, die er mit seinem Blut erkauft hat (Apg20,28).

Welche Ehre für uns, christliche Zuhörer, daß wir durch das Kreuzund im Kreuz aus dem Reich der Unterwelt in das Königreich desHimmels versetzt sind, das Unser Herr, der erhabenste König der Welt,uns verliehen hat. Welche Ehre aber erst, daß wir selbst darin Königeund Erben des himmlischen Reiches geworden sind. Er ist Christus,wir aber sind die Christen: Erben Gottes und Miterben Christi (Röm8,17). Ihr Christen, wenn ich euch je verwehrt hätte, euch zu rühmen,so widerrufe ich das. Seid fortan stolz darauf, daß ihr zu diesem Erbeberufen seid. Fühlt ihr nicht das Herz sich weiten, wenn man euch

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sagt, daß ihr Könige seid? Wenn ihr wollt, sagt also: Alle Reichtümerder Welt sind überhaupt nicht zu vergleichen mit dieser Königswürde,denn sie werden vergehen, man kann sich ihrer nicht freuen; diesesaber gehört uns ganz. Ferne sei es also von mir, mich zu rühmen ...

Die große Herrlichkeit des Kreuzes macht es für jedermann ehrwür-dig. Deshalb wollte Gott, daß Helena, die Mutter Konstantins desGroßen, es suchte. Sie kam ausdrücklich dazu nach Jerusalem, um eszu finden. Als sie es gefunden hatte, wurde ihm sogleich in der ganzenKirche große Ehre erwiesen. Wer wollte in der Tat eine so bedeutendeReliquie nicht ehren, ein so außergewöhnliches Zeichen der Liebe desGottessohnes. Gern würde ich euch eine schöne Belehrung des hl.Bonaventura über die Verehrung des Kreuzes vortragen; aber ich willzum Schluß kommen. Es genügt, daß wir das Kreuz nicht aus Liebezum Kreuz verehren, sondern aus Liebe zu Dem, dem es angehört. DieEhre, die wir dem Kreuz erweisen, gefällt dem Gekreuzigten überaus.Wir verehren das Kreuz nie anders als in der Absicht, den Gekreuzig-ten zu ehren. Zu eurem Trost gebe ich euch den Rat: wenn ihr dasKreuz anschaut, sollt ihr stets den Gekreuzigten an ihm sehen. So wirdeuch dieser Baum viel ehrwürdiger, wenn ihr an ihm seine erhabeneFrucht hangen seht; ebenso die Dornen mit der Rose und der Weiß-dorn mit der Nachtigal, die in ihm wohnt.

Schließlich: laßt die Gegner reden! Viele wandeln, wie ich euch oftgesagt habe, als Feinde des Kreuzes Christi (Phil 3,18). Alles, was michan Unseren Herrn erinnert, halte ich in Ehren; jedes Bild des Kreuzesmuß in Ehren gehalten werden. Sagen wir also, daß das Holz des heili-gen Kreuzes einzigartig ehrwürdig ist. Wenn geschrieben steht: Ichwill anbeten an dem Ort, wo seine Füße standen (Ps 132,7; 99,5), wiesollten wir nicht verehren, worauf der ganze Leib lag? Deshalb heißtes (Ps 132,8) weiter: Erhebe dich, Herr, zur Ruhe. Und wenn man, wieder hl. Hieronymus sagt, das Bundeszelt mit solcher Ehrfurcht behan-delt, um wieviel mehr das Holz des Kreuzes, auf dem der Leib desGottmenschen ausgestreckt war, das von seinem kostbaren Blut be-netzt, gefärbt und durchtränkt wurde. Daher ist der christliche Brauchheilig. Der hl. Chrysostomus sagt darüber: „Dieses Holz wird so inEhren gehalten, daß jene, die ein Teilchen davon erhalten können, esin Gold fassen und es sich um den Hals hängen.“

Ich komme auf Helena zurück, die Zierde der Fürstinnen, die diesesheilige Holz mit solcher Sorgfalt, Mühe und Anstrengung suchte undes fand. Sie kam zum Kalvarienberg, wo die Heiden ein Standbild derVenus errichtet hatten. Beachtet den Gegensatz: am Ort der Krippehatten sie Adonis aufgestellt, an der Stelle des Grabes Jupiter; Helena

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aber entfernte das alles und brachte diese heiligen Gedenkstätten wie-der zu Ehren. Laßt uns sehen, ob wir auf unserem Kalvarienberg, d. h.in unserem Kopf und Verstand den festen Glauben bewahrt haben, deruns in der Taufe dort eingepflanzt wurde, oder ob wir nicht ein Göt-zenbild der Venus in unserer Phantasie errichtet haben; ob wir in un-serem Gedächtnis, dem die heilige Hoffnung gegeben wurde, nichtAdonis aufgestellt haben; in unserem Willen, dem Gott die Liebe ver-liehen hat ... Laßt uns nach dem Vorbild Helenas diese fluchbeladenenBilder der Welt entfernen, diese eitlen Eindrücke zerstören, und anihrer Stelle das Kreuz aufrichten, indem wir sagen: Ferne sei es vonmir, mich zu rühmen ..., denn es ist unsere Rettung. Als Konstantin inden Krieg zog, hörte er die Stimme (Gottes): „In diesem Zeichen wirstdu siegen.“ Ebenso will er, daß wir siegen: Du hast angeordnet, daßwir durch die Waffen deines Sohnes triumphieren (Postcomm.). DerTag lädt uns ein, der Ort spornt uns an, die Zeit drängt uns dazu, dennunsere Bedrängnis ist noch nicht beendet.

Zum Sonntag QuinquagesimaZum Sonntag QuinquagesimaZum Sonntag QuinquagesimaZum Sonntag QuinquagesimaZum Sonntag Quinquagesima

Nr. 27: 5. Februar 1595 VII,231-239Siehe, wir ziehen nach Jerusalem hinauf, und alles wirdin Erfüllung gehen, was von den Propheten über denMenschensohn gesagt wurde: er wird den Heiden aus-geliefert, verspottet, mißhandelt und angespien wer-den: nachdem sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihntöten, und am dritten Tag wird er auferstehen (Lk18,31-33).

Wenn ein Fürst die Eroberung einer Stadt unternimmt oder einenbedeutenden Sieg sicher erwartet, hört man ihn bei jeder Gelegenheitvon der Schlacht reden. Auch wir sprechen unaufhörlich von dem, waswir erwarten und wünschen. Das könnten die Reisenden bestätigen,die irgendeine Stadt erreichen wollen und jeden, den sie treffen, fra-gen, wie weit der Weg dahin ist. So machte es auch Unser Herr, dersehnlichst danach verlangte, das Werk unserer Erlösung zu vollenden.Als die Zeit seiner Passion nahte, sprach er darüber zu seinen Apo-steln und sagte sie an mehreren Stellen voraus, besonders in dem Ab-schnitt des Evangeliums, den unsere Mutter Kirche uns heute vorlegtzur Erhaltung unserer Seelen. Hier spricht Unser Herr als großer Feld-herr mit seinen Aposteln vom Sieg, den er über die Sünde und ihre

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Verbündeten erringen sollte; doch zuvor spricht er von dem hartenKampf seiner Passion, was die Apostel zu der Zeit nicht verstehen (Lk18,34). Damit wir es nun verstehen können, rufen wir den HeiligenGeist um seinen Beistand an. Ave Maria.

Die Braut im Hohelied spricht (1,12) von ihrem vielgeliebten Erlö-ser und sagt: Mein Vielgeliebter ist wie ein Myrrhenbüschel für mich; erruht an meinem Busen. Diese Braut, liebe Christen, ist entweder dieKirche oder die fromme Seele in der Kirche. Wie dem auch sei, mitdiesen Worten, die sie durch den weisen Salomo ausspricht, zeigt sie,daß ihr Unser Herr, der wahre Bräutigam der Seele und der Kirche,stets im Gedächtnis ist als der am meisten Geliebte von allen Gelieb-ten und der Liebenswerteste von allen Liebenswerten. Ihr wißt, daßdie Freundschaft der Todfeind des Vergessens ist. Wenn die Alten siemalten, schrieben sie ihr als Wahlspruch auf ihre Kleider: „Winterund Sommer, fern und nahe, Tod und Leben“, als vergäße sie weder imGlück und Unglück, noch fern und nahe, im Leben und im Tod.

Die Braut sagt aber nicht nur, daß sie ihn stets im Gedächtnis habenwerde, an ihrem Busen, an ihrer Brust, in ihrem Herzen, sondern alseinen duftenden Strauß, um zu zeigen, daß sie in diesem Gedenkengroßen Trost findet; und nicht nur als einen Strauß, sondern als Myrrhen-strauß. Der Duft der Myrrhe ist sehr süß, ihr Saft aber ist sehr bitter.Die liebe Braut sagt also, daß ihr Freund für sie wie ein Myrrhen-büschel auf ihrem Herzen ist, um zu zeigen, daß sie stets der Bitterkeitseiner Passion gedenkt: Ein Myrrhenbüschel ... Das spricht auch derkönigliche Prophet David (Ps 45,9f) besonders fein aus: Myrrhe, Aloeund Kassia duften aus deinen Kleidern; mit ihnen ergötzen dich Königs-töchter in deiner Herrlichkeit. Der Prophet spricht nämlich zum Messi-as und sagt zu ihm: Die Myrrhe und deren Tropfen und Kassia, dasheißt der Duft dieser kostbaren Flüssigkeiten, entströmt deinen Klei-dern. Was sind seine Kleider anders als sein Leib und seine Seele, wieder Apostel (Phil 2,7) sagt: Er nahm Knechtsgestalt an, wurde denMenschen ähnlich und im Äußeren als Mensch erfunden. Und diesemLeib und dieser Seele entströmt nur der Duft der Myrrhe, d. h. großeTröstungen, die aus einer schmerzlichen Grundlage stammen, näm-lich aus der Passion; diese Kleider stammen aus den überaus reinenElfenbeinpalästen des Himmels und von der glorreichen Jungfrau.

Der Trost der Passion ist also der ständige Duft, den die Heiligen derKirche wahrnehmen. Das lehrt der hl. Paulus (Hebr 12,3): Betrachtetihn, der von den Sündern solchen Widerspruch gegen sich erduldet hat,

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damit ihr nicht müde werdet und nicht euren Mut verliert. Dazu forderter selbst uns auf: Ihr alle, die ihr des Weges vorübergeht, merkt auf undseht, ob ein Schmerz dem meinen gleicht (Klgl 1,12). Das hat die Kir-che, die wahre Braut Unseres Herrn, bewogen, sich auf jede Weise zubemühen, bei ihren Kindern und Schülern das Andenken an die Passi-on unseres Herrn und Meisters lebendig zu erhalten; deshalb legt sieuns unter anderem heute dieses Evangelium vor. Sie weiht diesemGedenken die ganze Fastenzeit, sie vergegenwärtigt es im Meßopfer,sie spricht jedesmal davon und lehrt alle, bei jedem Anlaß das Kreuz-zeichen zu machen, um stündlich dieses Gedenken kurz zu erneuern.In ihren Kirchen stellt sie unablässig das Kruzifix vor Augen; sie setztstets das Zeichen des Kreuzes auf ihre Kirchen, an die Wege, über alleihre Übungen. Und wahrhaftig, wie könnte sie treffender und kürzerunserem Verstand die Passion Unseres Herrn vor Augen halten?

Deswegen wollte man aber die Kirche tadeln und unsere Gegnerbehaupten, daß hier ein Aberglaube herrsche. Daher müssen wir einwenig dabei verweilen, um ihre Begründungen anzusehen, und dürfennicht meinen, das sei unpassend. Die Gründe, die die Gegner für diewichtigsten gegen den Gebrauch des Kreuzzeichens halten, sind ohnejede Beweiskraft. Gehen wir dabei der Reihe nach vor, denn es gibtmehrere Streitpunkte zwischen der Kirche und dem Gegner.

Der erste Streitpunkt besteht darin, daß der Gegner sagt, man dürfedas nicht tun, und wenn es solche Handlungen gebe, müsse man sieverhindern und abschaffen. Die Kirche sagt das Gegenteil, und dassind unsere Gründe.

1. Das Gedächtnis der Passion ist nützlich, wie ich gesagt habe undsagen werde. Sagt mir um Gottes willen, warum es nicht ebenso nütz-lich im Zeichen sein sollte wie im Wort. Wenn es nützlich für dieGläubigen ist, ihnen die Passion Jesu Christi durch Worte in Erinne-rung zu rufen, wer sieht dann nicht ein, daß es auch nützlich sein wird,sie ihnen durch Zeichen zu vergegenwärtigen?

2. Unser Herr wird sein Kreuz selbst verherrlichen; warum nichtauch wir? Als Beweis, daß das wahr ist, heißt es bei Matthäus (24,30)unter den übrigen Vorzeichen, die sich am Tag des Gerichtes ereignenwerden, daß das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinenwird. Welches Zeichen? Ohne Zweifel das Kreuz, meine Brüder. Wel-ches andere Zeichen sonst, ich bitte euch? Die Fahne dieses Fürstenwird erscheinen, aber daran darf man nicht zweifeln, denn alle Kir-chenväter legen die Heilige Schrift so aus. Ich weiß, daß Calvin und

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alle bei Marlorat Genannten es so auslegen: „Das Zeichen ist derMenschensohn selbst“, der so offenkundig erscheinen und durch dasso gegebene Zeichen die Augen aller auf sich lenken wird. Seht doch,wie man mit der Heiligen Schrift umgeht: wenn da ein Zeichen ist,deuten sie es als die Sache selbst; wenn es (Mt 26,26) der Leib heißt,legen sie es als Zeichen aus.

Aber außer diesem Erscheinen des Kreuzes haben wir andere; siesind zwar nicht in der Heiligen Schrift enthalten, trotzdem aberglaubwürdig. Eusebius berichtet, daß Konstantin der Große das Kreuzsah, wie er selbst erzählt, mit den Worten: „In diesem Zeichen wirstdu siegen.“1 Dann zur Zeit des Konstans auf dem Ölberg.² Zur ZeitJulians Apostata, der aus Verachtung für die Katholiken den jüdischenTempel wieder errichten wollte, erschien am Himmel ein silberhellerKreis mit dem Kreuz.³ Zur Zeit des Arkadius, als man gegen die Per-ser zog.4 Zur Zeit des Alfons Albucerque de Bargua, erschien eines ineiner Gegend der Inder.5

3. Durch die Übung der Kirche seit den ersten Jahrhunderten. Zeu-ge ist der hl. Dionysius, im 4., 5. und 6. Buch seiner Hierarchiaecclesiastica, wo er sagt, daß man bei allem das Kreuzzeichen anwen-det. Justinus6 beantwortet die Frage, warum die Christen nach Ostengewendet beten, warum sie sich mit der Rechten mit dem Kreuz be-zeichnen und andere segnen: weil man Gott das Bessere geben muß,sagte er. Tertullian7 sagt, die Christen machten das Kreuzzeichen beijedem Schritt, „ad omnem progressum“, etc.

Meint ihr nicht, daß wir recht haben, eher der Übung der Kirche imAltertum zu folgen als den Einwänden dieser zuletzt Gekommenen?Doch sagt, welche Gründe bringen sie denn vor?

1. Da das Kreuz für den Herrn schmerzlich war, ist es zu verab-scheuen. Wenn aber das Zeichen und das Werkzeug des Leidens, dasUnser Herr erduldete, zu verabscheuen ist, dann ist das Leiden selbstund die Passion des Herrn es noch viel mehr. Das Kreuz war nicht insich schlecht und wurde von Unserem Herrn willig umfangen; durchdas Kreuz ist er zu seiner Herrlichkeit und Erhöhung gelangt, wie der

1 Eusebius, Vita Constantini. lib. I. cap. 28.2 Cyrill v. Jerusalem, im Brief über diese Tatsache.3 Gregor v. Nazianz, Oratio 2 in Jul. § 4.4 Prosper, in lib. De Promiss. divini, cap. 34.5 Osorius, De Rebus Emanuelis IX; Maffeius. Hist. Ind. V.5.6 Ad Gentiles. qu. 118 ad Orthod.7 De corona militis. cap. 3

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hl. Paulus (Phil 2,8f) sagt: Er hat sich selbst erniedrigt; deshalb wurdeer erhöht.

2. Ein Kind wäre verrückt, das Gefallen am Anblick des Galgenshätte, an dem sein Vater erhängt wurde; also denken wir nicht mehr andie Passion. Die Antwort: Wenn aber die Passion Jesu Christi nichtnur eine Strafe ist, sondern ein Opfer, dann ist das Kreuz gewiß nichtnur ein Galgen, sondern ein Altar, auf dem das Werk unserer Erlösungvollzogen wurde. Und in dieser Eigenschaft muß es von allen Gläubi-gen verehrt werden, muß sein Andenken empfehlenswert, sein Zei-chen kostbar sein. Zu bedauern sind jene, die es mit soviel Verachtungund Abscheu ablehnen, denn dadurch geben sie zu erkennen, daß siekeinen Anteil an dem haben, was im Kreuz gewirkt wurde, etc. Undwie kann man einer Meinung sein mit jenen, die sich durch das Kreuzmit Schmach zu bedecken glauben, wenn der hl. Paulus (Gal 6,14)sagt: Ferne sei es von mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz UnseresHerrn ...? Und (1 Kor 1,23f): Wir verkünden Christus als den Gekreu-zigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit, denen aber, dieberufen sind, Juden wie Heiden, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Ichhabe mich entschlossen, nichts zu kennen außer Jesus Christus, undihn als den Gekreuzigten (1 Kor 2,2). An die Philipper (3,18): Vielewandeln, wie ich oft gesagt habe, als Feinde des Kreuzes Christi.

Unsere Gegner sagen außerdem, man dürfe dem Kreuz nicht dieEhre erweisen, wie man es tut. Die Kirche sagt: im Gegenteil; seht,warum.

1. Alles, was Gott geweiht ist, verdient geehrt zu werden. Nun, diesesheilige Zeichen ist Gott geweiht, also ...

2. Daß alles, was Gott geweiht ist, geehrt zu werden verdient, beweistdie Heilige Schrift, die es gewissermaßen überhaupt heilig nennt.Warum nennt man den Sonntag heilig? Warum den Schemel seinerFüße (Ps 98,5)? Ex (3,5) heißt es: Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort,wo du stehst, ist heiliges Land. Der Psalmist sagt (Ps 132,2): Erhebt inden Nächten eure Hände zum Heiligtum, d. h. zu Gott Geweihtem;und im Psalm 99,5: Fallt nieder vor dem Schemel seiner Füße, denn erist heilig. Dieser Schemel ist der Tempel, wie die Chaldäer sagen; er istdie Bundeslade, wie die Hebräer sagen. Wie dem auch sei, für uns giltdas immer, und daraus ergibt sich schlüssig, daß dieses heilige Zei-chen geehrt zu werden verdient, weil es Gott geweiht ist.

3. Aufgrund all des vorher Gesagten; denn heißt es nicht, das Kreuzfür uns ehrwürdig machen, wenn Unser Herr es in den Himmel ver-setzt hat, wenn er es mit so großen Wirkungen gezeigt hat?

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4. Weil für uns das Kreuz das Zepter und der Königsthron UnseresHerrn ist. Bei Jesaja (9,6) heißt es: Und seine Herrschaft ruht auf sei-nen Schultern. Im Psalm 96 (9f): Vor seinem Angesicht erbebe die gan-ze Erde; kündet den Völkern, daß der Herr regiert. Nach der Septuagintahieß es, vom Holz, aber nach dem Bericht Justins im Dialog mitTryphon (§ 73) entfernten die Juden dieses Wort. Wenn also das Kreuzdas Zeichen der Macht und Königsherrschaft Unseres Herrn ist, wa-rum, etc. Wenn der Dornbusch, in dem Gott erschien, Ehrfurcht ver-diente, etc. Wenn die Bundeslade, wie es im Psalm 132 (7f) heißt: Ichwill eintreten in sein Zelt, ich will anbeten an dem Ort, wo seine Füßestanden, etc. (das läßt sich passend abwandeln: ich will den Ort oderden Schemel seiner Füße verehren), warum dann nicht diesen königli-chen Thron? Johannes (12,32): Wenn ich von der Erde erhöht bin,werde ich alles an mich ziehen, gleichsam als Fürst und Herr aller.

5. Wegen der großen Wirkungen, die Gott durch das Kreuzzeichenhervorrufen wollte, vor allem gegen die Dämonen, die es hassen. Dasbezeugt Lactanz8 und Gregor von Nazianz9: Er sah bei den Opfern undAuguren die Teufel, wie er gewünscht hatte; er bezeichnete sich mitdem Kreuz, und sie verschwanden. Worauf führen alle diese Erschei-nungen hinaus?

6. Weil es in seinem Vorbild, der ehernen Schlange (Num 21,8f)geehrt wurde, bevor es war; warum nicht in seinem Andenken, nach-dem es war? Johannes (3,14): Wie Mose die Schlange erhöhte, so mußder Menschensohn erhöht werden.

7. Weil diese Verehrung in der Kirche sehr alt ist. Tertullian10 ant-wortete den Heiden, die die Verehrung des Kreuzes angriffen; Kon-stantin verbot, künftig jemand zu kreuzigen:11 damit es in Ehren, nichtein Schrecken sei. Augustinus (Sermo 18 De Verbis). Theodosius ver-bot, es auf den Boden zu malen.12 Als Tiberius ein Kreuz am Bodenliegen sah, ließ er es aufrichten und sagte: „Mit dem Kreuz des Herrnmüssen wir unsere Stirn und Brust bewehren, und wir treten es mitFüßen.“13

8. Unsere Vorfahren trugen das Kreuz um den Hals, wie der hl.Gregor von Nazianz von seiner Schwester Macrina bezeugt (Vita).Amen.

8 Divin. Inst. lib. 4, cap. 27.9 Oratio I, § 53f; in Jul.10 Apologet., cap. 16.11 Soz. Hist. Eccl., lib. I, c. 8.12 Codicis I. tit. 8.13 Diakon Paul, lib. 18 Rerum Rom.

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Zum Fest der heiligsten DreifaltigkeitZum Fest der heiligsten DreifaltigkeitZum Fest der heiligsten DreifaltigkeitZum Fest der heiligsten DreifaltigkeitZum Fest der heiligsten Dreifaltigkeit

Nr. 30: Annecy, 21. März 1595 VII,254-264Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem HeiligenGeist; wie im Anfang so auch jetzt und allezeit und inEwigkeit. Amen.

Eine der größten Auszeichnungen, die die Güte Gottes seinem treu-en Diener Abraham, unserem Ahnherrn, erwies, war meines Erach-tens eine der bedeutendsten, als die göttliche Majestät ihn im Tal vonMamre in sichtbarer Gestalt besuchte, wie die Genesis (18,1f) berich-tet. Denn was für ein Mensch war dieser Abraham, daß du ihn be-suchst? (Ps 8,3). Der Herr erschien ihm im Tal von Mamre. Es war derHeilige der Heiligen (Dan 4,24), es war Gott selbst, der ihm erschien;aber in welcher Gestalt? Als er seine Augen erhob, erschienen ihm dreiMänner; in der Gestalt von drei suchte jener, der der einzige Herr ist,seinen Diener auf. O Geheimnis der Geheimnisse! Der einzige Herrerschien dem Abraham in drei Personen. Treffend heißt es am Anfangder Genesis (1,26), daß Gott sagte: Laßt uns den Menschen machennach unserem Bild und Gleichnis. Durch diese Worte wurde die Drei-faltigkeit des Schöpfers ausgedrückt. Sie war vor Abraham nie erschie-nen, den man mit Recht den Vater der Glaubenden (Röm 4,11) nann-te, da er eine so bedeutende Offenbarung dieses grundlegenden Ge-heimnisses unseres Glaubens empfing: Der Herr ist erschienen; „dreisah er, einen betete er an“, sagt die Auslegung. Abraham sagte (Gen18,3f nach der Sept. und alten Vulgata) zu ihnen: Herr, wenn ich Gnadein deinen Augen gefunden habe, geh nicht an deinem Diener vorüber;ich will ein wenig Wasser bringen, um eure Füße zu waschen; ruht unterdem Baum etwas aus. Bald sprach er zu allen drei in der Einzahl, baldin der Mehrzahl, um die Einheit in der Dreiheit zu zeigen.

So ist die Geschichte und das Geheimnis. Und jetzt, fromme Zuhö-rer, zeigt sich uns der gleiche Herr, um uns zu besuchen: einer imWesen, dreifaltig in den Personen, nicht mehr in einer äußeren Er-scheinung, sondern durch eine innere Erleuchtung des Glaubens, indiesem guten Tal der Kirche. Die Kirche feiert heute ein Hochfest zuEhren der allmächtigen, überaus guten und unendlichen Dreifaltig-keit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, um unseren Herzen die Ehre undhöchste Huldigung einzuprägen, die wir ihr schulden. Ehre sei demVater ... Wir erweisen ihm die Ehre, wenn wir an die höchste Wesenheitin ihrer glorreichen Dreifaltigkeit glauben, auf sie hoffen und sie lie-

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ben; wenn wir die drei Personen bitten, bei uns zu bleiben, wenn wirihnen die Füße waschen; wenn wir sie unter den Baum einladen. Ichwill euch kurz zeigen, wie man das machen muß. Dazu aber müssenwir es alle gemeinsam machen wie Abraham, der seine Augen zumHimmel erhob und sonst diese Ehre nicht gehabt hätte. Erheben wirdie Augen zu diesem ewigen Licht, damit es uns mit seinem Geist zuerleuchten geruhe, auf daß wir in seiner Klarheit von diesem Geheim-nis erkennen können, was wir kennen müssen; damit es ihm gefalle,uns sehend zu machen, auf daß wir ihm glauben, glaubend darauf hof-fen und in der Hoffnung lieben, so daß auf diese Weise wahrhaft Ehresei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Um das in größe-rer Fülle zu erlangen, setzen wir dazu den Einfluß der Tochter desVaters, der Mutter des Sohnes und der Braut des Heiligen Geistes ein.Ave Maria.

Der grundlegende Artikel unseres Glaubens ist der, dessen Feier dieKirche den heutigen Tag geweiht hat, d. h. die heilige Dreifaltigkeitder göttlichen Personen. Gewiß muß offenbar diese heilige Dreifaltig-keit auf die Einheit des Wesens zurückgeführt werden, um so mehr, alsnach unserer Denkweise das eine früher ist als die andere. Dennoch istder Artikel von der Einheit des einen Gottes den Christen nicht soausschließlich eigen wie der von der Dreifaltigkeit, zumal mehrereGott in seiner Einheit erkannt haben, die keine Christen sind. Daraufstützt sich der hl. Paulus und bestätigt den Römern (1,20f): Das Un-sichtbare an Gott wird aus der Wahrnehmung der geschaffenen Welterkannt, so daß sie unentschuldbar sind, weil sie Gott erkannten abernicht als Gott verherrlichten. Was aber den Artikel von der heiligstenDreifaltigkeit betrifft, ist er so sehr den Christen ausschließlich eigen,daß selbst das Volk der Hebräer zum Großteil keine ausdrücklicheKenntnis von ihm hatte und daß die Heiden nie zu ihr gelangten. Dasveranlaßt den hl. Hieronymus im Brief an Paulinus (53, § 4) zu demAusruf: „Der gelehrte Platon wußte es nicht, der beredte Demostheneshatte keine Kenntnis davon.“ Auf diesem Artikel von der Dreifaltig-keit beruht die Menschwerdung und auf der Menschwerdung unsereganze Erlösung. Auf diesem Artikel beruht die Sendung des HeiligenGeistes und auf ihr unsere ganze Rechtfertigung. Er ist also der Grund-artikel: „Es ist also katholischer Glaube, daß wir einen Gott verehren...“ (Symb. Athan.).

Aus diesem Grund stellt uns zunächst Unser Herr (Mt 28,19), dannseine Kirche bei der Spendung des grundlegenden Sakramentes derTaufe dieses heilige Geheimnis vor: Im Namen des Vaters und desSohnes und des Heiligen Geistes. Deshalb hat die Kirche unter Papst

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Damasus, nach der Aufforderung durch den hl. Hieronymus, bestimmt,daß man am Schluß jedes Psalms singt: Ehre sei dem Vater und demSohn und dem Heiligen Geist ... Deshalb hat man, als sich zur ZeitKarls des Großen mehrere Irrlehren gegen die heilige Dreifaltigkeiterhoben, dieses besondere Fest als Bekenntnis unseres Glaubens ein-gesetzt. Wie sehr müssen wir daher auch in unserer schlimmen Zeitdieses heilige Fest feiern und sagen: Ehre sei dem Vater ... Meint ihrnicht, daß sich unsere Gegner bemühen, die Kirche zu zerstören? DerHochmut derer, die dich hassen, erhebt sich ständig (Ps 74,23). EinValentin Gentil, ein Servet, ein Farel, ein Viret haben diese heiligeLehre vollkommen vergiftet, wo Calvin und Beza sich einmischtenund ein Ende machten. Wenn also dieses Fest mit so viel und so ge-rechtem Grund eingesetzt wurde, mit welcher Frömmigkeit müssenwir es jetzt feiern, da die Gründe seiner Einsetzung von neuem gege-ben sind.

Ehre sei dem Vater ... Ich finde, daß wir dem Vater, dem Sohn unddem Heiligen Geist auf zweifache Weise Ehre wünschen können: ent-weder die Ehre, die ihm naturgemäß und wesentlich ist, oder die äuße-re und denominative. Zunächst: Gott Vater im unerforschlichen Ab-grund seiner ganzen Ewigkeit, in der Fülle seines unbegrenzten We-sens, seiner Güte, Schönheit und Vollkommenheit, erkennt und be-greift im Blick auf sich selbst mit seinem überaus fruchtbaren Ver-stand seine Natur so vorzüglich, daß er mit einem Gedanken und Be-greifen seine ganze Größe ausdrückt. Dieser Gedanke, dieses Aus-sprechen, dieses Wort, dieser Ausdruck seines Herzens war ein zwei-tes Ich. Er war schon in sich glorreich, er war die ganze göttliche Voll-kommenheit; aber wie? Das ist seine Herrlichkeit: er sieht sich, ererkennt sich selbst, und indem er sich erkennt, zeugt er seinen ihmwesensgleichen Sohn: Aus meinem Schoß habe ich dich vor dem Mor-genstern gezeugt (Ps 110,3). Hebräisch: Aus dem Schoß kommt dir vorder Morgenröte der Tau deiner Jugend. Jesaja (66,9): Sollte ich, derandere gebären läßt, selbst nicht zeugen; der ich anderen Nachkom-menschaft gewähre, unfruchtbar sein? Der Sohn ist die Ehre des Va-ters; vom hl. Paulus wird er (Hebr 1,3) der Abglanz der Herrlichkeitund das Abbild seines Wesens genannt.

Welche Ehre für den Vater, einen solchen Sohn zu haben! WelcheEhre für den Sohn, einen solchen Vater zu haben! Der Sohn hat ganzdieselbe Wesenheit wie der Vater; der Vater teilt ihm alle seineVollkommenheiten mit. Denkt daran, welche Ehre es für einen sehrguten Vater ist, einen Sohn zu haben, der ihm vollkommen gleicht;doch wenn er ihm so sehr gleicht, daß er ein zweites Ich wird, welche

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Freude! Ich habe Väter gekannt, die einige Tugend besaßen; wie warensie froh, tugendhafte Kinder zu haben, etc. Diese Ehre verdient stetsgefeiert zu werden. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heili-gen Geist ... Doch darüber hinaus, welche überströmende Freude, wennder Vater seinen Sohn sieht und der Sohn seinerseits seinen Vater! DerVater und der Sohn sehen, daß sie gegenseitig einer grenzenlosen Lie-be würdig sind; sie sehen, daß ihr Wille aufeinander abgestimmt ist,sie lieben einander so sehr, wie sie es verdienen, sie lieben sich imhöchsten Grad, grenzenlos und göttlich. Und diese höchste Liebe, diesie so miteinander verbindet, die aus der Anschauung des einen vomanderen hervorgeht, ist eine dritte göttliche Person wie sie, wesens-gleich mit ihnen, unendlich, ewig und unabhängig wie sie; das ist derHeilige Geist, die Liebe und die Einheit des Vaters und des Sohnes,das grenzenlose Ziel ihres gegenseitigen Wohlgefallens und des ewi-gen Hervorgehens.

Singen wir also: Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem HeiligenGeist ... Ich weiß wohl, daß ihr dieses Geheimnis nicht begreift, so wieauch ich nicht; aber mir genügt es, daß wir um so besser daran glau-ben. Was ich darüber gesagt habe, hat keinen anderen Zweck, als eseuch mehr vor Augen zu stellen und euch zu helfen, deutlicher daranzu glauben. Es gibt bestimmte Beispiele, die uns helfen könnten, einwenig davon zu verstehen; es gibt jedoch noch so viel zu sagen, daß wiruns bei sonst nichts aufhalten und uns begnügen zu wissen: es ist derkatholische Glaube, „daß wir einen Gott in drei Personen und dieDreifaltigkeit in der Einheit verehren.“

Wir werden stets singen: Ehre sei dem Vater ..., um so mehr noch, alsCalvin, Beza und ihre Irrlehren wollen, daß alle drei Personen ihreGottheit aus sich haben, nicht durch Mitteilung. Das ist eine außerge-wöhnliche Blasphemie, denn auf diese Weise gäbe es weder Sohn nochHeiligen Geist. Der Hochmut jener, die dich hassen, erhebt sich stän-dig (Ps 74,23). Die Katholiken dagegen bleiben dabei zu sagen: „Gottvon Gott, Licht vom Licht“ (Symb. Nic.), und Ehre sei dem Vater unddem Sohn und dem Heiligen Geist, indem wir von den drei in der Ein-zahl sprechen, weil die drei Personen die gleiche Herrlichkeit besit-zen. Wir sagen: dem Vater und dem Sohn, denn obwohl die zwei Perso-nen ein einziger gleicher Gott sind und der Vater den Sohn als einanderes Ich betrachtet, besteht doch die Unterscheidung, daß der Va-ter das Gottsein durch sich selbst besitzt, der Sohn durch die Mittei-lung des Vaters: sonst wäre der eine nicht Vater, der andere nicht Sohn,sondern beide Namen wären falsche Bezeichnungen ohne Grundlage.Ebenso sagen wir: dem Heiligen Geist, der einen Hauch gegenseitiger

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Liebe bezeichnet, um auszudrücken, daß der Vater und der Sohn, diesich in gegenseitiger Liebe ansehen, diese dritte Person durch diesenBlick und diese gegenseitige Liebe hervorbringen.

Die zweite Blasphemie besteht darin, daß sie den Namen Trinitätnicht annehmen wollen. Ihre Begründung ist, Dreifaltigkeit wolle nurdie Personen bezeichnen; Person bedeute nur Wohnsitz und Eigenart;Wohnsitz und Eigenart ist nicht Gott. Außerdem, sagen sie, sei daskein gutes Latein. O Unglück unserer Zeit, o Eitelkeit, o Anmaßungdes menschlichen Geistes, der es unternimmt, so erhabene Wahrhei-ten mit so schwachen Argumenten zu erörtern! Dieses Wort Person,ihr Calvinisten, bedeutet viel mehr, als ihr sagt, und die Theologenwissen, daß Person der Träger einer vernunftbegabten Natur ist, daßsie deren Eigentümer und Besitzer ist; so ist eine göttliche Personjener, der die göttliche Natur zu eigen besitzt.

Was den schönen Einwand betrifft, das Wort Trinität sei nicht latei-nisch, so wißt ihr doch, wenn es Gott gefiel, im Übermaß seiner Liebeuns neue Wahrheiten zu offenbaren, dann mußte man neue Wort su-chen, um sie auszudrücken. Wißt ihr nicht, daß die Worte für die Din-ge geschaffen sind, nicht die Dinge für die Worte? Man muß sich sehrhüten, die Dinge den Worten unterzuordnen, und noch viel mehr, dieheiligsten und göttlichen Dinge zu verleugnen, weil man in der bei denRömern gebräuchlichen Sprache nicht den Ausdrücken begegnet, diesie bezeichnen. Bei diesem Grundsatz eurer Schule müßte man auchdas grundlegende Geheimnis unseres Heiles ablehnen, die Inkarnati-on des ewigen Wortes, weil man das Wort Inkarnation im klassischenLatein nicht findet. O unglückselige und unglückliche Theologen, dielieber Lateiner als Christen sind! Das ist eine der Listen des Teufels;unter dem Vorwand größerer Reinheit des Latein trachtet er uns denGlauben an die ersten und wichtigsten Geheimnisse unserer heiligenReligion zu nehmen. Die Arianer gingen nach dem Bericht desEpiphanius so in ihren Irrlehren vor; die einen verlangten, daß einJota gestrichen werde, die anderen, wie der Bischof Ancrytin, forder-ten, daß alle Worte gestrichen werden, die nicht aus der Heiligen Schriftstammen. Es ist ein Jammer, ihre Blasphemien zu sehen: Falschessagte jeder zu seinem Nächsten (Ps 12,3); mit ihrer Zunge üben sieTrug; richte sie, Herr (Ps 5,11).

Der hl. Johannes von Damaskus berichtet im 3. Buch der Theologieeine Begebenheit, um die Anrufung der heiligen Dreifaltigkeit zu recht-fertigen. In Konstantinopel, sagt er, „ereigneten sich unter ErzbischofProclus mehrere Zeichen des gerechten Zornes Gottes. Als das Volkbeim Gebet war, wurde ein Kind entrückt, und in der Entrückung

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lehrten es die Engel diesen Gesang: Heiliger Gott, heiliger Starker,heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser. Als das Kind zu sich kamund berichtete, was es vernommen hat, begann das Volk dieses Lied zusingen, besänftigte damit den Zorn Gottes und wandte die Übel ab, diees bedrohten.“ Lassen wir daher nicht ab zu singen: „Gott Vater imHimmel, erbarme dich unser.“ Lassen wir nicht ab zu sagen, daß diedrei göttlichen Personen anbetungswürdig und mehr als anbetungs-würdig sind aufgrund der wesenhaften und inneren Ehre und durch dieäußere, erwiesene Ehre.

Angemessen nennt man die Ehre, die Gott zukommt, nicht durchseine inneren Werke, sondern durch äußere, wie David (Ps 19,1) sagt:Die Himmel verkünden die Ehre Gottes, und wie der hl. Paulus (1 Kor10,31) sagt: Tut alles zur Ehre Gottes. Das tun wir dann, wenn wirdarauf bedacht sind, daß Gott verherrlicht wird: damit sie eure gutenWerke sehen und euren Vater preisen (Mt 5,16).

Was die wesenhafte Ehre betrifft, kann niemand sie beeinträchtigen,denn Ich bin, der ich bin (Ex 3,14). Meine Herrlichkeit gebe ich keinemanderen (Jes 42,8). An diese Ehre denken wir vor allem, wenn wirsagen: Ehre sei dem Vater ..., nicht als wünschten wir sie ihm als etwasFehlendes, sondern wir freuen uns über sie. Was die äußere Ehre be-trifft, kann sie vermehrt werden durch unsere guten Werke. Verherr-licht Gott (und tragt ihn) in eurem Leib, sagt der hl. Paulus (1 Kor6,20). In diesem Sinn sagen wir mit Ehre sei dem Vater das gleiche wie:Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden (Mt 6,10). Erweist GottVerherrlichung und Ehre, erweist dem Namen des Herrn Ehre; betetden Herrn an in seinem Heiligtum (Ps 29,2; 96,7-9). Der hl. Paulusbeklagt sich (Röm 1,21-23) über die heidnischen Philosophen, dennobwohl sie Gott erkannten, verherrlichten sie ihn nicht als Gott odersagten ihm Dank; vielmehr waren ihre Gedanken eitel und ihr törichtesHerz wurde verfinstert. Sie gaben sich als Weise aus und waren Toren.Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit demAbbild der Gestalt des vergänglichen Menschen. Ach, es gibt unter denChristen manche, die diesen Philosophen gleichen; sie sind kalt, sielieben die Gott und seinen Freunden gebührende Ehre nicht. Nun, werso eingestellt ist, kann nicht sagen: Ehre sei dem Vater und dem Sohnund dem Heiligen Geist.

Diese Ehre ist äußerlich und kann in zweifacher Weise verstandenwerden; denn für alles Gute müssen wir dem Vater, dem Sohn unddem Heiligen Geist Ehre erweisen, besonders aber für den Tod Unse-res Herrn und für die Gnade der Erlösung, denn so sehr hat Gott dieWelt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingab (Joh 3,16). So hat

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Gott, nämlich der Vater geliebt, das ist der Heilige Geist, daß er seinenEingeborenen, den Sohn hingab. Ehre gebührt daher dem Vater, derihn gab, dem Sohn, der hingegeben wurde, und dem Heiligen Geist,durch den er uns geschenkt wurde.

Wir müssen alle drei göttlichen Personen verherrlichen, und wirmüssen sie verherrlichen durch die Person des Fleisch gewordenenWortes, besonders durch seine Passion, die er beim hl. Johannes (7,39)seine Verherrlichung nennt: Denn der Heilige Geist war noch nichtverliehen, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. So legen nämlich derhl. Johannes Chrysostomus und Euthymius die Stelle aus; ausdrück-lich der hl. Hieronymus im Brief an Hedibia (Ep. 120, qu. 9); darinzeigt er, daß Jesus die Passion seine Verherrlichung nennt, und folgertzum Schluß: „Die Herrlichkeit des Erlösers ist das Kreuz des Sie-gers.“ Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn (1 Kor 1,31). Ferne sei esvon mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz des Herrn Jesus Christus (Gal6,14).

Erlaubt mir nun, daß ich vertraulich zu euch spreche. Wir müssenGott verherrlichen durch die Passion seines Sohnes. Diese Passion istnun nicht mehr gegenwärtig, um durch sie Gott zu verherrlichen; wirmüssen also auf das Gedächtnis zurückgreifen. Es gibt zwei Arten desGedächtnisses der Passion Jesu Christi in der Kirche, ein lebendigesund ein lebloses. Das lebendige Gedächtnis der Passion Jesu Christiist die Eucharistie: Verherrlicht Gott (und tragt ihn) in eurem Leib (1Kor 6,23). Sie aßen und beteten an (Ps 22,30). Das leblose Andenkenist das heilige Zeichen des Kreuzes; das sind die kostbaren Reliquiender Heiligen, wie der hl. Paulus (Kol 1,24) sagt: was von den LeidenJesu Christi bleibt.

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Nr. 41: Chablais, 9. Februar 1597 VII,306-310

Der Same ist das Wort Gottes (Lk 8,11).

Kostbarer und bewunderswerter Same, der vom Himmel genom-men ist, in die Erde gelegt wurde und zum Himmel emporsteigt; Same,der aus sich selbst ewige Frucht bringt, aber ein zarter Same, der kei-nerlei Frucht bringt, wenn er nicht von einem guten Erdreich (Lk 8,8)aufgenommen wird, sondern das Erdreich um so abscheulicher macht,als er bewundernswert und kostbar ist (1 Kor 11,29). Der Same ist das

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Wort Gottes. Die gleiche Sonne zeigt im Frühling die Schönheit derGärten, der Felder und Wiesen, der Haine und der lachenden Fluren,enthüllt aber auch die Häßlichkeit der Gossen und Kloaken. Ebensoläßt der gleiche Same, der die Kostbarkeit eines guten Feldes zur Gel-tung bringt, die Unfruchtbarkeit der anderen erkennen und führt zuderen Geringschätzung. Wie wichtig ist es deshalb, daß der Bodenrecht bereitet ist, um diesen heiligen Samen aufzunehmen.

Der Same ist das Wort Gottes. Die Frucht ist der Glaube, die Hoff-nung, die Liebe und das Heil. Das Erdreich ist unser Herz. O wiewird sich dieses Herz, dieses Erdreich bereitmachen, wenn es be-denkt, wer der ist, der sät. Es wird sehen, daß es der Herr ist: EinSämann ging aus, um zu säen. Wenn es bedenkt, in welcher Absicht,wird es sehen, daß er es tut, damit wir Furcht bringen in Geduld (Lk8,15). Wenn es überlegt, wer diesen Samen empfängt, wird es sehen,daß es ein Herz ist, das nichts ist als Erde, Staub und Asche (Gen3,19; 18,27); denn der Sämann versetzt es in Erwartung, das Erd-reich in Demut, die Absicht des Säenden in die Tat. Ich will michbemühen, darüber zu sprechen; es muß aber Gott sein, der spricht,denn es ist sein Same ...

Der Same ist das Wort Gottes. So empfängt also das Erdreich denSamen nicht in der Scheune oder im Hof, sondern der Bauer bringtihn auf das Feld und streut ihn mit der Hand in bestimmtem Gleich-maß aus. So möchte ich euch zunächst sagen, daß der Same das WortGottes ist. Das Wort Gottes muß seiner Natur entsprechend gepredigt,ausgesät und verkündet werden. Wenn es aufgeschrieben wurde, dannnicht, um die Predigt abzuschaffen, sondern vielmehr, um sie anzu-passen und zu bereichern. Dies gegen das törichte Gerede einiger, diesagen, man brauche nichts glauben, was nicht geschrieben steht; dieHeilige Schrift genüge ohne ein anderes Wort Gottes; jeder könne sieverstehen und hier die Entscheidung seines Glaubens finden. Wenndem so wäre, wäre der Same nicht das Wort Gottes; denn als UnserHerr dieses Wort sprach, war das Evangelium noch nicht geschrieben,und trotzdem war der Sämann schon ausgegangen, seinen Samen aus-zustreuen. Es war also nicht die Heilige Schrift, von der gesagt wurde:Der Same ist das Wort Gottes. Wenn das also nicht von der HeiligenSchrift galt und wenn es kein anderes Wort Gottes gäbe als die HeiligeSchrift, dann wäre der Same nicht das Wort Gottes. Geben sie über-dies nicht zu, daß der Sämann in dieser Parabel Unser Herr ist? Woaber finden sie, daß Unser Herr je das Evangelium geschrieben hätte?

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Wenn er also sagt: Der Same ist das Wort Gottes,dann versteht er dasvom Wort, das nicht geschrieben ist, aber gepredigt wird.

Wenn ihr das deutlicher verstehen wollt, dann seht zunächst, in wel-cher Weise dieser Same aufgenommen wird: Das sind jene, sagt er, diedas Wort hören und es in gutem Herzen bewahren (Lk 8,15). Wennjene, auf die man sät, Hörer sind, dann sind diejenigen, die säen, Spre-chende. Das Gehör nimmt nur das gesprochene Wort auf, das Augedas geschriebene. Beim hl. Paulus (Röm 10,17) werdet ihr auch fin-den: Der Glaube kommt vom Hören, das Hören durch das Wort Gottes.An die Korinther (1,23): Wir predigen Christus den Gekreuzigten. Im1. Thessalonicherbrief (2,13): Das Wort ist Verkündigung Gottes. Im 1.Brief an Timotheus (2,5-7): Ein Gott, ein Mittler zwischen Gott undden Menschen, der Mensch Jesus Christus, der sich selbst als Lösepreisfür alle hingab ... Dafür bin ich als Verkünder und Apostel bestellt. Im 2.Brief an Timotheus (4,2): Verkündige das Wort, dränge, ob gelegen ...;und bei Markus (16,15): Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen.Der hl. Philippus begab sich auf Eingebung des Engels auf den Weg,der von Jericho nach Gaza hinabführt, und siehe, ein mächtiger Äthio-pier ... Er sagte zu Philippus: Tritt heran und schließe dich diesemWagen an ... (Apg 8,27-29).

In der Tat, warum hätte Unser Herr die anderen als Hirten und Apo-stel hinterlassen (Eph 4,11), wenn uns nicht sein Wort verkündet wer-den müßte von jenen, die in seinem Namen und in seinem Geist spre-chen?

Aufmerksamkeit

Wenn man nicht verstehen kann, ohne zu hören, und wenn diesesHören zum Heil notwendig ist, mit welcher Aufmerksamkeit mußman auf das Wort horchen, das nicht ein menschliches Wort ist, son-dern Wort Gottes. Denn der zu sündhaften Menschen spricht, sagtihnen: Nicht ihr seid es, die sprechen, sondern der Geist eures Vaters,der in euch spricht (Mt 10,2). Wer euch hört, der hört mich; wer euchverachtet, der verachtet mich (Lk 10,16). So erachte uns der Menschals Diener Christi und Ausspender der Geheimnisse Gottes (1 Kor 4,1).Infolgedessen rief Unser Herr nach dem Gleichnis aus: Wer Ohren hatzu hören, der höre (Lk 8,8).

Ich finde im Evangelium, daß Unser Herr sechsmal gerufen hat: 1.Er rief im Tempel und sagte: Ihr kennt mich und wißt, woher ich bin(Joh 7,28). – 2. Wen dürstet, der komme zu mir und trinke (Joh 7,37).3. Lazarus, komm heraus (Joh 11,43). – 4. Wer an mich glaubt, der

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glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat (Joh 12,44).– 5. Eli, Eli, lema sabachtani: Mein Gott ... (Mt 27,46). – 6. Mit lauterStimme rufend gab er den Geist auf (Mt 27,50). Und jetzt, zum siebtenMal, rief er aus und sagte: Wer Ohren hat zu hören, der höre, um seineZuhörer aufmerksam zu machen auf den Vergleich des Wortes Gottesmit dem Samen. Der Same ist das Wort Gottes. Und wie der Same indas Erdreich eindringt und nicht an der Oberfläche bleibt, so mußauch das Wort Gottes, etc. Ich will hören, was Gott der Herr in mirspricht (Ps 85,9). Setze vor deinen Mund Schloß und Riegel (Sir 28,28).Eli zu Samuel: Rede, Herr, dein Diener hört (1 Sam 3,10). So muß dieAufmerksamkeit und Ehrfurcht beschaffen sein.

Demut

Demut und Ehrfurcht, die unendlich wachsen wird, wenn wir beden-ken, an wen dieses Wort gerichtet ist. An den Menschen. Was ist derMensch, daß du ihn beachtest?(Ps 94,3). Er wandelte unter den Men-schen (Bar 3,38). Vielfach und auf vielfältige Weise hat Gott einst zuden Vätern in den Propheten gesprochen; zuletzt hat er in diesen Tagenzu uns sündhaften Menschen gesprochen im Sohn (Hebr 1,1f).

Lk 10,39: Maria saß zu Füßen des Herrn und hörte auf sein Wort, weilder Same das Wort Gottes ist. Der Same bringt mehr Frucht in Tälernals auf Bergen. So wird es mit dem Regen verglichen, der sich sammeltund in die Täler herabfließt. Ex 32,1f in diesem letzten Hymnus: Hört,ihr Himmel, was ich sage; die Erde vernehme die Worte meines Mundes.Wie Regen verdichte sich meine Lehre, wie Tau fließe meine Rede.

Sir 1,5: Quelle der Weisheit ist das Wort Gottes; wer aber aus derQuelle trinken will, muß sich niederbeugen.

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Dogmatische Predigten über die heilige EucharistieDogmatische Predigten über die heilige EucharistieDogmatische Predigten über die heilige EucharistieDogmatische Predigten über die heilige EucharistieDogmatische Predigten über die heilige Eucharistie

I.

Nr. 43: Chablais, Juli 1597 VII,320-327

Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise (Joh 6,56)

Die Wahrheit ist in sich so schön und so köstlich, daß unser Ver-stand sie notwendigerweise mit Liebe und höchstem Wohlgefallenumfängt, wenn sie ihm klar und verständlich vorgestellt wird. Sie istsein Ziel, sagen die Peripatetiker; sie ist seine Nahrung, sagen diePlatoniker; sie ist seine Vollendung, sagen sie alle gemeinsam mitunseren ehrwürdigen Theologen. „Die ganze Welt ruft und verlangtnach der Wahrheit; der Himmel preist sie, alles wird durch ihre Machtin Bewegung gesetzt“, sagte der weise Serubbabel (3. Esra 4,36), derwegen dieser Sentenz als der Klügste von allen Medern und Perserngalt. Wenn das von jeder Form der Wahrheit gesagt werden kann, wie-viel mehr dann, ich bitte euch, meine lieben Brüder, von der Wahrheit,die von allen die erste und vortrefflichste ist, ich sage, von der christ-lichen Wahrheit. Im Vergleich mit ihr ist jede andere Wahrheit eherEinbildung als Wahrheit. Diese Wahrheit ist „schöner, als die berühmteHelena war“, ob deren Schönheit so viele Griechen und Trojaner ihrLeben ließen, sagt der hl. Augustinus (Epist. 40,4), denn aus Liebe zuihr sind unvergleichlich mehr hervorragende Menschen und heiligeMärtyrer gestorben. Sie ist erstrebenswerter als Gold und Topas (Ps119,127), süßer als Zucker und Honig (Ps 19,11; 119,103), sie machtden Geist froh und die Augen leuchtend (Ps 19,9), wie David singt.

Beseelt vom Wunsch, in den folgenden Predigten die Wahrheit desallerheiligsten Altarssakramentes zu beweisen, meine sehr teuren Brü-der, glaube ich das nicht besser unternehmen zu können als dadurch,daß ich euch so klar und bündig die wirkliche Lehre der Kirche darle-ge. Diese Lehre ist so klar und so köstlich, daß euer Verstand beimersten Anblick ihrer Schönheit sie mit unglaublicher Liebe und Freu-de annehmen wird, dessen bin ich sicher. An ihrer Art und ihrer An-mut wird er mit Sicherheit erkennen, daß sie eine Tochter Gottes ist,hervorgegangen aus seinem Mund, empfangen im Schoß seiner unend-lichen Weisheit (Sir 24,5). Wenn ich euch aber daneben das Aussehender gegenteiligen Unwahrheit zeige, so zweifle ich nicht im gering-

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sten, daß deren unglaubliche Häßlichkeit euch die Schönheit der kirch-lichen Lehre noch viel mehr bewundern und lieben läßt. Das ist es,kurz gesagt, was ich in dieser ersten Predigt vorhabe: die Wahrheitsehr klar darzustellen, und um sie noch deutlicher zu zeigen, ihr dieIrrtümer gegenüberzustellen, die ihr widersprechen. Macht eure Au-gen auf, ihr Christen, seht diese Wahrheit: begehrenswerter als jedeandere im Evangelium, zugleich aber so gewaltig und erhaben, daßweder ihr noch ich ihren Glanz zu ertragen vermöchten, wenn nichtEr uns beisteht, der sie geoffenbart hat. Rufen wir ihn deshalb vorallem um seinen Beistand an durch die Fürsprache seiner allerseligstenMutter, die wir in der gewohnten Weise grüßen: Ave Maria.

Ein Leib kann nicht zur Speise werden, wenn er nicht in irgendeinerGestalt dem gegenwärtig ist, der ihn ißt, und er kann nur in der Gestalteine Speise sein, in der er dem gegenwärtig ist, der ihn ißt. Diese Wahr-heit, glaube ich, kann niemand leugnen; denn das Essen ist ein Aneig-nen und eine Vereinigung der Speise mit dem, der sie zu sich nimmt,überaus innig und im strengsten Sinn, bis schließlich die Speise sich inden umwandelt, der sie ißt, oder dieser sie in sich umwandelt. Es istdaher einfach notwendig, daß ihm die Speise gegenwärtig ist, und mankann das Essen nicht anders verstehen, als daß die Speise in den ein-geht, der sie ißt, und sich mit ihm vereinigt. Nun finde ich, ganz allge-mein gesprochen, daß ein Leib nur in einer von drei Weisen gegenwär-tig sein, zu einem anderen in Beziehung kommen oder mit ihm verei-nigt werden kann: wirklich und ungeistig, geistig und unwirklich oderwirklich und geistig zugleich. Die erste Art ist wirklich, aber grob,natürlich und fleischlich; die zweite ist geistig, bildlich und wenigerwirklich; die dritte ist ebenso wirklich wie die erste, ebenso geistigwie die zweite, sie ist bewundernswerter als die erste und bewunderns-werter als die zweite. Erwägen wir sie eingehender und sehen wir,welche der drei Arten der Gegenwart und dem Genuß des Leibes Un-seres Herrn im hochheiligen Sakrament angemessener ist.

Ich sage also zunächst, daß ein Leib einem anderen gegenwärtig seinund folglich gegessen werden kann: wirklich und ungeistig, aber aufnatürliche und fleischliche Weise. Dabei gibt es keine Schwierigkeit.So ist mein Leib gegenwärtig auf dieser Kanzel, der eure auf eurenBänken. Das ist wirklich, meine Brüder, denn es ist das unserem Leibeigene Wesen und Sein, das hier ist. Aber es ist fleischlich, denn es istverbunden mit allen natürlichen Eigenschaften unseres Fleisches, derSchwere und Stofflichkeit, der Sterblichkeit, Unansehnlichkeit undähnlichen Merkmalen unserer Armseligkeit und der uns eigenen Na-tur. Das ist die gewöhnliche und natürliche Art des Gegenwärtigseins

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unseres Leibes und aller Körper hier auf Erden; nach dieser Art kön-nen sie auch eine Speise sein. Das geschah mit dem Leib Isebels (2Kön 9,35-37), denn die Hunde fraßen ihn wirklich, tatsächlich undfleischlich; sie zerfleischten ihn, da er hinfällig war; sie zerrten ihnhin und her, da er schwer war; sie bissen hinein, da er stofflich war;schließlich war er nicht mehr und nicht weniger als das Fleisch einesPferdes oder eines Ochsen. So wurden die Leute, die der König vonAssyrien herholte, um Samaria zu bevölkern, wirklich und fleischlichvon den Löwen gefressen (2 Kön 18,25), gleicherweise von den Bärendie Kinder, die Elischa verspotteten (2 Kön 2,23f). Ebenso essen dieMenschenfresser unter den Indianern sich gegenseitig wirklich undtatsächlich auf, uzw. genau so fleischlich, wie sie das Fleisch von Scha-fen und Kälbern verzehren. Auf gleiche Weise aßen die zwei Samariter-innen (2 Kön 6,26-29), vom Hunger während der Belagerung getrie-ben, wirklich und fleischlich das eine ihrer Kinder; sie zerfleischtenes mit starken Zähnen, füllten ihren Magen und ihren Leib mit demFleisch, das aus ihm hervorgegangen war. Das genügt zu diesem Punkt.Ich glaube, ihr habt mich verstanden, da ich nur von der einen Art desGegenwärtigseins und Essens spreche, von der gewöhnlichen, natürli-chen und fleischlichen.

Meine Brüder, nun muß ich euch sagen: als die Leute in Kafarnaumhörten, wie unser Erlöser in einer Rede, die er vor ihnen hielt, so oftnachdrücklich betonte, daß man sein Fleisch essen und sein Blut trin-ken muß, daß sein Fleisch wahrhaft eine Speise ist, daß das Brot, das ergeben wird, sein Fleisch für das Leben der Welt ist (Joh 6,52-56), daglaubten sie, daß er ihnen sein Fleisch in dieser ersten Weise zu essengeben wollte, d. h. wirklich (denn seine Worte waren so eindeutig, daßsie nicht zweifeln konnten), aber fleischlich. Denn sie dachten, er wol-le es ihnen tot geben, stück- und bissenweise, roh, gewöhnlich, fett,verderblich, schwer, greifbar, sichtbar; daß sie es folglich zerfleischenund kauen müßten, wie die Menschenfresser, Kannibalen und unge-bildeten Wilden, die einander auffressen, wie jemand das Fleisch vonHammeln und Schafen ißt. Sehr erstaunt über diese Zumutung sagtensie zueinander: Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben? Und alssie sahen, daß er darauf bestand, es ihnen sogar mit seiner feierlichstenBeteuerung zu versichern, fügten sie hinzu: Diese Rede ist hart; werkann sie hören? (Joh 6,54.61).

Sie nannten die Worte Unseres Herrn hart, d. h. herb, roh, ungehö-rig, grausam, weil sie dachten, Unser Herr wollte sie sein Fleisch es-sen und sein Blut trinken lassen, fleischlich und nach der natürlichenund gewöhnlichen Seinsweise des Fleisches und Blutes; das aber schien

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ihnen wahrhaftig sehr roh, barbarisch und ungehörig. Wem sträubtensich nicht die Haare vor Entsetzen und wer würde nicht erschaudern,wenn er einen menschlichen Leib essen und das Blut eines Menschentrinken müßte? Wieviel grausamer aber mußte das den Zuhörern Un-seres Herrn erscheinen, da er ebenso wie sie Jude der Nation und derReligion nach war. Bei den Juden war aber das menschliche Fleisch sounantastbar, daß man selbst nach der Berührung mit einem toten Leibunrein und befleckt war. Und was das Blut betrifft, war es so verpönt,daß es nach dem Gesetz nicht einmal erlaubt war, das der Tiere zugenießen (Dtn 12,23). Was Wunder also, wenn diese armen Leute soerstaunt waren, als sie hörten, daß Unser Herr sein Fleisch und seinBlut als Speise und Trank geben wollte, da sie glaubten, er wollte dastote Fleisch und Blut in der ihm eigenen Gestalt, in der natürlichen,fleischlichen Beschaffenheit geben? Wahrhaftig ein plumper Verstand,der sehr schwerfällig arbeitet.

Der gleichen Art des groben, fleischlichen Essens wurden die erstenChristen von den gottlosen Heiden beschuldigt; ich bitte euch, meinelieben Brüder, das zu beachten. Die Urkirche, die sich über den gan-zen Erdkreis ausbreitete, legte vor ihren Kindern offen Zeugnis dafürab, daß der Leib des Gottessohnes wirklich genossen und sein Blutgetrunken wird. Als die Worte, mit denen sie das erklärte, den Heidenund anderen Feinden des Erlösers zu Ohren kamen, ergriffen sie dieGelegenheit, die Christen zu verleumden und sie der Menschen-fresserei zu beschuldigen. Sie behaupteten, daß sie kleine Kinder ver-zehrten, sie schlachteten und mit starken Zähnen zerfleischten; siesagten, die Christen hielten bei ihrem Sakrament und Mysterium ihrFestmahl nach Art der Zyklopen mit Menschenfleisch. Tertullian sagtin seiner Apologie (c. 4): „Man bezichtigt uns des verbrecherischenKindermordes und des anschließenden Mahles beim Sakrament.“ Inder Tat bestätigt Plinius II. in dem Brief, den er an Trajan schrieb, derbei Tertullian (c. 2) wiedergegeben ist, daß man die Christen diesesVerbrechens beschuldigte. Wenn man ihn genau liest, entlastet er sieallerdings.

Diese Verleumdung bestand noch zur Zeit des Minutius Felix. Erzitiert (Dialog, c. 3) die Worte eines gewissen Caecilius, der die Chris-ten noch in gleicher Weise beschuldigt: eine wahrhaft häßliche Be-schuldigung. Aber bei diesen frühen Feinden der Kirche ist diese ver-kehrte Auffassung einigermaßen entschuldbar, denn unsere Kirchen-väter bekannten öffentlich, daß sie den Leib des Herrn genießen, unddie heiligen Schriften erklärten es so offenkundig, daß die Heiden,wenn sie entweder Christen miteinander reden hörten oder die Schrif-

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ten sahen, annehmen mußten, daß die Kirche daran glaubte. Anderer-seits überstieg es ihr geistiges Vermögen, zum rechten Verständnisdieses wirklichen Genießens zu kommen, denn das lehrt nur der Glau-be. Außerdem waren unsere Christen bei der Feier dieses Geheimnis-ses so abgeschlossen und versteckt, daß sie nicht einmal denKatechumenen erlaubten, es zu sehen. Da also die Heiden einfachsagen hörten, daß die Christen das Fleisch des Gottessohnes essen, dasie aber weder wußten noch erraten konnten, daß dies anders als auffleischliche Weise geschieht, beschuldigten sie die Christen des Ver-brechens der Menschenfresserei.

Wer aber kann diese Beschuldigung für entschuldbar halten in unse-rer Zeit, in der die Unverschämtheit so weit zu gehen wagt, daß sie diegleiche Verleumdung wieder aufgreift, um die Katholiken zu beschimp-fen? Und wer waren diese Unverschämten, sagt ihr mir. Meine Lieben,das sind Getaufte, erzogen und unterwiesen in der Kirche Gottes, dietausendmal der Feier der heiligen Eucharistie beigewohnt, die hun-dertmal an ihr teilgenommen haben. Nach all dem haben sie sich vonder heiligen Gemeinschaft der Gläubigen getrennt, um eigene Sektenzu gründen. Und nun lassen sie uns nicht einmal die Beweise gegendiese Verleumdung ebenso eindeutig vorbringen, wie sie ganz und garunwissend über unseren Glauben sind. Wie oft warfen sie uns vor,wenn wir wirklich den Leib Unseres Herrn genießen, dann müßtenwir ihn zerfleischen, kauen und abnagen; und von daher griffen sie zuso unverschämten und ausgefallenen Argumenten, daß es schlimmernicht sein könnte. Hat es denn jemals in der Irrlehre eine anmaßendereUnverschämtheit gegeben als diese?

Nun, das alles ist nichts anderes als eine Verleumdung, das wißt ihrsehr wohl, meine sehr teuren Brüder. Nein, das hat Unser Herr nie-mals gemeint oder gesagt, daß man sein Fleisch auf fleischliche, grobeArt essen soll, wie man totes, verderbliches Fleisch ißt. Die Leute inKafarnaum, die es so auffaßten, waren arme Menschen, die die Wortedes Herrn nicht recht bedachten, die nie in diesem Sinn ausgelegtwerden können. Hört doch Unseren Herrn; er sagt: Mein Fleisch istwahrhaft eine Speise, aber auch: Wer mein Fleisch ißt, hat das ewigeLeben. Wenn er nichts gesagt hätte als das, dann hätte die Auslegungder Leute von Kafarnaum eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich,weil er nur einfach von Fleisch gesprochen hätte. Aber hat er nichtseine Absicht hinreichend zum Ausdruck gebracht, als er in der glei-chen Rede sagte: Ich bin das lebendige Brot, der ich vom Himmel her-abgestiegen bin? Seht ihr nicht, daß er nicht von einer toten Speisespricht, sondern von einer lebendigen? Sie wäre aber nicht lebendig,

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wenn sie zerfleischt, gebrochen und in Stücke zerrissen würde. Wermich ißt, sagte er, wird durch meine Liebe leben. Er will also nicht seintotes Fleisch und nicht nur dieses geben, sondern er will sich selbstganz schenken. Er gäbe aber nicht sich selbst ganz, wenn er nur seintotes Fleisch anböte.

Vor allem aber hat Unser Herr in beredter Weise diese grobe undganz fleischliche Auffassung zurückgewiesen durch die Worte: Spiri-tus est qui vivificat, caro non prodest quidquam; verba quae locutussum vobis, spiritus et vita sunt. Der Geist ist es, der lebendig macht; dasFleisch ist zu nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe,sind Geist und Leben (Joh 6,64) Heilige Worte, göttliche Worte, über-aus erhabene Worte, die geeignet sind, dieser schwerfälligen und gro-ben Auffassung den Boden zu entziehen, daß der Leib Unseres Herrnfleischlich genossen werde; dies durch zwei schöne Gedanken, dieunsere Kirchenväter aus diesen Worten sehr weise herausgelesen undabgeleitet haben. „Wie also“, sagt der hl. Chrysostomus (Hom. 47 inJoh, § 2), „ist das Fleisch zu nichts nütze? Spricht er nicht von seinemeigenen Fleisch? Das geht niemals an, sondern er spricht von Men-schen, die es fleischlich verstehen.“ Und der hl. Cyprian sagt (DeCoena): „In diesem Sinn nützen das Fleisch und das Blut zu nichts,noch vermag der fleischliche Sinn zu einer Auffassung von solcherTiefe vorzudringen, wenn nicht der Glaube zu Hilfe kommt; nec carnalissensus ad intellectum tantae profunditatis penetrat nisi fides accedat.“*

II.

Nr. 44: Chablais, Juli 1597 VII,328-341

Meine lieben Zuhörer, am Sonntag habe ich euch gesagt, daß alleSchwierigkeiten, die unsere Gegner gegen den Glauben an die wirkli-che Gegenwart des Leibes und Blutes Unseres Herrn im allerheilig-sten Sakrament vorbringen, sich auf zwei Zweifel der Juden und derJünger unseres Herrn Jesus Christus zurückführen lassen, als er dieseGlaubenswahrheit lehrte. Der eine war: Wie kann der uns sein Fleisch

* Die zweifache Bezugnahme in der folgenden Predigt zwingt zur Annahme, daßdiese entweder nicht vollständig niedergeschrieben wurde oder ein Teil des Ma-nuskriptes verloren ging.

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zu essen geben? Der andere war: Diese Rede ist hart; wer kann siehören? (Joh 6,53.61). Denn alle Einwände, die man gegen uns erhebt,laufen darauf hinaus, daß diese Gegenwart entweder nicht eingesetztund verwirklicht werden kann oder daß sie ungehörig sei. Und esscheint, daß alle Stellen der Heiligen Schrift, die sie herangezogenhaben, ihnen nur als Bestätigung dieser beiden Zweifel zugute kom-men. Nun, ich will zunächst nachweisen, daß Gott es kann, sowohlnach dem allgemeinen Grundsatz seiner Allmacht als auch durch be-stimmte Beispiele, daß der gleiche Körper an mehreren Orten seinkann. Dann will ich euch zeigen, daß die Art, wie Unser Herr in die-sem Sakrament gegenwärtig ist, keineswegs hart und schrecklich ist,sondern überaus köstlich und lieblich.

Nun will ich euch in der Fortsetzung der Predigt über den gleichenGegenstand zeigen: (1.) Es ist keineswegs unmöglich, daß sich in die-sem heiligen Sakrament ein Körper an einem bestimmten Ort befin-det, ohne die äußere Ausdehnung anzunehmen, wie wir es naturgemäßbei anderen Körpern sehen. 2. Die Transsubstantiation ist keineswegsunmöglich, sondern in diesem Sakrament durchaus verwirklicht. 3.Aus allem, was ich sagen werde, will ich die Anbetung dieses heiligenSakramentes begründen.

Herr, von ganzem Herzen will ich deine Allmacht preisen, wenn dumeine Lippen zu deinem Lob öffnest (Ps 51,17). Ich will deine Maje-stät im heiligen Sakrament anbeten, wenn du deine Worte stets in mei-nem Herzen bewahrst. Denn dein Wort belehrt mich, daß du hier wahr-haft gegenwärtig bist als Gott und Mensch und daß diese Gegenwartdeinem Willen weniger unmöglich ist als unserem schwachen Ver-stand unbegreiflich, wie alle übrigen deiner Werke wunderbar sind.Damit diese Bitte bei deiner göttlichen Güte Erhörung finde, vereini-gen wir sie mit der Fürsprache Unserer lieben Frau: Ave.

(1.) Wir sind also fest davon überzeugt, daß ein Körper an mehrerenOrten zugleich sein kann im Gehorsam gegen die Anordnung des all-mächtigen Gottes, dem darin nichts unmöglich ist. Ich sage nun: einKörper kann an einem Ort gegenwärtig sein, ohne an ihm irgendeinenRaum einzunehmen, ohne daß man ihn sehen, berühren und wahrneh-men kann. Für die meisten von euch ist es vielleicht erforderlich, dentieferen Grund dieser Schwierigkeit zu erkennen; hört also aufmerk-sam zu, ich will mich ausführlich dazu äußern.

Wenn sich ein Gegenstand an einem Ort befindet, sind wir gewohnt,an ihm zwei Dinge, zwei Beschaffenheiten, zwei Eigenheiten wahrzu-nehmen. Das eine ist seine Gegenwart, daß also der Gegenstand an

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einem Ort anwesend ist. Diese Tatsache bedeutet nichts anders, alsdaß er sich an einem Ort befindet. An einem Ort gegenwärtig seinbedeutet also nur, hier zu sein; abwesend sein heißt, nicht hier sein.Die andere Beschaffenheit, die wir an einem Gegenstand feststellen,der sich an einem bestimmten Ort befindet, ist die, daß er hier einenRaum einnimmt, d. h. er ist hier in der Weise, daß gleichzeitig mit ihmkein anderer Gegenstand hier sein kann. Er füllt den Ort, an dem ersich befindet, so aus, daß ein anderer Gegenstand dort nicht Platzhaben kann.

Nach unserer schwerfälligen Denkweise scheinen uns diese zwei Be-schaffenheiten so eng miteinander verbunden, daß sie in keiner Weisevoneinander getrennt werden können. Wir sind der Meinung, wennein Gegenstand sich an einem Ort befindet, nehme er dort einen Raumein, folglich könne dort kein anderer Gegenstand gleichzeitig mit ihmsein. Die Sache verhält sich aber trotzdem nicht so, denn es ist eingroßer Unterschied zwischen dem Gegenwärtigsein und der räumli-chen Ausdehnung, so daß das eine sehr wohl ohne das andere möglichist. Ich will damit sagen: Ein Gegenstand kann ganz wirklich an einemOrt gegenwärtig sein, ohne dort einen Raum einzunehmen. So neh-men die Dinge um so weniger Raum ein, je vollkommener sie an ei-nem Ort gegenwärtig sind. Davon sollen euch folgende Beispiele über-zeugen.

Die Majestät Gottes ist so sehr überall gegenwärtig, daß der hl. Pau-lus gesagt hat: Keinem von uns ist er ferne; denn in ihm leben wir, bewe-gen wir uns und sind wir (Apg 17,27f). Das sagte er zu den Athenernvom unbekannten Gott (17,23). Ebenso sagte ich euch neulich dieWorte Davids (Ps 139,8): Steige ich zum Himmel hinauf, so bist du da;steige ich hinab in die Unterwelt, du bist da. Wenn er überall gegenwär-tig ist, so bedeutet das, daß er keinen Platz oder Raum einnimmt. Sonehmen auch die Engel in sich keinen Raum ein, so daß ganze Legio-nen von Teufeln sich in einem Leib befanden (Mt 5,9). DasGegenwärtigsein ist also möglich, ohne einen Platz einzunehmen. Dastrifft regelmäßig bei den Engeln zu; bei körperlichen Dingen gibt es inder Regel keine Anwesenheit eines Gegenstandes, ohne daß sie einenPlatz einnehmen.

Da liegt nun die offene Streitfrage zwischen uns und unseren Geg-nern. Wir sagen: Wie bei geistigen Dingen in der Regel dasGegenwärtigsein getrennt ist von der räumlichen Ausdehnung, ebensokann es durch die Allmacht Gottes auch bei körperlichen Dingen ge-schehen. Sie leugnen das, wir beweisen es. Unser erster Beweis bestehtdarin, was wir am Sonntag sagten, wie umgekehrt das, was wir am

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Sonntag bewiesen haben, durch das bestätigt wird, was wir nun sagen,denn es liegt in der Natur der Wahrheit, daß ihre Sätze sich gegenseitigstützen.

Am Sonntag haben wir gesagt, daß ein Körper an zwei Orten seinkann, und wir haben es hinreichend bewiesen. Also können auch zweiKörper an einem Ort sein; denn es ist nicht schwieriger, daß zweiKörper nur einen Platz haben, als zu sagen, daß ein und derselbe Kör-per an zwei Orten ist. Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, alsdaß ein Reicher in das Himmelreich eingeht. Als die Jünger das hörten,wunderten sie sich sehr und sagten: Wer kann da noch gerettet werden?Jesus blickte sie an und sagte: Bei den Menschen ist das unmöglich, beiGott ist alles möglich (Mt 19,24-26). Wie anders könnte es geschehen,daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß es keinen Raum ein-nimmt? Ein so großes Tier auf so kleinem Raum zu sehen, ist dasnicht ein schönes Beispiel für unsere Frage? Ich weiß sehr wohl, daßdarunter manche eine Hanfschnur verstehen, die man cable (Tau)nennt; aber alle Kirchenväter verstehen darunter dieses Tier. Seht, ersagt, daß das alles bei den Menschen unmöglich ist; aber weder dasnoch etwas anderes ist unmöglich bei Gott. Und wenn es nicht unmög-lich ist, einen so großen Körper auf einen so kleinen Raum zu verset-zen, warum sollte es unmöglich sein, daß er einen verklärten mensch-lichen Leib in der Hostie und in deren kleinsten Partikeln birgt?

Nach dem hl. Johannes (20,19-26) kam Unser Herr am Tag seinerAuferstehung bei verschlossener Tür zu den Jüngern, war bei ihnen undsagte: Der Friede sei mit euch. Ökolampadius sagt, er sei durch dasFenster eingestiegen; Calvin, er habe die Tür geöffnet und wieder ge-schlossen, oder er habe sie zerstört und sogleich wieder hergestellt.Petrus der Märtyrer sagte, er sei durch irgendeine Öffnung hereinge-kommen oder habe die Tür dünn gemacht oder bewirkt, daß sie nach-gab. Meine Brüder, ich betone, daß diese Erklärungen und Auslegun-gen nicht in der Heiligen Schrift stehen. Mein Gott, was dem mensch-lichen Geist widerstrebt, ist ihm wirklich verhaßt. Was erfindet ernicht alles, um sich zu rechtfertigen! Seht beim hl. Lukas (24,36f), wieseine Jünger sich wunderten über dieses plötzliche Erscheinen; da siedie Türen wohl verschlossen sahen, glaubten sie einen Geist zu sehen.Ebenso glauben unsere Gegner, wenn man ihnen sagt, daß Unser Herrkeinen Raum einnimmt, es sei nicht sein Leib. Nein, nein, es ist seinLeib; es ist nicht die Erscheinung eines Geistes, es ist sein wirklicherLeib, aber vergeistigt.

Wenn die Väter gedacht hätten, daß diese Ausflüchte stichhaltig sei-en, hätten sie sich ihrer bedient gegen die Marcioniten, die den Ab-

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schnitt beim hl. Johannes als Einwand gebrauchten, um zu beweisen,daß der Leib Unseres Herrn ein Scheingebilde sei, wie der hl. Cyrillusan der genannten Stelle bezeugt. Doch kein Angriff ließ sie je auch nureinen Schritt zurückweichen. Sie wollten in allem und unter allenUmständen am natürlichen und einfachen Sinn der Heiligen Schriftfesthalten.

Ach, mein Gott, mein Erlöser, mein Herr, erlaube mir denn, daß ichvon deinem ersten Eintreten in diese Welt spreche. Damals hast nichtdu, sondern haben die Engel an deiner Stelle gesungen: Ehre sei Gottin der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lk2,14), als sie dich den Menschen gleich sahen, ein kleines Kind, arm,nackt und weinend. Wie erschienst du, Herr, bei diesem Kommen hierunter den Menschen? Ohne Zweifel blieb die jungfräuliche PforteUnserer lieben Frau, deiner heiligen Mutter, fest verschlossen, als duhier erschienst, denn sie war während und nach der Geburt Jungfrau.Weder an ihrer hochheiligen Seele noch an ihrem Leib erlitt sie ir-gendeinen Schaden. Seht ihr, meine Brüder, Unser Herr ging mit sei-nem wirklichen Leib aus dem Schoß seiner Mutter hervor ohne diegeringste Minderung oder Verletzung ihrer Jungfräulichkeit; muß dasnicht geschehen sein, ohne daß er einen Raum einnahm? Ging er nichtaus diesem jungfräulichen Leib hervor unter Aufhebung der Ausdeh-nung?

Es könnte Gott nicht gefallen, wollte ich sagen, was unsere Gegneran dieser Stelle antworten; es widerspräche der Ehrfurcht. Sie wollenum jeden Preis wahrhaben, was sie einmal gesagt haben. Lieber gebensie die Jungfräulichkeit der Mutter Gottes preis, als ihren Fehler zu-zugeben. Gewiß, Jovinian wurde als Häretiker betrachtet unter ande-rem, weil er gesagt hatte, Unsere liebe Frau habe ihre Jungfräulichkeitverloren, als sie ihren Sohn gebar. Jesaja sagt und bestätigt (7,14), daßdie Mutter Gottes Jungfrau war, nicht nur, als sie empfing, sondernauch als sie gebar: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und gebären;und in unserem Glaubensbekenntnis heißt es: „Geboren von Mariader Jungfrau.“

Ging etwa Unser Herr nicht aus dem verschlossenen Grab hervor?Ohne Zweifel. Der hl. Matthäus (28,2) und der hl. Markus (16,4) sa-gen, daß der Engel den Stein wegwälzte, nachdem Unser Herr aufer-standen war. Also ging er durch den Stein hindurch, ohne den gering-sten Raum einzunehmen.

Wünscht ihr noch, meine Herren, daß ich mich des Zeugnisses deshl. Augustinus im 22. Buch des „Gottesstaates“ (c. 8, § 21) bediene?Dort berichtet er, daß Petronia von einem gewissen Juden einen Ring

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besaß, in dem sich ein Stein befand, der sie von einer bestimmtenKrankheit heilen sollte, an der sie litt. Der Ring war sehr gut an einemBand angebunden und befestigt, sehr stark und fest. Sie ging nun zumGrab des hl. Stephanus. Damit die Heilung nicht dem Ring des Judenzugeschrieben werde, fiel der Ring plötzlich der Frau zu Füßen, ohnedaß er zerbrochen, noch das Band gelöst oder zerrissen war. So, sagtder hl. Augustinus, muß man glauben, daß Unser Herr aus dem jung-fräulichen Schoß hervorging, ohne ihn im geringsten zu verletzen. Ihrseht also, daß ein Körper an einem Ort sein kann, ohne hier einenRaum einzunehmen.

Unsere Gegner wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie sehen, daßunsere Beweise gut in der Heiligen Schrift begründet sind, in der siegeforscht haben, ob es dort nichts gebe, was ihrer Leugnung dienlichsein könnte. Da sie sahen, daß es dort nichts gibt, stürzten sie sich aufdie Philosophie und wollten zeigen, daß das unmöglich sei. Wenn ichdie Begründung wiedergeben wollte, die Petrus der Märtyrer und Cal-vin vorbringen, so habe ich es doch nie getan, obwohl es mir ein Leich-tes wäre, ihnen mit Philosophie und mit der Scholastik zu antworten.Aber ich habe es nicht nötig, mich auf die Philosophie zu stützen,wenn ich das Wort Gottes für mich habe. Unser Herr antwortet aufalle diese Argumente hinreichend, wenn er beim hl. Matthäus (18,26)sagt: Bei Menschen ist das unmöglich; bei Gott ist alles möglich. Ihrversteht das nicht? O, deswegen muß man nicht aufhören, zu glauben.Wenn ihr aber die Heilige Schrift zugunsten der Philosophie aufgebenwollt, dann sagt mir bitte, wie ihr sehen könnt: ob es nämlich durchAusstrahlung oder durch Einstrahlung geschieht. Wenn es das ersteist, wie kann euer Auge so viele Dinge enthalten, obwohl es so kleinist? Wie kann es so viele Strahlen haben, als notwendig sind, um einganzes Gebirge zu bedecken, das es mit einem Blick sieht, und denRaum von fünfzig Meilen Entfernung einzunehmen. Der dünnste Fa-den der Welt ergäbe bei dieser gewaltigen Entfernung einen sehr gro-ßen Knäuel. Wenn es das zweite ist, wie kann euer Auge eine Darstel-lung so großer und so verschiedener Dinge aufnehmen, da es so kleinist? Sie werden mir sagen: So wie das körperliche Licht in einem Au-genblick Himmel, Licht und Wasser durchdringt; außerdem, daß eskeine Substanz habe, wenn dies heißt, daß es stofflich ist.

Wohlan, meine Brüder, das ist in der Tat die Wahrheit: Unser Herrist in der Eucharistie gegenwärtig, ohne darin einen Raum einzuneh-men. Hier sind die Teile zugleich wohlgestaltet, aber ohne irgendeineräumliche Ausdehnung, da sie keinen Raum einnehmen. Man wird

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mir sagen: Wie kann das geschehen, da er unsichtbar und nicht faßbarist? Das ist leicht; denn als man Unseren Herrn von der Höhe desBerges stürzen wollte, ging er mitten durch sie hinweg, ohne dabei ge-sehen oder bemerkt zu werden (Lk 4,29f). Als er nach seiner Auferste-hung die Jünger in Emmaus verließ, verschwand er vor ihnen und siesahen ihn nicht mehr, obwohl sie ihn vorher gesehen hatten und ihnendie Augen geöffnet worden waren (Lk 24,31).

Von all diesen Seiten gibt es also keine Schwierigkeit mehr. EinKörper kann an zwei Orten sein, wie aus der Geschichte der Bekeh-rung des hl. Paulus (Apg 9,3-7; 22,6-9) hervorgeht. Ein Körper kannan einem Ort sein, ohne einen Raum einzunehmen, wie aus dem Ein-treten Unseres Herrn durch verschlossene Türen und aus seiner Ge-burt hervorgeht. Ein Körper kann an einem Ort sein, ohne daß manihn sehen und erkennen kann, daß er da ist, wie aus den Beispielenhervorgeht, die ich angeführt habe.

(2.) Da gibt es aber doch noch eine Schwierigkeit. Unsere Gegnerwollen nicht von ihrem Wie ablassen. Sie fragen: Wie ist es möglich,daß etwas, das eben noch Brot war, nun Fleisch Unseres Herrn ist?Das ist möglich durch die vollkommene Verwandlung des Wesens inein Wesen, die man sehr richtig mit dem Wort Transsubstantiationbezeichnet. Jene, die Luther folgen, um die Kirche zu bekämpfen, ver-treten die Meinung, daß es in diesem Sakrament keine Verwandlungdes Brotes gebe, daß vielmehr weiterhin Brot da sei. Trotzdem erklä-ren sie, daß der wahre Leib Unseres Herrn zugegen sei. Die Calvinfolgen, leugnen die Verwandlung des Brotes und gleichzeitig die wirk-liche Gegenwart des Leibes. Nun, die Kirche bekennt sich zur Wirk-lichkeit und sagt, daß der Leib Unseres Herrn hier wahrhaft gegenwär-tig ist, ohne die geringste Substanz des Brotes, die in sein Fleisch ver-wandelt wurde ... Petrus der Märtyrer bestreitet im Buch gegenGardinerus fest und heftig diese Wesensverwandlung als etwas Un-mögliches.

Ich weiß allerdings nicht, worin sie diese Unmöglichkeit erblicken.Hat man nicht gesehen, daß auf der Hochzeit zu Kana in Galiläa dieSubstanz des Wassers verwandelt wurde in die Substanz des Weines(Joh 2,9: es ist zu Wein geworden), die Frau des Lot in eine Salzsäule(Gen 19,26)? Aber seht doch, wie selbst der Teufel anerkennt, daß dieWesensverwandlung möglich ist: Wenn du der Sohn Gottes bist, sag,daß diese Steine Brot werden (Mt 4,3). Doch welche Schwierigkeit: Erverwandelt Felsen in einen See und die Klippe in Wasserquellen (Ps14,8). Wurde der Stab Aarons nicht wirklich in eine Natter verwandelt(Ex 7,10f)? Die Schrift sagt nämlich, was die anderen taten, ist durch

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Zauberei geschehen, was aber Aaron tat, geschah wirklich. Hat nichtunser Erlöser das Nichts in das All verwandelt? Wird er nicht bei derAuferstehung unsere Verwesung in einen schönen Leib verwandeln (1Kor 15,42-44)? Hat er nicht den Staub in Fleisch verwandelt (Gen3,19. 23)? Es gibt also keinen Zweifel mehr, daß das möglich ist. Nunwill ich beweisen, daß es bei der Einsetzung des allerheiligsten Sakra-mentes geschehen ist.

Unser Herr nahm das Brot und sprach: Das ist mein Leib (Mt 26,26).Also ist es nicht mehr Brot, wenn es der Leib des Herrn ist; denn wäredas, was er in seinen ehrwürdigen Händen hielt, nicht verwandelt wor-den, könnte er nicht sagen, daß es etwas anderes sei, als es vorher war.Vorher war es Brot, jetzt ist es sein Leib; also ist es von Brot in seinenLeib verwandelt worden. Er kann nicht sagen, daß hier sein Leib istund außerdem das Brot. Denn wer einen Sack, halb mit Weizen undhalb mit Hafer gefüllt, verkauft und sagte: „Kauft das, es ist Weizen“,der hätte ohne Zweifel die Welt betrogen und würde für einen Lügnergehalten. Ebenso würde einer als Lügner betrachtet, der von einemFaß voll Wasser und Öl sagte: „Das ist Öl.“ Man kann also nicht sagen,daß da noch Brot sei, wenn Unser Herr sagt: Das ist mein Leib. Indemer sagt: Hoc est corpus meum, zeigt er klar, daß er das Brot verwandelthat.

Außerdem bei Johannes (6,52), wo Unser Herr sagte: Das Brot, dasich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt. Wäre das, waser ankündigte, nicht durch eine Verwandlung entstanden, dann wäredas falsch. Denn Brot, das Brot bleibt, kann nicht Fleisch sein. Er mußalso darunter ein verwandeltes Brot verstanden haben, eines, wie er eshier selbst beschrieb: Ich bin das lebendige Brot, der ich vom Himmelherabgekommen bin (6,51).

Sie möchten also, meine Herren, daß man in diesem Sakrament denMagen und den Geist gleichzeitig erquickt? Nein, das wäre nicht zuvereinbaren. Ich weiß, daß darin eine Schwierigkeit liegt, aber die gibtes andersherum noch mehr. Und was die Heilige Schrift betrifft, so istalles, was sie gegen uns einzuwenden wissen, daß erstens der AusdruckTranssubstantiation nicht in der Schrift steht; darauf antworte ich:auch nicht der Name Dreifaltigkeit, nicht homousios (wesensgleich)noch Theotokos (Gottesgebärerin). Es genügt, daß die Sache in derSchrift enthalten ist, auch wenn es der Name nicht ist.

Zweitens sagen sie, daß dieses Sakrament Brot genannt wird; ichantworte aber: das ist nicht deswegen, weil es Brot wäre, sondern weil

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es das äußere Aussehen des Brotes hat, oder vielleicht, weil es aus demBrot geschaffen wurde, oder weil es die Wirkung und Eigenschaftendes Brotes hat, oder weil nach dem Sprachgebrauch der Hebräer jedeArt von Speise Brot genannt wurde (wie man beim Manna sieht, das inEx 16,15.32 Brot genannt wurde, während Unser Herr nicht sagte:Mein Fleisch ist wahrhaft ein Brot, sondern: ist wahrhaft eine Speise,was dasselbe ist, als da er sagte: Ich bin das lebendige Brot: Joh 6,56.51).Die Schrift bezeichnet außerdem die Dinge gewöhnlich mit dem Na-men dessen, woraus sie gemacht sind, wie man in Ex 7,12 leicht sehenkann, wo der Stab Aarons, nachdem er in eine Schlange verwandeltwar, weiterhin als Stab bezeichnet wurde; in Gen 3,19 wird der ausdem Staub gewonnene und geschaffene Mensch weiterhin Staub ge-nannt.

Drittens sagen sie, die Lehre von der Wesensverwandlung sei neu;aber damit täuschen sie sich sehr, denn in Wahrheit bestand sie zuallen Zeiten in der Kirche. Es wäre ein Leichtes, alles zu sammeln,was die Alten darüber gesagt haben. Hört einiges davon. Der hl.Cyprian, der vor mehr als 1300 Jahren lebte, sagt in der Predigt vomHerrenmahl: „Dieses Brot, das der Herr den Jüngern reichte, war nichtim Aussehen sondern im Wesen verwandelt und durch die Allmachtdes Wortes Fleisch geworden.“ Der hl. Cyrillus von Jerusalem (Catech.4): „Einst verwandelte er Wasser in Wein, wird er nicht Glauben ver-dienen, wenn er den Wein in Blut verwandelt?“ Gregor von Nyssa (Or.Catech. Magna, c. 37): „Zu Recht glauben wir, daß das Brot, durch dasWort geheiligt, in den Leib des Wortes Gottes verwandelt wird.“ Derhl. Augustinus, den Beda zitiert: „Nicht jedes Brot wird der Leib Chri-sti, sondern nur jenes, das den Segen Christi empfängt.“ Schließlichwurde vor 500 Jahren auf einem allgemeinen Konzil unter Papst Ni-kolaus II., der aus diesem Land Savoyen und aus einem sehr edlenHause stammte, Berengar gezwungen, diesem Irrglauben abzuschwö-ren. Wollen wir das ganze Altertum preisgeben, das sich so gut auf dieHeilige Schrift stützt, um einer kleinen Schwierigkeit auszuweichenund den Schlußfolgerungen unseres eigenen Geistes zu schmeicheln?Ziehen wir also den Schluß, daß nach der Wandlung der wahre LeibUnseres Herrn gegenwärtig ist. Hier ist keine andere Substanz, wel-cher Art sie auch sein mag. Er ist gegenwärtig, sage ich, wirklich undganz wahrhaftig.

(3.) Daraus folgt der dritte Satz, den ich aufgestellt habe: Da diesesSakrament Unseren Herrn enthält, ist es anbetungswürdig, muß manes anbeten. Denn wahrhaftig, wenn Jesus Christus Gott ist, ich bitteeuch, wer wird ihn nicht anbeten, hier ebenso wie im Himmel, wenn

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beim hl. Matthäus (4,10) steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbe-ten und ihm allein dienen? Unser Herr will angebetet sein, wo immerer sein mag. So wurde er angebetet am Kreuz durch den Schächer (Lk23,42), bei seinem Einzug in Jerusalem von den Scharen, die Hosannariefen (Mt 21,9), in der Krippe von den Königen (Mt 2,11). In derEucharistie ist er verborgen, aber das darf kein Hindernis sein, daß erdarin angebetet wird; denn er wurde auch von den Königen angebetet,obwohl er in Windeln gewickelt verborgen war.

Nun will ich in einem Zug beweisen, daß Unser Herr wirklich sei-nem Leib nach in diesem hochheiligen Sakrament gegenwärtig ist,zugleich, daß er darin angebetet werden muß. Das eine kann nichtohne das andere sein; weder kann er angebetet werden, wenn er nichtgegenwärtig ist, noch kann er gegenwärtig sein, ohne von der Kircheangebetet zu werden, die sich glücklich schätzt, ihrem Bräutigam alleEhre zu erweisen. Daher bitte ich euch zu beachten, wie angemessendas ist, da diese Anbetung schon von David vorausgesehen wurde, denner richtet sich im Trost auf und singt (Ps 22,30): Alle Reichen der Erdehaben gegessen und angebetet. Augustinus (Epist. 140) sagt: „DieReichen der Erde haben den Leib der Niedrigkeit ihres Herrn geges-sen, sie wurden aber nicht wie die Armen bis zur Nachahmung gesät-tigt; sie beteten aber dennoch an.“ Ambrosius, Basilius, Theodor. DieStelle in Ps 99,5: Betet an den Schemel seiner Füße, denn er ist heilig,wird von Augustinus so ausgelegt. Was aber sagt der hl. Paulus (1 Kor11,29)? Wer unwürdig ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht,weil er den Leib des Herrn nicht unterscheidet.

Es gilt also, einen angemessenen Unterschied zu machen und denLeib des Herrn zu verehren. Damit es nicht so aussieht, als sei das eineNeuerung, damit man vielmehr erkenne, daß es die Anbetung der Eu-charistie in der Kirche schon immer gegeben hat, daß man folglichimmer fest geglaubt hat, daß in ihr der wahre Leib Unseres Herrngegenwärtig ist, hört kurz das Zeugnis einiger großer Kirchenväter.

Als ersten führe ich den hl. Chrysostomus an, der vor mehr als 1200Jahren lebte, wegen seiner Vortrefflichkeit gerühmt und „Goldmund“genannt wurde. In der Homilie 61 an das Volk von Antiochia sagt er:„Bedenke, ich bitte dich, es ist die königliche Tafel; Engel dienen, derKönig ist selbst zugegen, und du stehst teilnahmslos da? Bete also anund nimm teil am Mahl. Wenn du die Schleier zurückgezogen siehst,öffnet sich der Himmel über dir und die Engel steigen nieder.“ Im 6.Buch „Vom Priestertum“ berichtet er von der Vision eines Greises,

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die er bewundernswert nennt: Während der Messe sah er plötzlicheine Schar strahlender Engel, die den Altar umgaben und sich verneig-ten, wie Soldaten vor ihrem König. Beachtet diesen Vergleich, beach-tet das Wort Altar. Dann berichtet er von einem anderen, der durcheine Vision erkannte, daß jene, die an ihrem Lebensende das heiligeSakrament ehrfürchtig empfangen, von Engeln umgeben sind, die siezum Himmel geleiten. Es ist auch schön zu sehen, was er in der 3. und4. Homilie gegen die Amonäer sagt.

Der hl. Ambrosius spricht in seinem Vorbereitungsgebet dieses hei-lige Sakrament an und nennt es „heiliges Brot, belebend, rein undschön, überaus köstlich“, und erbittet von ihm die Gnade, in sein Reichzu kommen.

Der hl. Gregor von Nazianz berichtet in der Lobrede auf seineSchwester Gorgonia: Als seine Schwester an einer seltsamen Krank-heit litt, kam sie nachts an den Altar, warf sich nieder und betete zuIhm, der auf dem Altar angebetet wird. Sie nannte ihn bei all seinenNamen und zählte alles auf, was er getan hat; und nun hört, was sietat: „Sie lehnte unter Klagen und Tränen ihr Haupt gegen den Altarund beteuerte, sie werde nicht fortgehen, ohne die Gesundheit wie-dererlangt zu haben ...“ Und so wurde sie geheilt.

Origines, der noch früher lebte, sagt in einer Homilie (zu verschie-denen Evangelien), daß wir in diesem Sakrament den Leib UnseresHerrn in uns gleichsam in unserem Haus empfangen: Herr, ich binnicht würdig ... (Mt 8,8).

Cyprian in der Predigt „Von den Gefallenen“ (§ 26): „Eine Frau, dieihr Schatzkästchen, in das sie den heiligen Leib des Herrn gelegt hatte,mit unwürdigen Händen zu öffnen versuchte, schreckte davor zurück,als ihr daraus Feuer entgegenschlug.“

III.

Nr. 44: Chablais, Juli 1597 VII,342-347Ist das Brot, das wir brechen, nicht die Teilnahmeam Leib Christi? (1 Kor 10,16).

Auf diese Frage antworten die Gegner der katholischen Kirche mit„nein“ und berufen sich auf das Wort Jesu Christi: Caro non prodestquicquam; das Fleisch ist zu nichts nütze (Joh 6,64). Die Katholikenantworten mit „ja“; sie sagen: Accepimus a Domino, quoniam DominusJesus, in qua nocte tradebatur, accepit panem, et gratias agens, fregit et

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dixit: Accipite et manducate, hoc est corpus meum; Wir haben vomHerrn gelernt, daß der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, dasBrot nahm, Dank sagte, es brach und sprach: Nehmt und eßt, das istmein Leib (1 Kor 11,23f). Bei diesem Punkt wünsche ich euch auf-merksamer denn je, meine Zuhörer, damit ihr unsere Beweisführungversteht. Ich beschwöre euch, laßt jedes Vorurteil beiseite, damit ihrin einer so wichtigen Sache richtig urteilen könnt. Ich bin sicher: wennihr alles reiflich überlegt, werdet ihr zugunsten der Katholiken ent-scheiden, denn ihre Beweise übertreffen die der Gegner an Sicherheit,Heiligkeit, Gediegenheit und Güte.

Mehr denn je bitte ich demütig und inständig: der den Mund derKinder beredt macht (Ps 8,3; Weish 10,21), möge mir in seiner GüteEinsicht schenken, um seine Zeugnisse gut zu ergründen: Gib mir Ein-sicht, und ich will dein Gesetz erforschen und es von ganzem Herzenbewahren (Ps 119,34). Und für euch, meine teuersten Zuhörer, bitteich, daß er eure Herzen den Zeugnissen seines Wortes geneigt mache.Denn in dieser schwierigen Frage sehe ich die Gegner mit einer Füllevon Zweifeln und menschlichen Fragen aufwarten: Die Sünder lauer-ten mir auf, um mich zu verderben; ich habe dein Zeugnis erkannt (Ps119,95); aber die Erkenntnis deiner Gebote wird mich daraus befrei-en. Der eine will mich fangen durch die Meinung von den Gestalten,der andere mit der Ubiquität, ein anderer mit den Wirkungen. Herr,gib, daß ich mich nur von deinem Wort leiten lasse; es sei auf dieserSchiffahrt mein Leuchtturm: Dein Wort sei meinen Schritten eine Leuch-te und ein Licht auf meinen Wegen (Ps 119,105). Damit es so sei, rufenwir den Beistand des Heiligen Geistes an und sprechen: Ave Maria.

Aus Sorge, daß durch Vorurteile oder Irrtum euer Verstand irgend-wie gegen uns eingenommen werde, liebe Zuhörer, bitte ich euch zuglauben, daß wir in dieser strittigen Frage (wie in jeder anderen) unse-ren Gegnern nicht nachstehen wollen in der Hochschätzung der Hei-ligen Schrift, die wir geschworen haben. Man hat euch vielleicht weis-gemacht, der Unterschied zwischen uns und unseren Gegnern beruhenur darauf, daß sie nur das glauben wollen, was in der Heiligen Schriftsteht, daß wir dagegen unsere Lehre auf andere Weise zu begründensuchten. Ganz im Gegenteil! Wir beteuern, daß wir den Streit einzigdurch das reine und ausdrückliche Wort Gottes entscheiden wollen,wie wir es am Sonntag getan haben. Wenn man euch daher gesagt hat,die Kirche berufe sich nur auf die Autorität von Menschen, wenn maneuch gesagt hat, sie vernachlässige die Heilige Schrift, dann bitte icheuch, diesen Irrtum zu erkennen und zu glauben, daß die Heilige Schrift

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immer in unseren Händen war. Glaubt, daß dieser reiche Schatz nurvon der Kirche gehütet wurde und daß unsere Gegner ihn nur von unshaben. Wir wollen uns hier nur auf die Heilige Schrift stützen.

Wir sind also schon einig in dem Punkt, daß dieser Streit nur durchdie Heilige Schrift entschieden wird. Unsere Kontroverse und unsereAuseinandersetzung erstreckt sich auf die Auslegung. Denn wir füh-ren schöne und gediegene Stellen der Heiligen Schrift an, und sie brin-gen welche bei, die sie ebenfalls dafür halten. Alle stammen aus derHeiligen Schrift; doch wie? Sie wollen die unseren und die ihren ge-gen uns auslegen; wir befinden uns dagegen in der Defensive. Ohneunsere Belegstellen zu interpretieren, denn sie sind eindeutig, wollenwir nur ihre Auslegungen zurückweisen, damit sie uns nicht Unrechttun. Kommen wir also zur Sache, und ihr werdet klar die Wahrheitdessen erkennen, was ich sage.

Gegen Bernegar hielt die Kirche daran fest, daß im heiligen Sakra-ment der Eucharistie der Leib und das Blut Jesu Christi wirklich,wesenhaft und wahrhaftig gegenwärtig sind. Das hielt sie unangefoch-ten aufrecht bis zur Zeit des Jan Hus und Wiclef. Dann kamenÖkolampadius, Karlstadt, Zwingli und Calvin. Sie behaupteten, dieKirche irre und behaupte das ohne Fundament. Dagegen führt sie fol-gende Gründe an:

An erster Stelle das 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums, über dasich am Sonntag gesprochen habe. Zweitens führt die Kirche die Ein-setzungsworte an: Mt 26,26; Mk 14,22; Lk 22,19; 1 Kor 11,24. An alldiesen Stellen spricht Unser Herr von der Speise, die er gab, als er dasAbendmahl einsetzte. Die Schrift berichtet, daß er sagte, es ist seinLeib, uzw. in so ausdrücklichen Worten, daß sie nicht deutlicher seinkönnten. Daraus zieht die Kirche den klaren Schluß: Gott hat es ge-sagt, Gott kann nicht lügen, also ist es so. Der Gegner erwidert, Gotthabe das nicht gesagt; wir weisen seine eigenen Worte vor. Der Gegnersagt, man dürfe sie nicht so verstehen, wie wir denken; wir sagen: doch.Hier liegt unser Streitpunkt: Wer versteht die Heilige Schrift besser?Wenn ich klar zeigen kann, daß wir gute Gründe haben, dann folgtdaraus, daß die Gegner sie um so weniger haben, daß sie den bekämp-fen wollen, der im Besitz des rechten Glaubens ist.

Die Beweise der Katholiken

Erster Beweis: Unser Herr setzt hier ein Sakrament ein. Sakramentemüssen nun durch eindeutige Worte eingesetzt werden; also ... Der

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Untersatz wird durch die Vernunft bestätigt: der Empfang des Sakra-mentes muß leicht und für alle möglich sein; also muß jeder verstehen,was es enthält. Seht bei Mt 28,19 und bei Joh 3,3-5, wie klar UnserHerr sich ausdrückte, als er die Taufe einsetzte.

Zweiter Beweis: Es ist ein Vermächtnis. Mt 26,28: Das ist das Blutdes Neuen Bundes. Lk 22,20: Das ist der Kelch, der Neue Bund inmeinem Blut, das für euch vergossen wird. Nun müssen Testamente inklaren Ausdrücken abgefaßt sein. Hebr 9,19f: Als Mose allem Volk alleVorschriften des Gesetzes vorgelesen hatte, nahm er das Blut von Rin-dern und Böcken mit Wasser, roter Wolle und Ysop, besprengte das Buchund alles Volk und sagte: Das ist das Blut des Vermächtnisses, das Gotteuch übertragen hat. Gal 3,15f: Das rechtskräftige Testament einesMenschen mißachtet niemand und man fügt nichts hinzu. Abrahamund seinem Nachkommen wurden Verheißungen gegeben; es heißt nichtseinen Nachkommen (in der Mehrzahl). Meine Herren, warum wolltihr zum Vermächtnis Unseres Herrn eure Auslegungen hinzufügen?Wenn der hl. Paulus die ursprünglichen Ausdrücke so genau nehmenwill, daß er auf einen Singular und auf einen Plural achtet, warumwollen wir uns das Recht herausnehmen, die Gültigkeit der Worte desGottessohnes hier in seinem Testament zu leugnen?

Außerdem war es die Absicht Unseres Herrn, als er beim heiligenAbendmahl sein Testament machte, seiner Braut ein Unterpfand sei-ner Liebe zu ihr zu hinterlassen; einer so großen Liebe, daß er für siesterben wollte. Möchtet ihr wohl, liebe Zuhörer, daß ein Stück Brot,ein derart kleines Legat, das Unterpfand einer so großen Liebe wäre?Nein, er gibt sich selbst unter einer anderen, leidensunfähigen Gestalthin als angemessenes und sicheres Zeugnis des Übermaßes seiner Lie-be. Zudem besaß Unser Herr nichts als seinen Leib und sein Blut;denn der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen könnte(Mt 8,20; Lk 9,58). Da er also sein Testament machte und seinen Freun-den ein Vermächtnis hinterließ, konnte er nichts hinterlassen als sei-nen Leib und sein Blut. Hieltet ihr schließlich ein Stück Brot für einGeschenk, das eines so großen Herrn würdig wäre? Und möchtet ihr,daß wir Knechte seien, da wir als Erbe nur ein Gleichnis hätten wiedie mosaischen Juden?

Dritter Beweis: Es ist Gesetz und Dogma. Gesetze und Dogmenaber dürfen nie unklar ausgedrückt werden, wie der hl. Augustinus(Lib. 2 de Doct. Christ., c. 6 u. 9) sagt: Nichts, was sich auf Glaube undSitten bezieht, ist dunkel gesagt oder geschrieben, was nicht an ande-ren Stellen ganz deutlich ausgesprochen ist.

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Vierter Beweis: Hier gibt es keinerlei Hinweis auf ein Gleichnis wiean anderen Stellen, wo er bildlich spricht.

Fünfter Beweis: Alle Schriftsteller (der Tradition) stimmen darinüberein.

6. Alle früheren Auslegungen stimmen darin überein.7. Die wörtliche Bedeutung darf niemals außer acht gelassen wer-

den, sonst ist alles willkürlichen Auslegungen ausgeliefert.Das sind die allgemeinen Beweise, durch die deutlich wird, daß wir

auf sicherem Boden stehen, wenn wir die Worte der Heiligen Schriftin ihrem ausdrücklichen und eigentlichen Sinn erklären, nicht bild-lich und entstellt. Das wollen wir nun etwas eingehender mit Bezugauf die Argumente unserer Gegner zeigen.

Erste Auslegung von Andreas Karlstadt: „Hoc bedeutet hic“; er be-hauptet, das habe ihm der himmlische Vater geoffenbart. Darüber hatLuther ein Buch geschrieben mit dem Titel „Contra coelestesProphetas“ (Gegen die himmlischen Propheten). Seit ich hier in die-ser Gegend bin, habe ich eine in französischer Sprache gedruckte Bi-bel gesehen, wo es heißt: „C’est cy mon cors“ (Hier ist mein Leib).Dem widerspricht ganz offenbar das griechische Wort „tuto“ und derSinn; denn was hätte das für einen Sinn: „Eßt, hier ist mein Leib“?

Eine andere Auslegung stammt von Zwingli. Er beruft sich auf eineVision von jemand, ich weiß nicht, ob klar oder dunkel, der ihm sagte:„ist“ will sagen „versinnbildet“. Ökolampadius sagt: „Leib“ bedeutet„Zeichen des Leibes“; ebenso Calvin, abgesehen davon, daß er dieAneignung durch den Glauben hinzufügt. Luther dagegen will zeigen,daß er genau so viel Geist besitzt wie die anderen, um die Sakramentezu verhöhnen, und sagt in seinem Buch „Quod verba Domini firmiterstant“ (Das Wort Gottes steht fest): „Meum, quia omnia mea sunt“(mein, weil alles mir gehört).

Dadurch wird deutlich, daß es unter den vier Worten, aus denen dieEinsetzung dieses großen Geheimnisses besteht, keines gibt, das vonden hochmütigen Gegnern des Glaubens, die allzu sehr an ihrer Mei-nung und an ihrer eigenen Ansicht hängen, nicht mit großer Kühnheitangefochten würde.

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Zum 1. FZum 1. FZum 1. FZum 1. FZum 1. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 50 (Entwurf): 11. März 1601 VII,367-372

Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt, um vomTeufel versucht zu werden (Mt 4,1).

Das ist wohl die Beschreibung des größten und denkwürdigsten Zwei-kampfes, den es je gab: Die Parteien auf beiden Seiten sind sehr stark,entschlossen und mutig bis zum äußersten; die Waffen sind gefährlich,die Feindschaft unversöhnlich; das Ende kann nur der Sieg sein, dennes gibt keine Einigung, die diesen Kampf beenden könnte. Die Partei-en sind Gott und der Teufel, die Waffen sind das Wort Gottes, dieFeindschaft beruht auf einer Rebellion. Diese Beschreibung gibt unsdie Kirche heute, um uns Mut zu gleicher Ausführung zu machen,denn wir müssen unserem Feldherrn folgen, der heute kämpft, undunser Leben auf Erden ist nur ein ständiger Kampf (Ijob 7,1). Beson-ders in der Fastenzeit, in der wir uns um die Buße bemühen, müssenwir auf härtere und häufigere Angriffe gefaßt sein als zu jeder anderenZeit. Sie ist die Zeit unserer geistlichen Ernte; das läßt die feindlichenStreitkräfte zu Felde ziehen, um uns daran zu hindern. Man muß ernst-haft kämpfen: das Beispiel Unseres Herrn steht vor unseren Augen,der Feind ist nicht unüberwindlich; wenn wir unserem Meister zu fol-gen versuchen, wird der Sieg ohne Zweifel unser sein. Ich will denInhalt des Evangeliums behandeln. Möge der Heilige Geist, der Unse-rem Herrn bei diesem Kampf beistand, mir beistehen, um euch rechtzu belehren, und euch, um mir gut zuzuhören. Darum müssen wir ihndurch die Fürsprache Unserer lieben Frau bitten. Ave Maria.

Es gibt drei Arten von Gütern für den Menschen auf dieser Welt: dasNützliche, das Angenehme und das Ehrenhafte, und wir werden zuallem Unterfangen und zu allem Tun durch eines dieser drei Mittelangeregt: entweder durch den Nutzen oder durch das Vergnügen oderdurch die Ehrbarkeit. Es gibt aber nichts, was unserem Willen ganzangemessen wäre, als die Ehrbarkeit; denn wenn der Wille nach derEhrbarkeit strebt, soviel er will, wird er stets nur gut und lobenswertsein; wenn er sich aber über ein bestimmtes Maß und über eine Gren-ze hinaus der Nützlichkeit und dem Vergnügen hingibt, wird er da-durch schlecht. Wenn die Nützlichkeit zu groß ist, verwandelt sie sichin Habsucht. Der Wunsch nach Vergnügungen kann sich im Geist undim Leib finden; das leibliche heißt Wollust, das geistige Ruhm undHochmut. Das sind die drei großen Übel in dieser Welt; denn wie der

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hl. Johannes in seinem ersten Brief (2,16) sagt, ist alles in der Weltentweder Begierlichkeit des Fleisches oder Begehrlichkeit der Augenoder Hochmut des Lebens. Das heißt, wir müssen uns vor drei Dingenhüten: vor Wollust, Geiz und Hochmut; denn wir können das Maßüberschreiten, indem wir zu sehr nach äußeren Gütern und Bequem-lichkeiten für den Leib und zu viel Ehre für den Geist erstreben. Ent-sprechend diesen drei Arten des Lasters unternimmt Satan heute dreiheftige Angriffe gegen den großen Feldherrn; denn was das Vergnügendes Leibes betrifft, sagt er ihm: Wenn du der Sohn Gottes bist ...; wasden Hochmut betrifft: Stürze dich hinab ...; was die Habsucht betrifft:Das alles will ich dir geben (Mt 4,3.6.9).

Aber gut angegriffen, gut abgewehrt. Doch betrachten wir, dem Be-richt des Evangeliums folgend, ein wenig die Zeit und die Umstände.Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel ver-sucht zu werden.

Dann

wurde Jesus vom Geistgeführt

in die Wüste

um versucht zu werden.

Nach der Taufe, um zu zeigen, daß die Chris-ten zum Kampf berufen sind.Bevor er zu predigen begann, um zu zeigen,daß das Leben des Predigers Versuchungenunterworfen ist.Er stieg auf den Berg, um zu zeigen, daß dieVersuchungen dem Menschen überallhinfolgen.Er wird vom Heiligen Geist geführt genannt,damit wir tiefer von dieser Versuchung den-ken. Damit der böse Geist, der in der Schlan-ge siegte, vom Heiligen Geist im Herrn be-siegt werde.Der rechte Ort für den Kampf.Damit jener, der im Garten siegte, in derEinöde besiegt werde.Damit er mit den Augen, den Ohren undmit allen Sinnen des Leibes faste.Damit er mit der Kasteiung des Leibes alsVorbild für uns den Entzug der vergängli-chen Dinge und die Flucht vor eitlem Ruhmverbinde.Damit wir wissen, daß niemand vor demKampf gefeit ist.Damit wir zuversichtlich auf den Sieg hof-

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fen. Damit er uns lehre, wie wir siegen, undwir belehrt werden, daß wir durch seinenBeistand geschützt sind.

Er fastete vierzig Tage und vierzig Nächte. Ich frage: warum das? 1.Um das Fasten durch sein Beispiel zu heiligen. 2. Um das Fasten alsgeistliche Waffenrüstung zu zeigen. 3. Um zu zeigen, daß das Fastendas geeignete Mittel ist, geistliche Dinge zu empfangen. 4. Um durchMäßigkeit zu heilen, was Adam durch Gier zerstört hat.

1. Folgen wir also seinem Beispiel. 1 Kor 4,16: Ahmt mich nach, wieich Christus. – 2. Ergreifen wir die Waffen des Fastens; die Stadt desTeufels muß durch Hunger eingenommen werden. Diese Art von Dä-monen wird nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben (Mt 17,20; Mk9,28). – 3. Nützen wir (die Zeit) zum Gebet. Dan 10,12: Von dem Tagan, da du ein Herz faßtest, dich im Angesicht Gottes zu kasteien, sinddeine Worte erhört worden. Vorher (10,2f) hatte er gesagt: Drei Wo-chen habe ich getrauert, das köstliche Brot nicht gegessen, Fleisch undWein kam nicht in meinen Mund. – 4. Als Heilmittel gegen die Sünden.Jona (3,7-10): Sie fasteten vor dem Herrn, und Gott sah ihre Werke.

Da hungerte ihn.

Und der Versucher sag-te zu ihm:

Wenn du der Sohn Got-tes bist, sag, daß dieSteine

Einerseits zeigte er die göttliche Macht, wieehedem nicht; andererseits die menschlicheNatur, da ihn dann hungerte.Der Versucher, der den ersten Adam besieg-te, um über den zweiten zu siegen.Der Versucher zum Bösen, damit aus demguten Werk ein böses werde.Der Ankläger der Brüder, um auch den Va-ter anzuklagen.Um zu wissen, ob er es ist; wenn nicht, umihn zum Hochmut zu verleiten.Gott wirkt durch das Wort. Er konnte das,der bewirkte, daß sich der Stab des Mose ineine Schlange verwandelte (Ex 4,3).Zur Begierde: „Es fehlt ihm das Ergötzender Bäume, es fehlt ihm Eva als Trösterin,es fehlt ihm die köstliche Lockung der Äp-fel. Da er keine Speise fand, um sie demHungrigen anzubieten, verlangt er, die Stei-ne in Brot zu verwandeln“ (Ambr., Sermo35).

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Er antwortete ihm und sagte: Es steht geschrieben, nicht vom Brotallein ... Ex 8,3 über das Manna. Die Heilige Schrift hilft gegen Versu-chungen. Die Vorsehung Gottes.

Dann führte er ihn in die Heilige Stadt, stellte ihn auf die Zinne desTempels und sagte: Stürze dich hinab; es steht geschrieben ... Wie läßtChristus sich vom bösen Geist führen? Was Wunder, wenn wir auf soverschiedene und sonderbare Weise vom Teufel geplagt werden?

Zum FZum FZum FZum FZum Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 51 (Entwurf): 6. April 1601 VII,373-376Herr, den du liebst, der ist krank (Joh 11.3).

Dieses Gebet ist kurz, aber schön und gut geformt. Der Anlaß wardie Krankheit des Lazarus: Da war einer krank, nämlich Lazarus. Diedas Gebet sprachen, waren zwei heilige Frauen: Seine Schwesternschickten zu ihm und ließen ihm sagen.

Das Motiv oder die Begründung, die sie anführen, ist die Liebe: Dendu liebst. Die Wirkung war vor allem die größere Ehre Gottes: DieseKrankheit führt nicht zum Tod, sondern zur Verherrlichung Gottes.

Die Verherrlichung Gottes folgt aus der Auferstehung des Lazarus.Sie ist um so bewunderswerter, 1. weil sie in Gegenwart vieler ge-schah: Denn viele Juden waren gekommen; 2. weil sie verzögert wur-de: Er blieb dennoch zwei Tage an jenem Ort; 3. weil sie sehr feierlicherfolgte: Jesus erhob seine Augen zum Himmel und sagte ...

Die zweite Wirkung dieses Gebetes ist, daß die Frauen eine größereGnade erlangten, als sie erbeten hatten. Sie hatten nur um die Gene-sung ihres Bruders Lazarus gebeten; Unser Herr erweckte ihn vomTod.

Der Grund also, weshalb die zwei Schwestern zu Unserem Herrnschickten, ist die Krankheit und das Siechtum des Lazarus. Da wareiner krank, Lazarus von Betanien, dem Ort der Maria und Marta. Soschickten sie jemand; also baten sie. Ihr Bruder war krank, folglichschickten sie jemand. Sie waren betrübt, deshalb suchten sie Zufluchtbeim Herrn.

O heilige Trübsal, gebenedeite Drangsal, die uns beim himmlischenTröster Zuflucht suchen läßt! Gewiß, unter all den nicht geringen Vor-teilen der Drangsal halte ich diesen für einen der hervorragendsten,daß sie uns zu Unserem Herrn zurückfinden läßt. Solange wir im Glückleben, vergessen wir ihn sehr oft; aber im Unglück finden wir zu ihm

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als unserer einzigen Zuflucht zurück. Wie der Saft der Rebe fault undverdirbt, wenn man ihn zu lange in der Traube läßt, so auch die Seeledes Menschen, wenn man sie in ihren Freuden und Vergnügungen be-läßt, in ihren Wünschen und Sehnsüchten. Wenn man sie aber be-drängt, dann entströmt ihr der süße Saft der Buße und der Liebe.

So bestätigt der königliche Prophet, daß sich die Hebräer dem Herrnzuwandten, wenn er ihnen Bedrängnisse schickte: Wenn er sie würgte,suchten sie ihn und kamen in der Morgenfrühe zu ihm (Ps 78,34). DasVolk lagerte sich, um zu essen und zu trinken, und erhob sich zum Spiel(Ex 32,6); sie fürchteten sich sehr und schrien zum Herrn (Ex 14,10);und von ihm selbst: Weil deine Hand schwer auf mir lastete, habe ichmich in meiner Not bekehrt, als der Dorn mich stach (Ps 32,4). Trübsalund Leid habe ich gefunden und habe den Namen des Herrn angerufen(Ps 116,3 f). Bedecke ihr Gesicht mit Schmach, Herr, und sie werdendeinen Namen anrufen (Ps 83,17), heißt es von den gottlosen Feindender Kirche. So wandte sich Kaiser Valens an den hl. Basilius, den erverfolgt hatte, als sein Sohn krank war; und der Präfekt Modestus, derdenselben Heiligen mit dem Tod bedroht hatte, kam in seiner Krank-heit ebenfalls zu ihm (Gregor v. Nazianz, in Monodia de Sto Basilio,Oratio 63, § 54).

Als Jona frei war, floh er vor dem Angesicht des Herrn; im Bauchdes Fisches nahm er seine Zuflucht bei ihm (Jona 1,3; 2,1f). Beispielvom Fleisch, das im Salzwasser nicht verdirbt, wohl aber im süßen.Was von David gesagt werden kann, sagt der hl. Augustinus (Enarr. inPs 1. § 4): Während er verfolgt wurde, verfaßte er seine Psalmen, imFrieden sündigte er. Ebenso die Arche Noachs (Gen 7,17): Die Wasserstiegen und hoben die Arche in die Höhe. Hiskija bekehrte sich in derKrankheit zu Gott (Jes 38,1f).

Herr, den du liebst, der ist krank. Ein schönes Beispiel dafür, wie mansich an Gott wendet; aber man muß es mit Vertrauen tun wie diesefrommen Frauen. Unser Herr ist fern; sie lassen ihm nur sagen: Eccequem amas, infirmatur; Den du liebst, der ist krank.

Bedingungen für das Gebet

Meine Seele läßt sich nicht trösten (Ps 77,3). Ich setze meine Hoff-nung nicht auf meinen Bogen; mein Schwert wird mich nicht retten;aber in deinem Namen werden wir unsere Verfolger verachten. Sie kom-men auf Wagen und Rossen, wir aber rufen den Namen Gottes, unseresHerrn an (Ps 20,8).

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Vertrauen auf Gott

Weil er seine Hoffnung auf mich gesetzt hat, werde ich ihn befreien(Ps 91,14). Als David von Saul verfolgt wurde (1 Sam 19), sagte er: Ichvertraue auf den Herrn (Ps 11,1). Es ist besser, auf den Herrn zu vertrau-en, als sich auf einen Menschen zu verlassen (Ps 118,8). Erbarme dichmeiner nach deiner großen Barmherzigkeit (Ps 51,1). Preist den Herrn,denn er ist gut (Ps 118,1). Deshalb lehrt er uns beten: Vater unser (Mt6, 9); und den verlorenen Sohn: Vater, ich habe gesündigt (Lk 15,18);und die Frauen: Den du liebst, der ist krank. Wie wird der nicht allesgewähren, der seinen Sohn hingegeben hat (Röm 8,32)?

Bekenntnis unseres Elends

Den du liebst, der ist krank. Ps 8,5: Was ist der Mensch, daß du seinergedenkst? Ps 136,23: In unserer Erniedrigung hat er unser gedacht. Daslehrt uns der Herr, der sich im Ölgarten auf sein Angesicht niederwarf(Mt 26,39). Jakob: Herr, ich bin all dein Erbarmen nicht wert (Gen32,10).

Zum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 61: Paris, 15. August 1602 VII,439-462

Quae est ista quae ascendit de deserto, deliciensaffluens, innixa super Dilectum suum?Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, ge-stützt auf ihren Vielgeliebten? (Hld 8,5).

Die Bundeslade war lange Zeit unter Zelt- und Segeltuch gestanden,als schließlich der große König Salomo sie in dem prächtigen, reichgeschmückten Tempel aufstellte, den er für sie gebaut hatte (1 Kön 8).Da war der Jubel in Jerusalem so groß, daß das Blut der Opfertiere inden Straßen floß. Die Luft war erfüllt vom Rauch der vielen Brand-und Rauchopfer, die Häuser und Plätze hallten wider von den Hym-nen und Psalmen, die überall mit wohlklingenden Instrumenten undGesang erklangen.

Mein Gott, wenn schon der Empfang der Arche des Alten Bundes sofeierlich war, wie müssen wir uns den Einzug der Arche des NeuenBundes vorstellen, ich meine den Empfang der glorreichsten Jungfrau

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und Mutter des Gottessohnes am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel!O unfaßbare Freude! O wundervolles Fest, das die frommen Seelen,die wahren Kinder Zions, vor Bewunderung ausrufen läßt: Wer ist jene,die da heraufkommt? Wer ist sie, die aus der Wüste heraufsteigt? Wahr-haftig, Wunderbares ist geschehen: die Mutter des Lebens ist gestor-ben, die Tote wurde auferweckt und steigt empor zum Ort des Lebens.Und das ist trostvoll: sie ist aufgefahren zur Verherrlichung ihres Soh-nes und um in uns eine große Verehrung zu wecken. Das ist in etwa derGegenstand, meine Zuhörer, den ich vor euch zu behandeln habe. Daskann ich aber nicht gut tun, ohne den Beistand des Heiligen Geistes zuerlangen. Ave Maria.

1. Die seligste Jungfrau blieb nach der Himmelfahrt ihres Sohnes indieser Welt

Gott schuf am Anfang zwei Leuchten am Himmel: die eine wurdewegen ihres strahlenden Glanzes die große Leuchte genannt, die zwei-te die kleinere. Die große sollte den Tag erhellen und beherrschen, diekleinere die Nacht (Gen 1,16). Unser Schöpfer wollte, daß Tag undNacht einander abwechseln und daß die Dunkelheit auf das Licht fol-ge. Da er aber selbst das Licht ist (1 Joh 1,15), wollte er nicht, daß dieDunkelheit der Nacht völlig des Lichtes beraubt sei; nachdem er alsodie große Leuchte für den Tag geschaffen, schuf er deshalb die kleinerefür die Nacht, damit auch die Dunkelheit der Finsternis noch von ih-rem Schein durchdrungen und gemildert werde.

Als der gleiche Gott die geistliche Welt seiner Kirche zu erschaffenbeschloß, da gab er ihr in seiner heiligen Vorsehung gleichsam amgöttlichen Firmament zwei große Leuchten, von denen aber eine grö-ßer, die andere kleiner war. Die größere ist sein Sohn Jesus Christus,unser Erlöser und Herr, ein Abgrund des Lichtes, Quelle des Glanzes(Hebr 1,3), die wahre Sonne der Gerechtigkeit (Mt 4,2); die kleinereLeuchte ist die allerseligste Mutter dieses erhabenen Sohnes, die über-aus glorreiche Mutter, ganz strahlend und wahrhaftig schöner als derMond (Hld 6,9).

Als nun das große Licht auf diese Erde niederstieg, der Sohn Gottes,der unsere Menschennatur annahm, wie die wahre Sonne über unsererHemisphäre aufgeht, da ward es heller Tag. Glückseliger, so ersehnterTag, der etwa dreißig Jahre dauerte, in denen er das Land der Kircheerleuchtete durch seine Wunder und sein Beispiel, durch die Verkün-digung seines heiligen Wortes. Als aber schließlich die Stunde gekom-men war, daß diese kostbare Sonne untergehen und ihre Strahlen auf

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die andere Hemisphäre der Kirche senden sollte, d. h. auf den Him-mel und die Scharen der Engel, was konnte man da anderes erwartenals die Finsternis einer dunklen Nacht?

Die Nacht brach auch sogleich an und folgte auf den Tag; denn waswaren die großen Trübsale und Verfolgungen, die über die Apostelkamen, anderes als eine Nacht? Aber diese Nacht hatte noch ihreLeuchte, damit ihre Finsternis erträglicher sei; denn die seligste Jung-frau blieb auf Erden bei den Jüngern und Gläubigen. Daran könnenwir in keiner Weise zweifeln, denn der hl. Lukas bezeugt in der Apo-stelgeschichte (2,1-4; 1,14), daß Unsere liebe Frau am Pfingstfest mitden Jüngern beisammen war und mit ihnen im Gebet verharrte. Darü-ber befanden sich manche im Irrtum und glaubten, sie sei mit ihremSohn gestorben, weil Simeon ihr vorhergesagt hatte, daß das Schwertihre Seele durchbohren werde (Lk 2,35). Ich werde die Stelle gleicherklären und werde nach ihrem richtigen Sinn zeigen, daß Unsere lie-be Frau nicht mit ihrem Sohn gestorben ist.

Seht also die Gründe, warum ihr Sohn sie nach seiner Himmelfahrtauf dieser Erde bleiben ließ: 1. Diese Leuchte war notwendig zumTrost der Gläubigen in der Nacht der Bedrängnisse. 2. Ihr Verbleibenhier unten gab ihr Gelegenheit, eine Fülle von guten Werken zu tun, sodaß man von ihr sagen konnte: Viele Töchter haben Reichtümer ge-sammelt, du aber hast sie alle übertroffen (Spr 31,29). 3. Gleich nachdem Tod und der Himmelfahrt Unseres Herrn sagten manche Irrlehrer,er hätte keinen natürlichen menschlichen Leib gehabt, sondern einenScheinleib. Daß seine jungfräuliche Mutter nach ihm auf Erden blieb,war ein sicheres Zeugnis für die Wirklichkeit seiner Menschennatur.So begann sich schon da zu bewahrheiten, was wir von ihr sagen:„Cunctas haereses interemisti“ (Brev.); o Jungfrau, du hast alle Irrleh-ren zuschanden gemacht und zerstört. Sie lebte also nach dem Todihres Lebens, d. h. ihres Sohnes, und nach seiner Himmelfahrt; und sielebte lange genug, wenn auch die Zahl der Jahre nicht ganz sicher ist;es müssen aber mindestens 15 Jahre gewesen sein, so daß sie das Altervon 63 Jahren erreichte. Ich sage „mindestens“, weil andere mit gutenGründen sagen, daß sie 72 Jahre erreichte; aber das ist nicht wichtig.Für uns genügt es zu wissen, daß diese heilige Arche des Neuen Bun-des nach der Himmelfahrt ihres Sohnes unter Zelten in der Wüstedieser Welt blieb.

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2. Sie starb dennoch nach einiger Zeit

So gewiß das ist, ebenso sicher ist es, daß die heilige Jungfrau schließ-lich gestorben ist. Nicht daß die Heilige Schrift es bezeugte; denn ichfinde in der Heiligen Schrift keine Stelle, wo gesagt würde, daß dieseligste Jungfrau gestorben ist. Einzig die kirchliche Überlieferungversichert uns das und die heilige Kirche, die es in der heutigen Fest-messe bestätigt.

Richtig ist, daß uns die Heilige Schrift in allgemeinen Ausdrückenbelehrt, daß alle Menschen sterben, und es gibt keinen, der vom Ge-setz des Todes ausgenommen wäre. Sie sagt aber nicht, daß alle Men-schen gestorben sind, noch daß alle, die gelebt haben, schon gestorbensind. Sie nimmt im Gegenteil einzelne davon aus, so Elija, der ohne zusterben auf dem feurigen Wagen entführt wurde (2 Kön 2,11), undHenoch, der vom Herrn hinweggerafft wurde, ehe er den Tod verkoste-te (Gen 5,24; Hebr 11,5). Ich halte das auch vom heiligen Evangeli-sten nach dem Wort Gottes (Joh 21,22) für wahrscheinlich, wie icheuch kürzlich an seinem Fest im Mai erklärt habe. Diese drei Heiligensind nicht gestorben, sie sind dennoch vom Gesetz des Todes nichtausgenommen; denn obwohl sie nicht gestorben sind, werden sie amEnde der Zeit unter der Verfolgung des Antichrist sterben, wie in derGeheimen Offenbarung (11,7) deutlich wird.

Warum sollte man das gleiche nicht auch von der Mutter Gottesannehmen, nämlich daß sie nicht gestorben sei, daß sie aber hernachsterben werde? Gewiß, wenn jemand diese Meinung vertreten wollte,könnte man ihn nicht durch die Heilige Schrift widerlegen, und nacheuren Grundsätzen, ihr Gegner der katholischen Kirche, stünde er aufsicherem Boden. In Wirklichkeit ist sie aber ebenso wie ihr Sohn undErlöser gestorben und verschieden. Wenn man das auch nicht aus derHeiligen Schrift beweisen kann, so bestätigen es doch die Überliefe-rung und die Kirche als unfehlbare Zeugen.

Da wir also sicher sind, daß sie gestorben ist, bitte ich euch zu erwä-gen, welchen Todes sie starb. Welche Todesart war so verwegen, daßsie es wagte, die Mutter des Lebens anzufallen, sie, deren Sohn denTod überwunden hat und seine Macht, die in der Sünde besteht (1 Kor15,55f)? Merkt gut auf, meine teuersten Zuhörer, denn diese Frage istbeachtenswert. Die Frage werde ich rasch beantwortet haben, aber eswird nicht leicht sein, die Antwort gut zu begründen und zu erklären.

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3. Sie starb des gleichen Todes wie ihr Sohn

Meine Antwort ist kurz die: Unsere liebe Frau, die Mutter Gottes,ist des gleichen Todes wie ihr Sohn gestorben. Der tiefste Grund dafürliegt darin, daß sie nur das gleiche Leben mit ihm besaß; sie konntealso nur des gleichen Todes sterben. Sie lebte nur vom Leben ihresSohnes; wie hätte sie also eines anderen Todes sterben können als desseinen? Unser Herr und Unsere liebe Frau waren wirklich zwei Perso-nen, aber ein Herz und eine Seele, ein Geist und ein Leben. Das Bandder Liebe einte und verband die Christen der Urkirche so eng, daß derhl. Lukas (Apg 4,32) versichert, daß sie nur ein Herz und eine Seelewaren; wieviel mehr Grund haben wir, zu sagen und zu glauben, daßder Sohn und seine Mutter, Unser Herr und Unsere liebe Frau, nureine Seele und ein Leben waren!

Hört, was der große heilige Apostel Paulus sagt. Er fühlte eine sostarke Vereinigung und Verbindung der Liebe zwischen seinem Mei-ster und sich, daß er bekannte, er habe kein anderes Leben als das desErlösers: Vivo ego ... Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Jesus Chris-tus lebt in mir (Gal 2,20). Meine Zuhörer, groß war die Einheit, dieVerschmelzung und Vereinigung der Herzen, die den hl. Paulus sol-che Worte gebrauchen ließ; sie ist aber nicht zu vergleichen mit jener,die zwischen dem Herzen des Sohnes Jesus und dem seiner MutterMaria bestand. Denn die Liebe, die Unsere liebe Frau zu ihrem Sohnhegte, übertrifft um soviel jene, die der hl. Paulus für seinen Meisterempfand, als die Namen Mutter und Sohn an Wesen der Zuneigung dieNamen Herr und Diener übertreffen. Wenn deshalb der hl. Paulus nurvom Leben Unseres Herrn lebte, so lebte auch Unsere liebe Frau nuraus demselben Leben, aber noch wesentlicher.

Lebte sie aus seinem Leben, so ist sie auch an seinem Tod gestorben.Gewiß, der greise Simeon hat lange Zeit vorher Unserer lieben Fraudiese Todesart vorhergesagt, als er ihr Kind auf seinen Armen trug undzu ihr sagte: Tuam ipsius animam pertransibit gladius; deine Seele wirdvom Schwert durchbohrt; das Schwert wird deine Seele durchdringen (Lk2,35). Erwägen wir diese Worte. Er sagt nicht: „Das Schwert wird dei-nen Leib durchbohren“, sondern er sagt: „deine Seele“. Welche Seele?„Deine eigene Seele“, sagt der Prophet. Die Seele Unserer lieben Fraumußte also durchbohrt werden; aber durch welche Klinge, welchesMesser? Das sagt der Prophet nicht. Da es sich aber um die Seele han-delt, nicht um den Leib, kann es sich nicht um ein gegenständliches undstoffliches Schwert handeln, sondern nur um ein geistiges Schwert, dasdie Seele und den Geist zu erreichen vermochte (Hebr 4,12).

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Nun finde ich drei Schwerter, die einen Stoß gegen die Seele führenkönnen: 1. das Schwert des Gotteswortes, das durchdringender ist alsein zweischneidiges Schwert, wie der Apostel (Hebr 4,12) sagt; 2. dasSchwert des Schmerzes, das die Kirche in den Worten Simeons ausge-sprochen findet, wenn sie sagt: „Deine Seele durchdrang das Schwertdes Schmerzes“ (Festmese Sieben Schmerzen). „Durch die Seele vol-ler Trauer, seufzend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Schmer-zes ging.“ 3. Das Schwert der Liebe; von ihm spricht Unser Herr: Nonveni mittere pacem, sed gladium; ich bin nicht gekommen, den Friedenzu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). Das bedeutet dasselbe,wie wenn er sagt: Ignem veni mittere; ich bin gekommen, Feuer zubringen (Lk 12,49). Und im Hohelied der Liebe erachtet der Bräuti-gam die Liebe als ein Schwert, durch das er verwundet wurde, wenn ersagt: Du hast mein Herz verwundet, meine Schwester, meine Braut (Hld4,9). Von diesen drei Schwertern wurde die Seele Unserer lieben Fraubeim Tod ihres Sohnes durchbohrt, vor allem vom dritten, das diebeiden anderen enthält.

Wenn man einem Gegenstand einen starken und kräftigen Stoß gibt,empfängt diesen alles, was mit ihm in Berührung steht, und erhält denGegenstoß. Der Leib Unserer lieben Frau war mit dem ihres Sohnes inder Passion nicht in Verbindung; ihre Seele aber war unlösbar verbun-den mit der Seele, dem Herzen, dem Leib ihres Sohnes. So bewirktendie Schläge, die der gebenedeite Leib des Erlösers am Kreuz empfing,zwar keineswegs eine Verletzung des Leibes Unserer lieben Frau, abersie hatten heftige Wirkungen in ihrer Seele zur Folge, durch die sichbewahrheitete, was Simeon vorausgesagt hatte. Die Liebe läßt uns ge-wöhnlich die Wirkung der Bedrängnisse derer empfinden, die wir lie-ben: Quis infirmatur, et ego non infirmor? Wer ist krank, ohne daß ich esbin? Wer empfängt einen Stoß, ohne daß ich dessen Wirkung empfän-de, sagt der heilige Apostel (2 Kor 11,29). Dabei war die Seele des hl.Paulus mit den übrigen Gläubigen nicht so eng verbunden, wie dieSeele Unserer lieben Frau mit Unserem Herrn verbunden war; siestand mit ihm in inniger Verbindung, so eng wie sonst nichts; in Ver-bindung mit seiner Seele und mit seinem Leib, dessen Ursprung undWurzel sie als Mutter war. Es ist also nicht verwunderlich, wenn ichsage, daß die Schmerzen des Sohnes die Schmerzen waren, die dieSeele der Mutter durchbohrten.

Sagen wir es etwas deutlicher: ein scharf auf einen Menschen abge-schossener Pfeil, der seinen Leib durchbohrt hat, wird auch den tref-fen, der mit ihm in Berührung und Verbindung steht. Die Seele Unse-rer lieben Frau war in vollkommener Vereinigung mit der Person ih-

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res Sohnes verbunden, sie haftete an ihr: Anima Jonathae conglutinataest ad animam David, sagt die Heilige Schrift (1 Sam 18,1); die SeeleJonatans war mit der Seele Davids verbunden oder klebte an ihr, so engwar ihre Freundschaft. Die Dornen, die Nägel und die Lanze, die dasHaupt, die Hände und Füße, die Seite Unseres Herrn durchbohrten,trafen demnach auch die Seele der Mutter und durchbohrten sie. Folg-lich kann ich sehr wohl in Wahrheit sagen, heilige Jungfrau, daß deineSeele durchbohrt wurde von der Liebe, vom Schmerz und von denWorten deines Sohnes. Denn was seine Liebe betrifft, wie hat sie dichverwundet, als du den Sohn sterben sahst, der dich so sehr liebte undden du so verehrtest! Was seinen Schmerz betrifft, wie lebhaft hat erdich berührt, alle Lust und Freude, allen Trost tödlich getroffen! Undwas seine gleichzeitig so liebevollen und so bitteren Worte betrifft,waren sie ebenso wie die Winde und die Stürme, um deine Liebe unddeinen Schmerz zu entfachen und das Schiff deines Herzens voranzu-treiben, das im Sturm eines so bitteren Meeres fast zerschellt ist. DieLiebe war der Bogenschütze, denn ohne sie hätte der Schmerz nichtgenügend Schwung gehabt, um deine Seele zu treffen; der Schmerzwar der Bogen, der die inneren und äußeren Worte wie ebensovielePfeile abschoß, die kein anderes Ziel hatten als dein Herz.

Ach, wie konnten so liebevolle Pfeile derart schmerzhaft sein? Soverursachen die in Honig getauchten Stachel der Bienen jenen großenSchmerz, die von ihnen gestochen werden, und es scheint, daß dieSüße des Honigs den Schmerz des Stichs vergrößert. Es ist wahr, mei-ne Zuhörer, je liebevoller die Worte Unseres Herrn waren, destoschmerzlicher waren sie für seine jungfräuliche Mutter, und sie wärenes für uns, wenn wir ihren Sohn liebten. Gibt es ein liebevolleres Wortals jenes, das er zu seiner Mutter und zum hl. Johannes sagte (Joh19,26f)? Worte, die ein sicheres Zeugnis für das Fortbestehen seinerLiebe und Sorge geben, für seine Anhänglichkeit zur seligsten Jung-frau. Und doch waren diese Worte ohne Zweifel für sie äußerstschmerzlich. Nichts läßt uns das Leid eines Freundes so sehr fühlenwie die Versicherung seiner Liebe.

4. Sie starb trotzdem nicht zugleich mit ihrem Sohn

Aber kommen wir zu unserem Gegenstand zurück. Wir sagten also,daß die Seele Unserer lieben Frau vom Schwert durchbohrt wurde.Und, sagt ihr, starb sie daran? Ich habe schon gesagt, daß einige sehrim Irrtum waren, die das behaupten wollten. Die Heilige Schrift be-zeugt, daß sie am Pfingstfest noch lebte und mit den Aposteln im Ge-

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bet und in Gemeinschaft verharrte. Ich habe weiterhin gesagt, daß sienach der Überlieferung hernach noch einige Jahre gelebt hat. Dochhört bitte: Kommt es nicht oft vor, daß eine Hindin vom Jäger ange-schossen wird und, obwohl getroffen und verwundet, entflieht undmehrere Tage später weit von dem Ort entfernt stirbt, wo sie ange-schossen wurde? So wurde Unsere liebe Frau gewiß verwundet undgetroffen vom Pfeil des Schmerzes bei der Passion ihres Sohnes aufdem Kalvarienberg; sie starb dennoch nicht sogleich, sondern trugihre Wunde längere Zeit, an der sie schließlich starb. O liebevolleWunde, Verwundung durch die Liebe! Wie bist du geliebt und liebe-voll gehegt worden von dem Herzen, das du verwundet hast.

Aristoteles berichtet, daß die wilden Ziegen Kretas (Plinius sagtdasselbe von den Hirschen) eine schlaue List anwenden oder vielmehreinen bewundernswerten Instinkt haben: wenn sie von einem Pfeilgetroffen sind, bedienen sie sich eines Baumharzes, mit dessen Hilfeder Pfeil ausgestoßen und aus dem Körper entfernt wird. WelcherChrist würde nicht manchmal vom Pfeil der Passion des Erlösers ge-troffen? Welches Herz wäre nicht gerührt, wenn es seinen Erlöser be-trachtet, der gegeißelt, gefoltert, gefesselt, angenagelt, mit Dornen ge-krönt und gekreuzigt wurde? Aber ich weiß nicht, ob ich es sagen soll,daß die Mehrzahl der Christen den Kretern gleicht, von denen derApostel sagt: Cretenses mendaces, ventres pigri, malae bestiae; dieKreter sind Lügner, faule Bäuche, schlimme Bestien (Tim 1,12, nachEpimenides). Zum mindesten kann ich wohl sagen, daß viele den wil-den Ziegen Kretas gleichen; denn wenn ihre Seele von der Passion desErlösers getroffen und verwundet wird, nehmen sie sogleich ihre Zu-flucht zum Baumharz weltlicher Tröstungen, durch das die Pfeile dergöttlichen Liebe aus ihrem Gedächtnis entfernt und verdrängt wer-den. Als sich dagegen die seligste Jungfrau verwundet fühlte, pflegteund hütete sie die Geschoße sorgsam, von denen sie durchbohrt wur-de, und wollte sie nicht entfernen. Das war ihr Ruhm, das war ihrTriumph, und so sehnte sie sich danach, an ihnen zu sterben, und starbschließlich daran. So starb sie am Tod ihres Sohnes, obwohl sie darannicht sogleich starb.

5. Unser Herr starb aus Liebe

Hier müssen wir etwas verweilen; das ist nach meiner Ansicht gün-stig. Unsere liebe Frau starb des Todes ihres Sohnes; welchen Todesaber starb ihr Sohn? Hier schlagen von neuem Flammen der Liebeempor, meine Christen. Unser Herr litt unsagbar in seiner Seele und

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an seinem Leib; für seine Leiden gibt es keinen Vergleich in dieserWelt. Seht die Bedrängnisse seines Herzens, seht die Schmerzen sei-nes Leibes, ich bitte euch; beachtet es und seht, ob es einen Schmerzgibt, der dem seinen gleicht (Klgl 1,12). Dennoch vermochten ihn alleseine Schmerzen nicht zu töten, alle seine Bedrängnisse, alle Schlägemit der Hand, mit dem Rohr und den Dornen, mit der Geißel und demHammer, der Stich der Lanze. Der Tod hatte nicht Kraft genug, umSieger über dieses Leben zu werden; es war ihm unerreichbar. Wiestarb er dann?

Ihr Christen, die Liebe ist stark wie der Tod; fortis ut mors dilectio(Hld 8,6). Die Liebe verlangte, daß der Tod bei Unserem Herrn ein-trat, damit sie sich durch seinen Tod auf alle Menschen ausbreitenkonnte. Der Tod wollte bei ihm eintreten, aber er vermochte es nichtaus sich selbst. Er wartete auf die günstige Stunde, die glückliche Stun-de für uns, in der die Liebe ihn eintreten ließ und ihm Unseren Herrnan Händen und Füßen angenagelt auslieferte. Was der Tod nicht ver-mochte, unternimmt die Liebe, die stark ist wie er, und vollbringt es.Er ist aus Liebe gestorben, der Erlöser meiner Seele. Der Tod ver-mochte hier nichts, außer mit Hilfe der Liebe: Er wurde geopfert, weiler selbst es wollte (Jes 53,7).

Es geschah aus eigenem Entschluß, daß er starb, nicht durch dieMacht des Bösen: Ich setze mein Leben ein; niemand nimmt es mir,sondern ich gebe es hin (Joh 10,17f). Jeder andere Mensch wäre an sovielen Schmerzen gestorben, aber Unser Herr, der die Schlüssel desTodes (Offb 1,18) und des Lebens in seiner Hand hielt, hätte jederzeitdie Anstrengungen des Todes und die Wirkungen der Schmerzen aus-schalten können. Doch nein, er wollte es nicht. Die Liebe, die unsbedrängt wie eine Delila, raubte ihm all seine Kraft (Ri 16,19) undließ ihn freiwillig sterben. Deshalb heißt es nicht, daß sein Geist ihnverlassen hätte, sondern daß er ihn hingab: Emisit spiritum (Mt 27,50;Joh 19,30). Der hl. Athanasius weist darauf hin, daß er das Hauptsenkte, bevor er starb: Inclinato capite, emisit spiritum, um den Todherbeizurufen, der sich sonst nicht zu nahen gewagt hätte. Das ließ ihnsterbend mit lauter Stimme rufen, um zu zeigen, daß er Kraft genugbesaß, um nicht sterben zu müssen, wenn es ihm so gefiele. Die Erklä-rung gibt er selbst: Niemand hat eine größere Liebe, als wer sein Lebenhingibt für seine Freunde (Joh 15,13).

Er ist also aus Liebe gestorben. Dadurch wurde sein Opfer am Kreuzein Brandopfer, weil er vom unsichtbaren aber um so heißeren Feuerseiner göttlichen Liebe verzehrt wurde. Sie machte ihn zum Opferprie-ster, nicht die Juden oder die Heiden, die ihn kreuzigten, zumal sie ihm

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durch alles, was sie taten, den Tod nicht beifügen konnten, wenn nichtseine Liebe die letzte Wirkung erlaubt und befohlen hätte durch denerhabensten Akt der Liebe, den es je gab. Denn alle Martern wären er-folglos geblieben, wenn ihnen nicht die Liebe den Sieg über sein Lebenhätte erlauben und ihnen Macht darüber geben wollen: Du hättest keineMacht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre (Joh 19,11).

6. Folglich starb auch Unsere liebe Frau aus Liebe

Da also feststeht, daß der Sohn aus Liebe gestorben ist und daß dieMutter des Todes ihres Sohnes starb, kann man nicht daran zweifeln,daß die Mutter aus Liebe gestorben ist. Aber wie ist das geschehen? Ihrhabt gesehen, daß sie auf dem Kalvarienberg eine Liebeswunde emp-fing, als sie ihren Sohn sterben sah. Von da an bedrängte sie die Liebe sostark, fühlte sie solche Schmerzen, brannte diese Wunde so sehr, daß sieschließlich daran sterben mußte. Sie kannte nur noch die Sehnsucht; ihrLeben bestand nur aus Ohnmachten und Verzückungen; sie schmolzinnerlich durch solche Glut, daß sie mit vollem Recht sagen konnte:Stipate me floribus, fulcite me malis, quia amore langueo; stärkt michmit Blütenduft, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe(Hld 2,5). Amnon wurde von schändlicher Liebe zu Tamar erfaßt unddavon so krank, daß man ihn abmagern und hinsiechen sah (2 Sam 13).O, die göttliche Liebe ist noch viel wirksamer und mächtiger! Ihr Zielund ihr Ursprung sind viel größer. Deshalb ist es nichts Außergewöhn-liches, wenn ich sage, daß Unsere liebe Frau an ihr starb. Sie trug inihrem Herzen ständig die Wunden ihres Sohnes. Einige Zeit trug siedas, ohne zu sterben, aber schließlich starb sie, ohne zu leiden. O amorvulneris, o vulnus amoris! O Leiden der Liebe, o Liebe der Passion!

Ach, ihr Schatz, d. h. ihr Sohn war im Himmel; ihr Herz war alsonicht mehr in ihr. Dort war der Leib, den sie so sehr liebte, Bein vonihrem Bein, Fleisch von ihrem Fleisch (Gen 2,23); dorthin flog dieserheilige Adler: Wo immer ein Leib ist, dort sammeln sich die Adler (Mt24,28). Mit einem Wort, ihr Herz, ihre Seele, ihr Leben war im Him-mel; wie hätte sie auf Erden bleiben können? Nach so oftmaligemAufschwung des Geistes, nach so vielen Entrückungen und Ekstasenwurde schließlich diese Burg der Reinheit, diese Festung der Demut,nachdem sie auf wunderbare Weise abertausend Stürmen der Liebestandgehalten hatte, in einem letzten Generalangriff eingenommen underobert. Die Liebe, die als Siegerin diese schöne Seele als ihre Gefan-gene entführte, ließ im heiligen Leib den bleichen, kalten Tod zurück.Tod, was tust du in diesem Leib? Glaubst du ihn behalten zu können?

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Denkst du nicht daran, daß der Sohn dieser Frau, deren Leib dubesitzest, dich besiegt, dich überwunden und zu seinem Sklaven ge-macht hat? Nein, es wird nie geschehen, daß er dir den Ruhm diesesSieges läßt. Du wirst bald ebenso schmachvoll abziehen, wie du jetztstolz bist, und die Liebe, die dich in einem gewissen Übermaß an die-sen heiligen Ort brachte, wird sehr bald zu sich kommen und dir denBesitz wieder nehmen.

Der Phönix stirbt durch das Feuer; die seligste Jungfrau starb an derLiebe. Der Phönix trägt Holz von wohlriechenden Bäumen zusammenund bringt sie auf den Gipfel eines Berges; auf diesem Holzstoß schlägter so stark mit den Flügeln, daß sich dadurch an den Strahlen derSonne das Feuer entzündet (Plinius, Hist. nat. X, 2). Die seligste Jung-frau sammelte in ihrem Herzen das Kreuz, die Dornenkrone und dieLanze Unseres Herrn und legte sie auf den Gipfel ihres Geistes. Durchständige Betrachtung bewirkte sie eine starke Bewegung über diesemScheiterhaufen, und von den Lichtstrahlen ihres Sohnes ging das Feu-er aus. Der Phönix starb in jenem Feuer, die seligste Jungfrau in die-sem, und man kann nicht daran zweifeln, daß sie ihrem Herzen dieLeidenswerkzeuge eingeprägt hatte. Wenn schon so viele Jungfrauen,wie die hl. Katharina von Siena und die hl. Klara von Montefalco,diese Gnade hatten, warum nicht Unsere liebe Frau, die ihren Sohn,seinen Tod und sein Kreuz unvergleichlich mehr liebte, als alle Heili-gen es je vermochten? So war sie nichts als Liebe. In unserer Sprachebedeutet das Anagramm für Maria nichts anderes als „lieben“: aimerist soviel wie Marie; Maria, das heißt lieben. Geh hin, schöner Phönix,brennend und sterbend vor Liebe; schlafe in Frieden auf dem Lagerder Liebe!

7. Aber sie wurde bald darauf auferweckt

So starb also die Mutter des Lebens. Doch wie der Phönix bald nachseinem Tod aufersteht und ein neues, glücklicheres Leben wiederge-winnt, so blieb auch die seligste Jungfrau nicht lange (höchstens dreiTage) tot, bis sie auferweckt wurde. Ihr Leib wurde nach ihrem Todnicht dem Verfall ausgeliefert; der Leib, der während ihres heiligenLebens nie der Verderbnis ausgesetzt war. Die Verwesung hatte keineMacht über solche Unversehrtheit; diese Bundeslade bestand aus un-verweslichem Holz der Akazie wie jene des Alten Bundes (Ex 25,10).Das gleiche glaubt man von den Leibern des Elija und Henoch; wie esin der Geheimen Offenbarung (11,7-11) heißt, werden sie sterben,aber nur für drei Tage, ohne zu verwesen.

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Wieviel mehr gilt das von der seligsten Jungfrau, deren unbefleckterLeib mit dem des Erlösers so innig verbunden ist, daß man sich kei-nerlei Unvollkommenheit an dem einen vorstellen kann, die nicht aufden anderen zurückfiele und ihn entehrte. Staub bist du, und zum Staubwirst du zurückkehren, wurde dem ersten Adam und der ersten Evagesagt (Gen 3,19); auf den zweiten Adam und die zweite Eva trifft dasnicht zu. Das ist gewiß ein allgemeines Gesetz, aber nicht ohne Aus-nahme, wie ich von Elija und Henoch gezeigt habe. Die Stadt Jerichowurde vollständig geplündert und verwüstet, aber das Haus der Rahabwurde von der Plünderung ausgenommen und verschont, weil sie dieKundschafter des großen Josua eine Nacht beherbergt hatte (Jos 6,24f).Die Welt und alle ihre Bewohner sind dem Untergang als Raub desWeltbrandes verfallen; aber halten wir es nicht für gerecht, daß Unse-re liebe Frau und ihr Leib davon ausgenommen sind? Der Leib, dernicht Botschafter aufnahm und beherbergte, sondern den wahren Josuaselbst, den wirklichen Jesus, und nicht für eine Nacht, sondern viellänger: selig der Leib, selig die Brust (Lk 11, 27). Unser Leib wird eineBeute der Würmer; sie hatten aber Scheu vor jenem, aus dem der Leibihres Schöpfers hervorgegangen ist.

Der Priester Abjatar hatte am Aufstand des Adonija teilgenommen,war dabei entdeckt und gefangen genommen worden: Du müßtest ster-ben, sagte Salomo zu ihm: aber weil du vor meinem Vater die Bundesla-de getragen hast, sollst du nicht sterben (1 Kön 2,26). Gewiß, nach demallgemeinen Gesetz sollte die seligste Jungfrau nicht vor dem Tag derallgemeinen Auferstehung auferweckt werden und ebenso nicht vorder Verwesung verschont bleiben. Aber die Ehre, vor dem ewigen Va-ter nicht die Bundeslade, sondern den eingeborenen Sohn zu tragen,den Heiland und Erlöser, das machte sie erhaben über die Gesetze. Istes nicht wahr, daß unbeschadet dieser Gesetze am Tag der Auferste-hung (Christi) viele auferweckt wurden? Viele Leiber der Heiligen, dieentschlafen waren, standen auf (Mt 27,52). Warum dann nicht dieseligste Jungfrau? Ihr dürfen wir dem großen Anselm zufolge keinenVorzug und keine Ehre absprechen, die irgendeinem einfachen Ge-schöpf zuteil wurden.

Wenn man mich schließlich bedrängt, um zu erfahren, welche Ge-wißheit wir über die Auferweckung der seligsten Jungfrau haben, soantworte ich, daß wir darüber genau die gleiche Gewißheit haben wieüber ihren Tod. Die Heilige Schrift, die weder der einen noch deranderen dieser beiden Wahrheiten widerspricht, bestätigt weder dieeine noch die andere durch ausdrückliche Worte. Aber die heiligeÜberlieferung, die uns lehrt, daß sie gestorben ist, lehrt uns mit glei-

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cher Sicherheit, daß sie auferweckt wurde. Wenn jemand die Glaub-würdigkeit der Überlieferung bezüglich der Auferweckung bestreitet,dann kann er auch den nicht überzeugen, der das gleiche bezüglich desTodes und Hinscheidens tut. Wir Christen aber glauben, bekennenund verkünden, daß sie gestorben ist und bald darauf auferweckt wur-de, weil die Überlieferung das berichtet, weil die Kirche dafür Zeug-nis gibt. Wenn jemand widersprechen will, können wir ihm antworten:Si quis videtur contentiosus esse, nos talem consuetudinem nonhabemus, neque Ecclesia Dei; Will aber einer unbedingt recht haben,wir haben eine solche Gewohnheit nicht, ebenso nicht die Kirche Gottes(1 Kor 11,16).

8. Und sie stieg zum Himmel empor

Nun genügt es nicht zu glauben, daß sie auferweckt wurde, wie wirauch in unserer Seele daran festhalten, daß sie nicht auferweckt wur-de, um noch einmal zu sterben, wie Lazarus, sondern um ihrem Sohnin den Himmel zu folgen, wie jene, die auferweckt wurden am Tag derAuferstehung Unseres Herrn (Mt 27,52). Der Sohn, der seinen Leibund sein Fleisch von seiner Mutter empfing, als er in diese Welt kam,ließ nicht zu, daß seine Mutter hier auf Erden blieb, weder dem Leibnoch der Seele nach. Bald nachdem sie dem Tod den allgemeinen Tri-but geleistet hatte, holte er sie vielmehr zu sich in das Reich seinesheiligen Paradieses. Dafür legt die Kirche Zeugnis ab, wenn sie diesesFest der Aufnahme feiert und sich dabei auf die gleiche Überlieferungstützt, durch die sie die Gewißheit von ihrem Tod und ihrer Auferwek-kung hat.

Gewiß, die Störche haben eine natürliche Liebe zu ihren Eltern, dieschon alt und hinfällig sind. Sobald die Härte der Jahreszeit sie zwingt,in wärmere Gegenden zu ziehen, nehmen sie die Eltern, laden sie sichauf und tragen sie auf ihren Schwingen, um in etwa die Wohltat zuvergelten, die sie während ihrer Aufzucht empfangen haben. UnserHerr hat seinen Leib aus dem seiner Mutter empfangen, sie hat ihnlange Zeit in ihrem heiligen Schoß getragen, auf ihren keuschen Ar-men, selbst als sie wegen der grausamen Verfolgung nach Ägyptenfliehen und dort Zuflucht suchen mußten. Herr, sagt der himmlischeHofstaat nach dem Tod der seligsten Jungfrau, erhebe dich nach demGebot, das du gegeben (Ps 7,7). Du hast den Kindern geboten, ihrenVätern im Alter beizustehen, und hast dieses Gebot der Natur so tiefeingeprägt, daß es sogar die Störche befolgen. Erhebe dich nach demGebot, das du gegeben hast, und laß nicht zu, daß der Leib, der dich

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unversehrt geboren hat, jetzt durch den Tod der Verwesung ausgelie-fert werde. Erwecke ihn vielmehr, setze ihn auf die Schwingen deinerMacht und Güte, um ihn aus der Wüste der Welt dort unten an diesenOrt unsterblicher Glückseligkeit zu versetzen. Ohne Zweifel wollteder Erlöser dieses Gebot, das er allen Kindern gab, vollkommenererfüllen, als man sich vorstellen kann. Welches Kind würde nicht sei-ne vielgeliebte Mutter wiedererwecken, wenn es das könnte, und sienach ihrem Tod in das Paradies versetzen? Die Mutter Gottes starbaus Liebe; die Liebe ihres Sohnes hat sie auferweckt. Bei dieser Erwä-gung, die vollkommen der Vernunft entspricht, wie ihr seht, sagen wirheute: Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, voll der Wonnen,gestützt auf ihren Vielgeliebten? Das ist der Gegenstand unseres Festesund der Grund für den großen Jubel, mit dem alle Heiligen der strei-tenden und triumphierenden Kirche es feiern.

Als der Patriarch Josef seinen lieben Vater Jakob im KönigreichÄgypten am Hof des Pharao empfing (Gen 47,7), kamen ihm ohneZweifel über den freundlichen Empfang hinaus, den ihm der Königselbst bereitete, die Vornehmsten des Hofstaates entgegen und bezeug-ten ihm auf jede Weise eine große Freude. Wie könnten wir zweifeln,daß beim Empfang der allerseligsten Mutter des Erlösers alle Engelein Fest feierten und ihre Ankunft mit jeder Art von Freudengesängenbegingen. Mit ihnen vereinigen wir unsere Glückwünsche und müssenwir ein großes Fest begehen mit Liedern und Triumphgesängen: Werist jene, die heraufkommt aus der Wüste, überreich an Wonne?

9. voll der Verdienste und Gnaden

Ihr Einzug war auch der schönste und großartigste, der nach dem desSohnes je im Himmel gesehen wurde; denn welche Seele wäre je emp-fangen worden, so erfüllt von Vollkommenheiten, so reich geschmücktmit Tugenden und Vorzügen? Sie kommt herauf aus der Wüste dergeringen Welt, trotzdem aber so duftend von geistlichen Gaben, daßder Himmel, abgesehen von der Person ihres Sohnes, nichts Vergleich-bares besitzt. Sie steigt auf wie die Rauchwolke aus aromatischer Myr-rhe und Weihrauch. Wer ist jene, sagt das Hohelied (3,6), die aus derWüste aufsteigt wie eine Rauchsäule, duftend von Myrrhe und Weih-rauch, von Spezereien aller Art? Wie ihr wißt, kam die Königin vonSaba den König Salomo besuchen, um seine Weisheit und die vorzüg-liche Ordnung seines Hofes zu sehen. Bei ihrer Ankunft schenkte sieihm eine große Menge Goldes, von Spezereien und kostbaren Steinen.Nie wurden so viele Gewürze gebracht, wie die Königin von Saba dem

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König Salomo schenkte (1 Kön 10,1.2.10). Als aber die seligste Jung-frau in den Himmel an den Hof ihres Sohnes aufstieg, brachte sie soviel Gold der Liebe, so viele Wohlgerüche der Frömmigkeit und Tu-gend mit, so viele kostbare Steine der Ausdauer im Leid, das sie fürseinen Namen ertragen hatte, dies alles in Verdienste umgewandelt, sodaß man mit Recht sagen kann: Nie wurde davon so viel in den Him-mel gebracht, nie wurde so viel davon ihrem Sohn dargebracht wie vondieser heiligen Frau.

Wollt ihr in dieser Lehre klar sehen? Ihr müßt wissen, daß es nie-mand gibt, der so früh wie Unsere liebe Frau begonnen hat, gute Wer-ke zu vollbringen, und es so eifrig fortsetzte. Denn was uns betrifft, wirbeginnen sehr spät, sie zu tun, und wenn wir sie tun, verlieren wir siesehr oft durch die Sünde und halten nicht durch. So kommt nicht vielan Verdiensten zusammen; denn wenn wir auch auf gut Glück einigeSilberlinge sammeln, so geschieht das nur manchmal, und sehr oftverspielen und vertun wir unser Geld auf einen Schlag durch die Sün-de. Und obwohl wir durch die Buße wiederhergestellt werden, seht ihrdoch, daß in unserem Tun keine rechte Ordnung ist, denn wir verlie-ren viel Zeit. Auch sind unsere Anstrengungen nach der Sünde undselbst nach der Buße geschwächt, so daß unser Gewinn nicht groß seinkann. Doch sprechen wir von den Vollkommeneren. Selbst der hl.Johannes der Täufer, euer großer Patron, meine Zuhörer, war nichtausgenommen von der läßlichen Sünde. Die läßliche Sünde verzögertjedoch unsere Werke, verlangsamt unseren Fortschritt, verhindert un-ser Vorwärtskommen. Unsere liebe Frau dagegen, die schon bei ihrerEmpfängnis voll der Gnade war, hat unablässig Fortschritte gemacht,seit sie den Gebrauch der Vernunft erlangt hatte, und immer mehrzugenommen an Tugenden und Gnaden, so daß sie einen unvergleich-lichen Reichtum davon besaß: Multae filiae congregaverunt divitias,sed tu supergressa es universas (Spr 31,29); viele Seelen haben Reich-tümer gesammelt, du aber hast sie alle übertroffen.

10. Deshalb wurde ihr der höchste Rang im Himmel zuteil

Wie reich an Wonne wurde sie, da sie so reich an Werken und Tatenin dieser Welt war! So wurde ihr der höchste Ehrenplatz unter denHeiligen zuteil. Der Pharao war Josef so gewogen, daß er ihm, als seinVater in Ägypten eintraf, sagte: Dein Vater und deine Brüder sind zu dirgekommen; Ägypten steht dir zur Verfügung. Laß deinen Vater und dei-ne Brüder auf dem besten Land wohnen (Gen 47,5f). An dem heiligen

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Tag jedoch, an dem Unsere liebe Frau im Königreich ihres Sohnesankam müßt ihr euch vorstellen, daß der ewige Vater zu ihm sagte: Allmeine Herrlichkeit gehört dir (Joh 17,10), mein vielgeliebter Sohn.Deine Mutter ist zu dir gekommen; laß sie den höchsten Rang einneh-men, den besten und vornehmsten Platz in deinem Reich. Daran darfman nicht zweifeln, ihr Christen. Als Unser Herr in diese Welt kam,wählte er den geringsten Rang (Eph 4,9), den es gab, und er fand kei-nen an Demut geringeren als die seligste Jungfrau. Jetzt versetzt er siein den höchsten Rang des Himmels durch die Herrlichkeit. Sie gabihm den Rang nach seinem Wunsch, er gibt ihr nun den Rang nachseiner Liebe und erhebt sie über die Kerubim und Serafim.

11. Alles gereicht zur Verherrlichung ihres Sohnes

Doch wenden wir uns dem letzten Teil des Satzes zu, den wir zumGegenstand der Betrachtung gewählt haben. Er sagt, die heilige Jung-frau, die überreich an Wonne aus der Wüste heraufkommt, stützt sichauf ihren Vielgeliebten. Das ist das Ergebnis allen Lobes, das die Kir-che in rechter Weise den Heiligen und vor allem der seligsten Jung-frau spendet; denn wir bringen es stets zur Ehre ihres Sohnes dar,durch dessen Macht und Wirken sie aufsteigt und die Fülle der Wonneempfangen hat. Habt ihr nicht beachtet, daß die Königin von Saba dievielen Kostbarkeiten, die sie nach Jerusalem brachte, alle Salomo dar-brachte? Das gleiche tun alle Heiligen, insbesondere die seligste Jung-frau. Alle ihre Vollkommenheiten und Tugenden, all ihre Glückselig-keit ist dargebracht, bestimmt und ausgerichtet auf die Ehre ihres Soh-nes, der deren Wurzel, Urheber und Vollender ist (Hebr 12,3). Gottallein Ehre und Verherrlichung (1 Tim 1,17); darauf geht alles hinaus.Wenn sie heilig ist, wer hat sie geheiligt, wenn nicht ihr Sohn? Wennsie erlöst ist, wer ist ihr Erlöser, wenn nicht ihr Sohn? Gestützt aufihren Vielgeliebten. All ihr Glück beruht auf der Barmherzigkeit ihresSohnes. Wollt ihr, daß Unsere liebe Frau eine Lilie der Reinheit undUnschuld ist? Ja, sie ist es in der Tat; aber diese Lilie hat ihr Weiß vomBlut des Lammes, durch das sie weiß geworden ist wie die Kleiderjener, die sie im Blut des Lammes gewaschen haben (Offb 7,14). Wennihr sie eine Rose nennt wegen ihrer übergroßen Liebe, so kommt dasleuchtende Rot nur vom Blut ihres Sohnes. Wenn ihr sagt, sie ist eineRauchsäule, lieblich duftend, dann sagt sogleich, daß das Feuer, vondem dieser Rauch aufsteigt, die Liebe ihres Sohnes ist, das Holz seinKreuz. Mit einem Wort, in allem und durch alles stützt sie sich auf

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ihren Vielgeliebten. Auf diese Weise muß man eifrig bedacht sein, Je-sus Christus zu ehren, ihr Christen, nicht wie die Gegner der Kirche,die den Sohn besser zu ehren glauben, wenn sie der Mutter die gebüh-rende Ehrung verweigern. Dabei läßt im Gegenteil die der Mutter er-wiesene Ehre, da sie auf den Sohn zurückgeführt wird, den Ruhm sei-nes Erbarmens großartiger erstrahlen.

Um die Richtigkeit der Absicht der Kirche zu beweisen, die sie beider Verehrung der seligsten Jungfrau hat, will ich euch zwei gegen-sätzliche Irrlehren zeigen, die im Widerspruch zur echten VerehrungUnserer lieben Frau standen; die eine durch Übertreibung, da sieUnsere liebe Frau als Himmelsgöttin bezeichnete und ihr Opfer dar-brachte; das wurde von den Kollyridianern behauptet; die andere durchzu wenig, da sie die Verehrung der seligsten Jungfrau durch die Katho-liken verwarf; das waren die Antidikomarianiten. Die Verrückten bil-den stets die Extreme und sind einander entgegengesetzt. Die Kirche,die stets die königliche Straße zieht und den Mittelweg der Tugendeinhält, bekämpft die einen nicht weniger als die anderen. Gegen dieeinen stellt sie fest, daß die seligste Jungfrau nur ein Geschöpf ist undman ihr folglich keinerlei Opfer darbringen darf; gegen die anderenhält sie daran fest, daß der heiligen Jungfrau, weil sie die Mutter desGottessohnes war, eine besondere Verehrung zuerkannt werden muß,die unendlich unter der ihres Sohnes steht, die aller anderen Heiligenaber weit übertrifft. Den einen hält sie entgegen, daß die seligste Jung-frau ein Geschöpf ist, aber so heilig und vollkommen, so innig verbun-den, vereinigt und eins mit ihrem Sohn, so sehr und innig geliebt vonGott, daß man den Sohn nicht recht lieben kann, wenn man nicht umseiner Liebe willen die Mutter überaus liebt und wenn man nicht umder Ehre des Sohnes willen die Mutter in besonderer Weise ehrt. Denanderen aber sagt sie: Das Opfer ist die höchste Verehrung der Anbe-tung, die man nur dem Schöpfer erweisen darf. Seht ihr nicht, daß dieseligste Jungfrau nicht die Schöpferin ist, sondern nur ein Geschöpf,wenn auch ein ganz ausgezeichnetes?

Ich meinerseits pflege zu sagen, daß die seligste Jungfrau gewisser-maßen mehr Geschöpf Gottes und seines Sohnes ist als die übrigeWelt. Gott hat ja in ihr viel mehr Vollkommenheiten geschaffen als inden übrigen Geschöpfen, denn sie wurde vollkommener erlöst als dieübrigen Menschen, weil sie nicht nur von der Erbschuld erlöst wurde,sondern auch von der Neigung zur Sünde und davon, sündigen zu kön-nen. Einem Menschen, der Sklave werden soll, die Freiheit erkaufen,bevor er versklavt wird, ist eine größere Gnade, als ihn loszukaufen,nachdem er gefesselt wurde. Wir sind weit davon entfernt, daß wir den

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Sohn mit der Mutter völlig gleichsetzen wollten, wie die Gegner glau-ben oder zu glauben vorgeben, um es dem Volk einzureden.

Kurz gesagt, wir nennen sie schön, aber schön wie der Mond (Hld 6,9), der sein Licht von der Sonne empfängt, denn sie empfängt ihreEhre von der ihres Sohnes. Der Aspalatusstrauch, sagt Plinius (Hist.nat. XII, 24), ist an sich nicht wohlriechend; sobald ihn aber der Re-genbogen berührt, verleiht er ihm einen unvergleichlich süßen Duft.Die seligste Jungfrau war der brennende aber unversehrte Dornbusch,den Mose sah (Ex 3,2): Als Dornbusch, den Mose unversehrt sah, er-kennen wir deine heilige Jungfräulichkeit, sagt die Kirche im Brevier.In der Tat, aus sich wäre sie keiner Verehrung würdig, sie wäre ohneDuft. Nun kam aber der große Himmelsbogen, das große Zeichen derVersöhnung zwischen Gott und den Menschen (Gen 9,13-17), um sichallmählich auf diesen Dornbusch niederzulassen, zuerst durch dieGnade ihrer unbefleckten Empfängnis, dann durch die Menschwer-dung, als er ganz ihr Sohn wurde und sich in ihrem kostbaren Schoßbarg. Dadurch wurde der Wohlgeruch so groß, daß keine andere Pflan-ze je einen solchen hat; ein Duft, der Gott so angenehm ist, daß dieGebete, die ihn angenommen haben, niemals zurückgewiesen werdenund nie vergeblich sind. Aber die Ehre dafür fällt auf den Sohn zu-rück, von dem sie den Duft empfangen hat.

Ihr Sohn ist unser Fürsprecher, sie unsere Fürsprecherin, aber inganz anderer Weise; das habe ich schon oft gesagt. Der Erlöser istAnwalt von Rechts wegen, denn er tritt für uns ein, indem er Rechts-gründe in unserer Sache vorbringt. Er legt die Beweise vor, die nichtsanderes sind als seine Erlösung, als sein Blut und sein Kreuz. Er be-kennt vor seinem Vater, daß wir Schuldner sind, aber er weist nach,daß er die Schuld für uns bezahlt hat. Die seligste Jungfrau und dieHeiligen sind Anwälte gnadenhalber: sie bitten für uns um Verge-bung, und das um der Passion des Erlösers willen. Sie haben selbstnichts vorzuweisen, um uns zu rechtfertigen, sondern sie vertrauendabei auf den Erlöser. Mit einem Wort, sie vereinigen ihre Bitten mitder Fürsprache des Erlösers, aber sie haben nicht die gleiche Eigen-schaft wie diese, sondern gleichen unseren Bitten. Wenn Jesus Chris-tus im Himmel bittet, bittet er in eigener Vollmacht; die seligste Jung-frau dagegen bittet nur unter Berufung auf ihren Sohn, aber mit größe-rem Einfluß und Ansehen. Seht ihr, daß das alles zur Ehre ihres Soh-nes gereicht und seinen Ruhm verherrlicht?

Um Unseren Herrn zu verherrlichen, hat deshalb das ganze Alter-tum seine Mutter so sehr verehrt. Schaut auf die Christenheit: von dreiKirchen stehen zwei unter dem Schutz der seligsten Jungfrau oder

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haben besondere Kennzeichen der Verehrung des Volkes zu ihr.Viderunt eam filiae Zion (Hld 6,8); die Töchter Zions, die Seelen derGläubigen, die Völker schauten auf sie und priesen sie überglücklich.Und Königinnen priesen sie. Nicht nur das Volk, sondern auch erhabe-nere Seelen haben sie gelobt und gepriesen: die Bischöfe, die Theolo-gen, die Fürsten und Könige. Wie die Vögel, jeder auf seinem Zweig,im Morgengrauen zu zwitschern beginnen, so bemühen sie alle sich,ihr Ehre zu erweisen, wie sie selbst vorhergesagt hat: Alle Geschlechterwerden mich seligpreisen (Lk 1,48). Folglich müssen alle Gläubigenund müßt besonders ihr Christen von Paris sie anrufen und ihr gehor-chen. Das sind die beiden Hauptformen der Verehrung, die wir ihrerweisen können und zu denen sie uns eingeladen hat.

12. Ermahnung zur Anrufung und Verehrung Unserer lieben Frau

Ich finde im Evangelium nur zwei Stellen, wo berichtet wird, daßUnsere liebe Frau zu den Menschen gesprochen hat: die eine, als sieElisabet grüßte (Lk 1,40); dabei betete sie ohne Zweifel für sie, denndie Gläubigen grüßen sich durch Gebete. Das zweitemal war, als siezu den Dienern bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sprach, wobei sienur sagte: Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). In die-sen beiden Akten ist der Ausdruck der Liebe und des Willens derseligsten Jungfrau den Menschen gegenüber enthalten, nämlich für siezu bitten; deshalb müssen wir sie mit großem Vertrauen anrufen. Inallen Gefahren, in allen Stürmen, ihr Christen von Paris, „seht diesenStern des Meeres, ruft sie an“ (St. Bernhard): durch ihre Gunst wirdeuer Schiff den Hafen erreichen, ohne zu stranden und ohne Schiff-bruch zu erleiden.

Wenn ihr aber wollt, daß sie für euch bittet, dann hört auf ihr zweitesWort und gehorcht ihren Anordnungen. Nun, ihre Anordnungen be-stehen kurz gesagt darin, daß ihr den Willen ihres Sohnes tut: Tut alles,was er euch sagen wird. Wollen wir, daß die seligste Jungfrau uns er-hört, ihr Christen? Dann laßt uns auf sie hören. Wollt ihr, daß sie aufeuch hört? Dann hört auf sie. Sie bittet euch von ganzem Herzen undum den Preis ihrer Liebe, daß ihr treue Diener ihres Sohnes seid. Ei-nes Tages kam Batseba in großer Demut und Ehrfurcht zu David, umihm ein Anliegen und eine Bitte vorzutragen; aber schließlich bat siestatt allem nur, daß ihr Sohn nach seinem Vater König und Nachfolgerseiner Krone werde (1 Kön 1,16f). Die seligste Jungfrau, meine Zuhö-rer, bittet euch vor allem um den deutlichsten Erweis eurer Ehrerbie-tung gegen sie: daß ihr ihren Sohn zum König eures Herzens und eurer

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Seele macht, damit er in euch herrsche und damit ihr seine Anordnun-gen ausführt. Tut das, meine Zuhörer, eurer Pflicht gemäß, um euresHeiles willen und aus Liebe zu Unserer lieben Frau. Wie ihr gesehenhabt, blieb sie nach der Himmelfahrt ihres Sohnes noch einige Jahreauf Erden und starb dennoch nach einiger Zeit, uzw. des Todes ihresSohnes, d. h. aus Liebe. Aber sie war nicht lange tot, sondern wurdeauferweckt und fuhr aus der Wüste dieser Welt zum Himmel auf, wosie den höchsten Rang unter allen Geschöpfen einnimmt; und dasalles zur größeren Ehre ihres Sohnes; ihretwegen bittet sie für uns undfordert uns auf, seine treuen Diener zu sein.

Allerseligste, glückselige Frau, die du im höchsten Paradiese derSeligkeit bist, hab Mitleid mit uns, die wir in der Wüste des Elendssind. Du bist in der Fülle der Wonnen, wir im Abgrund der Trostlosig-keit. Erwirke uns die Kraft, alle Trübsal zu ertragen und uns stets rechtauf deinen Vielgeliebten zu stützen, die einzige Stütze unserer Hoff-nung, den einzigen Lohn unserer Mühen, das einzige Heilmittel unse-rer Übel. Glorreiche Jungfrau, bitte für die Kirche deines Sohnes;steh mit deiner Huld allen Obrigkeiten bei, dem Heiligen Vater, denPrälaten und Bischöfen, besonders dem der Stadt Paris. Erweise dichhuldvoll dem König. Dein Vorfahr David tat dem Sohn des JonatanGutes um der Dienste und Hilfeleistungen willen, die er von Jonatanempfangen hatte (2 Sam 9,7). Dieser König ist der Nachfolger einesdeiner treuesten und ergebensten Diener, des glorreichen hl. Ludwig;wir bitten dich, ihm deine Fürsprache im Namen dieses heiligen Kö-nigs zuteilwerden zu lassen. Die Königin, die die Ehre hat, deinenNamen zu tragen, möge stets unter dem Schutz deiner heiligen Gunststehen. Himmlische Lilie, begieße die Lilien deines Frankreich mitdeinen heiligen Segnungen, damit sie weiß und rein seien in der Ein-heit des wahren Glaubens und der Religion. Du bist ein Meer; gewäh-re dem jungen Dauphin die Wellen deiner Gunst; du bist der Stern desMeeres; sei dem Schiff von Paris hold, damit es den heiligen Hafen derHerrlichkeit erreiche, um den Vater, den Sohn und den Heiligen Geistzu preisen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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Fastenpredigten 1604 in Dijon

Von diesen Predigten, die für Franz von Sales durch die Begegnung mit Johan-na Franziska von Chantal sehr bedeutsam wurden, sind nur Bruchstücke derbeiden Hefte mit den (überwiegend lateinischen) Entwürfen erhalten. Auf derletzten Seite der Hefte findet sich je ein Verzeichnis der Themen; im ersten Heft:Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen – Der Teich und der Kranke – Wervon euch kann mich einer Sünde zeihen? – Jesus wurde in die Wüste geführt, umversucht zu werden – Ihr Heuchler, treffend hat Jesaja von euch geweissagt – DieSamariterin; im zweiten Heft: 1. Ihr werdet mich suchen – 2. Auf dem Lehrstuhldes Mose – 3. Zu meiner Rechten sitzen.

Was davon überliefert ist, wird auf den folgenden Seiten wiedergegeben: in derReihenfolge und mit der Datierung, die von den Herausgebern der Annecy-Aus-gabe ermittelt wurde.

Zum Mittwoch der 1. FZum Mittwoch der 1. FZum Mittwoch der 1. FZum Mittwoch der 1. FZum Mittwoch der 1. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 66 (Zusammenfassung): 10. März 1604 VIII,1-3

Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen. – Bösesund ehebrecherisches Geschlecht (Mt 12,38f; 16,4).

Nie haben die Israeliten eine gediegenere Speise genossen als da-mals, da sie das Manna aßen; trotzdem murren sie und verlangen eineandere (Num 11,4-6). Jesus glänzte durch zahllose Wunder, und trotz-dem fordern sie noch eines.

Christus tadelt sie offenbar, daß sie Zeichen fordern. Wieso das?Verlangen und fordern sie nicht mit Recht Zeichen von Christus?

Um das zu verstehen, haltet fest, daß Gott seine Worte durch Wun-der zu beglaubigen pflegte, besonders dann, wenn er etwas Neues ver-kündet. Siehe Mose (Ex 4. Kap.). So erachtete Christus Wunder für sonotwendig, daß er sagte: Hätte ich nicht Wunder gewirkt, wie sie keinanderer gewirkt hat, dann hätten sie keine Sünde (Joh 15,24; Jes 53,12).Ferner sind Wunder eine Mitgift der Kirche: Denen, die glauben, wer-den Zeichen folgen (Mk 16,17). Damit das verständlich wird, unter-scheide ich in der Heiligkeit der Kirche: Alle Herrlichkeit der Kirchekommt von innen, in goldenem Saum (Ps 45,14); aber der Duft ihrerKleider (Hld 4,11). So spricht Isaak vom Duft seines Sohnes (Gen 27,27). Siehe das Manuskript (vermutlich der Kontroversen).

Warum tadelt er sie also? Weil sie Heuchler waren. Meister, wir wol-len sehen. So Joh 4,48: Wenn sie nicht Zeichen sehen. So Thomas (Joh

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20, 25): Wenn ich nicht sehe. Man muß der Kirche glauben, und über-triebene Sorge kommt vom Starrsinn. Das ist ein Grundsatz der Weis-heit. Ein böses, verkehrtes, ehebrecherisches Geschlecht. Mt 13,13: Siewerden sehen und doch nicht sehen. Verblendung wie Pharao, Saulund Judas. Joh 15,25: Ohne Grund hassen sie mich. Erklären, wo Schell-kraut für Gelbsüchtige nützt. Querulanten; daher: ein böses und ehe-brecherisches Geschlecht. Hld 1,14; 4,1: Deine Augen gleichen denender Tauben. Wir suchen Wasser im Meer. Seneca und seine Zimmer-frau. Ps 4,6: Viele sagen: wer zeigt uns Gutes?

Die Auslegung dagegen ist sehr schwierig. Es wird ihm kein Zeichengegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona. 1. Auslegung vonvielen: das ist die Auferstehung Christi. Dabei gibt es aber viele Schwie-rigkeiten; denn für sie war die Auferstehung (Christi) so wenig einZeichen wie die Himmelfahrt und die Auferstehung der Toten ...2. Außer das Zeichen des Propheten Jona; d. h. außer das Zeichen derVerurteilung, weil die Leute von Ninive sich erhoben (Mt 12,41).Hilarius und Maldonat. 3. Das heißt: keines. Drohungen, Untergang;noch vierzig Tage (Jona 3,4). Noch vierzig Jahre, Panso (Tr. 10,14).Augustinus: Daß ich könnte!

Der TDer TDer TDer TDer Teich und der Krankeich und der Krankeich und der Krankeich und der Krankeich und der Krankeeeee

Nr. 67 (Fragment): 12. März 1604 VIII,4f

– – – Wer sind die Kranken, Blinden, Lahmen, Schwindsüchtigen(Joh 5,1-14)? Blinde: die Ungläubigen sehen nicht; Lahme, auchZornmütige oder Begierliche; Schwindsüchtige: Laue oder Erbschuld.Alle Sünden werden durch die Taufe abgewaschen.

Fünf Hallen: fünf Bücher Mose oder fünf Sinne. Oder weil die Ju-den und die Heiden blind, an einem Fuß lahm, schwindsüchtig sind.

Wer als erster hinabstieg, wurde gesund, an welcher Krankheit er auchlitt. Apg 2,38: Zur Vergebung der Sünden. Daher sind die ChristenFische, Christus ichtys, der Fisch (Augustinus). Mt 4,19: Ich will euchzu Menschenfischern machen.

Hier sind wir Kinder Gottes (Joh 1,12; Röm 8,14.16). Jener Mannwar schon 38 Jahre krank. Veraltetes Leiden, die Macht der Krankheitetc.

Als er ihn sah. Ps 25,16: Schau auf mich und erbarme dich meiner.

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Ps 21,4: Du bist ihm mit Segnungen zuvorgekommen. 2 Kor 3,5: Wirsind nicht fähig. Beichte: Da er erfuhr, daß er schon lange krank war.Daher sagen die meisten, Christus habe ihn nach seiner Krankheitgefragt, oder vielmehr nach deren Ursache; daher sagt er: Sündigenicht mehr. Vorsatz. Willst du gesund werden? Prüfung. Nimm deinBett ... Die Niniviten. Panso.

Zum Montag der 2. FZum Montag der 2. FZum Montag der 2. FZum Montag der 2. FZum Montag der 2. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 68 (Entwurf): 15. März 1604 VIII,6-8

Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden; und ihrwerdet in euren Sünden sterben (Joh 7,34; 8,21).

Eine harte Drohung, ein schrecklicher Ausspruch! Aber wie kanndas von einem so gütigen Vater stammen?

Die wörtliche Deutung ist meines Erachtens die: ihr vernachlässigtden wahren Messias; ihr sucht mich in etwas anderem. Da aber auchvon ihrem Tod in der Sünde gesprochen wird, wollen wir überlegen:

1. Welches Unglück es bedeutet, in der Sünde zu sterben.

Ez 18,23.30-32: Will ich etwa den Tod des Sünders, nicht vielmehr,daß er sich bekehre und lebe? Bekehret euch von all euren Missetatenund tut Buße, dann gereicht euch die Sünde nicht zum Unheil. Warumwollt ihr sterben, Haus Israel? Denn ich will nicht den Tod des Sterben-den, spricht der Herr; bekehrt euch und lebt.

In seinem Zorn hält er seine Erbarmungen zurück. In seinem Zorn,wie am Tage des Gerichtes. Wird Gott vergessen, Erbarmen zu üben (Ps77,10)? Er vergilt über das Verdienst hinaus: Seine Erbarmungen er-strecken sich auf alle seine Werke (Ps 145,9). Erbarmen und Gericht(Ps 38,5). Gleichwohl wird die Strafe ewig sein.

1. Grund: weil Gott beleidigt wurde. Den Herrn, deinen Gott, hast duvergessen (Jer 2,17). Mich, den Quell lebendigen Wassers, haben sie ver-lassen (2,13). Gegen dich allein habe ich gesündigt ... daß du gerechtfer-tigt wirst (Ps 51,6). – 2. Grund: weil der Sünder sich selbst in einenZustand bringt, in dem er nach der Natur des Aktes ewig bleiben muß.So wird er darin bleiben. – 3. Grund: weil der Sünder ewig den Willenhat zu sündigen; denn wenn er sündigt, obwohl er weiß, daß er sterbenmuß, was würde er tun, wenn er wüßte, daß er nicht sterben wird? Er hatsie verstoßen, entsprechend den Gelüsten ihres Herzens (Ps 81,13).

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2. Was läßt uns in der Sünde sterben?

(Der erste Grund ist) eine falsche Buße. Die falsche ist der echtenähnlich. Schierling und Petersilie. Damit ihr sie vermeidet, will icheuch zwei Kennzeichen nennen: a) Sie muß vollständig sein: Bekehrteuch zu mir von ganzem Herzen (Ps 119,10). Von ganzem Herzen habeich (zu dir) gerufen (Ps 119,145). Dieser Bedingung entspricht nicht:1) Michal (1 Sam 19); 2) ebenso nicht jene, die (an der Sünde) festhal-ten. Zefanja (1,5): Die bei Gott schwören und bei Milkom. Dagon unddie Bundeslade (1 Sam 5,2). Der Wasseradler (Plinius). – b) Sie mußvon Dauer sein, ohne Rückfall: Ich habe es geschworen und gehalten(Ps 119,106). Ich werde Gott allezeit preisen (Ps 33,1).* Meine Sündesteht mir immer vor Augen; wasche mich noch reiner (Ps 50,5.4). LotsFrau (Gen 19,26).

Der zweite Grund ist die falsche Furcht vor der Härte der Buße;falsch, denn der Sünder freut sich und ist traurig, wie der Affe über dieNuß. Die Bienen holen den Honig vor allem aus dem Thymian. Sieh,ich muß sterben; was nützt mir das Erstgeburtsrecht? (Gen 25,32).Nach der Zahl der Schmerzen in meinem Herzen erfreuen deine Trö-stungen meine Seele (Ps 94,19). Mild und gerecht ist der Herr (Ps 25,8).Wie gut (ist er) Israel (Ps 73,1). Wie süß für meinen Gaumen (Ps119,103).

* Eine dritte Bedingung für die echte Buße war hier angegeben mit den Worten„rechte Absicht“; der Autor hat sie im Manuskript offenbar selbst gestrichen.

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Zum Mittwoch der 2. FZum Mittwoch der 2. FZum Mittwoch der 2. FZum Mittwoch der 2. FZum Mittwoch der 2. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 69 (Entwurf): 17. März 1604 VIII,9-11

Zu meiner Rechten sitzen ... (Mt 20,23).

Erstaunliche Einfalt des Ehrgeizes! Der Herr spricht von der Passion,und sie tritt an ihn heran. Musik in der Trauer ist ein Geschwätz zurUnzeit (Sir 22,6).

Ich muß mit dem Schluß beginnen: Es ist nicht meine Sache, es euchzu gewähren; nicht als Mensch, denn es ist Sache Gottes (Augustinus).Denn jetzt bin ich gekommen, um zum Kampf einzuladen (Ambrosi-us). Euch, den Verwandten, den Bittenden, die ihr es noch nicht ver-dient habt (Remigius: den Stolzen), sondern denen es bereitet ist, d. h.die es wohl verdient haben. Er scheint nämlich darauf anzuspielen,was er (Mt 25,34) sagen wird: Nehmt das Reich in Besitz, das euchbereitet ist; denn ich war hungrig ... Ps 62,13: Du vergiltst alles nachihren Werken. Mt 16,27: Der Menschensohn wird in der Herrlichkeit desVaters kommen, dann wird er jedem vergelten. Röm 2,5f: Du häufst dirStrafe für den Tag des Zornes an ... Gerechte ... der vergelten wird. Offb22,12: Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, jedem zu vergel-ten. 2 Kor 4,17: Unsere leichte augenblickliche Drangsal wirkt in unseine über die Maßen erhabene ewige Herrlichkeit.

Lk 17,10: Wenn ihr das alles getan habt, dann sagt: unnütze Knechtesind wir. Ambrosius: von Natur aus. Denn alles, was wir haben, stammtvon Gott: das Nützlichsein kommt also von Gott. Der Purpur. Offb21,15-17: Der mit mir sprach, hatte ein goldenes Meßrohr; das Maß desMenschen, das ist das Maß der Engel. Beda: Für Gott, nicht für uns,weil er unserer Güter nicht bedarf (Ps 76,2). Augustinus: Weil wir ansich sein Eigentum sind, verdienen wir, daß Gott es so will.Chrysostomus: Sprecht; aber nicht ich will sprechen, denn wohlan duguter und getreuer Knecht (Mt 25,21.23). Beda: Wir haben wenigerverdient, als wir empfangen werden; über Verdienst. Bernhard sagthimmlisch im Buch über Gebot und Vergeltung: „Ich habe nicht ge-stohlen. Du wirst nicht eine Speise der Raben am Kreuz.“ Bersabee,Adonis, Abischag.

Ehrgeiz ist der Affe der Demut. Der Taurus, ein ganz kleiner Vogel,äfft den Stier (griechisch: tauros) nach. Demokrates. Der Dichter Acciusund die Statue. Der Zyniker Anthistenes. Das Krokodil. Bäume, dieihre Blätter verändern. Das Chamäleon. Agrippina.

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Über die heilige KommunionÜber die heilige KommunionÜber die heilige KommunionÜber die heilige KommunionÜber die heilige Kommunion

Nr. 70 (Entwurf): 1604* VIII,12-14

Vorbereitung: Die Absicht: gehorchen, sich mit Gott und dem Näch-sten vereinigen.

Das Verlangen: um zu gehorchen, aus Liebe, um der Ehre willen, ausBedürftigkeit.

Aufmerksamkeit auf das Geheimnis; darauf, was es darstellt, undauf seine Wirkungen.

Übung: Liebe, Kräftigung, Gebete. – – – Naaman (2 Kön 5,13): Wenn er dir etwas Schwieriges aufgetra-

gen hätte ...Um sich mit Gott zu vereinigen. Er bleibt in mir und ich in ihm (Joh

6,56). Es gibt keine engere Vereinigung als die mit der Speise. Zweiwerden in einem Fleisch sein (Gen 2,24). Deshalb wird die Seligkeitmit dem Mahl und dem Essen verglichen. Ijob (31,31): Wer wird unsvon seinem Fleisch geben, daß wir gesättigt werden? Die Braut (Hld1,12): Wie ein Myrrhenstrauß ist mir mein Geliebter, an meinem Busenwird er ruhen. Wie treffend können wir das sagen! Der Arme hatte eineinziges Lämmlein; er hatte es gekauft und aufgezogen; es fraß vonseinem Brot, trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß (2Sam 12,3). Vergleich vom Wachs; Cyrillus. Sauerteig; Cyrillus,Cyprian: Pflaster.

Mit dem Nächsten (vereinigen). Wir alle sind ein Leib, da wir an demeinen Brot teilhaben (Röm 12,5; 1 Kor 10,17), und an dem einen Kelch.Hier die Geschichte von David und dem Lämmlein. Wie die Blüteneinem Baum angehören, die Edelsteine zu einer Krone. Daher sindwir alle Blutsverwandte, weil wir von einem Leib und einem Blut ge-nährt werden zum ewigen Leben.

– – – Belschazzar und die heiligen Gefäße (Dan 5,2-4).Mit der Passion (vereinigen): Sooft ihr dies tut, verkündet ihr den

Tod des Herrn, bis er wiederkommt (1 Kor 11,26). In der Wüste fiel dasManna, und dieses Manna wurde in einem goldenen Gefäß aufbewahrt.Bei ihm befand sich der Stab Aarons (das Kreuz) und die Gesetzes-tafeln (Hebr 9,4). Deshalb setzte sich Elija unter den Ginsterstrauch(1 Kön 19,4-8). Deshalb wird Ex 12,2f angeordnet: Wenn sie euch

* Vermutlich hat Franz von Sales diese Predigt während seines Aufenthalts inDijon in der Fastenzeit 1604 jenem Kreis frommer Damen gehalten, die sichunter seine Leitung stellten.

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fragen ... das Osterlamm. Ich habe Myrrhe mit meiner Milch gemischt(Hld 5,1).

Mit dem Himmel (vereinigen): Ich habe mich darüber gefreut, wasman mir sagte (Ps 122,1). Joh 6,52: Er wird leben in Ewigkeit. Der sichuns verborgen im Manna schenkt, ... wird uns das Übrige hernach of-fenkundig schenken. Als Jonatan vom Honig aß, wurden seine Augengeöffnet (1 Sam 14,27). Lk 24,35: Sie erkannten ihn am Brotbrechen.

– – – Hld 8,6: Lege mich wie ein Siegel ... Hld 2,16: Mein Vielgelieb-ter ist mein ... Lea (Gen 29,32): Nun wird mein Gemahl mich liebgewin-nen.

Kräftigung: Wenn der Elefant Blut sieht, sammelt er seine Lebens-geister. Elija (1 Kön 19,7): Du hast einen weiten Weg vor dir. Ps 104,15:Das Brot stärkt das Herz des Menschen. Ps 23,4: Ich fürchte kein Un-heil, denn du bist bei mir. Wenn du mit mir kommst, will ich gehen:Barak und Debora (Ri 4,8).

Gebete: Die Molosser (Plutarch). Ps 134,10: Schau auf das Ange-sicht deines Gesalbten. Moly dodecatheon, in Wasser gelöst getrun-ken, heilt alle Krankheiten; es ist aber schwer zu finden (Plinius).

Zum PZum PZum PZum PZum Passionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntag

Nr. 71 (Entwurf): Chambery, 12. März 1606 VIII,15-19Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen? Wennich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht?Wer aus Gott ist, hört auf das Wort Gottes: deshalbhört ihr nicht darauf, weil ihr nicht aus Gott seid (Joh8,46f).

Zu Beginn wird die Geschichte der Stadt Jericho (nach Josua, 6.Kapitel) vorgetragen; sie wurde von den Priestern erobert, die unterPosaunenschall die Bundeslade trugen. Die Bundeslade tragen heißt,das Gesetz erfüllen, nach dem Schriftwort (Mt 1,30): Mein Joch istmild und meine Bürde ist leicht. Mt 23,4: Sie wollen aber keinen Fingerdafür rühren. Die Posaune ist das Wort Gottes. Nun schickt Christussich an, das Jericho dieser Mond-Stadt Welt zu erobern, und zeigt wieein zweiter Josua, daß er die Bundeslade getragen und das Gesetz er-füllt hat: Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen? Er zeigt auch,daß er gepredigt und die Posaune des Gotteswortes geblasen hat: Wennich euch die Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir nicht? Es steht nichts

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im Wege, daß ihr glaubt, denn ich sage die Wahrheit, und ihr werdet inmeinem Leben keinen Widerspruch zu ihr finden. In der Musik machtder Meister manchmal einen Fehler, wenn er zwar richtig singt, aberden Takt falsch angibt. Ich aber, sagt der Herr, singe richtig und gebeden Takt besser: Warum also glauben sie nicht, wenn ich die Wahrheitsage?

Allerdings, Herr, gerade weil du die Wahrheit sprichst, kann deineLehre nicht aufgenommen werden. Klgl 2,14: Deine Propheten hattenfalsche und törichte Visionen über dich; sie deckten nicht deine Sünd-haftigkeit auf, um dich zur Buße aufzufordern. Das wäre aber ange-bracht gewesen. Ez 4,1f: Menschensohn, nimm dir einen Ziegelstein,leg ihn vor dich hin und zeichne darauf die Stadt Jerusalem. Ordnegegen sie eine Belagerung an, bau Befestigungen und errichte einen Wall;errichte ein Heerlager gegen sie und stell ringsum Sturmböcke auf. DerZiegelstein ist das Herz des Menschen, denn es ist aus Erde gebildet(Weish 15,10). Jerusalem ist die Zierde und die Würde der Seele unddes Ebenbildes Gottes, des Glaubens und der Gaben Gottes. Christuserkennen, Christ sein. Ordne eine Belagerung an. Das geschieht, wennman dem Menschen zeigt, wie viele Laster, Sünden und Verbrechenihn belagern. Was aber ist die Wirkung? Sie verhärteten sich. So ver-härteten sie sich hier und hoben Steine auf (Joh 8,59). Vorzüglich istdie Geschichte von Secharja, dem Sohn des Priesters Jojada, der vonJoasch und dem Volk getötet wurde (2 Chr 24,20-22; Mt 23,35). Sieheauch die Geschichte vom Sieg der Wahrheit (3. Esra 3 u. 4); Serubbabel:Die Wahrheit siegt und wird siegen.

Nachdem er alle Entschuldigungen zurückgewiesen hat, gibt (Chris-tus) den Grund an, warum sie nicht auf ihn hören: Wer aus Gott ist,hört das Wort Gottes. Es ist ein Zeichen der Auserwählung und dafür,daß wir Kinder Gottes sind, wenn wir sein Wort hören. Wenn die Kin-der spielen und der Vater eines von ihnen nur mit leiser Stimme ruft,versteht es das Kind, ohne daß die anderen es merken. Apg 2,8: Wiesohören wir sie jeder in seiner Muttersprache reden? Jeder hört in seinerSprache reden: der Weltmensch hört die Sprache der Welt, den Hoch-mut; der fleischliche Mensch hört die Sprache des Fleisches, die Be-gierde; der teuflische Mensch hört die Sprache des Teufels, Streitig-keiten. Die blökenden Mutterschafe werden von den Lämmern gehört,die Rebhühner von den jungen Rebhühnern.

Nun werdet ihr sagen: Wir hören ja. Auch die hier Getadelten hör-ten. Man nennt es aber nicht hören, wenn einer nicht gehorcht. Jak1,22: Seid Vollbringer des Wortes, nicht nur Hörer, die sich selbst täu-schen. Gen 11,7: Laßt uns hinabsteigen und ihre Sprache verwirren,

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daß einer des anderen Stimme nicht mehr hört. Daß er sie nicht hört,heißt „nicht versteht“. Woran erkennt ihr, daß jemand taub ist? Dochdaran, daß Worte ihn nicht bewegen. Elieser gab der Rebekka am Brun-nen Ohrgehänge im Gewicht von zwei Schekeln und Armspangen vonzehn Schekeln (Gen 24, 22).

Der Hauptgrund aber, warum sie nicht hören, ist der Haß, der böseWille, wie wir hier sehen. Der Zorn verschließt den Geist. Die Wut istfür sie wie die einer tauben Natter (Ps 58,5). Sie hielten sich die Ohrenzu und stürmten einmütig auf ihn ein (Apg 7,56).

Die Juden erwiderten ihm und sagten: Sagen wir nicht mit Recht, daßdu ein Samariter bist und einen bösen Geist hast? (Joh 8,48). Das sindReden des Teufels, d. h. Gotteslästerungen, Reden der Hölle. (Jesussagte nichts zum „Samariter“, weil das offenkundig war.) Er sagte: Ichhabe keinen bösen Geist, sondern ehre meinen Vater; ihr aber entehrtihn. Ich suche nicht meine Ehre; es gibt aber einen, der sie sucht undrichtet. Amen, amen, ich sage euch: wenn einer mein Wort bewahrt,wird er den Tod in Ewigkeit nicht schauen (Joh 8,49-51). Es bewahrenwie die seligste Jungfrau (Lk 11,28); es hüten wie David (Ps 119). Dasagten die Juden: Nun erkennen wir, daß du einen bösen Geist hast.Abraham ist gestorben und die Propheten sind gestorben; was machstdu aus dir selbst? Jesus antwortete: Wenn ich mich selbst rühme, istmeine Ehre nichtig; mein Vater ist es ... (Joh 8,52-54).

Dtn 4,29: Wenn du den Herrn suchst, wirst du ihn finden, allerdingsnur, wenn du ihn von ganzem Herzen mit aller Kraft deiner Seele suchst.Joel 2,13: Zerreißt eure Herzen. Ps 51,19: Ein Opfer für Gott ist einzerknirschter Geist und ein reuevolles Herz ... Ps 4,5: Bereut auf euremLager. Ps 51,5: Meine Sünde steht mir stets vor Augen. Jona 3,8: DerMensch wende sich von seinem bösen Weg ab. Ps 50,11: Wende deinAngesicht ab von meinen Sünden. 2 Sam 24,10.17: David aber klagtesein Herz an und sagte: Mit dieser Tat habe ich schwer gesündigt; ichbitte dich, deine Hand wende sich gegen mich. Jer 2,27: Sie kehrte mirden Rücken zu, nicht das Gesicht. Gen 4,16: Er floh vor dem Angesichtdes Herrn. Klgl 4,8: (Ihr Gesicht) wurde schwärzer als Kohle.

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Zum FZum FZum FZum FZum Fest Christi Himmelfahrest Christi Himmelfahrest Christi Himmelfahrest Christi Himmelfahrest Christi Himmelfahrttttt

Nr. 72 (Entwurf): Thonon, 24. Mai 1607 VIII, 20-25Nachdem Jesus mit ihnen gesprochen hatte, wurde erin den Himmel aufgenommen und sitzt zur RechtenGottes (Mk 16,19).

Als Elija entrückt wurde, bat ihn Elischa, daß ihm sein Geist dop-pelt zuteil werde. Elija sagte zu ihm: Du verlangst etwas Großes; gleich-wohl, wenn du mich auffahren siehst, wird es geschehen: wenn du nichtssiehst, wird es nicht geschehen (2 Kön 2,9f). Ebenso sicher wird uns,meine Zuhörer, wenn wir Christus auffahren sehen, der überreicheSchatz seiner Gaben zuteil werden. Sehen wir ihn also mit den Augendes Geistes in den Himmel auffahren. Damit aber die Augen nichtgeblendet werden und erblinden, laßt uns von Gott die Gnade erbit-ten, daß er sich zeige, durch die Fürsprache derjenigen, durch die eruns sichtbar wurde.

Schön früher, als Christus seinen Jüngern verheißen hat, daß er ih-nen sein Fleisch, sich selbst als das lebendige Brot vom Himmel gebenwerde, schien ihnen das hart. Deshalb sagten sie: Wie kann das gesche-hen? Und: Diese Rede ist hart. Und sie murrten. Christus aber wußte... Ihr nehmt daran Anstoß? Wenn ihr aber den Menschensohn dahinauffahren sehen werdet, wo er zuvor war? (Joh 6,53-63). Er sah näm-lich voraus, daß von der Himmelfahrt Christi viele eine Ablehnungdes Sakramentes der Eucharistie ableiten werden, wie es alleSakramentarier unserer Zeit tun. Vor allem will ich daher ihre Dor-nen ausreißen und dann Blumen pflanzen.

Die Häretiker suchen gewöhnlich die Extreme. Die Kirche, sagtTertullian, ist wie Christus in allem stets inmitten von Räubern ge-kreuzigt. Was z. B. die Heilige Schrift betrifft, wollen Schwenckfeld,Quintinus und Chapinus nichts vom Wort wissen, sondern nur von derInspiration; die meisten anderen glauben der Kirche nichts und beru-fen sich auf die Eingebung des Heiligen Geistes. In der heiligsten Drei-faltigkeit lassen Servetus und Paulus von Samosata keine Unterschei-dung der Personen zu. Valentinus Gentilis behauptet eine dreifacheWesenheit. In Christus will Nestorius zwei Personen sehen, Eutychesnur eine Natur. Was die Verehrung der seligsten Jungfrau betrifft,wollen die Collyridianer sie durch Opfer anbeten, Copronymus hältsie keiner Verehrung für würdig. Bezüglich der Buße hält Novatuskeine für ausreichend, Pelagius jede. Um auf unseren Gegenstand zukommen, behaupten in unserer Zeit bezüglich des Geheimnisses der

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Eucharistie die Ubiquisten, daß Christus überall sei; andere sagen, ersei nirgends in dieser Welt zu finden, sondern nur außerhalb der Weltim Himmel; die einen sagen, er sei nicht aufgefahren, die anderen, ersei nicht auf Erden geblieben.

Die katholische Kirche dagegen geht mitten durch sie hindurch (Lk4,30), geht den Mittelweg und sagt weder, er sei überall, noch er seinirgends in der Welt; sie lehrt vielmehr, daß er im Sakrament desAltares gegenwärtig ist, wo er es sein wollte. Warum? Weil er, derbeides konnte, das eine wie das andere gesagt hat. Er hat nicht etwasgesagt und es nicht gewollt. Wenn die Häretiker unserer Zeit zweiWahrheiten in der Heiligen Schrift finden, von denen sie nicht begrei-fen, wie sie gleichzeitig bestehen können, pflegen sie oft immer einedurch die andere zu verwerfen, obwohl zwischen ihnen kein Gegen-satz besteht. Ein Beispiel: Der Glaube rechtfertigt (Röm 4 u. 5; Gal3); also, sagen sie, rechtfertigen die Werke nicht, obwohl es die Heili-ge Schrift ganz klar von beiden sagt. Die Kirche lehrt nach Jakobus(Kap 2): der Glaube und die Werke. Man muß am geschriebenen WortGottes festhalten; also, sagen sie, muß man die Überlieferung verwer-fen. Die Kirche sagt: Haltet fest an der Überlieferung, die ihr empfan-gen habt, sei es durch die Predigt oder durch unseren Brief (2 Thess2,14). Man muß seine Schuld vor Gott bekennen; also nicht vor denDienern Christi. Die Kirche sagt aber: sowohl vor Gott als auch vorseinen Dienern. Und so ist es fast immer wie hier: Es ist ein Glaubens-artikel: „aufgefahren in den Himmel“; also, sagen sie, ist er in derEucharistie nicht gegenwärtig. Die Kirche dagegen sagt: Er ist im Him-mel und in der Eucharistie gegenwärtig. Der ganze Beweis für die Tat-sächlichkeit ist die Allmacht dessen, der es bewirkt.

An dieser Klippe pflegt der menschliche Verstand sehr oft zu schei-tern. Als Abraham hört, daß er als Greis einen Sohn als Erben bekom-men soll, versteht er das so, daß Elizier gemeint sei (Gen 15,2f). Gotthat einen Nachkommen verheißen (13,6); darunter versteht Abrahamden Sohn des Elieser. Gott kündigt einen Sohn von Sara an; da lachtAbraham: Glaubst du, ein Hundertjähriger ...? (17,16f). Möge nur Ismaelam Leben bleiben (17,18). Auch Sara lacht (18,2). Gott ist größer alsunser Herz (1 Joh 3,20). Nachher glaubte Abraham gegen alle Hoff-nung (Röm 4,18), als er Isaak opferte, über dessen Nachkommen-schaft ihm eine so große Verheißung zuteil geworden war.

Niemand zweifelt mehr, daß Christus seine Himmelfahrt durch Zeu-gen bestätigt hat; seine Gegenwart in der Eucharistie wollen wir nunkurz aus der Heiligen Schrift beweisen. Er verheißt, er bewirkt, erlehrt sie. Er belehrt den hl. Paulus: Denn ich habe vom Herrn empfan-

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gen ... In der Nacht, da er verraten wurde ..., nahm er das Brot (1 Kor11,23). Er verwandelte in seinen Leib, was früher Brot war; wie dasWasser in Wein (Joh 2,9), wie die Rippe Adams in Eva (Gen 2,7.21f).Manna? Was ist das? Das ist das Brot, das der Herr als Speise gegebenhat (Ex 16,15). Die Israeliten glaubten; sie sagten nicht: es hat nichtdie Gestalt des Brotes, sondern von Koriander oder von Rauhreif;vielmehr sammelten es alle. Nun aber sagt Christus: Das ist mein Leib(1 Kor 11, 24); was zweifelst du? Ohne Zweifel ist es der Leib Christi.Das Manna fiel in der Nacht, damit die Israeliten nicht sahen, wie esgeschah, sondern an das Geschehene glaubten. Glaub an die Tatsache,ohne zu forschen, wie es geschah.

Ferner berief sich auch Chrysostomus vor 1300 Jahren auf diesesWunder (De Sacerdotibus III, § 4): „O Wunder“, sagt er, „o GüteGottes! Der mit dem Vater in der Höhe thront, wird gleichzeitig vonallen in Händen gehalten und überläßt sich selbst allen, die ihn auf-nehmen und umfangen wollen.“ Und (Homil. 2 ad Antioch. § 9): „Elijahinterläßt seinem Schüler den Mantel (2 Kön 2,13), der Sohn Gotteshinterläßt bei der Himmelfahrt seinen Leib. Aber Elija hat sich ent-blößt; Christus dagegen hat uns seinen Leib verborgen hinterlassenund besitzt ihn zugleich selbst.“

Schließlich widerspricht die Himmelfahrt nicht nur nicht dem Glau-bensartikel von der Eucharistie, sondern bekräftigt ihn. Denn seht doch,welcher Leib: nicht mehr fleischlich sondern vergeistigt, der die Him-mel durchdringt (1 Kor 15,44).

Nun denn, es ist etwas überaus Beglückendes, in rechter Weise so-wohl das eine wie das andere zu glauben. Da aber heute das Fest deszweiten ist, nämlich der Himmelfahrt, wollen wir darüber ein wenigbetrachten. Nachdem der Erlöser am Kreuz erhöht wurde, ist es gewißsehr angebracht, daß er in der Herrlichkeit erhöht wurde. Darin liegtdas letzte und vollendende Geheimnis der Erlösung: Er liebkose michmit dem Kuß seines Mundes ... Mein Vielgeliebter, flieh dem Reh unddem jungen Hirsch gleich auf die Balsamberge (Hld 1,1; 8,14). Aberwarum nimmt er uns nicht mit? Der Magnet zieht das Eisen an, wennnicht ein Diamant, Fett oder Knoblauch zwischen ihnen liegt und esverhindert. Phil 1,23: Nach beiden Seiten zieht es mich hin ...

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Zum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten Empfängnis

Nr. 74 (Entwurf): 8. Dezember 1608 VIII,28-31

Mein Geliebter ist mein und ich bin sein. Er weidetunter Lilien, bis der Tag anbricht und die Schattenweichen (Hld 2,16f).

Die große Liebe, die Unser Herr für Unsere liebe Frau hegt, durchdie er vollkommen der Ihre wird, ist die Ursache, daß umgekehrtUnsere liebe Frau ganz die Seine ist und folglich keine Sünde begehenkonnte. Die göttliche Majestät will, daß wir ihr ganz gehören. Ihr seht,ich will eine Predigt ganz voll Liebe halten, aber ich kann das nicht,wenn nicht der Heilige Geist, die himmlische Liebe, mich beseelt undwenn mir diese Gnade nicht durch jene erwirkt wird, die von ihmmehr Liebe empfangen hat als irgendein Geschöpf.

Alle Kirchenväter bestätigen, daß mit den Worten des Hoheliedesdie gegenseitige Liebe zwischen Bräutigam und Braut beschriebenwird. Darin gibt es keine Schwierigkeit. Da ist die Liebe des Bräuti-gams zur Braut: Mein Geliebter ist mein; und der Braut zum Bräuti-gam: und ich bin sein. Da nun Christus der Bräutigam ist, laßt uns,obwohl es nicht den geringsten Zweifel an seiner Liebe gibt, zu unse-rem Trost die Erweise der Liebe Christi gegen seine Mutter sehen.

Das erste Zeichen der Liebe ist die affektive Einheit, d. h. die Ein-heit des Willens. Daher sagt Christus (Joh 14,23): Wenn jemand michliebt, wird er mein Wort bewahren. 1 Joh 2,4: Wer sagt, er liebe Gott,aber seine Gebote nicht hält, der ist ein Lügner. Apg 3,32: Sie waren einHerz und eine Seele. 1 Sam 18,1: Die Seele Jonatans war mit der SeeleDavids verschmolzen. Deshalb lobt Augustinus (Bekenntnisse 4,6) je-nen, der vom Freund sagt, er sei „die Hälfte seiner Seele“; denn durchdie Zuneigung ist der Freund das zweite Ich. Ich kann mir aber nichtversagen, zwei Dinge anzuführen: einerseits die Geschichte dieserFreundschaft des Augustinus, andererseits den Widerruf jener Worteim 6. Kapitel: „Der von der Hälfte sprach“, ist Horaz (Retract. II,6),der von Vergil, als er zur See fuhr, sagte: „Achte auf die Seele, die dieHälfte der meinen ist“ (Carm. I,3,8).

Wie aber ist Christus mit der Mutter eins geworden? Lk 2,51: Er warihnen untertan, um stets ihren Willen wie den der vielgeliebten Brautzu erfüllen. Sie war umgekehrt Christus aufs engste verbunden: Legemich wie ein Siegel auf dein Herz (Hld 8,6). Ich schlafe, aber mein Herzwacht (5,2). Das gilt vom Herzen der seligsten Jungfrau für Christus;

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ebenso das andere (Lk 2,35): Deine Seele wird das Schwert des Schmer-zes durchbohren. Hugo versteht darunter die Seele Christi, die dieSeele Marias ist; daher steht sie beim Kreuz, an Gitter gebunden ... wieeine Lilie unter Dornen (Hld 7,6; 2,2).

Das zweite Zeichen der Liebe ist das innigste Anhangen, entspre-chend dem Philipperbrief (1,7): Weil ich euch in meinem Herzen trage.Die Seele Jonatans war verschmolzen. Ps 63,9: Meine Seele haftet andir. Ps 73,28: Es ist gut für mich, Gott anzuhangen. So war die Liebezwischen Noomi und Rut (1,14-18). Daher war die Vereinigung Chri-sti mit der seligsten Jungfrau die innigste überhaupt, folglich auch dieder seligsten Jungfrau mit Christus. Daher gilt von ihr: Mein Geliebterist mein. Hld 3,2: Ich will ihn suchen, den meine Seele liebt. Röm 8,35:Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Gal 2,19: Mit Christus binich ans Kreuz geheftet.

Das dritte Zeichen ist die Ekstase oder Entrückung. DionysiusAreopagita sagt, daß Christus in Ekstase geriet, als er in den Schoß derJungfrau kam. Sir 24,3: Ich bin aus dem Mund des Allerhöchsten her-vorgegangen vor aller Schöpfung. Umgekehrt geriet auch die seligsteJungfrau außer sich. Phil 1,21: Für mich bedeutet leben Christus, ster-ben ist mir Gewinn. Gal 2,20: Ich lebe, aber nicht mehr ich. Daraufbezieht sich Hugos Gedanke.

Das vierte Zeichen ist der Eifer, von dem es zwei Arten gibt: denEifer des Begehrens, z. B. jener, die nach Würden streben; da er sichauf ein begrenztes Gut richtet, heißt er Neid. Der Eifer der Freund-schaft hält das Böse vom Freund fern. Diesen Eifer besaß die seligsteJungfrau im höchsten Grad; für das Haus Gottes. 2 Kor 11,29: Wernimmt Anstoß, ohne daß ich entbrenne? Der Eifer Christi für die seligsteJungfrau. Hld 8,6: Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz. Hld 4,12:Der verschlossene Garten. Hld 2,15f: Fangt die kleinen Füchse, die denWeinberg verwüsten, denn mein Weinberg blüht bereits. Mein Geliebterist mein.

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Zum AschermittwochZum AschermittwochZum AschermittwochZum AschermittwochZum Aschermittwoch

Nr. 78: Annecy, 4. März 1609 VIII,43-58

Sammelt euch Schätze im Himmel (Mt 6,20). Beden-ke, o Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zu-rückkehren wirst (Gen 3,19).

Hld 2,11: Schon ist der Winter gewichen, der Regen hat aufgehörtund ist vorüber; jener fleischliche Winter, der die Seelen verroht, deralle geistliche Schönheit der Erde und der Seelen verblassen ließ unddie Regungen der Herzen lähmte, der den nassen, unheilvollen Regenschimpflicher Vergnügungen hervorbrachte. Weichen und aufhörensoll diese Zeit des Fleisches; vergehen sollen diese Tage und nichtmehr den Jahren zugerechnet werden; sie sollen ewiger Vergessenheitverfallen (Ijob 3,3.6). Komm, ja komm, günstige Zeit (Koh 6,4);kommt, ja kommt, Tage des Heiles (2 Kor 6,2); eure Augenblickemögen zu Stunden werden, die Stunden zu Tagen, die Tage zu Wochen,die Wochen zu Monaten, die Monate zu Jahren, die Jahre zu Jahrhun-derten und die Jahrhunderte zu dauernder Ewigkeit (Dan 12,3). Wennauch die quakenden Frösche sich in den Sümpfen des Regens unddieser trüben Zeit erfreuten, so beglückwünschen doch die himmli-sche Nachtigal und die Turteltaube einander ob der Zeit der trockenenFasten und der hellen Buße; sie erfreuen uns mit ihrem Gesang, ver-bunden mit den lieblichsten Stimmen der Buße und der Hoffnung.Hören wir Christus als Nachtigal singen: Sammelt euch Schätze ...Hören wir die Stimme der Kirche, der Turteltaube auf unserer Erde(Hld 2,12): Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und zum Staub zu-rückkehren wirst. Das sind die einleitenden Gesänge der ganzen Fa-stenzeit; das sind die beiden Enden des Weges der Bußfertigen: derAusgangspunkt von der Asche, der Zielpunkt, zum Himmel; von derArmseligkeit zu den Schätzen. Von diesen beiden soll die erste Pre-digt handeln, von den Mitteln die übrigen.

Sieh mich, Herr: Ich bekenne vor dir, Vater, Herr des Himmels undder Erde (Mt 11,25): Staub bin ich und Asche (Gen 18,27), und willdennoch Schätze sammeln von den Reichtümern deines Wortes; nichtnur für mich, sondern auch für meine vielgeliebten Kinder. „Was sollich Armer tun?“ In mir sind alle Reichtümer des Elends und der Nied-rigkeit verborgen, ja auch offenkundig; in dir aber sind alle Schätzeder Weisheit und der Wissenschaft verborgen (Kol 2,3), wenn auch jetzt

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nicht offenbar. Aber die Schätze meines Elends sind in der Erde ver-graben, die deinen sind im Himmel; und soweit der Himmel von derErde entfernt ist, so fern sind deine Gedanken meinen Gedanken (Ps103,11; Jes 55,9). Wie soll also der Mensch, d. h. meine Armseligkeit,Zugang finden zum erhabenen Herzen (Ps 64,7), d. h. zu deinen rei-chen Schätzen? Wie soll ich von Staub und Asche zum Himmel gelan-gen? Wohlan denn, meine Fürsprecherin, Himmelsleiter, Gottesberg,Mittlerin, durch die Gott zu meiner Armseligkeit kommt, erwirkemir, daß meine Armseligkeit vor Gott hintritt. Meine teuerste Mutterund Herrin, sage mir, ob jene Schätze der Weisheit und Wissenschaftnicht im Wort Gottes, im Sohn Gottes erstrahlten, ehe du ihn in dei-nem Schoß empfangen hast? Du aber, verehrungswürdigste Herrin,hast diese Schätze in deinem Leib bedeckt und verborgen; in ihm sindsie ja verborgen. Wer verbirgt sie demnach? Nicht du, heilige Jung-frau? Doch sage mir, gütigste Mutter, für wen verbergen denn die Müt-ter die Schätze, wenn nicht für ihre Kinder? Also hast du sie für unsverborgen. Doch breite nun aus, was du verborgen hast, da dein Sohn,vom Übermaß des Reichtums seiner Schätze erfüllt, gleichsam über-fließt und ausruft: Sammelt euch Schätze im Himmel.

Herr, im Himmel gibt es nur Schätze der Weisheit, der Wissenschaftund der Güte. Du aber hast sie alle, denn alle sind in dir. Wieso sagstdu dann: sammelt Schätze. Gib du selbst uns Schätze, und wir werdenreich sein. Da deine Mutter sie gleichsam als Schatzmeisterin verbor-gen hat, befiehl, daß sie uns diese eröffne. Gütige Mutter, öffne uns,was du verborgen hast. Doch wenn wir Reichtümer gesammelt haben,verbirg diese Schätze wieder in uns, wie du sie in deinem Sohn verbor-gen hast. Du hast die Reichtümer des Sohnes unter der Niedrigkeit dessterblichen Leibes verborgen; in uns seien sie verborgen im Gedankenan den Tod und das Ende. Demütigste Herrin, lehre uns die Demut.Herr, Gott, bedenke, daß wir Staub sind und zum Staub zurückkehrenwerden. Willst du deine Macht zeigen am Staub, den der Wind desTodes vom Angesicht der Erde fegt, und willst du einen trockenen Stroh-halm verfolgen? (Ps 1,5; Joh 13,25). Herr, vergib uns, und wir werdenBuße tun. Gewähre uns vierzig Tage, und wenn wir nicht Buße tun,dann vernichte uns (Jona 3,4). Ja, Herr, im Eifer für deine Liebe willich sprechen: Wie du gütig denen verzeihst, die Buße tun wollen, sogebe ich zu, daß du jenen nicht vergibst, die deiner spotten, Herr, unddeine Barmherzigkeit mißbrauchen.

Ja, meine Brüder, wir sterben; das Reich Gottes naht immer mehrund durch die Buße werden unvergängliche Schätze erworben. Be-kehrt euch daher und tut Buße (Joel 2,12f; Mt 3,2). Den Unbußferti-

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gen droht ja die Strafe der Hölle, den Bußfertigen gehört das Himmel-reich. Du aber, Herr, Vater, Sohn und Heiliger Geist, gib uns allendeinen Segen.

Um Holofernes zu töten, teuerste Brüder, machte sich die keuscheJudit in zwei gegensätzlichen Gewändern bereit; denn zuerst trug sieein Bußgewand und bedeckte sich mit Asche, dann legte sie die bestenKleider an und all ihren Schmuck (Jdt 9,1; 10,3). Um Holofernes zubesiegen, d. h. den Teufel mit all seinen Kriegern, der Welt, dem Fleischund ihren Lockungen, müssen auch wir zweierlei tun, meine Brüder:1. uns mit Sack und Asche bedecken, den Leib unterjochen, das Fleischabtöten: Bedenke, Mensch ... Bekehrt euch zu mir in Fasten, Weinenund Wehklagen (Joel 2,12). 2. müssen wir die Seele mit allem Ge-schmeide schmücken: Sammelt euch Schätze. Weil aber die Seelewertvoller ist und die körperliche Übung der Schönheit der Seele dient,wollen wir zunächst vom Schätzesammeln sprechen.

Als Schatz bezeichnet man „in alter Zeit hinterlegtes Geld, an dassich niemand erinnert, so daß es keinen Eigentümer hat.“ Andere, wieKaiser Leo (bei Hilaret) „bewegliche Güter, die von Unbekannten inalter Zeit versteckt wurden“. Augustinus (bei Thomas) meint dassel-be, ohne vom Alter der Zeit zu sprechen; er sagt aber, der Schatzbestehe entweder aus Geld, das dem Grünspan, aus Kleidern, die denMotten, oder aus Edelsteinen, die Räubern zum Opfer gefallen sind.In der Heiligen Schrift scheint das Wort Schätze sammeln dreierlei zuenthalten 1. das Sammeln (anhäufen), 2. von kostbaren Dingen, 3. dieverborgen sind. So heißt es in Ex (28,12): Der Herr wird dir seinenbesten Schatz öffnen, den Himmel. um dir zur rechten Zeit Regen zugewähren. Im Himmel wird ja das Regenwasser gesammelt, das zuseiner Zeit kostbar ist, und in den Wolken verborgen. Num 20,6: Herr,öffne ihnen deinen Reichtum, die Quelle lebendigen Wassers. Ps 33,7:Er verschließt die Abgründe in den Schätzen. Ps 135,7: Er bringt ausseinem Schatz die Winde hervor. Dagegen wird auch die Anhäufungaußergewöhnlicher Strafen ein Schatz genannt. Röm 2,5: Du häufstdir Zorn für den Tag des Gerichtes an. Dtn 32,33f: Drachengalle ist ihrWein und unheilbares Gift. Ist das nicht bei mir verborgen und versiegeltin meinen Schätzen?

Was drückt nun der Herr damit aus? Offenbar spricht er von Fasten,Gebet und Almosen, von denen das ganze 6. Kapitel handelt; ihreWerke nennt er echte Schätze, wenn sie recht geschehen. Damit aberdiese Werke zu Recht Schätze genannt werden können, müssen gleich-

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zeitig drei Bedingungen erfüllt sein. 1. müssen viele gesammelt wer-den; niemand wird ja ein Goldstück einen Schatz nennen. Das zeigt ermit den Worten: Sammelt euch Schätze. Obwohl das ein Hebraismusist, bezeichnet es doch eine große Menge: voll Erwartung erwarten,Tränen weinen, schreiend rufen, das bedeutet „viel“. So heißt Schätzesammeln, ungeheure Schätze anhäufen. Diese Habsucht der KinderGottes ist heilig, weil sie nie genug bekommen an guten Werken. Da-her werden in der Heiligen Schrift die Armen und die Bettler frommgenannt, denn obwohl sie gute Werke im Überfluß haben, betteln siedoch immer. Ps 10,17: Das Verlangen der Armen (hat der Herr erhört).Ps 22,27: Die Armen werden essen und gesättigt werden. Mt 5,3: Seligdie Armen im Geiste (griechisch Bettler; so Sa nach Maldonat). Mt5,6: Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, d. h. die heiligsind, die stets danach streben. Leib und Geist sind Gegensätze, daherfast alles, was sie betrifft. Die äußere Habsucht ist die Wurzel aller Übel(1 Tim 6,10), die geistliche Habsucht die alles Guten. Die mich ko-sten, werden noch hungern, die mich trinken, werden noch dürsten (Sir24,28). Es gibt manche Christen, die sich mit einem noch so kleinenguten Werk begnügen; sei es, daß sie ein Vaterunser beten, einen Bis-sen Brot schenken, ein kleines Unrecht verzeihen, sie werden nie Schät-ze sammeln.

Wer aber sammeln will, muß auch das Kleinste beachten, Neues undAltes (Mt 23,52), im Kleinen treu sein (25,21), nichts geringachten; erwird seine Hand an Großes legen (Spr 31,19), an das Geschäft, und dieSpindel ergreifen. Ihr seht die Bienen sich auf Rosen, Lilien und diegrößten Blumen niederlassen; sie sammeln den Honig aber ebensoaus Thymian, Rosmarin und anderen ganz kleinen Blumen, die abernützlicher sind wegen ihrer Menge und weil der Honig in ihren engenGefäßen besser geborgen ist und weniger verdunstet. Was sollt ihrdemnach tun? Hört in dieser Fastenzeit das Wort Gottes, genießt es inder Eucharistie, fastet, gebt Almosen, besucht die Armen: das sind diegroßen Werke. Und was sind die kleinen? Enthaltet euch des Vergnü-gens unnützer Unterhaltungen, überflüssigen Schmuckes; beherrschtdie geringsten Leidenschaften; verrichtet oft kleine aber sehr häufigeStoßgebete, sagt ein gutes Wort, demütigt euch, usw.

2. Es müssen kostbare Dinge gesammelt werden; denn wer gewöhn-liches Metall sammelt, wird weniger einen Schatz sammeln als irgend-einen Haufen. Es gibt ein Herrenwort: „Seid tüchtige Geldwechsler“(bei Cassian, Coll. 1, c. 20, der die Stelle bewundernswert auslegt).Das zeigt der Herr mit den Worten (Mt 6,16): Wenn ihr fastet, machtnicht wie die Heuchler ein finsteres Gesicht, um von den Menschen

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gesehen zu werden. Das ist ein Fasten, aber ein falsches, wertloses undnichtiges: 1) weil er ein Heuchler ist; 2) weil es geschieht, um von denMenschen gesehen zu werden. Dieses Fasten ist ein Schatten des Hun-gers, weiter nichts. Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn empfan-gen, d. h. (den Lohn ihrer) Eitelkeit. Ps 4,3: Wozu liebt ihr die Eitelkeit?Eitle Werke erhalten als Lohn Eitelkeit.

Du willst fragen: Wie soll ich fasten? 1. Du aber, der du kein Heuch-ler bist, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht (Mt 6,17). Hierony-mus: Er spricht nach dem Brauch des jüdischen Volkes; denn an Fest-tagen und bei Gelagen salbten sie das Haupt und wuschen das Gesicht.Zeigt euch festtäglich, setzt eure Feiertagsmiene auf. Chrysostomussagt: das Haupt ist Christus; wir salben es durch Barmherzigkeit ge-gen die Armen, etc. Wasche das Gesicht, d. h. das Gewissen.Augustinus: Salbe das Haupt, d. h. den Geist, den höheren Teil derSeele, in geistlicher Freude; wasche das Gesicht, d. h. die niedere See-le, die durch die Sinne wirkt. Daher sagt Bernhard: „Wenn nur dieKehle gesündigt hat, soll sie allein fasten; haben aber auch die anderenGlieder gesündigt, warum sollen sie nicht ebenfalls fasten?“ (siehe dieStelle zum Wort Fasten). – 2. Wascht euch, seid rein, entfernt das Übelaus euren Gedanken (Jes 1,16). Wasche dein Herz von Bosheit rein,Jerusalem (Jer 4,14). So zeige mir dein Gesicht, deine Stimme klinge anmein Ohr (Hld 2,14). So ist dein Gesicht schön und anmutig, klingtauch deine Stimme angenehm. Sing mir kein Lied, ehe ich dich vonAngesicht gesehen habe. Gott schaute auf Abel und auf seine Gaben(Gen 4,4). So wünsche ich also, daß ihr alle euch über diese Zeit desvierzigtägigen Fastens freut und sogleich beichtet, damit eure Werkeaus Gold sind und geeignet, von ihnen Schätze zu sammeln.

3. Man muß seine Absicht ausrichten, denn von ihr hängt die Gütedes Werkes ab. Wenn auch die meisten meinen, so u. a. Suares, siemüsse nicht notwendig ausdrücklich und aktuell sein, so ist es dochsicherer und besser, eine ausdrückliche Absicht zu haben und die Augenauf Gott zu richten. Ps 123,1f: Zu dir erhebe ich meine Augen, der duim Himmel wohnst; wie die Augen der Sklaven auf die Hände ihrerHerren gerichtet sind. Auf die Hände sind sie gerichtet, denn was dieHände des Herrn anzeigen, suchen die Hände des Sklaven zu tun. DasAuge aber mahnt, es zu tun. Hld 4,9: Mit einem deiner Augen hast dumich verwundet. Daraus folgt: Laß die Menschen nicht merken, daß dufastest, sondern deinen Vater, der im Verborgenen sieht; und dein Vater,der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten (Mt 6,18). Er wird dirvergelten, was du ihm zuliebe tust, doch nicht das gleiche, sondern

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reichen Lohn. Die Insel Halones, die einst den Athenern gehörte, wur-de von Räubern besetzt. Philipp von Mazedonien eroberte sie zurück.Die Athener verlangten von ihm, daß er sie zurückgebe. Er versprach,sie ihnen zu schenken, nicht zurückzugeben. Die Athener wollten sienicht als Geschenk, sondern zurückerstattet haben. Vergelten bedeu-tet eine Verpflichtung; Gott hat sich allerdings zur Belohnung ver-pflichtet. Daher heißt es Hebr 6,10: Gott ist nicht ungerecht, daß ereurer Werke vergäße.

4. Um die Schätze besser zu verbergen, müssen wir sie mit der Ascheder Demut bedecken. Die Erze liegen unter trockener und unfruchtba-rer Erde. „Bedenke, Mensch.“ Den Ausspruch Augustins vom Pelikan(am Anfang der Rückseite) bringen. Den Vergleich vom Blutsaugervortragen. Sir 24,19f: Auf den Plätzen verströmte ich den Duft wie vonZimt und Balsam. Der beste Balsam sinkt zu Boden, das Olivenölschwimmt obenauf. Die Liebe bringt gute Werke hervor, die Demutbewahrt sie. Die Bienen bereiten den Honig, und um ihn zu bewahren,machen sie das Wachs. Sammelt Schätze im Himmel. Ermunterung.Seht, der Winter ist gewichen, wie am Anfang.

Um die Motten und Schaben zu hindern, daß sie das Tuch zerstören,muß man das Tuch mit Aluin bedecken, einer bitteren Pflanze wie derAbsinth, wenn es nicht eine Absinth-Art ist. Ebenso schützt eine Schlan-genhaut, über die Kleider gebreitet, diese vor Motten und anderemUngeziefer. Die Haut der ersten Schlange ist der Tod, den sie unsgebracht hat. Ebenso bedeutet die Haut der Schlange die Buße.*

Der hl. Augustinus zu Ps 102,7: Wie der Pelikan in der Wüste: „Mansagt, diese Vögel töten ihre Jungen durch Hiebe ihres Schnabels undbetrauern sie dann drei Tage; schließlich verwundet sich die Mutterselbst und besprengt sie mit ihrem Blut, durch das sie wieder lebendigwerden. Christus hat uns gegenüber väterliche Macht und mütterlicheLiebe, wie die Henne (Mt 23,37), die ihre Jungen mit Autorität sam-melt und mit Liebe wärmt. So war Paulus Vater: Denn hättet ihr auchzahllose Lehrer, so doch nicht viele Väter (1 Kor 4,15); er war ebensoMutter: Meine Kindlein, die ich von neuem gebäre (Gal 4,19). WieChristus uns mit seinem Blut Leben schenkt, ist klar; nicht dagegen,

* Die folgenden Seiten (von der Rückseite des Manuskripts dieser Predigt: VIII,54-58) enthalten eine Materialsammlung zum Thema, die später ergänzt wurde.Davon wird die in dieser Predigt verwendete Stelle von Augustinus wiedergege-ben.

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wie er uns mit seinen Mund tötet. Aber er tötet, wie er Paulus wie totzu Boden warf, und belebt, wie er ihn zu predigen sandte (Apg 9,4.15).Christus tötet alle Sünder mit seinem Mund, da er sie tötet und in dieUnterwelt führt und dadurch zeigt, daß sie den ewigen Tod verdienthaben; die Reue ist gleichsam der Tod der sündigen Seele. Doch die erdes Todes würdig erweist, belebt er wieder durch das Verdienst seinesBlutes und führt sie zu neuem Leben. So tötet auch jetzt die Kirche:„Bedenke, Mensch, daß du Staub bist.“ Dann belebt sie euch wieder:Sammelt Schätze ...

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I.

Nr. 80 (Zusammenfassung): 28. November 1610 VIII,62f

Hätten die Söhne Jakobs gewußt, daß Josef Vizekönig und ihr Rich-ter sein wird, dann hätten sie ihn gewiß äußerst freundlich empfangen,als er in Dotan zu ihnen kam (Gen 37,17). Seht, Christus kommt unssuchen; die Kirche lädt uns ein, ihn gut zu empfangen: Es werdenZeichen sein ... Wie nützlich ist die Gottesfurcht; wie richtig ist dieFurcht vor dem Gericht ...

Gottesfurcht. Ekkl 12,13: Fürchte Gott und halte seine Gebote, denndas ist jedes Menschen Sache. Ps 111,10: Die Furcht des Herrn ist derAnfang der Weisheit. Ps 112,1: Glücklich, wer den Herrn fürchtet; inseinen Geboten ... Ps 128,1: Selig, die den Herrn fürchten, die wandeln... Ps 115,11: Die den Herrn fürchten, hoffen auf ihn; ihr Helfer ... Jes11, 2: Und der Geist der Furcht des Herrn wird ihn erfüllen. Hierony-mus fragt, warum es nur von der Furcht heißt, daß er ihn mit ihr er-füllt. Weil die Furcht allen notwendig ist, sagt er. Ihre reiche Quellemußte in dem sein, der sie allen mitteilen mußte; denn die Furchtmacht die Seele für die Liebe bereit, und wie Augustinus sagt, ist dieFurcht die Dienerin der Liebe, die ihr die Wohnung bereitet. Dahersagt die seligste Jungfrau (Lk 1,50): Und sein Erbarmen gilt von Ge-schlecht zu Geschlecht allen, die ihn fürchten.

Damit ihr eine so wichtige Sache recht versteht, müßt ihr wissen,daß es zweierlei Furcht gibt, die menschliche und die göttliche; diemenschliche aber in zweifacher Weise: als bürgerliche oder morali-

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sche und als weltliche. Moralisch fürchten wir die Richter, die nachPaulus (Röm 13,4) nicht ohne Grund das Schwert tragen. WeltlichPilatus, Herodes, der hl. Petrus; im Gegensatz dazu die Märtyrer,Susanna, Josef. Mt 10,28: Fürchtet nicht jene, die den Leib töten. Diegöttliche Furcht ist vierfältig: servil, die Sklaven. Ps 119,120: Durch-dringe mein Fleisch mit deiner Furcht, denn ich bange vor deinen Urtei-len. Augustinus unterscheidet sie in der Erklärung der Worte (Ps 149):Um ihre Könige in Ketten zu legen und ihre Edlen in eiserne Bande, vonjenen, die goldene Ketten tragen, d. h. Bande der Liebe. Hos 11,4: Ichwill sie mit Banden Adams anziehen, mit Banden der Liebe.

II.

Nr. 82 (Fragment): 27. November 1611 VIII,68-71

Die Natur hat verschiedene Zeiten geschaffen und jeder einen be-sonderen Charakter gegeben, so dem Winter die Kälte, dem Sommerdie Hitze, mäßige Wärme dem Herbst und dem Frühling. So feiertauch die Kirche verschiedene Feste, etc.

Am vierten Schöpfungstag sprach Gott: Am Himmel sollen Leuch-ten entstehen, sie sollen Tag und Nacht voneinander scheiden und sol-len Zeichen der Zeiten, der Tage und Nächte sein, auf daß sie am Fir-mament des Himmels leuchten und die Erde erhellen (Gen 1,14f).

Wenn sich bei einer öffentlichen und feierlichen Versammlung alleentfernt haben, löschen die Diener die Lichter, die sie tragen, und mangeht durch das ganze Haus, um alle Fackeln löschen zu lassen. Wenndas Ende der Welt kommt und alle Bewohner gestorben sind, wirdGott ebenso die Lichter am Himmel ausgehen lassen: Die Sonne wirdverfinstert und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben (Mt24,29). Es wird nicht mehr notwendig sein, Tag und Nacht voneinan-der zu scheiden, denn im Himmel wird für die Heiligen ewiger Tagsein, für die anderen ewige Nacht. Es wird keine Zeichen mehr geben,sondern die Wirklichkeit, keine Tage mehr, sondern die Ewigkeit. DerHimmel bedarf nicht mehr der Sterne, denn die (Leiber der) Seligenwerden ihre Stelle einnehmen: Die Gerechten werden leuchten wie dieSonne und wie strahlende Sterne in alle Ewigkeit (Mt 13,43; Dan 12,3).Auch die Erde braucht nicht mehr erleuchtet zu werden, denn es wirdauf ihr keine Augen mehr geben, um sie zu sehen. Das sagt das Evange-lium (Lk 21,25): Es werden Zeichen ... sein und auf Erden Drangsalder Völker. O Gott, wie wunderbar ist der Anfang der Welt und mit

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welcher Sorgfalt ordnet Gott alles an! Aber, o Gott, wie schrecklichist ihr Ende, wenn Gott alles verwirrt und umstürzt! Wenn der Königin ein Schloß einziehen will, spannt man Wandteppiche und stelltMöbel auf; ebenso wenn Gott den Menschen in die Welt versetzt. Undwie man alles umwirft, wenn der König auszieht, etc.

Doch warum spricht Christus so oft vom Gericht und vom Ende derWelt? Um Furcht einzuflößen. Aber warum will er, daß wir uns fürch-ten? Damit wir lieben, denn die Furcht ist der Anfang der Weisheit (Ps111,10). Jes 26,17f: Vor deinem Angesicht (nach Sa: von deiner Furcht,wegen der Furcht vor dir) haben wir den Geist empfangen und gleich-sam geboren, d. h. die Liebe. Vor deinem Angesicht, d. h. angesichtsdeines Zornes und Unwillens (Ps 101,11). So hat das Konzil von Trientgegen Luther erklärt, daß unsere Rechtfertigung bisweilen auch mitder Furcht beginnt, d. h. die Disposition zu unserer Rechtfertigung.

Da wir diesen Gegenstand im vergangenen Jahr zu erörtern begon-nen haben, können wir fortfahren. Es gibt zweierlei Furcht: die mensch-liche und die Gottesfurcht. Die Menschenfurcht kann wieder zweifachsein: natürlich moralisch und weltlich. Die Gottesfurcht ist vierfältig:knechtisch, die Furcht des Mietlings, kindlich und bräutlich.

Die Furcht der Knechte, der Sklaven, der Leibeigenen und Sträflin-ge, weil sie die Strafe fürchten. Sie kann aber zweifach sein: gut undschlecht. Schlecht, wenn sie den Willen zu sündigen nicht ausschließt,vielmehr den Wunsch zu sündigen einschließt. Wer also sagt: HätteGott das geboten und dem Gebot nicht die Androhung der Strafe hin-zugefügt, würde ich sündigen; da er aber, usw., der ist im Herzen einSünder. Ja, diese Furcht ist sündhaft, weil sie glaubt, die Strafe seimehr zu fürchten als die Schuld und Gott, und weil sie den eigenenVorteil höher als alles und höher als Gott schätzt. 1 Joh 4,18: DieLiebe verbannt die Furcht. Diese Furcht unterscheidet sich auch nichtvon der Trostlosigkeit der Verdammten. Gut ist diese Furcht, 1. wennsie die Hölle einfach ohne die genannte Überlegung fürchtet; so dieNiniviten, Christus, die Apostel. Wenn es erlaubt ist, das Gute desLohnes wegen anzustreben, dann auch, die Sünde aus Furcht vor derStrafe zu meiden. – 2. Wenn man von der Furcht bewogen und ange-trieben wird, Gott zu dienen und die Beleidigung Gottes zu meiden.Das ist ein Akt der Hoffnung, denn die gleiche Tugend, die zum Stre-ben nach dem Guten drängt, führt auch dazu, das Böse zu meiden.Beispiele zur Verdeutlichung s. S. 28. – – –

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Fastenpredigten in Chambéry

In Chambéry hat Franz von Sales zweimal Fastenpredigten gehalten: 1606 und1612. Vom ersten Zyklus ist nur der Entwurf für den Passionssonntag (Nr. A 71)überliefert, vom zweiten die folgenden Predigten und Entwürfe.

Zum AschermittwochZum AschermittwochZum AschermittwochZum AschermittwochZum Aschermittwoch

Nr. 84: 7. März 1612 VIII,74-85

Bedenke Mensch ... Sammelt euch Schätze ... (Mt 6,20).

Als Gideon den berühmten Kampf unternahm, der im Buch der Rich-ter (7,16-22) beschrieben ist, wählte er für dieses wichtige Unterneh-men 300 Soldaten aus. Er befahl ihnen, keine anderen Waffen zu ver-wenden als den Schall der Trompeten und den Schein der brennendenFackeln, die jeder von ihnen in der Hand trug. Um die Wahrheit zusagen, sind das für diesen Zweck wenig geeignete Waffen, wenn wir sienach dem ersten Anschein und ihrem äußeren Sinn betrachten. Tat-sächlich aber waren sie vorzüglich: durch sie wurde das ganze Heerder Midianiter verwirrt, in die Flucht geschlagen und schließlich ver-nichtet. Der Schall der Trompeten, die einen furchtbaren Lärm für dieOhren erzeugten, und der Feuerschein, der mitten in der Nacht ringsum das Lager aufleuchtete, erweckten beim Feind Angst wie vor ei-nem schrecklichen Gespenst. Der Schall der Trompeten weckte dieMidianiter, und als sie schauten, woher er kam, sahen sie ringsumplötzlich 300 brennende Fackeln aufleuchten, die aus den zerschlage-nen Krügen hervorgeholt wurden. Der Schall der Trompeten erschreck-te sie, weil er mitten in der Nacht erscholl, als sie im tiefsten Schlaflagen; der Schein der Fackeln machte ihnen Angst, weil sie ihn ur-plötzlich aus den zerschlagenen Krügen aufleuchten sahen. Die bren-nenden Fackeln, die aus den zerschlagenen Krügen kamen, waren auchein geheimnisvolles Zeichen dafür, daß der Ruhm Israels und der Tri-umph des Sieges sogleich aus den toten und erschlagenen Leibern derMidianiter erstehen sollte, und die Trompeten kündigten das an.

Nun denn, meine lieben Zuhörer, wenn ihr es nicht wißt, dieMidianiter versinnbilden die Kinder der Welt, Gideon ist das Sinn-bild Christi und die 300 Soldaten sind ein Bild der Prediger. IhrMidianiter, ihr Weltlichen, ihr ausschweifenden Sünder, der Erlösererklärt euch den Krieg, und wir sind seine Elitesoldaten. Nicht wahr,

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ihr schlaft in euren groben irdischen Freuden? Seht, der göttliche Feld-herr befiehlt uns, laut und hell unsere Trompeten zu blasen und über-all unsere Hörner erschallen zu lassen. Jes 40,6: Eine Stimme sagtemir: Rufe, erhebe deine Stimme wie eine Trompete (58,1). Ich sagte:Was soll ich rufen? (40,6) Ja, Herr, ich will rufen; aber was soll ichrufen? Rufe, rufe unablässig (58,1): Alles Fleisch ist Gras („Bedenke,Mensch ...“ Zerschlagt die Krüge), und all seine Herrlichkeit gleicht derBlume des Feldes; das Gras verdorrt ..., Die Blume verfällt (und du wirstzum Staub zurückkehren). Aber aus diesem zerschlagenen Krug kommtdie Fackel hervor. Jes 40,9f: Steig auf einen hohen Berg, der du Zionpredigst; sag den Städten Judas: Seht, euer Gott, der Herr Gott wird mitMacht kommen und sein Lohn mit ihm. Sammelt euch Schätze. Mt6,17f: Wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht; unddein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten.

Tod und Leben, das ist das allgemeine Thema des Predigers; aber esist auch der besondere Gegenstand, den ich heute behandeln muß.Meine lieben Zuhörer, wenn ich auf dieser Kanzel den Wunsch nacheinem anderen Ruhm hätte als den Wunsch nach der Ehre Gottes;wäre ich aus einer anderen Passion gekommen als wegen der Passiondes Erlösers; wollte ich nach einem anderen Erfolg streben als nachdem eures Heiles, dann soll meine Zunge verdorren und am Gaumenkleben (Ps 137,6), dann soll mein Mund vertrocknen wie ein verstopf-ter Brunnen, der sein Wasser nicht ergießen kann. Herr und Erlöserunserer Seelen, wenn aber meine Seele von dem Verlangen erfüllt ist,deinen Namen vor diesem Volk zu verherrlichen, wenn der Mut mei-nes Herzens danach trachtet, deine Gnade zu preisen, und wenn ichvom Verlangen getrieben werde, die Frucht deines Leidens diesen See-len zu verkünden, für die du es erduldet hast, dann, gütiger Jesus, seimir gnädig. Da ich den Willen habe zu sprechen, mache es mir mög-lich und gib mir ein, was ich sagen soll. Meine Zuhörer, hört in Ehr-furcht die Worte, die ich euch vortrage, denn ich spreche als Sonder-botschafter Gottes zu euch. Doch laßt uns beten, daß ich himmlischeWorte sage, daß ihr sie mit der gebührenden Ehrfurcht anhört, undempfehlen wir uns dazu den Bitten der allerseligsten Jungfrau. Ave.

Das muß man indessen kürzen, etwa folgendermaßen: An diese Stel-le versetzt, teuerste Zuhörer, glaube ich wie ein zweiter Jesaja eineStimme zu hören, die mir sagt: Rufe.

Oder so: Was Jesaja einst geschah, das gilt allen Predigern als Die-nern Christi. (1.) Eine Stimme, sagt er, die Stimme eines, der sprach:

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Rufe. Denn ihm und mir obliegt die Notwendigkeit zu predigen (1 Kor9,16). Er fragte: Was soll ich rufen? Ich bin bereit zu rufen, aber was?Rufe: Alles Fleisch ist Gras. Und frage ich meine Mutter, die Kirche,was ich rufen soll: „Bedenke, Mensch ...“ – 2. Eine Stimme sagte mir:Der du predigst, steig auf einen hohen Berg; erhebe deine Stimme laut(Jes 11,9). Doch was soll ich rufen? Sag den Städten Judas: Sieh, euerGott und sein Lohn mit ihm ...

Oder die Einleitung kann so lauten: Jer 24,1-3: Der Herr ließ michschauen, und siehe, da waren zwei Körbe voll Feigen vor dem Tempeldes Herrn aufgestellt; und der Herr sprach zu mir: Was siehst du,Jeremia? Ich sagte: Feigen, etc. So schien auch mir, meine Zuhörer,im Gottesdienst dieses bedeutenden Tages, der Herr zeige mir zweiKörbe, einen der Propheten und den des Evangeliums, und es erschienmir, als sagte der Herr zu mir: Was siehst du, Jeremia? Zwei Arten vonFeigen, von denen die Völker sich nähren. Welche Feigen? Schlechte,sehr schlechte: „Bedenke, Mensch, daß du Staub bist.“ Joel 2,12:Bekehret euch zu mir von ganzem Herzen, in Fasten, Weinen und Weh-klagen. Aber auch gute, sehr gute Feigen. Mt 6,17f: Wenn du fastest,salbe dein Haupt; dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir ver-gelten. Sammelt euch Schätze, etc. Laßt uns also im Namen des Herrndie guten und die schlechten Feigen versuchen; doch bitten wir dieseligste Jungfrau, daß durch ihre Fürbitte die guten Feigen ganz gut,aber auch die schlechten gut werden.

Oder auch so: 2 Kön 4,38-41: Elischa befahl einem seiner Diener:Setze einen großen Topf auf und koche den Söhnen der Propheten Ge-müse. Einer ging, etc. Nun scheint mir, Christus habe mir als einemseiner Diener und unwürdigen Knecht aufgetragen: Setze einen großenTopf auf, bereite viele geistliche Speisen für das Volk von Chambéry.Da ging ich auf das Feld der Heiligen Schrift, das uns im heutigenEvangelium ausgebreitet ist, und ich sammelte auf gut Glück Kürbis-se: „Bedenke, Mensch!“ Bekehrt euch zu mir mit Fasten, Weinen undWehklagen, etc. Doch wenn ihr davon kostet, werdet ihr sagen: O Gott,diese Predigt handelt nur vom Tod: Im Topf ist der Tod, Mann Gottes.Deshalb sagte Elischa: Bring mir Mehl; trag das Evangelium vor, dasnichts anderes ist als ein Weizenkorn (Joh 12,24), d. h. Christus selbst,zerkleinert und in verschiedenen Lehren erklärt. Er tat es in den Topf,er fügte der Prophezeiung das Evangelium hinzu und sagte: Setz esdem Volk vor. Kostet, Teuerste. Seht, es ist bitter: „Bedenke, Mensch.“Mit Fasten, Weinen und Wehklagen. Aber der Tod, der folgt, ist nichtmehr bitter, der Besitz des Schatzes im Himmel. Der Kürbis bedeutet:

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mit Fasten; doch füge das Mehl hinzu: Dein himmlischer Vater wird esdir vergelten. Der Kürbis bedeutet: Du wirst zur Erde zurückkehren;doch füge Mehl hinzu: Sammelt euch Schätze. Nun denn, geliebte Brü-der, ich biete euch heute eine Speise, die aus Kürbis und Mehl zusam-mengesetzt ist. Von ihr kann man sagen: wenn sie auch aus Bitterembesteht, bleibt doch nichts Bitteres mehr an ihr, wenn man das Mehlder Belohnung hinzugibt. Kostet also mit Genuß.

Hld 1,6: Sag mir, wo du weidest, den meine Seele liebt, wo du amMittag lagerst. Das heißt: wie ist die Seele, die du liebst, mit der dudeine Freude hast, an der du dich erquickst, indem du deine Neigungweidest und sie gleichsam auf ein Ruhelager bettest. Wenn ich nichtweiß, wie ich dir gefalle, könnte ich anfangen herumzuziehen nachweltlichen Neigungen der Weltkinder. Die das Herz des Menschen zubesitzen trachten, wollen alle Rivalen Gottes sein; die böse Welt, die-se Freundin, die den Geboten Gottes vorgezogen werden will, dieseFreundin ... Das ist die Stimme der menschlichen Natur, die ihr Glücksucht.

Der Bräutigam antwortet (Hld 1,7) und legt die ersten Fundamenteder Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis: Wenn du dich nichtkennst, Schönste. Er sagt gleichsam: Willst du sicher sein? Dann laufnicht vielen Liebhabern nach. Beginn dich selbst zu erkennen undhalte als sicher fest: Wenn du dich nicht kennst, Schönste der Frauen,wirst du der Spur deiner Herden folgen, d. h. verschiedenen Neigungen,und wirst Ziegen weiden, d. h. schlechte Regungen, bei den Zelten Frem-der, die sich rühmen, meine Rivalen und Nebenbuhler zu sein, die dieSeelen nähren, aber mit Wind.

Es gibt zwei Auslegungen. Die erste ist die von Honorius, Rupertund von Neueren, vor allem aber von Theodoret. Sie sagen, die Wortemüsse man im guten Sinn verstehen, uzw. so: Wenn du nicht weißt, woich am Mittag lagere, folge den Spuren der Schar der Kirchenväter,folge der bekannten und allgemeinen Lehre und weide Ziegen, deineGedanken, die im natürlichen Licht Ziegen sind und sich durch dasübernatürliche in Schafe verwandeln. Weide sie bei den Zelten derHirten, der Bischöfe, die durch das Konzil der Konzile, den Apostoli-schen Stuhl als Hirten eingesetzt sind. Die zweite Auslegung gibt denWorten den Sinn eines Tadels, so Ambrosius, Gregor, Bernhard. Ichverstehe sie nicht im Sinn einer Zurechtweisung, sondern einer freund-lichen Belehrung, wie wir beginnen müssen, Gott zu suchen. Wenn dudich nicht kennst, geh, d. h. dann wirst du gehen (ebenso Ps 83,14:

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Mein Gott, mache sie zu einem Wirbel, d. h. du wirst machen; Ps 69,26:Ihre Wohnung möge verödet werden, d. h. sie wird verödet werden; Ps69,28: Füge ihrer Sünde andere Sünden hinzu, und sie sollen nicht ge-langen, d. h. sie werden nicht gelangen, du wirst hinzufügen). Wir ken-nen uns selbst in zweifachem Sinn nicht, wie bei den Philosophen derSatz „Erkenne dich selbst“ in zweifachem Sinn verstanden wird. DennSokrates sagt in der Alcibiade bei Platon, die Selbsterkenntnis beste-he in der Erkenntnis der Vorzüglichkeit unserer Seele; andere sagen,in der Erkenntnis unserer Niedrigkeit dem Leibe nach; Kleinmut undHochmut.

Was die zweite Auslegung betrifft, hat Gott uns von Anfang an denNamen Adams gegeben: Als Mann und Frau schuf er sie und gab ihnenden Namen Adam (Gen 5,2), d. h. Irdische, Lehmige. Darauf weistGregor von Nyssa (Von der Erschaffung des Menschen, c. 2) hin: ausdem Lehm der Erde (Gen 2,7). Dadurch, daß unser Name die Erdeenthält, sollen wir an den Tod gemahnt werden: „Bedenke, Mensch.“Aber wir denken genügend daran, sagst du. Ach, wir denken oft genugdaran, aber wir bedenken es nicht genügend. Jer 12,11: Öde und ver-lassen ist das ganze Land ... Sag mir, du Stolzer, Geiziger, Feinschmek-ker, Ehrgeiziger ... Die Grundlage aller Versuchungen war, den Ge-danken an den Tod zu verbannen.

Hört die hinreichend bekannte aber zu wenig bedachte Geschichte(Gen 2,15-3,4), denn dazu lädt uns die Kirche ein. Als Gott den Men-schen erschaffen hatte, versetzte er ihn in das Paradies der Wonne. Ergebot ihm und sagte: Iß von allen Bäumen des Paradieses, d. h. dukannst essen; vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst dunicht essen; sobald du ... Adam blieb einige Zeit unter dem Gebot. Ergab allen Dingen und Lebewesen einen Namen. Damals wollte ihn dieSchlange nicht versuchen; sie wartete also, bis sie ein geeignetes Werk-zeug für seine Versuchung hatte in der Frau. Denn als die Frau er-schaffen war, kam die Schlange und sagte: Warum hat Gott euch gebo-ten, von keinem Baum des Paradieses zu essen? Seht die Schlauheit:Warum hat er geboten? Weil er der Herr ist! Er hat uns erschaffen,nicht wir selbst (Ps 100,3). Daß ihr von keinem Baum eßt; seht denBetrug. So macht es die Schlange auch heute; sie redet euch ein: DiesePrediger wollen nicht, daß ihr irgendeine Freude habt; sie wollen nicht,daß ihr eßt, daß ihr lacht; sie wollen nicht, daß ihr euch mit irdischenDingen befaßt; sie wollen, daß ihr den ganzen Tag in der Kirche ver-bringt; sie wollen, daß ihr immer fastet. Du Verführerin des Men-schengeschlechtes, nicht das sagen wir, sondern: Von jeder Freudesollst du genießen, nur nicht von der Freude der Sünde, etc. Gott hat

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uns geboten, sagt Eva, daß wir von der Frucht des Baumes ... nicht essenund ihn nicht berühren, d. h. den Baum.

Dieses „nicht berühren“ ist in zweifachem Sinn zu verstehen. Viel-leicht war es wirklich im Verbot enthalten, ihn nicht zu berühren,wegen der Gefahr, denn auf das Berühren des Baumes folgte das Be-rühren der Frucht, auf das Berühren das Essen. Oder Eva erfand es,übertrieb und täuschte etwas Schweres und Strenges im Gebot vor (Ps94,20). Damit wir nicht sterben. Ach, hier ist der erste Schritt zumBösen; sie zweifelt am Tod. Du wirst des Todes sterben, schärft Gottdoppelt ein; das vergißt sie und schwächt es durch den Zweifel ab.Ach, ach, du zweifelst und öffnest damit dem Teufel die Tür. Sieh, derTeufel macht sich lustig: Ihr werdet keineswegs sterben. Die Jagd aufdas Wild machen, halten sich an die Felsen, denn wenn es die geringsteÖffnung sieht, kriecht es hinein. So müssen auch wir uns an die Gebo-te halten und keinen Finger breit davon abweichen. Der Teufel ist wiedie Schlange, deren Gestalt er annahm; wo sie den Kopf hineinsteckt,zieht sie den ganzen Leib nach. Ihr wißt doch, daß die bösen Geistervon den Wahrsagern und Zauberern meist nichts Großes verlangen,sondern ein Barthaar oder ein Schnipsel vom Fingernagel. Gibst dues, bist du gefangen. Anfangs verlangt er wenig, mit der Zeit nimmt eralles. So verlangen die Häretiker, daß man ihnen ein Jota zugestehe:homoiousion; gibst du es zu, bist du gefangen. Ich will nicht (sagt er),daß du an Schlechtes denkst, aber höre auf meine Worte; ich will nicht,daß du daran glaubst, aber höre, wie lieblich der junge Mann singt; ichwill nicht, daß du auf Unanständiges achtest, aber sieh doch, wie ele-gant er schreibt. „Flieht von hier, Jünglinge, in der Blume lauert diekalte Schlange“ (Vergil).

Als Gott sah, daß der Mensch sündigte, weil er den Tod vergaß, schärf-te er ihm ein: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,bis du zur Erde zurückkehrst, von der du genommen bist; denn Staubbist du und zum Staub wirst du zurückkehren (Gen 3,19). Mensch,denk an den Tod. 1 Kor 4,7: Was rühmst du dich, Staub und Asche?Wie treffend sagt der Büßer (Ijob 17,14): Zum Moder sagte ich: meinVater, mein Bruder und meine Schwester zu den Würmern. Wir rühmenuns meistens unseres Leibes und verwenden wenig Sorgfalt auf dieSeele. Staub, Staub, was rühmst du dich? Man schaut in den Spiegel,ehe man ausgeht; sein Gewissen prüft man nicht. Wir sorgen uns umdie Kleidung des Leibes, um die der Seele nicht.

Dennoch, wenn du dich nicht kennst, Schönste von allen Geschöp-

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fen, dann laß dir kurz Folgendes sagen: (1.) Wie edel ist die Seele, dieGottes Bild und Gleichnis ist. Wie Phidias, als er die Statue der Mi-nerva schuf, in der Mitte des Schildes (sein Bild anbrachte: Tr. 4,4):Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild (wörtlich: mitdem Bild und Gleichnis). – 2. Er bildete ihn und hauchte ihm den Atemdes Lebens ein (Gen 2,7), den Atem des sterblichen und unsterbli-chen, des zeitlichen und ewigen Lebens; eines dreifachen Lebens: sen-sitiv, vegetativ und rational; eines natürlichen und eines gnadenhaftenLebens. Seht also, da ihr des ewigen Lebens fähig seid, macht keinfinsteres Gesicht wie die Heuchler, wenn ihr fastet (Mt 6,16). Was seidihr traurig, wenn ihr solchen Lohn erwartet? Was gleicht ihr Heuch-lern und strebt nach vergänglicher Ehre, wenn ihr ewige haben könnt?

Zum Montag der 4. FZum Montag der 4. FZum Montag der 4. FZum Montag der 4. FZum Montag der 4. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 86 (Entwurf): 2. April 1612 VIII,89-95

Ijob (26,13) antwortet dem Schuachiten Bildad auf die Frage nachder Allmacht und Vorsehung Gottes; er lobt unter anderem Gott vorallem, weil sein Geist den Himmel geschmückt hat und aus seiner Schöp-ferhand die Ringelnatter hervorging. Davon gibt es drei sehr bekannteAuslegungen.

Die erste: Gott sorgt nicht nur für das Große, wie die Zierden desHimmels, d. h. die Ordnung der Sphären, der verschiedenen Bahnenund Bewegungen, der Anordnung der Sterne und der Planeten usw. Erist vielmehr auch um das Geringste besorgt, wie die Entstehung derSchlange und Natter, das niedrigste und im Wert geringste aller Lebe-wesen, die von selbst und nicht zufällig entstehen. Er schmückt in derTat den Himmel durch seinen Geist, da er einmal gesprochen hat, unddie Welt wurde für immer geschaffen und es gibt in ihr weder Ände-rung noch Wechsel der Entstehung und Hervorbringung.

Habt ihr nie gesehen, wie die Glasbläser die Gläser machen? Sienehmen die Masse mit dem Ende eines hohlen Stabes auf, dann blasensie hinein und das Glas entsteht, so daß es seine Form nicht mehrändert. Daher wird (Offb 4,6) der Himmel gläsernes Meer genannt;deutlicher 21,18: Die Stadt selbst ist reines Gold und gleich reinemGlas. 21,21: Der Platz der Stadt ist reines Gold, durchscheinend wieGlas.

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Der Himmel wurde durch das bloße Wort Gottes geschaffen (Ps33,6.9). Auf Anregung des Geistes hat er aus nichts den Himmel ge-schmückt; er hauchte, und die Sonne entstand, der Mond, die SterneOrion und Merkur, etc. Er legte die Tierkreise wie einen Gürtel umihn, etc. Doch für die irdischen Dinge gebraucht er gleichsam die Hän-de, weil er alles allmählich, in der Abfolge von Werden, Vergehen undWachsen macht, wie die Hebamme das Kind umsichtig entbindet,wäscht, stillt und wickelt, etc. Die Hand der Vorsehung ist also dieHebamme der ganzen Welt.

Wunderbar ist die Vorsehung für die Schlangen. Mit Fenchel reini-gen sie die Augen, sie streifen die Haut ab und erneuern ihre Jugend,und wie die meisten glauben, heilen sie Wunden mit wildem Thymian.Und für uns sollte nicht sorgen, der für die Schlangen sorgt? Die Schlan-ge frißt Staub und entbehrt nicht der Nahrung; das Herz des Menschennährt sich vom Himmel; sollte der Himmel ihm fehlen? Die Schlangeverliert das Gift, wenn sie trinkt; sollte der Mensch nicht das Gift derLeidenschaften verlieren, wenn er mit Himmlischem erquickt wird?Wie sollte Gott, der die treulose Schlange nicht im Stich läßt, denMenschen im Stich lassen, der ihm treu folgt? Das gestrige Evangeli-um von der Vorsehung Gottes (Joh 6,1-12).

Die zweite Bedeutung ist isagogisch nach der Version der Septuagintabei Sa: Auf seinen Befehl wurde der abtrünnige Drache getötet. Hervor-gebracht, nämlich aus der Welt oder aus nichts. Gewunden, verschla-gen, hebräisch flüchtig. Nach dieser Version muß die Stelle folgender-maßen ausgelegt werden. 1. Der Geist des Herrn schmückte den Him-mel mit den Chören der Engel. Da aber einer, d. h. der alte Drache, unddurch ihn mehrere sich auflehnten, führte, warf und verbannte er siedurch seinen Befehl aus dem Himmel (Offb 12,9). Nach unserer Ver-sion aber warf seine starke Hand die bösen Geister wie Ungeheuerhinaus. Als er das himmlische Jerusalem von diesen Ungeheuernschwanger und gleichsam in Geburtswehen sah, entband er als Heb-amme mit seiner Hand dieses Ungeheuer. Denn hier findet sich eineAnspielung auf die Geburt, nicht wegen der Leibesfrucht, sondernwegen der Schmerzen. Es ist, als hieße es: Er schmückte den Himmelmit Engeln, da aber unter ihnen einige abtrünnig wurden, entstandendort Geburtswehen (Ps 48,7). Daher wird die Verstoßung der bösenGeister dem Hervorgehen bei der Geburt verglichen.

Oder einfacher: er ging aus dem Nichts hervor. Er schmückte denHimmel mit Engeln, und durch seine Hand ist sogar der böse Geistaus dem Nichts hervorgegangen; das ist eine emphatische Wiederho-lung. Auch der böse Geist ist sein Geschöpf und wurde zur Zierde

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erschaffen wie die anderen, obwohl er durch seine Bosheit verdarb.Der Schwerpunkt liegt auf dem Wort „entbinden“, als ob er sagte:Sorgsam und aufmerksam schuf er ihn und schuf ihn gerade, nichtverdreht, wenn er auch jetzt verdreht und verschlagen ist.

Von dieser Bedeutung kann man einen trefflichen Vergleich zwi-schen dem Himmel und dem Tempel ableiten, denn der Tempel ist einAbbild des Himmels. Daher haben die Vorfahren die Kirchen mitBildern der Heiligen geschmückt, wie Gott den Tempel mit denKerubim (Ex 25,18), damit die Bilder der Heiligen ein Gleichnis desHimmels seien. In der Kirche wie im Himmel ist der Hof Gottes; undbeide sind ein Ort des Gebetes, wie die Geheime Offenbarung (5,8-14; 8,3) bezeugt; nach ihr sind die Wohlgerüche die Gebete der Heili-gen, und die 24 Wesen mit goldenen Harfen beten an. Daher hat Gottaus beiden die Käufer und Verkäufer (Mt 21,12) hinausgeworfen. Derböse Geist wollte die Unabhängigkeit kaufen und stehlen und sich alsKönig des Hochmuts über die anderen erheben; daher der AusdruckRäuberhöhle. Denn sie waren Räuber, wie meist die Käufer und Ver-käufer, wenn sie nicht große Sorgfalt für ihr Herz haben und furcht-sam sind. Satan treibt Handel, um Gott die Autorität, den anderen denGehorsam zu stehlen. Er setzte sich in den Sinn, über die Geschöpfezu herrschen, die Schafe, Rinder und Tauben (Joh 2,14): die Schafe,d. h. die untergebenen Gläubigen; die Rinder, d. h. die mit Mühenbeladenen Prälaten; die Tauben, d. h. die Ordensleute, die durch Kon-templation fliehen; aber auch über die niederen und höheren Rängeder Engel, sogar über die Serafim. Gott aber warf alle hinaus, die erdem Aufruhr verfallen sah. Im Teufel fand er die Habsucht, durch dieer König des Himmels sein wollte, und er warf ihn hinaus.

Er machte eine Geißel aus Stricken (Joh 2,15). Wegen der Vorzüg-lichkeit seiner Natur wurde Luzifer überheblich, und durch diesenVorzug wird er am meisten gequält. Warum ist er unverbesserlich inseiner Bosheit? Weil er von erhabenster Natur ist. Warum wird er ammeisten gequält? Weil er den fähigsten Verstand hat und seinen gro-ßen Fall am klarsten erkennt. Dem Knaben macht es wenig Kummer,wenn ihn der Vater enterbt; wenn er aber allmählich heranwächst, be-rührt ihn der Schmerz darüber um so mehr, je schärfer sein Verstandwird. Je größer der Wunsch zu herrschen ist, um so schmerzlicher istdas Dienen. Satan wurde von höchstem Ehrgeiz getrieben, den Gottihm beließ, und gerade von diesem Ehrgeiz wird er wie mit einer Gei-ßel gezüchtigt. Denn bleibt der Ehrgeiz, so wächst ihr Hochmut stän-dig (Ps 74,23), und je höher sie aus Ehrgeiz steigen wollen, um sotiefer fallen sie durch die Erniedrigung.

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Am besten gefällt mir die Lehre Epiktets. Wie können wir den Ehr-geizigen bestrafen? Er soll noch ehrgeiziger werden. Verdient derHabsüchtige Strafe? Geh, werde zur Strafe noch habsüchtiger, werdenoch ausschweifender, so daß du die Ruhe verlierst, etc. Die Sünderwerden ja mit ihren eigenen Sünden bestraft. Seht die Väter und Müt-ter; sie sündigen, wenn sie darüber lachen, daß sie die Kinder schlech-ten Reden, den Anfängen der schlimmsten Eitelkeit verfallen sehen.Gott wird daraus eine Geißel machen, und diese Kinder werden ihrenEltern größten Schmerz bereiten etc. „Niemand wird verletzt, außerdurch sich selbst“ (Joh. Chrys.). Die Armut schadet weder Ijob nochdem hl. Franziskus; auch dir schadet nichts als deine Ungeduld. DieVerleumdungen schadeten weder den Aposteln noch allen Demüti-gen; nicht sie schaden dir, sondern dein Stolz und deine Anmaßung,die dich ein erlittenes Unrecht schmerzlicher fühlen lassen.

Doch seid auf der Hut, Brüder! Der den Engeln nicht vergeben hat (2Petr 2,4) wegen eines schlechten Gedankens im Heiligtum, wie wirder euch schonen, wenn ihr hier ausgelassen lacht? Ich wollte mein Blutdafür geben, daß ihr in alle Ewigkeit alle Sünden meidet, und ich be-schwöre euch im besonderen, daß ihr Ehrfurcht vor dem Heiligtumhabt. Ihr Edlen der Stadt, ihr Frauen, etc., Chambéry ist das Vorbildfür ganz Savoyen. Nichts ist Gott wohlgefälliger, nichts euch nützli-cher. Gold von Toulouse, Quintus Caepio. Brennus und der Apollo-tempel in Delphi ...; „er legte Hand an sich“ (Valerius Max. I,1). Wolltihr, daß euer Haus in Ehren steht, dann haltet das Haus Gottes inEhren. 1 Sam 5,2.6: Die Philister erobern die Bundeslade mit Waffen-gewalt und bringen sie in den Tempel des Dagon; und Gott schlug siemit unsichtbaren Plagen. Ihr bringt oft den Dagon in das Haus Gottes.Es ist gleichermaßen eine Sünde, den Dagon in das Haus Gottes zubringen oder die Bundeslade in den Tempel des Dagon. Alles könnteuns zum Nutzen sein, etc. Dagon, Getreide, Idol der Habsucht.

Beispiel der hl. Maria von Ägypten. Sie vermochte den Tempel inJerusalem nicht zu betreten, in dem das Kreuz aufbewahrt wurde, weilsie eine grundverdorbene Dirne war, bis sie vor dem Bild der seligstenJungfrau von Reue ergriffen wurde. So tritt Christus den Eintretendenim Bild des Gekreuzigten entgegen, um ihnen sogleich Ehrfurcht ein-zuflößen; so bei Lactanz.

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Zum FZum FZum FZum FZum Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Freitag der 4. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 87 (Entwurf): 6. April 1612 VIII,96-99Herr, den du liebst, der ist krank (Joh 11,3)

Kurzes Gebet. Als Demosthenes einen Schwätzer hörte, sagte er:Wenn du viel verstündest, würdest du nicht viel reden. Je höher dieEngel im Rang, desto umfassender ist ihre Einsicht. Mit einem einzi-gen Wort schafft Gott alles (Ps 33,6.9). Die beste Art zu beten ist, mitwenig Worten beten, aber nicht zu wenig. Ex 14,15: Was schreist du zumir? Deshalb schwieg er. Ps 10,17: Das Verlangen der Armen erhörteder Herr; die Bereitschaft ihres Herzens hat dein Ohr vernommen. Wenndu nicht erhört wirst, dann deshalb, weil du entweder nicht arm bistoder weil du nicht die Bereitschaft des Herzens hast. Ps 27,13: MeinHerz hat zu dir gesprochen; mein Auge hat dich gesucht. Dein Ange-sicht, Herr, will ich suchen. Wie die Augen der Diener auf die Händeihrer Herren gerichtet sind ... Ps 123,2.1: Zu dir habe ich meine Augenerhoben, der du im Himmel wohnst. Ps 119,82: Nach deinem Spruchschmachten meine Augen: wann wirst du mich trösten? Schon durchden Blick sprechen wir.

Man muß also viel beten, aber nicht mit vielen Worten. Die Väterführen Hanna als Beispiel an: Als sie ihre Gebete vor dem Herrn ver-vielfachte, geschah es, daß Eli ihren Mund beobachtete (1 Sam 1,12).So unterbreiten auch diese Frauen (von Betanien) mit wenigen Wor-ten ihre Nöte. Vortrefflich ist die Geschichte 2 Kön 19,14: Rabschakeoder der König schickte einen Brief an Hiskija; der stieg zum Haus desHerrn hinauf, breitete den Brief vor dem Herrn aus ... und von den Assy-rern wurden 185 000 getötet (19,35). Tu desgleichen (Lk 10,37). Gottgab uns den Geist seines Sohnes, der in unseren Herzen ruft: Abba,Vater (Gal 4,6). Der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichenSeufzern (Röm 8,26).

Beachte, daß Jesus Marta, ihre Schwester Maria und Lazarus liebte.Deshalb: Unser Freund Lazarus schläft; aber ich will hingehen (Joh11,5. 11). Gewiß sagte der Blinde, von dem wir vorgestern sprachen:Wir wissen, daß Gott Sünder nicht erhört (Joh 9,31). Auf diesen Satzgibt es drei Antworten: 1. Der Blinde hat damit eine blinde Ansichtausgesprochen. 2. Er hat es verstanden von der Erlangung von Wun-dern als Bestätigung der eigenen Heiligkeit. Die dritte Antwort unter-scheidet: es gibt Gerechte, es gibt Sünder und es gibt Bußfertige. DieBußfertigen erhört er. Hier war aber doch eine Büßerin und eine Ge-rechte.

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Seht jedoch das schönste Gebet: Den du liebst, der ist krank. Wirbeschwören Christus unter Berufung auf zweierlei: auf unser Elendund auf die Liebe oder Barmherzigkeit Gottes. Gott braucht in der Tatunser Elend. Ps 6,2: Erbarme dich meiner, denn ich bin schwach. Undunser Elend braucht die Barmherzigkeit Gottes. Ps 84,6: Glücklichder Mann, dem Hilfe von dir kommt; er bereitet sein Herz für den Auf-stieg. Denn geben ist seliger als nehmen (Apg 20,35). Das Kind unddie Amme. „Möchte ich dich erkennen, daß ich mich erkenne“(Augustinus). „Wer bist du und wer bin ich?“ (Augustinus und Franzvon Assisi). Ps 57,1: Erbarme dich meiner, erbarme dich meiner, dennauf dich vertraut meine Seele. Ambrosius: Dem Blinden wird Lehmauf die Augen gestrichen, damit er sich erinnere, daß er Staub ist; dieBlindheit des Geistes ist nämlich zumeist Stolz. Dasselbe verdeutlichtLazarus, der uns entgegenkommt. Daher wird dem Bischof vonLaodizea gesagt: Bestreiche deine Augen mit Salbe (Offb 3,18).

Christus kam und weinte mit den Weinenden (Joh 11,35; Röm12,15). O kostbare Tränen! Hld 7,4: Deine Augen sind wie die Teichevon Heschbon. Die Augen sind im Tor oder im Fenster; durch siekönnen wir in das Innere des Hauses sehen. Deshalb sagten sie auch(Joh 11,36): Seht, wie er ihn liebte. Sie sahen seine Liebe. So sagen wir,wenn wir Wasser vom Rosenstrauch träufeln sehen, daß er Feuer sei.Sie sind im Tor, d. h. in Christus, dem Tor der Tochter des Volkes (Hld7,5), d. h. der Kirche. Heschbon bedeutet Gürtel des Schmerzes, Zonedes Schmerzes, da Gott sich mit Schmerz gürtete. In Heschbon sinddie Augen voll Tränen, weil Gott den Schmerz auf sich nimmt undsich mit Gedanken gürtet, die Tränen hervorrufen.

(Der Herr weint): 1. als Kind, da er die Welt erblickt (vgl. Weish7,3); 2. da er auf Jerusalem blickt, das der Zerstörung geweiht ist (Lk19,41); 3. jetzt aus Liebe; 4. da er den Geist aufgibt, laut rufend undunter Tränen (Mt 27,50; Hebr 5,7).

Zur VZur VZur VZur VZur Verehrerehrerehrerehrerehrung des heiligen Kreuzesung des heiligen Kreuzesung des heiligen Kreuzesung des heiligen Kreuzesung des heiligen Kreuzes

Nr. 88 (Zusammenfassung): 20. April 1612 VIII,100-102

Nach dem Vergleich vom Spinnenfisch (Plinius) und von der Galle,die Tobias (6,2-6) als Andenken aufbewahrte: Hier, ihr Christen, wirdein Denkzeichen des Glaubens aufbewahrt und euch ein überaus erha-benes Geheimnis eures Glaubens in so vielen Bildern vor Augen ge-

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stellt. Ich wünschte, daß uns das gleiche widerfahre, wie Macrina. AlsVestiana ihren Leichnam schmückte, wie es für Jungfrauen Brauch ist,sagte sie: „Welch ein Kleinod trägt die Heilige als Halsschmuck!“(nach Gregor von Nyssa: sie trug einen Kreuzpartikel). Dann Gregorvon Nyssa über Abraham. Wer, frage ich, sähe das Bild des Gekreuzig-ten, ohne zu weinen? Denn hier sehen wir am gekreuzigten Christusden Leib überall verwundet, die Augen voller Tränen, die Lippen ge-tränkt von Galle und Essig, das Haupt mit Dornen umwunden und dasBlut aus allen Gliedern seines Leibes tropfen. Wer empfände keinMitleid! O Jesus, reinige, die mit deinem Blut gezeichnet und erkauftsind; erquicke, vervollkommne, mache sie dir gleichförmig.

Ja, wir lieben alles, was dich unserem Geist einprägt. Wessen Bildund Aufschrift ist das? (Mt 22,20). Ist dies das Gewand Unseres Herrnoder nicht? (Gen 37,32f). Herr, wenn wir dich selbst ansehen: Warumist dein Gewand so rot? Die Kelter ... (Jes 63,2f). Das Zeichen, demman widersprechen wird (Lk 2,34).

Über die seligste Jungfrau unter dem Kreuz: Deine Seele wird einSchwert durchdringen (Lk 2,35). Nach dem letzten Wort geriet sie au-ßer sich, d. h. sie hatte keinen Atem mehr, keinen Geist, keine Denkfä-higkeit außer Bewunderung. Sie hatte keinen Geist mehr, sondern al-les in ihrem Sohn. 1 Kön 10,5.10: Nie wurden so viele Wohlgerüchedargebracht.

Gen 28,12: Er sah die Leiter. Hieronymus (zu Ps 99) und Augustinus(Sermo XI) sagen, sie sei ein Sinnbild des Kreuzes. Gen 28,20f: WennGott der Herr mich beschützt auf dem Weg, den ich wandle, wird derHerr mein Gott sein.

Gründe, warum Christus gekreuzigt wurde: damit das Heilmittelder Krankheit entspreche; der Demut wegen; damit die Erlösung über-reich sei (Ps 130,7); damit sie allen kund werde.

2 Kor 5,14f: Die Liebe Christi drängt uns, wenn wir das bedenken;denn wenn einer für alle gestorben ist, sind folglich alle gestorben. UndChristus ist für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich le-ben, sondern ihm, der für sie gestorben ist. Die Jungfrau von der InselSestos (Plinius).

Sach 13,6: Was sind das für Narben an deinen Händen? Er wird sa-gen: Die habe ich empfangen im Haus jener, die mich liebten.

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Zur WZur WZur WZur WZur Weihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigil

Nr. 95 (Entwurf): Annecy, 24. Dezember 1613 VIII,124-129*

Die Kirche bietet alles auf, um die Großartigkeit eines bevorstehen-den Festes anzukündigen; das beweist die Liturgie der Adventzeit.Unter anderem bedient sie sich im Introitus der heutigen Messe derein wenig abgewandelten Worte, mit denen Mose (Ex 16,6f) den Israe-liten den Manna-Regen ankündigte: „Heute sollt ihr wissen, daß derHerr kommt, und morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen.“ Berich-te die Geschichte bis zu den Worten des Mose (und erwähne nebenbeidas Murren der Söhne Israels, die gern aus Ägypten ausgezogen sind,wie die meisten Ordensleute aus der Welt, wenn sie aber in der Wüste,d. h. einsam sind, murren und sich der Fleischtöpfe der Welt erin-nern): Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem LandÄgypten herausgeführt hat, und morgen werdet ihr die Herrlichkeit desHerrn sehen. Mit diesen Worten gibt die Kirche zu verstehen, daß Chris-tus dem Manna gleicht, uzw. 1. in seiner Geburt, 2. im Geschmack.Daher werde ich über zwei Dinge sprechen: ich werde 1. das Geheim-nis der Menschwerdung kurz erklären, 2. wie wir alle dieses Geheim-nis auskosten müssen, am meisten ihr Schwestern.

Zum ersten Punkt bemerke ich nur drei Dinge 1. Nach Lev 11,9 fieldas Manna unsichtbar in der Nacht vom Himmel. So wird Christusheute in der Nacht geboren, unsichtbar, auf eine Weise, die demmenschlichen Geist unbegreiflich ist. Er kommt ganz vom Himmel,auch der Leib. Wenn auch der Stoff von der seligsten Jungfrau genom-men ist, so ist er doch durch die Kraft des Allerhöchsten und durch dieÜberschattung des Heiligen Geistes gebildet. Er wird auf himmlischeWeise geboren, wie das Licht aus dem Himmel hervorgeht und dasewige Wort vom Vater. Das Manna schmolz im Licht der Sonne undverhärtete sich im Feuer; ebenso ist es mit diesem Geheimnis: wersich darin im himmlischen Licht vertiefen will, dem wird es flüssig,für die natürliche Neugierde verhärtet es sich.

2. Das Manna schien aus zwei Substanzen zu bestehen: Olivenbrot,das von der Erde stammt, und Honig, der vom Himmel ist. Jes 45,8:

* Dieser Entwurf ist von besonderem Interesse, weil ihm die Mit- oder Nach-schrift der tatsächlich für die Schwestern der Heimsuchung gehaltenen Predigt(Nr. B 1) entspricht und einen Vergleich erlaubt, wie Franz von Sales seinePredigtentwürfe ausgeführt hat.

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Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab; die Erde öff-ne sich und sprosse den Erlöser. Die göttliche und menschliche Naturvereinigend ist Christus einer, wie es ein Manna war.

3. Das Manna kam als Speise der Menschen; so auch Christus. Daherwurde er in Betlehem geboren, d. h. Haus des Brotes. Er ist Speise inder Eucharistie, ebenso mystisch Speise des Herzens für alle Men-schen. Daher Lamm, daher Honig.

Um aber zum zweiten Punkt zu kommen: Diese Geburt Christi oderChristus als Kind gefällt allen, die es wollen. Er gefällt den Hirten,weil er Hirte ist, den Königen als König, dem Simeon als Priester, derProphetin Hanna als Prophet; er gefällt in der Tat allen. Am meistenentspricht er den Frommen, den Religiosen und Oblatinnen, weil erselbst fromm, religiös und hingegeben ist. Daher verehrten vor allemdrei Ordensväter dieses Geheimnis besonders: Augustinus: „Hierwerde ich aus der Fülle genährt“; Bernhard, der diese Geburt in einerVision schaute; Franziskus, wie alle wissen.

Sehen wir, welche Eigenschaften der Ordensleute dieser kleine Knabebesitzt. 1. Über die Keuschheit gibt es keinen Zweifel. Hld 2,16: Erweidet unter Lilien. Wenn er auch keine Gelübde abgelegt hat, so hat erdoch tatsächlich die Hingabe vollzogen.

2. Armut. Seht doch, wie arm er ist. Armut der Wohnung, Armut derKleidung, Armut der Nahrung: „Mit ein wenig Milch wird der ge-nährt, der nicht einmal die Vögel hungern läßt“ (Hymnus am Weih-nachtsfest). Er nennt nichts sein Eigen. Niedrigste Armut. Dränge sehrnachdrücklich auf diese Erwägung: nackt ist er auf Erden erschienen,wie die hl. Birgitta sagt.

3. Gehorsam. Er besitzt den Gebrauch der Vernunft und unendlicheWeisheit; trotzdem läßt er sich in Windeln wickeln, mit Bändernschnüren und legen, wohin die Mutter oder der Vater wollen. Er könn-te selbst gehen, bleibt aber in der Krippe.

4. Bewundernswertes Schweigen. Die anderen Kinder sprechen nicht,weil sie nicht können, er dagegen, weil nicht die Zeit zu sprechen,sondern zu schweigen ist.

5. Liebe zur Niedrigkeit. Bei den Tieren liegend, erträgt er gern ihrSchnauben und sogar ihre Stumpfsinnigkeit. Außerdem liebt er dieseTiere, weil das eine das Joch trägt, das andere Lasten, das eine mühse-lig ist, das andere beladen. Daher: Kommt zu mir, die ihr mühselig undbeladen seid, ich will euch erquicken (Mt 11,28).

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6. Seht die Milde dieses Knaben: stärker als Simson, läßt er sichdennoch binden; er bleibt freundlich bei den unfreundlichen Tieren.Ich meine ihn zu sehen, wie er seine gütigen Augen auf seine liebeMutter, den Vater und die Hirten richtet, wie er die Mutter liebkostund küßt, nach Hld 1,1: Er küsse mich; wie er die Milch trinkt.

7. Seht seine Abtötung: in der Kälte wird er geboren, liegt auf demStroh, im Stall etc.

8. Er weint. Weish 7,3: Gleich allen habe ich weinend meine Stimmeerhoben. Die natürliche Erklärung, warum die Neugeborenen weinen,ist, daß sie nach der Wärme und Geborgenheit im Mutterschoß zumerstenmal die Kälte, das Licht und eine ungewohnte Luft spüren. Diemystische Erklärung: weil sie geboren werden, um zu sterben und vielzu leiden. Deshalb haben manche darauf hingewiesen, der erste Schreider Knaben sei „a“, der Mädchen „e“; das sind die Anfangsbuchstabenvon Adam und Eva, durch die wir so viel Leid erfahren. Nach Aristo-teles lachen übrigens die Kinder nicht vor dem vierzigsten Tag, außerauf wunderbare Weise, wie Zoroaster, „der unglückselige Mensch, derlachend zur Welt kam“. So beginnen Ordensleute die Reinigung mitder Buße; 40 ist die Zahl der vollkommenen Reinigung; erst wenn sieerreicht ist, lachen sie, d. h. sind sie getröstet.

Darüber hinaus sagt der Bräutigam im Hohelied (4,11): Von meinenLippen träufelt Honig. Also ist die Braut ein Bienchen, das im MundHonig erzeugt, und so ist es. Die Oblatinnen sind Bienen. Sie gehen imHaus der Heimsuchung aus und ein; sie haben kein Eigentum. Sie sindJungfrauen und gebären nicht, sondern erhalten die Nachkommen-schaft vom Himmel, damit wir uns durch seine Eingebung vermehren.Sie gehorchen, denn auf den Ruf der einen kommen sie; morgens ste-hen auf den Ton der Glocke alle zur gleichen Zeit auf; sie haben Vor-gesetzte. Ihr seid also allerliebste Bienen; aber habt ihr keinen König?Seht euren kleinen Herrn, den wahren König der Bienen. Sammelteuch um ihn, betrachtet ihn, ahmt ihn nach und seid vortrefflicheOblatinnen. Schaut auf die Mutter, die kleine Biene; schaut auf denVater. Folgt dem neuen König. Er sei euer Manna, er selbst euer Ho-nig, er, der König, der Herr über euer Herz und euren Leib ist, bis ereuch in den Bienenstock des Himmels führt. Dort werdet ihr noch vielsüßeren Honig bereiten, etc.

Man könnte an diesem Kind das schönste Bild des ganzen Ordens-kleides entwerfen. Die Kinder sind ja wie die Mönche mit einer Kuttebekleidet, gehen barfuß, etc.

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Zum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. Josef

Nr. 96 (Entwurf): 19. März 1614 VIII,130-133

Er ward geliebt von Gott und den Menschen; seinAndenken ist gesegnet (Sir 45,1).

Hier begegnet uns unter anderem das Andenken des hl. Josef, eureund meine Verehrung. Bevor wir aber beginnen, bitten wir die liebens-würdigste, am meisten geliebte und am innigsten liebende Braut, daßwir vom liebenswürdigsten, geliebtesten und am meisten liebendenGemahl recht sprechen können.

Drei Namen werden dem hl. Josef im Evangelium gegeben. Er wirdGemahl Marias genannt (Mt 1,16-19); von Maria wird er der VaterChristi genannt; Lk 2,48: Dein Vater und ich haben dich schmerzlichgesucht. Schließlich wird er ein gerechter Mann genannt (Mt 1,19).Der zweite Name ergibt sich aus dem ersten, der dritte aus dem erstenund zweiten.

Zum ersten. Gen 2,18: Laßt uns eine Hilfe für ihn machen, die ihmähnlich ist. Um die Würde der Ehe hervorzuheben; um die Sittsam-keit und Ehre der seligsten Jungfrau zu wahren, wenn ihr Sohn voneiner Vermählten geboren wurde; um ihre Keuschheit im Schatten derEhe zu verbergen, war sie im übrigen Josef wirklich als Gattin ver-mählt. Wie die weibliche Palme im Schatten des Palmbaums; wie dasEi des Straußes. Vergleich bei Plutarch: wie ein mit Edelsteinen ver-zierter Spiegel, wenn er nicht das Gesicht spiegelt ... Sonne und Mond.Vgl. den Abschnitt über die Frau (Plutarch, De Legibus matrimonii).Die die Elefanten versorgen, tragen keine Kleider von leuchtendenFarben; denn Elefanten werden durch Feuer gereizt wie der Stier durchdas rote Tuch. Tiger fliehen vor dem Klang der Trommel. Die Frauvermeide alles, was den Mann reizen kann.

2. Vater. Rahel sagte (Gen 30,3): Ich habe meine Magd Bilha; geh zuihr, daß sie auf meinen Knien gebäre und ich durch sie Kinder habe.Christus stammt aus dem Geschlecht des hl. Josef. Gen 2,23: Das istnun Bein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. 1 Kor7,4: Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann; ebensoverfügt aber auch der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau.Eph 5,28ff: Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst; denn niemandhaßt sein eigenes Fleisch. Der Mann wird daher Vater und Mutter ver-

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lassen und seiner Frau anhangen und sie werden zwei in einem Fleischsein. Lk 2,48: Dein Vater und ich haben dich schmerzlich gesucht. Er istsein Sohn nach dem natürlichen Recht, nicht nach dem Gesetz desLebens.

3. Der Gerechte, d. h. ausgezeichnet mit jeder Art von Tugend wieder Josef des Alten Bundes. Daher sah er den Mond, die Sonne und dieSterne sich vor ihm verneigen (Gen 37,9): die Vielzahl der Menschen(ausgedrückt in der Zahl zehn), die Welt der Engel, unter einem Na-men gefaßt, die seligste Jungfrau und der Herr. Wie der ägyptischeJosef ist er in kostbares Linnen gekleidet. Wie die Palme wird der Ge-rechte erblühen (Ps 92,13).

Die höchste Tugend war die Gottesfurcht, wie bei Mt 1,19 zu sehenist. Nach dem Gesetz des Mose (Dtn 22,22; Lev 20,19) waren dieEhebrecherin und der Ehebrecher dem Tod verfallen, nicht der Steini-gung. Desgleichen die Braut, die den Mann betrogen hatte oder die alsBraut von einem anderen Mann in der Stadt verführt worden war. Ge-steinigt wurden sie nach der Überlieferung, wie die beiden Greise(Dan 13,62). Warum? Weil das ein Vergehen gegen die Gesellschaftwar und weil Gott die Sünden des Fleisches straft, etc. Gen 12,17. WieJosephus Flavius bestätigt, wurde Pharao mit dem ganzen Hof ge-züchtigt durch eine Seuche, ebenso nach Kapitel 20 Abimelech inGerar. Thales von Milet sagte einem Jüngling auf die Frage, ob erdurch einen Eid den Ehebruch ableugnen solle: „Es gibt keinen schlim-meren Meineid als den Ehebruch.“

Zum FZum FZum FZum FZum Freitag der 2. Freitag der 2. Freitag der 2. Freitag der 2. Freitag der 2. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 104 (Fragment): 20. März 1615* VIII,163-165

Alexander der Große tat Buße, weil er Clytus getötet hatte; er hätteaber eher für seine Trunkenheit büßen sollen. Er verbarg aber dasGötzenbild unter dem Gewand, denn alle Höflinge entschuldigten ihn.Siehe Calepinus zum Wort Clytus.

Es gibt zwei Bedingungen für die Echtheit der Reue: 1. Sie muß sichauf alle Sünden erstrecken. Die ganze Stadt Jericho wurde gebannt;

* Von diesen Fastenpredigten in Annecy sind außer den drei folgenden vier Nach-schriften (Nr. B 7-10) überliefert. Vom 3. Fastensonntag geben das FragmentNr. A 105 und die Nachschrift Nr. B 7 eine Vergleichsmöglichkeit.

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Achan behielt eine Zunge oder einen Stab aus Gold, einen babyloni-schen Mantel und 200 Silberschekel zurück (Jos 7,1-21). So machen esbei uns häufig die Beichtenden und Büßer. Sie haben eine goldeneZunge, halten aber ihre Schlangenzunge zurück; sie haben einen baby-lonischen Mantel, mit dem sie ihre schlechten Gewohnheiten bedek-ken; sie haben 200 Schekel Silber, behalten aber fremdes Geld zu-rück. Daher werden diese Zunge, dieses Gewand und diese Geldsum-me nicht Gott dargebracht, sondern gestohlen; denn das alles hätte derWahrheit dienen sollen, nicht der Eitelkeit.

Klgl 2,19: Gieße dein Herz wie Wasser vor dem Angesicht des Herrnaus. Die anderen Flüssigkeiten hinterlassen entweder einen Ge-schmack oder Flecken, ausgegossenes Wasser nichts, etc. Jakob sagte(Gen 35, 2.4): Entfernt die fremden Götter aus eurer Mitte, reinigt euchund wechselt die Kleider. Sie gaben ihm alle fremden Götter, die siehatten, und die Ohrgehänge; er aber vergrub sie unter der Terebinthe.Gen 27,38f: Als er mit lauter Stimme klagte, war Isaak bewegt ... Hebr12,17: Er fand keinen Platz zur Sinnesänderung, obwohl er ihn unterTränen suchte. Du fragst aber, ob die Reue über alle Sünden gleichsein muß. Keineswegs. Ps 51,16: Befreie mich von Blutschuld, Gott ...Mose steckte seine Hand in seinen Busen, und sie wurde aussätzig (Ex4,6f). Stecke deine Hand in dein Herz, in deine Brust, und es wirderschüttert werden. Ramses (Ex 12,37), die erste Station der Hebräer,bedeutet nach Hieronymus Erschütterung der Motte.

Zweite Bedingung: Sie muß aus einem christlichen Beweggrund her-vorgehen. Gen 3,10f: Ich fürchtete mich, weil ich nackt bin. Gott ant-wortet: Wer hat dir das gesagt? Ex 4,4: Mose ergriff die Schlange beimSchwanz. Die Wirkung der Sünde ist der Tod. Die Lust führt zu endlo-ser Strafe. Du fragst aber, ob dieser Beweggrund genügt. Er genügtnicht. Als er mit lauter Stimme weinte ... Der Stab des Elischa (2 Kön4,29.31). Judas.

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Zum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 105 (Fragment): 22. März 1615 VIII,166-168

Über das Gebet vor den Schwestern der Heimsuchung

Wie Eusebius berichtet, schrieb der Jude Philo ein Buch über daskontemplative Leben oder das Leben der Bittenden; er nennt sie auchtherapeutes (d. h. Ärzte, Heilende) oder Anbeter. Siehe Dionysius(Hier. Eccl.); er nennt hier auch die Mönche Anbeter. Daher sindMönche, Anbeter, Bittende dasselbe. Beter, Gebet.

Über die Notwendigkeit des Gebetes will ich nicht sprechen. Lk18,1: Man muß immer beten und nicht nachlassen. Lk 21,36: Wachtalso und betet allzeit. 1 Thess 5,17: Betet ohne Unterlaß. Der Herrlehrte sie beten (Mt 6,9; Lk 11,1). Zwei Gruppen von Häretikern: dieEuchiten und Messalianer, die behaupten, alles werde durch das Ge-bet bewirkt, sonst sei nichts erforderlich; die Pelagianer verneintendie Notwendigkeit des Gebetes. Johannes Wiclef.

Was ist das Gebet? Das Wort kann man auf zweifache Weise verste-hen. (1.) Im engeren Sinn als Bittgebet; dann ist es eine Bitte, die manan Gott richtet, um das, was wir von ihm wünschen. Wir bitten aufdreifache Weise, wie im Inventarium virtutum ausgeführt. – 2. Allge-mein, wie der hl. Bonaventura: „Das Gebet enthält alle Akte des kon-templativen Lebens.“ Der hl. Gregor von Nyssa sagt: „Es ist der Um-gang mit Gott.“ Der hl. Chrysostomus: „Es ist ein Zwiegespräch mitGott.“ Johannes von Damaskus: „Die Erhebung des Geistes zu Gott.“Augustinus: „Der Aufstieg des Geistes von den irdischen zu den himm-lischen Dingen.“ Hieronymus an Eustochium: „Wenn du betest,sprichst du mit dem Bräutigam; wenn du (die Heilige Schrift) liest,spricht er zu dir“ (De custodia Virginitatis). Bernhard: „Das Wort,das Beispiel, das Gebet; das Größte aber unter ihnen (1 Kor 13,13) istdas Gebet.“ Dieses Gebet ist die mystische Theologie (vgl. Tr 6,1 u. 2).

Beachtet folgende Akte: Denken, Studium, Meditation, Kontempla-tion. Das Denken gleicht den Mücken, das Studium den Maikäfern,die Meditation den Bienen, die Kontemplation der Bienenkönigin.Die beiden ersten haben nichts mit unserem Gegenstand zu tun; dasdritte und vierte betrifft das Gebet, doch zwischen ihnen steht dasBittgebet.

Das Ziel des Gebetes ist die Vereinigung mit Gott, denn Gott bedarfim übrigen des Gebetes nicht. Es ist die Umgestaltung, denn das bleibtim Himmel.

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Zum FZum FZum FZum FZum Freitag nach dem Preitag nach dem Preitag nach dem Preitag nach dem Preitag nach dem Passionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntag

Nr. 106 (Entwurf): 10. April 1615 VIII,169-171

Baruch 4,28: Wie euer Sinn danach stand, von Gott abzuirren, so solltihr ihn zehnfach wieder suchen.

1. Es bleibt noch einiges über die Generalbeichte zu sagen. Sie ist indrei Fällen notwendig: wenn (die Beichte) ungültig war, weil die Reuefehlte, weil das Bekenntnis unvollständig war oder weil die Genugtu-ung, d. h. der Wille zur Wiedergutmachung fehlte. Sie ist notwendig inTodesgefahr und wenn du dein Leben erneuern willst. Jes 38,15: Allemeine Jahre überdenke ich von neuem in der Bitterkeit meiner Seele.Beispiel vom Bekenntnis bei Busäus unter dem Wort „Beichte“ ...

2. Genugtuung ist die freiwillig angenommene Sühne für die Sün-den. Es gibt eine zweifache Genugtuung: nach dem strengen Maßstab,die wir nicht leisten, und die angemessene, durch ein materielles Op-fer oder einen persönlichen Dienst, usw.

3. Können wir erkennen, ob wir richtig gebeichtet haben? Wir kön-nen keine absolute Gewißheit haben, wohl aber Vertrauen. ErstesKennzeichen nach dem hl. Basilius: wenn wir aus Überzeugung mitdem königlichen Büßer sagen können: Das Böse hasse ich, dein Gesetzaber liebe ich (Ps 119,163). Zweites: Mein Herz hängt nicht am Bösen(Ps 101,3). Drittes: Ich sah die Treulosen und verging (Ps 119,158).Wer ist schwach, ohne daß ich schwach werde? (2 Kor 11,29). Hl.Bernhard (Sermo 106 de Divers.). Mt 9,5f: Steh auf, nimm dein Bettund wandle. 1) Sehnsucht nach den höheren Gütern; 2) das Fleischund die Sinne beherrschen; 3. wandeln, Verlangen nach Fortschritt.

4. Das einzige ganz Sichere ist die Besserung des Lebens. Magdale-na, David usw. Um Davids willen (1 Kön 15,4f) gab Gott dem Abijaden Sohn Asa, weil David in den Augen des Herrn gerecht gehandelthatte und nicht abgewichen war von allem, was er ihm geboten hatte,mit Ausnahme des Wortes über den Hetiter Urija. Beachtet aber, ichsage nicht, daß die wahrhaft Bußfertigen nicht wieder fallen können;vielmehr, daß es das beste Zeichen ist, nicht zu fallen.

5. Das sind die Regeln, um einen Rückfall zu vermeiden: eine guteBuße tun. Jeder, der echte Buße tut, macht sie ganz. Ps 119,101.104:Ich habe meine Füße von jedem bösen Weg zurückgehalten, um deineGebote zu halten. Durch deine Gebote wurde ich verständig; deshalbhasse ich jeden verkehrten Weg des Unrechts. Umgekehrt sprachen siezu Gott: Geh fort von uns, wir wollen von deinen Wegen nichts wissen(Ijob 21,14). Jehu zu Jonadab, dem Sohn Rechabs: Gib mir deine Hand,

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geh mit mir. Einen festen Vorsatz haben. Will der Kranke die Gesund-heit? Alle wollen, der Faule aber will und will doch nicht (Spr 13,4).

Man nimmt sich zu wenig Zeit. Man erforscht sein Übel nicht gut.Es ist ein Unterschied, ob man beichtet, um sein Gewissen zu entla-sten, oder um sein ganzes Leben zu ändern.

PPPPParaphrase zu Psalm 125araphrase zu Psalm 125araphrase zu Psalm 125araphrase zu Psalm 125araphrase zu Psalm 125

Nr. 110: Annecy, Juli 1616* VIII,179-187

Vers 3: Denn der Herr wird die Rute der Sünder nicht das Los derGerechten bleiben lassen, damit nicht die Gerechten ihreHände nach Unrecht ausstrecken.

Nach der Auslegung der vorhergehenden Verse: 1. Stelle fest, daßRute der Sünder in dreifachem Sinn verstanden werden kann. a) Ruteder Sünder ist die Rute, mit der die Sünder gezüchtigt werden, entspre-chend Ps 32,10: Viele Schläge werden den Sünder treffen, doch dieBarmherzigkeit des Herrn wird den umgeben, der auf ihn hofft. Siehedazu die Stelle bei Toletus über den Unterschied der Züchtigung derSünder und der Gerechten. Diese Auslegung hat Titelmann. – b) Rutebedeutet Szepter, Herrschaft; das ist die allgemeine Auslegung. –c) Rute, das ist Verfolgung, Geißel, mit der der Sünder den Gerechtenmißhandelt.

2. Nun fragen wir, ob das zutrifft. Meistens sehen wir ja, daß dieGottlosen und Frevler über die Gerechten herrschen und Macht ha-ben; z. B. Potifar über Josef, Laban über Jakob, Pharao vierzig Jahreüber die Israeliten, Ahab über den Weinberg Nabots. Ps 73,2f.5f.11-13: Meine Füße aber wären fast gestrauchelt, weil ich gegen die Frevlereiferte, da ich den Frieden der Sünder sah. Sie teilen nicht die Mühsalder Menschen und werden nicht mit ihnen gezüchtigt. Darum hält Hoch-mut sie gefangen; sie sind von ihrer Sünde und Gottlosigkeit bedecktund sagten: Wie sollte Gott es wissen und der Höchste Kenntnis davonhaben? Siehe, sie sind Sünder und haben Reichtümer in der Welt erwor-ben. Und ich sagte: Also habe ich umsonst mein Herz gerecht erhalten.Jer 12,1: Warum ist der Weg der Gottlosen erfolgreich?

Die erste Antwort zu dieser Stelle (Ps 125,3) gibt Augustinus, in-dem er das Wort nicht bleiben lassen auslegt. Denn im Gericht werden

* Im Juli 1616 hat Franz von Sales in akuter Kriegsgefahr (vermutlich in mehre-ren Predigten) diese Paraphrase gehalten, deren Anfang nicht überliefert ist.

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die zu Unrecht Herrschenden entmachtet werden und der Herr wirdes mit seiner Hand ändern (er wird die Lämmer von den Böcken schei-den); Efraim wird Manasse vorgezogen, obwohl Manasse älter ist (Gen48,13-20): Dann wird Josef seinen Brüdern vorgesetzt. Gregor derGroße. Wie sollte er größer sein, wenn es den Bösen schlecht, denGuten gut ergeht?

Zweite Antwort: Er wird nicht bleiben lassen; er läßt zwar zu, daß dieGottlosen herrschen, aber sehnsüchtig harrte ich auf ihn, und er merkteauf mich (Ps 40,1). Ich sah den Gottlosen erhöht wie die Zedern desLibanon (Ps 37,35). So ziehen die Israeliten aus; so ging es Ijob, Ja-kob, Josef, so Isebel und allen.

Dritte Antwort: Manchmal glauben wir, es sei die Rute der Sünder,und es ist die Rute Gottes. Ps 23,5: Deine Rute und dein Stock, sie habenmich getröstet. So blühte Aarons Stab; so wurde der Stab des Moseangenommen. Also ist es nicht die Rute der Sünder, sondern der Ge-rechten, denn die Schlange verwandelt sich in den Stab (Ex 4,4).

Vers 4: Erweise Gutes den Guten, die aufrichtigen Herzens sind.

Dieses Gebet scheint nicht erhört zu werden; denn bisweilen, ja mei-stens geht es den Schlechten gut, den Guten schlecht. Seht den gutenund gerechten Ijob, seht seine schlechten und ungerechten Freunde; erverfault auf dem Misthaufen, sie lachen und verspotten ihn. Seht Abelund Kain; der Gerechte wird getötet, der andere lebt und obsiegt. Sehtdie Apostel und die Tyrannen. Seht die Häretiker und die Katholiken;jenen scheint es gut zu gehen, sie bemächtigen sich der kirchlichenGüter, sind mächtig usw. Sie teilen nicht die Mühsal der Menschen undwerden nicht mit ihnen gezüchtigt. Darum hält Hochmut sie gefangen;sie sind von ihrer Sünde und Gottlosigkeit bedeckt und sagten: Wiesollte Gott es wissen und der Höchste Kenntnis davon haben? Siehe, siesind Sünder und haben Reichtümer in der Welt erworben. Und ich sag-te: Also habe ich umsonst mein Herz gerecht gehalten, meine Händemit den Unschuldigen gewaschen, und doch wurde ich den ganzen Taggeschlagen und meine Züchtigung begann schon am Morgen. Dochspräche ich: das will ich erzählen, siehe, ich würde das Geschlecht dei-ner Kinder verleugnen. Ich habe nachgedacht, um das zu verstehen,aber es ist mir mühsam, bis ich eingehe in das Heiligtum Gottes und ihrEnde erkenne (Ps 73,5f).

Seht den ganz heiligen Josef und die allerseligste Jungfrau, die Li-lien der Reinheit und Spiegel der Unschuld; wie werden sie von Hero-

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des verfolgt, wie leiden sie auf der Flucht nach Ägypten, etc. Seht denGerechten der Gerechten, Christus den Herrn.

Antwort. Selig der Mann, der den Herrn fürchtet, ... mächtig; Ehreund Reichtum (Ps 112,1-3). Du wirst gut zum Guten sein, mit demHeiligen wirst du heilig sein, mit dem Unschuldigen unschuldig (Ps 18,26).Jubelt alle, die ihr geraden Herzens seid (Ps 32,11). Denen, die geradenSinnes sind ... (Ps 73,1).

Zur Begründung. 1. Aus Augustinus (Sermo X), wo er von jenenspricht, die geraden Herzens sind. Ein gerades Herz ist jenes, das mitGott übereinstimmt, der selbst die Rechtschaffenheit und Gerechtig-keit ist. Daher ist ihm alles willkommen, was Gott will, auch Trübsalund Bedrängnis, und es nimmt alles als Wohltat an. Er sagt: Gerechtbist du, Herr, und gerecht ist dein Gericht (Ps 119,137). Der Ältere solldem Jüngeren dienen (Gen 24,23), nachfolgend, nicht gehorchend. Sotun auch die Ärzte den Kranken Gutes, indem sie ihnen Schmerzenzufügen. Man darf nicht so sehr darauf sehen, was gefällt, als darauf,was nützt.

2. Bedrängnisse sind in Wahrheit gut, deshalb liebte sie der Herr.Wenn die Unwetter aus Perlen bestünden, möchten die meisten sie aufihren Feldern haben. Doch die Bedrängnis bewirkt Geduld, die GeduldBewährung, die Bewährung aber Hoffnung, die Hoffnung jedoch wirdnicht zuschanden (Röm 5,3-5). Mein Geliebter ist mir ein Myrrhenstrauß(Hld 1,12). Alles trägt zum Guten bei (Röm 8,28). Sagt dem Gerech-ten, daß alles gut ist (Jes 3,10). Ergreife sie beim Schwanz; und dieSchlange wurde in einen Stock verwandelt (Ex 4,4).

3. Augustinus bringt die Lösung. Ps 73,16f: Ich sann nach, um das zuverstehen, aber es war mir zu mühsam, bis ich in das Heiligtum Gotteseintrat. Dann werden wir sehen, warum den Bösen Gutes, den GutenSchlechtes zuteil wurde. Wenn den Guten Schlechtes widerfährt, danngeschieht es, damit sie hier und nicht auf ewig gestraft werden, wennsie in etwas gefehlt haben; wenn es den Schlechten gut geht, damit siehier ihren Lohn empfangen, da sie des ewigen nicht würdig sind. Siehediese Frage bei Gregor (Moralia V,1) und Gretscher (De Cruce V,4).

So steht es uns also nicht zu, jetzt zu fragen, warum den GutenSchlechtes widerfährt. So sagt auch der Psalmist zu Recht: Herr, er-weise Gutes den Guten, die aufrichtigen Herzens sind; nicht in derWeise, die wir für richtig halten, sondern erweise Gutes nach deinemWillen und danach, was bei dir auch in dieser Welt gut ist, wie Kreuze,Bedrängnisse usw., und in der künftigen, wo es ganz gut ist: Geh ein indeine Ruhe, weil der Herr dir Gutes erwiesen hat (Ps 116,7).

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Im übrigen sind jene gut, die der gütige Gott gut gemacht hat. Aberist gut und geraden Sinnes nicht dasselbe? Weish 8,19f: Ich hatte eingutes Gemüt erhalten, und als ich noch besser wurde, kam ich zu einemunbefleckten Leib. Ich kann mich nicht erinnern, in der Heiligen Schriftgelesen zu haben, daß jemand gut genannt wird im Sinn der Güte, dieübernatürlich ist, obwohl ich Menschen guten Willens fand. Niemandist gut außer Gott (Mk 10,18), weil nämlich die Güte eine innere undabsolute Eigenheit des Seins ist. Daher fügt der Psalmist zur Erläute-rung hinzu: geraden Sinnes.

Die aber auf schiefe Wege abweichen, wird der Herr mit denen führen,die Böses tun. Friede über Israel.

Vom Weg weichen ab, die nicht geraden Herzens sind. Sie weichenvom Weg ab, sie irren vom Pfad der Wahrheit ab (Weish 5,6). 1. Aufschiefe Wege. Sa sagt: In Fesseln; Genebrard: in Bande; sie verstrickensich. Sie geraten in Fallstricke, sie haben Spinnennetze gewoben. Wiedie Seidenraupen sich unablässig in ihrem Werk einwickeln, so ver-strickt das Herz sich in schlechten Neigungen. Sie verlieren sich aufihren Wegen wie in einem Labyrinth. – 2. Hieronymus sagt: inVerkehrtheiten, in gewundene Wege. Jes 11,4: Krummes soll geradewerden. Der erste Sünder, der Teufel, nahm die Gestalt der Schlangean; weil die Sünder nach Art der Schlangen sich winden, nicht gerade-aus gehen, den Kopf bald nach rechts, bald nach links beugen. –3. Chaldäisch: schiefe Wege; das ist dasselbe. Dtn 5,32: Ihr sollt nichtnach rechts und nach links abweichen, nicht nach beiden Seiten schwan-ken: nach rechts durch Tun, denn die Rechte ist tätig, noch nach linksdurch Unterlassen, denn die Linke ist müßig und untätig. Oder schwan-kend: bald gut, bald schlecht; wie jene, die bei Gott schwören und beiMoloch (Zef 1,5).

Er wird sie mit den Übeltätern führen, 1. mit denen, die offenkundigein sündhaftes Leben führen; oder 2. mit den Teufeln (in das Feuer,das dem Teufel bereitet ist: Mt 25,41). Der Teufel ist ja der Erfinderund Baumeister der Schlechtigkeit.

Friede über Israel. Geschichte Gen 32,24-28: Jakob ringt mit Gott,daher erhält er den Namen Sieger über Gott oder Fürst mit Gott, wasdasselbe ist; denn wer mit Gott als Fürst handelt, der macht im KampfGott sich ergeben. Daher sagen Pereira, Viegas, Cornelius mit Hiero-nymus, Israel bedeute das gleiche wie Fürst mit Gott. Aber am Schlußjeder Bibel lautet die Version dieser Worte: mächtig über Gott.

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Fastenpredigten in Grenoble

In Grenoble predigte Franz von Sales im Advent 1616 über das Benedictus (Nr.A 114-119), außerdem in der Fastenzeit 1617 und 1618.

Von den Fastenpredigten 1617, zum jeweiligen Tagesevangelium, sind eine Samm-lung von Notizen (Nr. A 120) und 20 Entwürfe (Nr. A 121-140) überliefert (daseinzige an Autographen aus diesem Jahr); davon werden vier Entwürfe wieder-gegeben.

Der Fastenzyklus 1618 behandelte, ausgehend vom Fall und der Bekehrung deshl. Petrus, das Thema Sünde und Gnade. Davon werden die überlieferten Predig-ten (Nr. A 141-145) wiedergegeben.

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Nr. 131 (Entwurf): 23. Februar 1617 VIII, 296-300

Vom reichen PrasserVon den Reichen und den Reichtümern

Wenn Nebel die Erde bedecken, kann niemand recht unterscheiden,ob ein Ort schön oder häßlich, wo ein Garten oder ein Misthaufen ist.Solange die Menschen leben, kann keiner leicht beurteilen, ob dieReichen unglücklich und die Armen glücklich sind.

Als der Herr den jungen Mann traurig sah (Mk 10,21-27; die ganzeBegebenheit ist beachtenswert), blickte er sich um und sagte zu denJüngern: wie schwer ist es für jene, die Reichtümer besitzen, in das ReichGottes zu gelangen! Die Jünger wunderten sich über seine Worte. Jesusaber sagte von neuem zu ihnen: Kindlein, wie schwer ist es für jene, dieihr Vertrauen auf Geld setzen, in das Reich Gottes einzugehen! Leichtergeht ein Kamel ... Darüber wunderten sie sich noch mehr und sagtenzueinander: Wer kann dann gerettet werden? Jesus blickte sie an undsagte: Bei den Menschen ... So sage ich, wenn ich heute das Evangeli-um (Lk 16,19-31) lese: Wie schwer ist es ... Um aber der Reihe nachvorzugehen: es gibt vier Arten von Reichen, sowohl guten als schlech-ten; es gibt auch die Irrlehre der Armen von Lyon, der Apostoliker,der Manichäer und des Julian Apostata.

1. Im Erwerben des Reichtums. Ex 20,15: Du sollst nicht stehlen.Hos 8,4: Sie haben Könige eingesetzt, die nicht von mir kommen. Lk19,8: Wenn ich jemand übervorteilt habe, erstatte ich es vierfach. Ps15,15: Herr, wer wird in deinem Zelt wohnen? Wer sein Geld nicht gegen

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Zinsen leiht und keine Bestechung gegen einen Redlichen annimmt. Lk16,9: Der ungerechte Mammon. Sie gleichen Ahab, der den Weinberghaben wollte, der an den seinen angrenzte (1 Kön 21,2). Sie sind wieEselinnen, wenn sie ihre Fohlen säugen; denn da lieben sie ihre Jun-gen überaus, sagt Plinius. Wenn jedoch ein kleiner Bach zwischen ih-nen und ihren Jungen ist, kommen sie nur sehr schwer hinüber undwollen keinen Fuß ins Wasser setzen. Sie scheuen sich aber nicht,durchs Feuer zu gehen. So kommen auch viele Väter in das Feuer derHölle wegen ihrer (falschen) Liebe zu den Kindern. Sie möchten fürdiese aber nicht einmal das Wasser der Armut oder der Aufwendun-gen berühren, d. h. nichts ausgeben, um sie in guter Lebensart und inden Wissenschaften auszubilden. Sie gleichen den Kaninchen, die sichdie Haare an der Brust ausrupfen, um für ihre Jungen das Nest oderLager zu bereiten; sie entblößen ihr Gewissen. Auch brauchen sie vielPlatz zum Schlafen (ich denke an Packesel), denn im Schlaf kommenihnen tausend Einfälle und sie wälzen sich hin und her. So verbringendiese Reichen ihren Schlaf (Ps 76,6); den einen berauben sie seinerHabe, jenen verzehren sie ... Ruades. Und wehe euch, die ihr Haus anHaus baut und Feld an Feld reiht, bis kein Platz mehr bleibt. Wohnt ihretwa allein im Land? (Jes 5,8).

Die nach der Ordnung Gottes erworbenen Güter sind gut. Deshalbsagt Isaak beim Segen über Jakob: Der Herr gebe dir vom Tau desHimmels und von der Fruchtbarkeit der Erde, Überfluß an Korn undWein (Gen 28,28). Und Ijob (1,21): Gott gab ...

2. Im Festhalten (des Reichtums); wie Söhne und Erben bei schlech-ten Verträgen, die sie selbst nicht als solche erkennen. Ebenso frommeVermächtnisse. (Halietus, Seeadler*). Fremdes Gut zurückbehalten,darüber verfügen.

3. Den Reichtum zwar rechtmäßig erwerben, aber zu habsüchtig er-werben. Appian von Alexandria berichtet, daß die Parther, als sie indie Flucht geschlagen wurden (vgl. similitudes), vom Hunger gepei-nigt, ein Kraut aßen, das sie alles vergessen ließ; ihre Sinne wurdenverwirrt, sie erbrachen sich und starben. Nun, nun, was tut ihr? GroßeGefahr. 1 Tim 6,5: Die reich werden wollen, geraten in Versuchung undin die Schlingen des Teufels, in viele schädliche Wünsche, die den Men-schen in Untergang und Verderben stürzen.

* Wenn der Seeadler (halietus) einen großen Fisch fängt, den er nicht zu tragenvermag, läßt er sich eher von seiner Beute auf den Grund des Meeres ziehen, alssie loszulassen (Lauretus. Sylva)

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4. Durch Geiz im Besitz. Götzendienst (Kol 3,5; Eph 5,5). Men-schen der Reichtümer (Ps 76,6). Glückselig der Reiche, der ohne Schulderfunden wird, der dem Geld nicht nachjagt, noch seine Hoffnung aufGeld und Reichtum setzt. Wer ist es, wir wollen ihn loben (Sir 31,8f).Dem Geizigen fehlt ebenso, was er hat, wie das, was er nicht hat.

5. Wer beim Ausgeben wie der reiche Prasser die Reichtümer nurfür sich, für Vergnügungen und eitlen Ruhm verwendet, Vergleich derägyptischen Hunde (Plinius), der Hirsche, Schiffe, Kleider.

6. Grausamkeit gegen Arme. Die Armen haben ihre Würde undmüssen geachtet werden; deshalb muß man sie anstelle des Herrn be-suchen.

Die Geschichte Belschazzars (Dan 5) lebendig und eindringlichschildern: Mene, du bist gezählt, tekel, gewogen, phares, geteilt. Hütenwir uns.

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Nr. 135 (Entwurf): 28. Februar 1617 VIII,315-319

Hat dein Bruder gegen dich gefehlt ... (Mt 18,15)

Gegen dich, vor dir; wie Ps 51,6: Gegen dich allein habe ich gesün-digt und Böses vor dir getan. Gegen dich und vor dir bedeutet das glei-che und die Auslegung des einen gilt auch für das andere. Gegen dich:wodurch du entweder Ärgernis nimmst oder verletzt wirst.

Das ganze Gebot der brüderlichen Zurechtweisung wird vom Schluß-satz bestimmt: Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen(Mt 18,15). Das ist das bewegende Rädchen dieser Uhr, das Steuerru-der dieses Schiffes, der Pol dieser Seefahrt. Es ist ja das Ziel (causafinalis) der Zurechtweisung, und vom Zweck läßt sich der Künstlerbei allem bestimmen.

Daraus ergibt sich die causa efficiens (Wirkursache); denn alle Men-schen ohne Ausnahme sind zur Zurechtweisung verpflichtet, auch sol-che von geringem Ansehen gegenüber Höhergestellten. So hat Paulusauch Petrus zurechtgewiesen: Als Kephas nach Antiochien kam, habeich ihm ins Angesicht widersprochen, weil er zu tadeln war (Gal 2,11).Obwohl Petrus nur ganz leicht gegen ihn fehlte, wurde er in Anbe-tracht der Schwere der Konsequenzen doch von Paulus getadelt, „da-mit der Erste der Würde nach auch der Erste in der Demut war“ (Gre-

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gor). „Wenn die Guten über eine Sache nicht das gleiche denken, bleibtihre Freundschaft davon dennoch unberührt“ (Thomas). Wer zurecht-weist, muß jedoch gerecht sein, d. h. untadelig, damit man ihm nichtsagt: Arzt, heile dich selbst (Lk 4,23). Der Gerechte möge mich tadeln(Ps 141,5). Ist das Salz schal geworden ... (Mt 5,13). Die goldenenLichtscheren (1 Kön 7,49).

Gegenstand (causa materialis der Zurechtweisung) sind Todsünden,denn nur durch sie stürzt der Bruder ins Verderben. Der Arzt gibtnicht gegen jeden kleinsten Schmerz und gegen einen Mückensticheine Medizin. Hier werden die aufdringlichen Tadler zurückgewiesen,wie die Pharisäer: Warum waschen deine Jünger die Hände nicht, be-vor sie essen? (Mt 15,2).

Es genügt aber nicht, daß es sich um schwere Sünden handelt, esmuß auch die Möglichkeit der Besserung bestehen, d. h. man muß dieHoffnung haben können, daß sie durch die Zurechtweisung gebessertwerden. Wenn nämlich der Bruder so verdorben ist, daß er sich nichtbessern lassen will, muß man von ihm ablassen. So hat auch Christusder Herr im gestrigen Evangelium (Lk 4,30) die Nazarener verlassen,überläßt die Blinden und Führer der Blinden (Mt 15,14) sowie Judasihrem Schicksal.

Wenn aber läßliche Sünden sehr gefährlich und zu häufig sind undder Bruder zu sehr an ihnen hängt, können wir ihn zurechtweisen, wirsind dazu aber nicht verpflichtet. Abraham verscheuchte die Vögelvom Opfer (Gen 15,11); auch von der Tafel der Könige und Fürstenwerden die Mücken verjagt. So müssen zwischen Ordensleuten undsolchen, die nach Vollkommenheit streben, ebenfalls die Mücken ab-gewehrt werden, denn sie verderben den Duft des Salböls (Koh 10,1).

Für die causa formalis, d. h. die Form der Zurechtweisung gilt:1. Man muß das rechte Maß halten, nicht gleich ätzende und brennen-de Heilmittel anwenden; wenn milde und leichte genügen, sollst dukeine stärkeren gebrauchen.

2. Die Zurechtweisung muß mit Mitgefühl geschehen: Wer istschwach, ohne daß ich schwach werde? Wer nimmt Anstoß, ohne daßich brenne?“ (2 Kor 11,29). Mit einem mütterlichen Herzen bin ichallen alles geworden (1 Kor 9,22). Der Gerechte weise mich zurecht inBarmherzigkeit und tadle mich; aber das Öl des Sünders komme nichtauf mein Haupt (Ps 141,5). Öl des Sünders ist nach dem Hebräischender Same, der Tau, das Öl des Giftes. Man soll mir nicht vom (gifti-gen) Honig von Heraklea geben. Öl und Wein muß in die Wunde ge-träufelt werden (Lk 10,34). Röm 14,1: Nehmt einen Schwachen imGlauben auf. Gal 6,1: Brüder, wenn einer übereilt einen Fehler begeht,

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dann weist ihn als geistlich Gesinnte zurecht im Geist der Milde. Achteauf dich selbst, daß nicht auch du versucht wirst. In der Bundesladewaren die Gesetzestafeln, der Stab Aarons und das Manna (Hebr 9,4).Wer zurechtweist, in dem muß das Gesetz sein, denn er muß gerechtsein; das Manna, süß wie Honig, und die Rute der Zurechtweisung.Der Stab Aarons war blühend, grünend und fruchttragend (Num 18,8);die Rute der Zurechtweisung muß milde sein und fruchtbringend, d.h. nützlich. Hld 4,11: Honig und Milch auf der Zunge, Honigseim träu-felnd.

3. Mit Klugheit und Diskretion. Bezüglich des Zeitpunkts. So, sagtder hl. Gregor, wartete Abigajil, bis in Nabal der Wein verraucht war(1 Sam 25,37). Einen Menschen zurechtweisen, solange er zornig ist,hieße eine Schleuse in einem Strom bauen wollen, der über die Ufergetreten ist. Ein rasendes Pferd. Koh 3,1: Alles hat seine Zeit.

Bezüglich der Person stellt der hl. Gregor Regeln auf: Einen Vorge-setzten oder Älteren demütig. 1 Tim 5,1: Einen, der älter ist als du,fahre nicht schroff an, sondern rede ihm wie deinem Vater zu. Davidbesänftigte den Geist Sauls mit der Harfe (1 Sam 16,23). Einen Unter-gebenen strenger, so daß er (dich) sowohl liebt als auch fürchtet. DieWeisen der Welt muß man so zurechtweisen, daß sie lernen, nicht zuwissen, was sie wissen, und zu wissen, was sie nicht wissen. Anmaßen-de kräftig; Furchtsame äußerst human.

Bezüglich der Art und Weise. Natan streichelt den Arm, bindet ihn,lenkt den Blick des Kranken ab, dann schneidet er das Geschwür auf(2 Sam 12,1-13). Ebenso jener Chirurg, von dem Seneca berichtet. Erschnitt der Tochter des Königs (der Bischof von Belley sagt, es sei dieTochter des Augustus gewesen) die kranke Brust auf, indem er dasSkalpell unter einem Schwamm verbarg, mit dem er das Geschwürweichzumachen vorgab. Einen Umschlag machen, um ihn zu besänfti-gen. Ebenso die Frau des Tekoa (2 Sam 14,4-21). Der selige Ägidiusund der andere Prediger. Jes 14,11: Unter dich wird Gewürm gebreitetund deine Decke werden Würmer sein. Archelaus oder Argesilaus, denein geschwätziger Barbier fragte: „Wie soll ich dich rasieren?“, sagte:„schweigend“ (Plutarch). Die beste und leichteste Art der Zurecht-weisung. Der hl. Franziskus predigte schweigend (vgl. OEA VI,133).Simeon Stylites, dessen Anblick schon jene zurechtzuweisen schien,die ihn sahen (ActaSanctorum).

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Nr. 136 (Entwurf): 1. März 1617 VIII,320-324

Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung derAlten? (Mt 15,2)

Der Herr tadelt hier die Heuchler, daß sie ängstlich auf bestimmteÜberlieferungen pochen und solche geschaffen haben, die im Wider-spruch zum Wort Gottes stehen. Er lehrt also im Gegenteil, daß gutjene Überlieferungen sind, die dem Wort Gottes nicht widersprechen,vielmehr mit ihm übereinstimmen. Bei dieser Gelegenheit will icheuch eine kurze Belehrung über die Überlieferung geben.

Die ganze christliche Lehre ist ursprünglich und in sich Überliefe-rung. Denn der Urheber der christlichen Lehre war Christus der Herr.Aber er hat 1. selbst überhaupt nichts geschrieben, außer das Wenige,als er die Ehebrecherin lossprach; er wollte aber nicht, daß wir wissen,was er schrieb, deshalb hat er es in den Sand geschrieben (Joh 8,8). Erhat 2. auch niemand beauftragt zu schreiben, außer was er den Bischö-fen Kleinasiens mitteilen wollte (Offb 1,11). Deshalb nannte er 3.seine Lehre nicht „Eugraphium“ (die frohe Schrift), sondern Evange-lium (frohe Botschaft) und gab den Auftrag, sie vor allem durch diePredigt zu verbreiten. Er hat nämlich nie gesagt: Schreibt das Evange-lium der ganzen Schöpfung, sondern verkündet (Lk 16,15).

4. Deshalb sagte er nicht, daß der Glaube durch das Lesen entsteht,sondern durch das Hören. So sagt er selbst (Lk 10,16 u. ö.): Wer euchhört, der hört mich; Mt 13,9.43: Wer Ohren hat zu hören, der höre.Deshalb sagt der Vater (Mt 17,5): Ihn sollt ihr hören. Ebenso sagt derApostel (Röm 10,17f; Ps 19,5): Der Glaube kommt vom Hören, dasHören aber vom Wort Gottes. Ihr Schall drang in alle Länder. – 5. Sosagt der hl. Paulus (2 Thess 2,14) auch: Haltet fest an den Überliefe-rungen, die ihr empfangen habt, sei es mündlich oder durch unserenBrief. Und 1 Tim 6,20: Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, mei-de die Neuerungen eitler Reden und die Einwände der fälschlich sogenannten Erkenntnis. Die Häretiker deuten das anvertraute Gut alsdie Gnade Gottes, die Timotheus empfangen hat, um seines Amtes gutzu walten. Wie unvernünftig und falsch das ist, zeigen die folgendenWorte. Paulus stellt das anvertraute Gut den Neuerungen eitler Redeund den Einwänden der fälschlich so genannten „Erkenntnis“ gegen-über. Dazu sind die Väter zu hören; sehr schön Vinzenz von Lerin,Judas in seinem Brief (3f): Geliebteste, ich habe es mir zum Anliegen

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gemacht, euch über euer gemeinsames Heil zu schreiben, und ich hieltes für notwendig, euch zu schreiben und euch anzuflehen, daß ihr euchmit aller Kraft einsetzt für den Glauben, der ein- für allemal den Heili-gen überliefert wurde; denn es haben sich gewisse Leute eingeschlichen... Auf jedes Wort legt er Nachdruck: supercertari, sich anstrengen,nicht nur kämpfen, sondern hart und tapfer kämpfen, mehr als kämp-fen; semel, nicht zweimal, stets ganz der gleiche Glaube, überliefert,überliefert.

Nun werden aber in der ganzen Lehre zwei Teile unterschieden, ent-sprechend dem Wort des hl. Paulus: sei es mündlich oder durch unse-ren Brief. Nun zweifelt niemand daran, daß der beste und notwendigsteTeil der Lehre schließlich niedergeschrieben wurde; ein Teil jedochwurde nicht schriftlich, sondern gleichsam von Hand zu Hand über-liefert. Da fällt mir die Begebenheit 1 Kön 3,16-28 ein: Die Frau, derdas Kind, d. h. die christliche Lehre gehört, will nicht, daß es zerstük-kelt wird. Die katholische Kirche will das ganze Wort Gottes: dieSchriften und die Überlieferungen. Die Sekten dagegen wollen im-mer, daß es zerstückelt wird. So lehnen gegenwärtig KasparSchwenckfeld und die Libertiner die heiligen Schriften ab, dieCalvinisten die Überlieferung. Das ist ein Kennzeichen fast aller, daßsie einen Teil annehmen und einen Teil ablehnen: Gestalt, Zeichen,aber nicht die Sache; Anrechnung, nicht Gnade; Glaube, keine Wer-ke; Nachlassen, nicht Vergebung (der Sünden); Verwaltung, kein Bi-schofsamt, unmittelbares Gebet, kein mittelbares.

Aber, sagen sie, genügen die heiligen Schriften nicht allein? Sind sienicht ausreichend und mehr als das? Gewiß möchte ich nicht behaup-ten, wie gewisse sehr berühmte und gelehrte Männer, daß sie nichtgenügten. Sie selbst genügen vollständig, aber wir sind nicht hinrei-chend fähig, die katholische Lehre nur aus den heiligen Schriften, al-lein für sich genommen, zu schöpfen. Hatten denn nicht alle Irrlehrerdie heiligen Schriften, ja sogar die Juden und andere? Und doch glaub-ten sie nicht und sind dem Irrtum verfallen. Also sind die Überliefe-rungen notwendig; denn die Lehre nur unter der Eingebung des Heili-gen Geistes schöpfen zu wollen, ist unsinnig und wir hätten „sovielMeinungen als Köpfe“. Deshalb muß man das anvertraute Gut(depositum) sehen, dem ein- für allemal den Heiligen überlieferten Glau-ben folgen, auf die Kirche als dessen Hüterin hören. Sie besitzt ja dieLehre nicht als ihre eigene Erfindung, sondern als treu gehütetes Gut.Die Kirche genügt, weil sie uns die heiligen Schriften gibt; die Über-lieferung genügt, weil sie die heiligen Schriften empfiehlt; die heiligenSchriften genügen, weil sie die Kirche und die Überlieferungen emp-

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fehlen. Die Kirche ist wie eine Taube, die zwei Flügel hat: die HeiligeSchrift und die Überlieferung.

Die Kirche bedarf der Überlieferung, 1. daß sie uns die Existenzbestimmter heiliger Schriften lehre. Denn woher sollte die Gewißheitkommen, wenn nicht vom Zeugnis der Kirche, die diese Überliefe-rung empfangen hat? So gibt entweder die Heilige Schrift keinen Glau-ben oder die Überlieferung gibt den Glauben.

2. Damit wir die Zahl der kanonischen Bücher kennen. Denn der hl.Paulus schrieb z. B. einen Brief an die Gemeinde von Laodizea (Kol4,16), und er wird weitergegeben. Man sagt aber, daß er auch an Senecageschrieben habe. Ferner erwähnt Judas in seinem Brief (14,15) eineWeissagung Henochs. Dazu bemerken die Genfer: „Diese WeissagungHenochs steht nicht in der Bibel, sondern wurde mündlich von denVätern an die Kinder weitergegeben, wie vieles andere auch.“ So sagtder Apostel (Hebr 5,11): Darüber hätten wir Großes zu sagen, aber esist nicht in Worten auszusprechen, weil ihr unfähig geworden seid zuhören. Pastor Hermes, Evangelium der Nazarener, des Thomas.

3. Um den Sinn der Heiligen Schrift festzustellen. Denn Irrlehrenentstehen, „wenn die echten Schriften nicht recht verstanden werden“(Augustinus).

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Nr. 137 (Entwurf): 2. März 1617 VIII,325-329

Jesus ging von der Synagoge in das Haus des Si-mon. Die Schwiegermutter Simons wurde von ei-nem schweren Fieber heimgesucht (Lk 4,38).

Nun müssen wir kurz behandeln, was gestern von der Überlieferungungesagt blieb. Das liegt keineswegs außerhalb unseres Gegenstandes,denn unter den kirchlichen Überlieferungen ist die von der Ehelosig-keit der Priester eine der bedeutendsten. Über sie mußte am Anfangdes heutigen Evangeliums unbedingt gesprochen werden. Doch laßtuns Gott bitten.

Ich glaube, ihr habt bemerkt, daß ich meine Ausführungen nichtausgedehnt habe auf die Überlieferungen, auf denen die Religion über-haupt beruhte bis auf Mose, der als erster etwas aufgezeichnet hat;ebenso nicht auf die Überlieferungen, die es bei den Hebräern gab,

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denn das wäre zu lang gewesen. Ich habe also die Predigt auf die christ-liche Lehre beschränkt, von der ich sagte, daß sie am Anfang nichtgeschrieben, sondern überliefert wurde. Und wenn sie auch später auf-geschrieben wurde, so doch nur unvollständig. Das zwingt uns zuzuge-ben, 1. daß wir heilige Schriften besitzen, denn nur durch die Überlie-ferung wissen wir, daß wir sie haben.

2. daß wir sie in dieser Zahl haben. Denn woher anders als durch dieÜberlieferung wissen wir, daß der Brief an die Gemeinde von Laodizeaund der Brief an Seneca keine echten Paulusbriefe sind? Dann sagt derApostel selbst (Hebr 5,11): Darüber hätten wir Großes zu sagen, aberes ist nicht in Worten auszusprechen. Was ist aus diesem großen Wort,aus dieser langen Rede geworden? Wir Katholiken wissen genug. Dasversteht sich von der Gestalt Christi im Sakrament des Altares; fastdas ganze Altertum handelt davon.

3. um den Sinn der Heiligen Schrift zu ermitteln. Denn nur durchdie Überlieferung können wir je die Hartnäckigkeit der Häretiker über-winden; deshalb hassen sie ja die Überlieferung. Gewiß hätten dieArianer tausend Jahre an ihrer falschen Lehre festgehalten, hätte mannicht durch die Überlieferung die Autorität der Väter und der Apostelanführen können. Es gibt wirklich nur mehr wenig, was man nicht ausden heiligen Schriften belegen könnte, wenn man die Überlieferungzu Hilfe nimmt. Legt man sie nicht zugrunde, dann kann man fastnichts sicher belegen. Vgl. die Lehre des Epiphanius ...

4. Für die Form, die Zahl, die Materie und den Ritus der Sakramen-te. Deshalb sagt der Apostel (1 Kor 11,34): Das übrige werde ich re-geln, wenn ich komme. Dabei hatte er vieles schriftlich angeordnet.

5. Für die Gesetze, z. B. für die Verlegung des Sabbats auf den Sonn-tag, über das Osterfest, die Fastenzeit, daß nach einiger Zeit der Ge-nuß von Blut und Ersticktem erlaubt wurde (vgl. Apg 15,20). DieGenfer Bibel: Was Ersticktes und Blut betrifft, war der Genuß nichtetwas in sich Unerlaubtes, aber er war zeitweise durch ein Gebot ver-wehrt. Das Verbot galt nicht zur Zeit Tertullians, wie man in seinerApologetik (c. IX) sehen kann (dort findet man eine schöne Bemer-kung über den Kindermord). Die Ehelosigkeit der Priester seit derfrühesten Zeit aus tausend Gründen.

6. Unterschiede zwischen den kirchlichen Überlieferungen. Alle sinddennoch so in Ehren zu halten, wie die Kirche lehrt.

7. Man muß feststellen, daß keine Überlieferung je zu den heiligenSchriften in Widerspruch stand, denn sie stammen vom gleichen Gott;vielmehr stimmen sie mit ihnen überein. Deshalb kann man auch von

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den Überlieferungen sagen: Forscht in den Schriften; sie geben Zeug-nis (Joh 5,39) für die Überlieferungen und für die unfehlbare Autori-tät der Kirche. Sie fügen nichts hinzu, sondern erklären, wie man ausdem Myrrhen und Balsambaum den Saft nicht mit einem Messer ausStahl gewinnt, sondern mit Glas, Stein, Knochen, Elfenbein oder ei-nem anderen Holz; wie die Bienen Honig aus Blüten saugen. DieHäretiker gewinnen (aus der Schrift) Galle und Gift wie Spinnen. Nichtdaß sie Gift enthielte, vielmehr verwandeln sie ihren Sinn in Gift. Lk16,29: Sie haben Mose und die Propheten; auf die sollen sie hören.Hören bedeutet aber gehorchen; dem gehorchen, der spricht. Auf Mosehören heißt, auf die Lehre hören, die die Bücher Moses darlegen.

Bleiben wir also mit Christus im Haus des Simon und Andreas. Hierheilt Christus die Fieberkranken. Es ist eine fremdartige Hitze, dieunnatürlich ist. Ach, wie viele Fieberkranke sehe ich, die mir denPuls, die Augen, die Zunge zeigen!

Die Tradition und die Heilige Schrift verhalten sich zueinander wiedas Hervorgegangene und das Hervorgehen. Die Heilige Schrift hatden Vorzug, daß in ihr alles kanonisch ist, sogar die Interpunktion.Das zeigte sich, als die Arianer einen Punkt verrücken wollten: ImAnfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war. DasWort ... (vgl. Joh 1,1). Für diesen Punkt muß man zu sterben bereitsein. So muß man auch glauben, daß der Hund des Tobias einenSchwanz hatte (Tob 1,9). Da Sinn und Folgerung bei den Überliefe-rungen die gleichen sind, fügen sie den Worten nichts hinzu. Die Über-lieferungen haben den Vorteil, daß sie von den Häretikern nicht ver-fälscht werden können.

Am Donnerstag der 1. FAm Donnerstag der 1. FAm Donnerstag der 1. FAm Donnerstag der 1. FAm Donnerstag der 1. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 141: 8. März 1618 VIII,343-351

2. Predigt: Über den Weg und die Verstrickung des hl. Petrus in die Sünde.

Diese Sünde (der Verleugnung Jesu) war fürwahr sehr schwer durchverschiedene Umstände: 1. Die Wiederholung der gleichen Sünde;2. am Tag der Kommunion und der vollkommenen Reinigung durchdie Fußwaschung: Ihr seid rein, aber nicht alle (vgl. zu diesen WortenJoh 13,10); 3. in der Nacht, in der die Sünde getilgt wurde; 4. imgleichen Haus mit Christus; 5. aus einem winzigen Anlaß; 6. erschwert

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durch die Schwüre;7. von dem man es am wenigsten erwartet hätte:wegen der zahllosen Wohltaten, die er empfangen hatte, die den Un-dank vergrößern, und weil er ausdrücklich versprochen hatte, stand-haft zu sein. Gern möchte ich auf Petrus den Vorwurf anwenden, denJesaja (14,10.12-14) buchstäblich gegen den König von Tyrus richtet,im mystischen Sinn gegen Luzifer: Alle werden antworten und dir sa-gen. Was werden sie sagen? Wie bist du gefallen, leuchtender Stern, deram Morgen aufgeht! Zu dir wurde gesagt: In den Himmel der Kirchewirst du aufsteigen, über die Sterne Gottes will ich deinen Thron erhö-hen; auf dem Berg des Bundes wirst du sitzen; aufsteigen wirst du zu denhöchsten Wolken, dem Höchsten ähnlich, d. h. sein Stellvertreter sein.Wie ist das Gold dunkel geworden und seine leuchtende Farbe getrübt(Klgl 4,1).

Das ist fürwahr erstaunlich, Brüder. Um es aber recht zu verstehen,müßt ihr euch merken, daß die Menschen auf zweifache Weise in Sün-den fallen, so wie in Krankheiten. Denn es gibt Krankheiten, die einenplötzlich befallen, wie Epilepsie, Schlagfluß, Ohnmacht, Würmer inder Herzgegend; andere kommen allmählich, und das ist die Regel.Ebenso fallen die Menschen auf verschiedene Weise in die Sünde:durch einen plötzlichen Fall, z. B. vom Zorn übermannt. Das dürfteMose geschehen sein, als er den Ägypter erschlug (wenn er überhauptgesündigt hat). Die Begebenheit (Ex 2,12) erzählen und ausschmük-ken durch den Kommentar des Vinzenz von Lerin. Ebenso durch eineplötzliche Begierde, wie sie Juda (Gen 38,15) nach Tamar erfaßte.Der hl. Augustinus glaubt nämlich, daß Juda und Tamar gesündigthaben, daß auch Mose gesündigt hat. So geschieht die Sünde meist auseiner plötzlichen Regung der Leidenschaft. Diese Sünde ist aber kaumvon Dauer; sie ist leichter zu heilen.

In der Regel kommt es allerdings allmählich zur Sünde. So sagtJesus Sirach (27,12): Der Verständige beharrt in der Weisheit wie dieSonne; der Tor dagegen ist unbeständig wie der Mond. Das kann aufzweifache Weise verstanden werden. Der Törichte ist unbeständig: einRohr, das vom Wind bewegt wird (Mt 11,7); deshalb steht im Hebräi-schen unbeständig statt töricht; bald will er, bald will er nicht: DerFaule will und will doch nicht (Spr 13,4). Oder: der Törichte ändertsich allmählich wie der Mond; es geht schrittweise abwärts, nicht durcheinen plötzlichen Fall, so wie mit der Gesundheit, wenn die kleinenWarnzeichen nicht beachtet werden.

Sehen wir einige Beispiele. Der Fürst der Engel fiel mit einem Schlag;er konnte ja nicht läßlich sündigen (wie der hl. Thomas, der hl.Bonaventura und Alexander von Hales in dem leichteren Fall Adams

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im Paradies annehmen), denn bei Luzifer gab es kein Überlistetwerden,keine ungeordnete Regung. Den schrittweisen Abstieg Adams und Evaszur Sünde habe ich an anderer Stelle in der Predigt zu Maria Reini-gung beschrieben.

Kain fiel nach und nach in die abscheuliche Sünde. 1. Er teilteschlecht (nach Septuag.) und opferte Gott eine mindere Gabe; 2. erwar neidisch; 3. er war sehr zornig und sein Gesicht war eingefallen,deshalb die Frage: Warum ist dein Gesicht eingefallen? 4. Er tötete(Gen 4,5-8).

David. 1. Müßiggang: Um die Jahreswende, wenn die Könige in denKrieg zu ziehen pflegen. 2. Da geschah es, daß David sich nach Mittagvom Lager erhob, auf dem er müßig geschlafen hatte. 3. Er sah dieFrau, die sich wusch, und schaute länger hin, so daß er ihre Schönheiterkennen konnte. Hätte er andernfalls nur flüchtig hingeschaut, sohätte er sie nicht bemerkt (und er sagte nicht: Wende meine Augen ab,damit sie nicht Eitles sehen: Ps 119,37). 4. Er schickte hin, wer sie sei.Gefährliche Neugierde, denn hätte er sie nicht gekannt, hätte er sienicht begehrt. 5. Als er es wußte, besaß er sie. 6. Er versuchte Urijabetrunken zu machen; 7. er tötete ihn; 8. er lebte ein Jahr lang in derSünde.

Salomo: 1. Er gefiel sich in seinen herrlichen Werken: Ich schuf mirherrliche Werke, baute mir Häuser (Koh 2,4). Nichts von allem, wasmeine Augen begehrten, versagte ich ihnen und hinderte mein Herz nicht,jedes Vergnügen zu genießen (2,1). Clemens von Alexandria bringt einvorzügliches Beispiel von den Tempeln der Ägypter, die außen herr-lich geschmückt sind, im Heiligtum aber als Gottheit eine Katze oderein Krokodil enthalten. 2. Er vergaß auf Gott: Gott zürnte Salomo,weil sein Sinn sich vom Herrn, dem Gott Israels abgewandt hatte (1Kön 1, 9). 3. Mißbrauch der geistlichen Freuden (vgl. Pineda). Schließ-lich verbrachte er seine Tage so, daß er sich zugrunde gerichtet hätte,wenn Gott sich nicht seiner erbarmte, worüber man nicht sicher ist.

Es gibt also „Stufen zur Gottlosigkeit“. Läßliche Sünden schaffendie Bereitschaft zur Todsünde, indem sie die Hilfen abschwächen undeinen besonderen Beistand verhindern.

Wie ist nun Petrus in die Sünde gefallen? Vor allem durch übermä-ßiges Selbstvertrauen. (1.) Der Herr hatte gesagt: Wohin ich gehe, da-hin könnt ihr nicht kommen. Da sagte Petrus: Warum können wir dirnicht folgen? Ich will mein Leben für dich einsetzen. Der Herr antwor-tete: Dein Leben willst du für mich hingeben? (Joh 13,33.37). Simon,Simon, Satan hat verlangt ... (Lk 22,31). In dieser Nacht werdet ihr allean mir irre werden.

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(2.) Petrus antwortet: Und wenn alle an dir irre werden, ich bin bereit,mit dir in den Kerker und in den Tod zu gehen, zum Kreuz (Mt 26,31;Lk 22,33). Übermäßige Sicherheit. Ps 112,1: Selig der Mann, der denHerrn fürchtet. Lk 1,50: Sein Erbarmen waltet auf immer mit denen,die ihn fürchten. Ach, wir halten zu viel von uns. Es genügt nicht anzu-erkennen, daß wir alles von Gott haben; man darf nicht glauben, vielzu haben. Ps 125,1: Die auf den Herrn vertrauen, sind wie der BergZion.

3. Die Furcht ist die Hüterin der Gnade. Lk 2,25: Ein gerechter undgottesfürchtiger Mann. Spr 28,14: Glücklich, wer stets auf der Hut ist.Ps 78,9: Die Söhne Efraims, gewohnt den Bogen zu führen, kehrten amTag des Kampfes den Rücken. Ps 30,7f: Im Überfluß habe ich gesagt:Ich werde in Ewigkeit nicht wanken. Herr, in deiner Kraft hast du mei-ner Blüte Bestand gegeben; du hast dein Angesicht von mir abgewandt,und ich wurde verwirrt (vgl. Bellarmin). Ähnlich scheint die Geschich-te des anmaßenden Mönches im Leben des hl. Pachomius. Glücklich,wer stets auf der Hut ist: Sei auf der Hut, wenn dir die Gnade lacht; seiauf der Hut, wenn sie weicht; sei auf der Hut, wenn sie wiederkehrt:solang du sie hast, daß du nicht ihrer unwürdig handelst, sie nichtvergeblich empfangen hast (2 Kor 6,1). Röm 11,20: Sei nicht hochmü-tig, sondern furchtsam.

Der zweite Schritt ist die Nachlässigkeit im Gebet. Lk 22,40.46:Betet, daß ihr nicht in Versuchung geratet. Beharrlichkeit ist nicht dasWerk eines Tages. Die Mönche des Altertums beteten unablässig: Gottmerke auf meine Hilfe (Ps 70,1). Joh 15,5: Ohne mich könnt ihr nichtstun. Aber die Apostel schliefen: Simon, du schläfst? Konntet ihr nichteinmal eine Stunde mit mir wachen? (Mk 14,37; Mt 26,40). Die Brautist gestützt auf ihren Vielgeliebten (Hld 8,5). Ohne mich könnt ihr nichtstun.

Der dritte Schritt ist die falsche Kühnheit, die in einer Wallung desZornes besteht. Das Krokodil verfolgt jene, die vor ihm fliehen. DieJünger fragten: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Ohnedie Antwort abzuwarten, schlug er unbesonnen zu (Lk 22,49f).

Der vierte. Er geht in das Haus und hält sich schwätzend bei denDienern auf. Dann geschah Folgendes: Während er im Hof saß, kameine Magd, die Türhüterin des Hohepriesters dazu. Sie sah Petrus, dersich wärmte, im Lichtschein sitzen, schaute ihn an und sagte zu denUmstehenden: Der war auch bei ihm. Dann zu Petrus selbst: Gehörstdu etwa auch zu den Jüngern dieses Menschen? Du warst auch beiJesus von Nazaret. Er aber leugnete es vor allen und sagte: Frau, ich bin

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es nicht. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht, was du sagst. Er ginghinaus, und der Hahn krähte. Als er aber hinausging, sagte eine andereMagd zu den Umstehenden, daß er bei Jesus von Nazaret war.

Petrus kam zurück, um sich mit den anderen zu wärmen. Da sah ihnein anderer und sagte zu Petrus: Du gehörst auch zu ihnen. Die übrigenaber sagten: Gehörst du etwa auch zu seinen Jüngern? Da schwört er:Ich kenne den Menschen nicht. Mann, ich bin es nicht. Nach einerStunde versicherte ein anderer: Er war wirklich bei ihm, er ist ja ausGaliläa. Die Umstehenden kamen herbei und sagten zu Petrus: Wahr-haftig gehörst du zu ihm, denn du bist aus Galiläa; deine Sprache verrätdich ja. Da sagte ein Verwandter dessen, dem er das Ohr abgeschlagenhatte: Habe ich dich nicht im Ölgarten bei ihm gesehen? Er leugneteabermals: Mann, ich weiß nicht, was du sagst. Er begann sich zu ver-wahren und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht, von dem ihrsprecht (Mt 26,69-74; Mk 14,66-71; Lk 22,55-60; Joh 18,16-18.25-27).

Beachtet, meine Zuhörer: eine Magd beginnt unsicher: Der gehörtauch zu ihm. Denn sie wagt es Petrus nicht bestimmt zu sagen, sondernnur: Gehörst du auch zu seinen Jüngern? Bald behauptet sie es. Ovorwitzige Zunge, du sagst, was du nicht weißt; während du es sagst,beginnst du es zu glauben und als wahr zu behaupten, und während dusprichst, festigt sich die Überzeugung. Beispiel des hl. Basilius vomHund, der zu bellen anfängt, dem alle antworten.

Am FAm FAm FAm FAm Freitag der 1. Freitag der 1. Freitag der 1. Freitag der 1. Freitag der 1. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 142: 9. März 1618 VIII,351-357

3. Predigt: Im ersten Teil setzen wir die Stufen des Falles fort; im zweitennennen wir die Gründe, warum Christus einen solchen Fall zugelassen hat.

Leidenschaften, auch gegensätzliche, regen sich gegenseitig an. Pe-trus hat mit äußerster Kühnheit (dem Malchus) das Ohr abgeschla-gen; von dieser ungeheuren Kühnheit fiel er leicht in die entgegenge-setzte Leidenschaft der Furchtsamkeit, wie eine vom Osten aufstei-gende Welle sehr leicht gegen Westen zurückfällt; wie in Rom dieNächte im Sommer sehr kühl sind.

Soll ich das eine oder andere Beispiel anführen? Amnon und Tamar,2 Sam 13,15: Und er haßte sie in heftigster Abneigung ... Saul liebte

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anfangs David sehr (1 Sam 18,2.5), durch den Gesang der Mädchenvon Jerusalem verwandelte sich aber die Liebe in Zorn und heftigstenNeid (18,6-9). Der Elefant ist das sanfteste Tier, aber ebenso das grau-samste. Sieh also, da Petrus der Tapferste schien, begann er, von einemeinzigen Wort der Magd erschüttert, sogleich zu leugnen und sich zufürchten. Wir wundern uns über den Elefanten, der dem Rhinozerosstandhält, dann die Maus fürchtet; wie das Krokodil den Ichneumon.Die Söhne Efraims (Ps 7,9), usw. wie in der 2. Predigt, Nr. 3. Er zer-streut, die stolzen Sinnes in ihrem Herzen sind (Lk 1,51). Tadelnswertwar die Kühnheit der Apostel und des Petrus; denn entweder meintensie, Christus werde Wunder wirken, dann war es Prahlerei zu sagen:Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? (Lk 22,49); oder sie erwar-teten es nicht, dann war die Verwegenheit fehl am Platz. Auf die vonLeidenschaften Verwirrten muß man anwenden, was Psalm 107,23fvon den Seefahrern sagt; ebenso die Geschichte von Barak und Sisera,denn Sisera schlief nach großer Furcht in tiefster Sicherheit ein (Ri 5).

Er ging also unbesonnen ohne Rüstung auf den Vorplatz und in denHof, denn solche Orte sind gefährlich und Verderben bringend. OHof, wie oft tötest du Petrus! Alle im Hof verschwören sich gegenPetrus. Ein Pferd, das auf die Spur der Wölfe trifft, kommt kaum wei-ter (Plinius).

Dann begann er sich zu fürchten, denn von Furcht erschüttert leug-nete er. Auf die Kühnheit folgte also die Furchtsamkeit. Fürchtet euchnicht vor denen ... (Mt 10,28). Die Furcht des Pilatus, aller Bösen. Siezitterten vor Furcht, wo kein Grund zur Furcht bestand (Ps 14,5). Siewaren verwirrt und wankten wie ein Betrunkener (Ps 107,27). Von da-her werden die Augen schwach. Der Hirte von Getulien fing den Lö-wen, indem er ihm den Mantel überwarf (Plinius). So fliegen die Bie-nen nie bei nebligem Wetter, spannen die Spinnen stets bei nebligemWetter ihre Netze.

Verwickelt. Die Stricke der Sünder umfingen mich (Ps 119,61). Er-staunlich ist die Schwachheit des menschlichen Geistes, wenn er ver-wirrt ist. Siehe das Beispiel Lots, Gen 19,14: Als die SchwiegersöhneLot sprechen hörten, hielten sie seine Worte für einen Scherz. Als esMorgen wurde, drängten (die Engel): Steh auf ... Als er zögerte ...(19,15f). Wenn du nicht Hand anlegst, wirst du nichts schaffen.

Erstaunlich, daß er von solcher Furcht getrieben zwei- oder dreimalunter Eid und Flüchen leugnete. Das bewirkt die verderbte Begierdeund Leidenschaft. Vergleiche die Geschichte Nabots, 1 Kön 21,1-4;dort siehst du ein ungeheures Verbrechen entstehen aus der kleinenaber ungezügelten, wenn auch nicht ungerechten Begierde, den Wein-

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berg zu besitzen. Vgl. die Glossa ordinaria und Lyranus. Warum sollteNabot sagen: Gott sei mir gnädig? Natürlich, weil es den Juden verbo-ten war, ihr Eigentum zu verkaufen, außer bis zum Jubiläumsjahr.Vgl. Ahab, der in der Krankheit wie Alexander weinte. Haman, derüber Mordechai erzürnt ist, der als einziger das Knie nicht beugt (Est5,11ff).

Das also ist der Ursprung der Sünden.Aber warum hat Christus den Fall des Petrus zugelassen? 1. Ich über-

gehe die allgemeinen Gründe, warum Gott die Sünden zuläßt(Bellarmin), und sage: damit er die Apathisten widerlege: Euthymius,Palladius, Evagrius von Pontus; sie behaupten, die Heiligen und dieGerechten seien frei von jeder Leidenschaft. Vgl. Rossignol II,27.Hieronymus hat sie widerlegt im Brief an Ktesiphon, Augustinus im14. Buch, Kapitel 9 des „Gottesstaates“ durch das Beispiel Christi,der scheinbar Leidenschaften hatte. In Wahrheit hatte er keine Lei-denschaften, sondern propassiones.* Folglich werden sie zutreffenderwiderlegt von den heiligsten Männern, am meisten durch Petrus, dernach der Eucharistie, der Fußwaschung usw. gerecht war und doch vonder Furcht verwirrt wurde. Folglich besteht die Vollkommenheit nichtim Fehlen von Leidenschaften, sondern in ihrer Beherrschung; denndas Herz hat Leidenschaften, wie die Harfe Saiten hat; sie müssen zumZusammenklingen gebracht werden, damit wir sagen können: Ich willdich mit der Harfe preisen (Ps 43,4).

2. Damit jene widerlegt werden, die sagen, die Gläubigen könntennicht sündigen und seien ihres Heiles sicher. Wer stand denn fester alsPetrus, der durch die Eucharistie und so viele Mahnungen Christi ge-stärkt war, und doch fiel? 1 Kor 10,12: Wer steht, sehe zu, daß er nichtfalle. Offb 3,7.11: Dem Engel von Philadelphia schreibe: Halte fest,was du hast, damit nicht ein anderer deine Krone empfange. Gregor anGregoria, die Kammerfrau der Kaiserin (Epist. 25): „Du hast etwasUnnützes und zugleich Schwieriges begehrt.“ Die Geschichte der 40Märtyrer vortragen, auf deren Vigil diese Predigt trifft. Unter Furchtund Zittern (Ps 2,11; Phil 2,12). Man muß wachen und beten (Mt26,41).

3. Weil die Ehre Gottes mehr aus Sündern erstrahlt, die Buße tun.Die Freude ist größer (Lk 15,7.10); da sich die Heiligen doch nur überdie größere Ehre Gottes freuen. Da also Christus die Buße voraussah,

* Vgl. Ludwig Ott, Handbuch der Dogmatik, S. 202: propassiones sind anfangen-

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ließ er die Sünde sehr leicht zu. Die Geschichte des Apostels Thomas,des hl. Augustinus. Die Sünden sind Staub und Mist, aber in der Bußeund Beichte verwandeln sie sich in Rosen und Lilien.

4. Beim hl. Hieronymus (in der Catena zu den Worten bei Lk 22,54:Petrus aber folgte ihm); Petrus war etwas zu hart und zu streng. (Chris-tus ließ also seinen Fall zu), damit er aus dem, was er gelitten, Gehor-sam lernte und Milde gegen die Sünder (Hebr 5,8). Der Hirte mußsich von Schwachheit umgeben wissen; wer selbst der Buße bedurfte,gewährt anderen leichter Vergebung. Gen 9,2: Furcht und Schreckenvor euch komme über alle Lebewesen der Erde: über die Tiere, nichtüber die Bußfertigen. Ez 34,4: Das Gebrochene habt ihr nicht ange-bunden. Daher demütigt sich Paulus (1 Tim 1,15): Zuverlässig undaller Annahme wert ist das Wort, daß Christus gekommen ist, um dieSünder zu retten, deren erster ich bin. Gal 6,1: Brüder, wenn auch einMensch aus Übereilung gefehlt hat, so weist ihn, die ihr Geistesmenschenseid, im Geist der Milde zurecht. Achte auf dich selbst, daß du nichtversucht wirst. Die Demut ist eine große Tugend, die bisweilen ausSünden entsteht. Ps 119,67f: Bevor ich gedemütigt wurde, habe ichgesündigt; deshalb habe ich dein Wort bewahrt. Gütig bist du; in deinerGüte lehre mich deine Satzungen. Er besaß die übrigen Tugenden, nichtaber die Demut; daher sündigte er. Deshalb ist Petrus von da an sehrdemütig: nicht herrisch in der Gemeinde (1 Petr 5,3); er erträgt denTadel des Paulus (Gal 2,11). „Damit der Erste an Würde der Erste seiin der Demut“ (Gregor der Gr.).

Am 2. FAm 2. FAm 2. FAm 2. FAm 2. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 143 (Zusammenfassung): 11. März 1618 VIII,358f

4. Predigt: Über die Petrus zuvorkommende Gnade.

Zu folgendem Text: Als er noch sprach, krähte der Hahn sogleichzum zweiten Mal. Der Herr wandte sich um und sah Petrus an. Daerinnerte sich Petrus des Wortes, das der Herr Jesus gesprochen hatte(Mk 14,72; Lk 2,60f).

1. Stelle fest: Petrus fiel von sich aus in die Sünde. Gott sah alles,was er geschaffen, und es war sehr gut (Gen 1,31). Ez 18,23: Will ichetwa den Tod des Sünders, spricht der Herr. 2 Petr 3,9: Gott will nicht,

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daß einer verloren gehe. Jak 1,13: Keiner, der versucht wird, soll sagen... Hos 13,9: Dein Verderben, Israel, kommt von dir; einzig von mirkommt dein Heil. Daher die Frage (Gen 3,9): Adam, wo bist du? ZuKain, der zürnte: Wirst du nicht Lohn empfangen, wenn du Gutes tust?(Gen 4,7). Bar 3,10-12: Woher kommt es. Israel, daß du in fremdemLand bist? Du bist in fremdem Land alt geworden, mit den Toten bistdu unrein geworden und zu denen gezählt, die in die Unterwelt hinab-steigen. Du hast die Quelle der Weisheit verlassen. Deshalb: ZweierleiBöses hat mein Volk getan; sie haben mich verlassen ... (Jer 2,13).

2. Dein Verderben, Israel, kommt von dir; einzig von mir kommt deineHilfe. Joh 6,44: Niemand kann zu mir kommen, wenn ihn nicht meinVater zieht. Hld 1,3: Ziehe mich, wir werden dir nacheilen. Ähnlich denApoden und den Paradiesvögeln. Mit den Toten bist du unrein gewor-den: wie ein Mensch, der in Ohnmacht gefallen ist. Daher kommt dasElend der Sünder und die gerechte Strafe. Da greift die zuvorkom-mende Gnade ein. Gott wird nicht geliebt, wenn er nicht zuerst liebt.Seht David, Paulus, seht Petrus. Ez 33,11: Ich lebe ... Siehe die Ab-handlung über die Gottesliebe (2,8ff).

3. Gott sendet seine hinreichende Gnade: Sage nicht, es liege anGott, daß sie fehlt (Sir 15,2). Vgl. 1 Tim 2,4; 2 Petr 3,4.

4. Das ist die zuvorkommende Gnade; sie wirkt auf dreifache Weise:als zuvorkommende Gnade der Bekehrung, als zuvorkommende Gna-de der Tat und als zuvorkommende Gnade der Lebensweise.

Am Montag der 2. FAm Montag der 2. FAm Montag der 2. FAm Montag der 2. FAm Montag der 2. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 144 (Entwurf): 12. März 1618 VIII,360-363

5. Predigt: Über die helfende Gnade.

5. Diese zuvorkommende Gnade wird in der Heiligen Schrift mitvielen Namen bezeichnet. So wird sie Anziehung genannt: Ziehe michan dich (Hld 1,3); Berufung: Viele sind berufen (Mt 20,16; 22,14);Stimme: Die Stimme meines Vielgeliebten (Hld 2,8); Zuvorkommen:Sein Erbarmen kommt mir zuvor (Ps 59,11); Erleuchtung: Erhebe dich,der du schläfst, und Christus wird dich erleuchten (Eph 5,14); und so invielfacher Weise. Anklopfen: Ich stehe an der Tür und klopfe an (Offb3, 20).

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Drei Bezeichnungen beziehen sich jedoch im besonderen auf unse-ren Gegenstand. 1. Die Gnade wird ein Pfeil genannt. Ps 45,5f: Indeiner Würde und Schönheit; für Wahrheit und Milde ...; deine Pfeilesind scharf. Jes 49,1f: Vom Mutterleib an hat der Herr mich gerufen;vom Schoß meiner Mutter an hat er meines Namens gedacht. Adamuswendet diese Stelle auf Christus an; er sagt: Er hat meinen Mund einemscharfen Schwert gleich gemacht und hat mich wie einen erlesenen Pfeilgemacht; in seinem Körper verbarg er mich (Jes 49,2). Gott hat Chris-tus verborgen, doch in welchem Körper? In der Brust des Vaters, imSchoß des Vaters. Welchen Pfeil? Christus selbst, da er in das Herzeindringt durch die Liebe.

Warum aber wird die zuvorkommende Gnade ein Pfeil genannt?1. weil sie jene durchbohrt, die nicht daran denken. Wie es im umge-kehrten Sinn die Bösen machen. Ps 11,1f: Ich vertraue auf den Herrn,denn siehe, die Sünder spannen den Bogen, sie halten ihre Pfeile imKöcher bereit, um sie im Dunkeln auf jene abzuschießen, die aufrichti-gen Herzens sind. – 2. Von ferne, weil sich die Sünder entfernt haben.Schöner Vergleich von der Liebe, die einen trifft, und jenen, die dieHirsche von Candia jagen. Siehe die Predigt zum Aschermittwoch (Nr.A 78).

2. Sie wird Einsprechung genannt. Gen 2,7: Er hauchte in sein Ange-sicht den Odem des Lebens. Der Sünder ist ja tot; er wird lebendigdurch die zuvorkommende Gnade.

3. Sie wird Einladung genannt, Aufforderung, damit die freie Ent-scheidung sichtbar wird. Es ist ja wunderbar, auf wieviele Weisen undauf welchen Wegen er die Herzen verwundet und durchbohrt. Mariavon Ägypten sah ein Bild der seligsten Jungfrau, und dieses traf sie wieeine stumme Predigt. Gregor von Nazianz berichtet von einer scham-losen Frau, die dem Laster nachging; als sie ein Bild Polemons, einessehr eingezogenen Mannes, sah, bekehrte sie sich und floh. EbensoGregor von Nyssa, als er eine Darstellung der Geschichte Abrahamssah; der selige Pachomius durch das Beispiel der Nächstenliebe; Au-gustinus beim Lesen der Stelle Röm 13,13: Nicht in Wollust ...;Pelagia, deren Name Perle bedeutet, auf das Wort des Nonnus. Man-che bekehrten sich auf die Worte (Jes 14,11) hin: Unter dich wirdGewürm gebreitet und Würmer werden deine Decke sein. Ein anderer,als er das Wort (Apg 7,55) hörte: Er sah den Himmel offen. Daherwerden die Einsprechungen Pfeile genannt, weil sie Leiden verursa-chen. Franz Borgia, als er die tote Kaiserin sah, etc. Die gewöhnlicheWeise ist aber das Wort Gottes.

Durch diese zuvorkommende Gnade wird also unser Wille ange-

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regt. Sie läßt uns das Gute wollen und vollbringen (Röm 7,18); siewirkt in uns das Wollen (Phil 2,13). Denn noch brauchen wir die hel-fende Gnade. Denn sich im allgemeinen bekehren wollen, ist schonetwas Großes; sich schnell bekehren wollen, etwas Größeres; sich jetztbekehren wollen, das Größte. Doch meist mißfällt, was im allgemei-nen gefällt, wenn man es im einzelnen tun soll. Seht (Tob, Kap. 8-10),wie es Raguel hinauszögert, Tobias zurückzuschicken; und Hanna. Sohalten auch Betuel und Laban Rebekka zurück (Gen 24,55). Dazukommt die Schwierigkeit der Bekehrung. Mt 26,75: Er ging hinausund weinte. Alles aufgeben. Gen 21,10: Schicke den Knaben und seineMutter fort. Joh 11,44: Lazarus kommt aus dem Grab, an Händen undFüßen mit Binden gebunden. 1 Kön 17,21: Elija streckte sich dreimalüber den Knaben aus. 2 Kön 4,35: Der Knabe gähnte siebenmal. SoPaulus (Apg 9).

1. Hinausgehen, um nachzusinnen (Gen 24,63), um sich zur Reueanzuregen; 2. weinen, aus Reue; 3. bekennen: Petrus brauchte aller-dings nicht zu bekennen, weil er sich vor den Augen des Hohepriestersbefand.

Am Dienstag der 2. FAm Dienstag der 2. FAm Dienstag der 2. FAm Dienstag der 2. FAm Dienstag der 2. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 145: 13. März 1618 VIII,364-369

6. Predigt: Über die wirksame Gnade.

Der hl. Bernhard (Sermo 76): „Wir brauchen einen dreifachen Se-gen: zuvorkommend, helfend, vollendend. Der erste ist jener des Er-barmens, der zweite der Gnade, der dritte der Glorie.“ Ich ändere dieEinteilung ein wenig, denn ich führe die vollendende Gnade auf diewirksame zurück.

(1.) Das zuvorkommende Erbarmen bewirkt in uns, daß wir uns be-kehren wollen (Phil 2,13). Das genügt aber nicht, denn wie oft sagenwir: Ich will mich bekehren, und wir bekehren uns doch nicht! Des-halb tadelt Jesaja (21,11f) die Edomiter: Drückende Last über Duma,das ist der Teil Edoms, der sich nach Süden erstreckt; man ruft mir ausSeir zu. Seir ist ein Gebiet von Edom; der Name kommt von Esau, derauch Edom heißt, das bedeutet rothaarig; Seir bedeutet dicht behaart(Gen 25,25). Das Volk von Seir also ruft: Wächter, welche Nachtstun-de? Der Wächter sagte: Es kommt der Morgen; es ist Morgengrauen,und doch dauert die Nacht noch an. Das ist ein Bild der Sünder, dicht

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behaarter, tierischer Menschen wie Nebukadnezzar. Wie weit ist dieNacht? Ich möchte mich dem Tag zuwenden. Seht, die zuvorkommen-de Gnade leuchtet auf und die Nacht weicht zurück, wie die Trägen,die die Augen öffnen (Spr 6,9f: Wie lange noch, du Fauler, schläfst duund willst du schlummern?), dann schließen sie die Augen wieder undmachen den hellen Tag zur Nacht. Warum Tag und Nacht vermengt?(Jes 21,12: Wenn ihr fragt, dann fragt ernsthaft.) Weil ihr nicht ernst-haft fragt; weil ihr wollt und doch nicht wollt (Spr 13,4). Bekehrt euchvon ganzem Herzen (Jer 29,13). Es gibt manche, die zwar die Augen,nicht aber den Körper denen zuwenden, die ihnen zurufen. Siehe oben:Tobias, Betuel, Lazarus, der an Händen und Füßen gebunden aus demGrab kommt.

2. Zum Heil des Sünders ist daher die helfende Gnade notwendig,von der wir das letzte Mal gesprochen haben. Sie besteht darin, daßwir von ganzem Herzen alle Mittel zur echten Buße anwenden. Einschönes Beispiel bietet Gen 24,15-53. Nichts ahnend trifft Rebekkaam Brunnen Elieser; der bittet sie, etc. Das ist die erste Eröffnung; siehört den Boten, sie hört sein Wort. Dann gibt er ihr goldene Ohrgehän-ge, d. h. Lieblichkeit und Annehmlichkeit des Hörens; er gibt ihr Arm-reifen, d. h. die Möglichkeit, das Gehörte auszuführen. Die Seele lädtdie Gnade, diese gute Regung, ein zu bleiben. Das ist ja die Wirkungder zuvorkommenden Gnade, das Gehör, d. h. den Verstand zum Hö-ren bereitzumachen und den Willen zu bewegen, daß sie wünschen,diese Gnade und diese Freude möchten andauern. Dann verlangt dieeingelassene Gnade Zustimmung. Sobald sie diese erhält, gibt sie sil-berne Gefäße, d. h. die Furcht, und goldene, d. h. die Liebe. Bald dar-auf bekleidet sie die Seele mit dem festen Vorsatz, d. h. führt sie vonder beginnenden zur starken Liebe, die sich vornimmt, bis zum Todauszuharren. Der verschwenderische Sohn geht in sich durch die An-regung der Gnade; Wieviele Taglöhner im Haus meines Vaters habenBrot im Überfluß; ich will mich aufmachen (Lk 15,17f). Sogleich kehrter heim. So wird Lazarus von den Binden befreit. Glückselige Buße inMagdalena! Als sie erfuhr, daß Jesus beim Gastmahl war ... (Lk 7,37);das ist die zuvorkommende Gnade. Da brachte sie sogleich; das ist diehelfende, mitwirkende Gnade.

Die mitwirkende Gnade besteht in dreifacher Hilfe, wie Rafael siedem Tobias leistete: in mittelbarer oder unmittelbarer Führung, in-nerlich oder äußerlich (beachte: wenn du die äußere, d. h. den mensch-lichen Führer vernachlässigst, wirst du kaum einen inneren haben;höre auf den Hahn, und der Herr wird dich ansehen). Die helfende

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Gnade kann im Schutz und in der Verteidigung gegen Übel bestehen,gegen den Fisch (Tob 6,2-6); ebenso in der Unterstützung wie durchRafael, der auch Nahrung beschafft. So berichtet Elieser, daß er ge-schickt wurde, um seinem Herrn die Frau zuzuführen; das ist die Füh-rung; schließlich im Schutz, indem sie Kleidung gibt, die gegen dieUnbill des Wetters schützt. Drittens kann sie darin bestehen, daß siehilft, wie die Kamele zu tränken (Gen 24,34-38). So half sie Paulus:Geh zu Hananias; das ist die Führung; ihm gab sie den Geist der Füh-rung und ließ die Schuppen von den Augen fallen; dann vertrieb siedie Sünde durch die Taufe, darauf aß Paulus (Apg 9,7; 17-19).

3. Zum Heil der Sünder ist also die Beharrlichkeit notwendig. Mt10,22: Wer ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden. Origines,Tertullian, Hosius, Salomo, Judas waren nicht beharrlich. Der Willedes Menschen ist wandelbar bis zum Tod. Gal 5,7: Ihr seid gut gelau-fen; wer hat euch aufgehalten? Das Konzil von Trient: Die Gnade derBeharrlichkeit ist die höchste und geheimnisvollste Gabe. 1 Kor 10,12:Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle. 1 Kor 9,24: Alle laufen zwar, abernur einer gewinnt den Preis. Es gibt eine zweifache Beharrlichkeit: dieeine im engeren Sinn und die äquivalente. Die sich beim Tod bekeh-ren, wie der Schächer und ganz wenige andere, haben eine äquivalenteBeharrlichkeit; sie sind ja nicht eigentlich beharrlich, aber ihre Be-kehrung gilt soviel wie die Beharrlichkeit und ist nichts anderes alsdie Bekehrung. Die Beharrlichkeit im engeren Sinn besteht darin, daßwir lange Zeit durchhalten. Daher ist die Gabe der Beharrlichkeitnichts anderes als eine bestimmte Folge von leitenden, schützendenund helfenden Gnaden (vgl. Tr. 3,4).

Über das Gesagte erhebt sich aber ein zweifacher Zweifel. Der er-ste: Wenn wir aus uns nichts vermögen, wird also jemand, der ver-dammt wird, deshalb verdammt, weil Gott ihm nicht geholfen hat? Ri15,18: Darum sterbe ich vor Durst. Doch dieses Argument ist so nich-tig wie kein anderes. Denn obwohl wir die Gnade brauchen, fehlt sieuns dennoch nicht. Ijob 24,13: Sie lehnten sich gegen das Licht auf.Die Gnade fehlt dir so wenig wie die Natur. Beispiel des Mannes, derdie Augen schloß, im Buch von der göttlichen Liebe (Tr. 4,4). Beispielder Israeliten in der Wüste: nicht das Manna fehlte, sondern sie fehl-ten gegen das Manna (Ex 16,13-29); sie hatten die Wolkensäule amTag und die Feuersäule in der Nacht (13,31). Beispiel der ArcheNoachs: sie hätten ebenso leicht hineingehen als draußen bleiben kön-nen, sie wollten aber nicht (Gen 7,7; 1 Petr 3,20).

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Der zweite Zweifel: ob die Akte der Buße fühlbar sind. Das Gefühlkann auf zweifache Weise angeregt werden: innerlich vom vernünfti-gen Seelenteil her oder im niederen Teil. Die Töchter Jerusalems wein-ten, im niederen Teil bewegt, daher sagte der Herr: Weint nicht übermich (Lk 23,28), nämlich im niederen Teil. Tränen sind also etwasGutes, denn sie sind die Wirkung der Reue; da aber das Gefühl nichtimmer der Vernunft gehorcht, sind äußere Tränen nicht erforderlich,sondern nur innerliche.

Nun fragen wir noch: Wie war die Buße des Petrus beschaffen? Sieerstreckte sich 1. auf den ganzen Menschen; sein Weinen entsprang jadem Verstand, erfaßte das Herz und vom Herzen her die Augen, wiebei Magdalena. Hier löse den zweiten Zweifel. 2. Sie erstreckte sichauf alle Fähigkeiten oder Empfindungen der Seele; so heißt es 1 Sam(10,6): Der Geist des Herrn durchdringe dich, und du wirst ein andererMensch. 3. Sie erstreckt sich auf das ganze Leben, das er ob der Bekeh-rung von zwei Frauen beendete, wie zwei Frauen ihn zur Verleugnungveranlaßt hatten. Siehe die Geschichte bei Baronius.

Zum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 147 (Zusammenfassung): Annecy, 15. August 1618 VIII,376f1

Wer ist jene, die hervorgeht wie die aufsteigende Mor-genröte, schön wie der Mond, erlesen wie die Sonne,furchtbar wie ein geordnetes Heerlager? (Hld 6,9).

Zeuxis malte ein wunderbares Bild, von dem er sagte, es sei „mehrBewunderung als Nachbildung“. So hält euch die Kirche die Aufnah-me Marias vor Augen; sie will, daß ihr sie bewundert und nachahmt.Der hl. Bernhard sagt in der 2. Predigt zur Weihnachtsvigil: „Der Fort-schritt gleicht einer Reise.“ Ps 84,6-8: Selig, dessen Beistand von dirkommt. Er hat in seinem Herzen den Aufstieg zurechtgelegt; im Tal derTränen hin zum Ziel, das er festgesetzt hat. Den Segen wird der Gesetz-geber verleihen; sie werden von Tugend zu Tugend fortschreiten. Bern-hard an Garinus (Epist. 204). Wie vorzüglich drängt der hl. Bernhardim Brief 341 jene, die keinen Fortschritt machen wollen: „Wer sagt, er

1 Dieser autographen Zusammenfassung entspricht die nachgeschriebene Pre-digt Nr. B 21, allerdings nur im Datum, so daß man zweifeln kann, ob es sichum die gleiche Predigt oder um eine zweite am gleichen Tag handelt.

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bleibe in Christus, muß ebenso, wie Christus wandelte, auch selbst wan-deln. Jesus aber wuchs und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade“ (Lk2,40.52).

So wuchs unsere heilige Herrin wie die Morgenröte, von ihrer Emp-fängnis zur Mutterschaft. Daher fand sie der Engel voll der Gnade;und der Heilige Geist, der auf sie herabkam, überschattete sie. Du hastGnade gefunden (Lk 1,28-35). Noach, Abraham, Josef. Siehe Seite135.2

Zum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. JosefZum Fest des hl. Josef

Nr. 154: Lyon, 19. März 1621* VIII,397-402

Der Gerechte blüht wie die Palme (Ps 92,13).

Heilig und liebenswert ist dieses Fest, meine Zuhörer, heilig undehrwürdig die Kirche, die dem heiligen und liebenswerten Patriar-chen geweiht ist. Heiliger Josef, „ich weiß nicht, mit welchem Lob-preis ich dich ehren soll, denn du hast auf deinen Armen getragen, dendie Himmel nicht zu fassen vermochten“ (Brevier). Der erste Lob-preis, den die Kirche heute in der Meßfeier ausspricht und singt, lau-tet: Der Gerechte blüht wie die Palme. Ihn habe ich zum Gegenstandgewählt, weil er der erste ist, weil er vom Ahnherrn des hl. Josefstammt, vor allem aber, weil er mir reichen Stoff bietet, von der ganzheiligen Ehe Josefs und Marias zu sprechen und von der ganz heiligenDemut, durch die er seine hervorragenden Vorzüge und Tugenden ver-barg. Das werden die zwei Punkte dieser Predigt sein; ich werde sieschließen mit der Bitte um das Wasser, das die Samariterin erbat (Joh4,15), um auch etwas über das Evangelium des Tages zu sagen. Damitich aber Nützliches von deinem Vater sage, wende ich mich an dich,Jesus: „Wir bitten dich, Herr, daß uns durch die Verdienste des Bräu-tigams deiner allerseligsten Mutter Hilfe zukomme, damit uns durchseine Fürbitte geschenkt werde, was unser Vermögen nicht erreicht“(Oration). Und zu dir, heilige Jungfrau, sage ich: Ave Maria.

2 Dieser Hinweis bezieht sich auf eine Predigt über Maria Verkündigung, dienicht überliefert ist.

* in der neuerbauten Kirche des Noviziatshauses der Jesuiten, am erstenPatroziniumsfest.

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Arabien ist durch den günstigen Einfluß des Himmels so fruchtbaran allen Arten aromatischer Bäume, daß man es das Glückliche nennt.Hier gab es, sagten die Alten, jenen überaus bewundernswerten und soseltenen Vogel, daß er einmalig ist, den man Phönix nennt. Nun wirder nach Ablauf mehrerer Jahrhunderte so schwach und alt, sagt man,daß er kaum noch fliegen kann und ihm dann sein Leben so hinfälligerscheint, daß er nur mehr durch den Tod zu leben hoffen kann. Dahersammelt er aromatisches Holz, macht einen Holzstoß, etc. Hernachfliegt er wieder, lebt munter und fröhlich; in einer ganz lebendigenJugend überlebt er dann eine neue Reihe von Jahrhunderten, etc. Dasist der Bericht der Alten, uzw. nicht nur der profanen, sondern auchder christlichen Schriftsteller, des hl. Basilius, des hl. Ambrosius undvieler anderer.

Es ist gewiß wahr, meine teuersten Zuhörer: wenn der Sünder inseiner Bosheit alt geworden ist, muß er sich einen Holzstoß errichtenund ein Feuer entfachen, das ihn in Asche verwandelt und zu einemWurm der Buße werden läßt. Dann gelangt er von diesem Zustand zurGerechtigkeit, und wie ein zweiter Phönix fliegt er, ist munter, undman kann sagen, er bringt das Opfer der Gerechtigkeit dar. Ps 4,6;116,17: Ich will das Opfer der Gerechtigkeit darbringen. Ps 43,4: Ichwill hintreten zum Altar Gottes, zu Gott, der meine Jugend froh macht.

Doch warum sage ich das? Deshalb, meine teuersten Zuhörer, weilTertullian (Von der Auferstehung des Fleisches) unseren Vers undden Vergleich so verstanden hat: Der Gerechte wird blühen wie diePalme. In der Fassung der Septuaginta fand er nämlich das Wort Phö-nix: Der Gerechte wird aufblühen wie der Phönix. Daher sagte er: Wennder Sünder zur vollkommenen Sinnesänderung und Buße gelangt ist,dann wird er ganz verjüngt und wie neugeboren in der Gnade.

Aber obwohl das Ansehen dieses großen Mannes viel Achtung ver-dient für das, was er mit großer Klugheit gesagt hat, müssen wir unsdoch an die gewöhnliche Fassung halten, die von der heiligen Kirchekanonisiert ist, die in sich gerechtfertigt ist (Ps 19,10). Obwohl Phönixim Griechischen den seltenen und wundervollen Vogel bedeutet, vondem wir gesprochen haben, bedeutet das Wort tatsächlich auch Palme.Die Palme ist der Phönix der Bäume, wie der Phönix die Palme derVögel ist. Beide haben viel Ähnlichkeit miteinander, abgesehen da-von, daß die Palme nicht so selten ist wie der Phönix und der Phönixnicht so fruchtbar wie die Palme.

Sagen wir also mit David: Der Gerechte wird blühen wie diePalme,und sprechen wir von der wahren Palme. Denn wer sieht nicht,

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daß sein Vergleich mit den Bäumen von der Palme und von der Ze-der gilt? Wie die Zeder, und dann: er wird blühen, und gepflanzt, etc.(Ps 92,13.14).

Nun gibt es zahllose Vergleichspunkte zwischen der Palme und demGerechten. Die Palme ist der Fürst unter den Bäumen, der Gerechteunter den Menschen. Die Palme ist immer grün, sie wächst in die Höheund bleibt auf dem Boden stets klein und schlank; sie ist ganz starkund erträgt Lasten; sie trägt ganz vorzügliche Früchte. Doch mir dünkt,das ist allen Gerechten gemeinsam, trifft aber in besonderem und grö-ßerem Maß auf den glorreichen hl. Josef zu. Deshalb habe ich meinAugenmerk auf die bewundernswerten und seltenen Eigenschaftendieses Baumes gerichtet, die vergleichsweise ganz einmalig auf den hl.Josef zutreffen.

Die erste: Es gibt zwei Arten von Palmen; die einen sind männlich,wir können sie Palmbäume nennen; die anderen weiblich, sie sollenden Namen Palme behalten. Und das ist das Wunderbare: man ver-mählt die Palmen, um sie fruchtbar zu machen, und ihre Vermählungist ganz jungfräulich und rein, heilig und unbefleckt. Lege die Schilde-rung (nach Plinius) so anschaulich wie möglich dar. O Gott, ihr sehtschon das meiste, was ich euch sagen will, aber es ist angebracht, daßich es für die Einfachen erläutere. Mt 1,18: Als die Mutter Jesu, Maria,mit Josef vermählt war, ehe sie zusammenkamen, etc. Nein, nicht derPalmbaum befruchtet die Palme, vielmehr befruchtet die Sonne sie.Vielleicht wollte die Natur diese Vorgangsweise nur einhalten, umuns durch dieses Gleichnis zum Verständnis dessen zu führen, was wirnun sagen. Es ist der Heilige Geist, der die seligste Jungfrau fruchtbarmacht. Lk 1,35: Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen und dieKraft des Allerhöchsten, etc. Mt 1,20: Was aus ihr geboren wird, stammtvom Heiligen Geist. Der Heilige Geist wollte aber die Vorgangsweiseeinhalten, daß die seligste Jungfrau nur im Stand und im Schatten derEhe (den Sohn Gottes) empfing, in einer ganz und gar jungfräulichenEhe, die „die Jungfräulichkeit Marias nicht beeinträchtigte, sondernheiligte“ (Missale); und es erhöht den Rang des hl. Josef wunderbar,daß er der wirkliche Gemahl einer so heiligen Braut ist. Hld 8,8f:Unsere Schwester ist klein und hat noch keine Brüste. Was werden wirmit unserer Schwester machen an dem Tag, da man um sie wirbt? Ist sieeine Mauer, so wollen wir silberne Bollwerke bauen; ist sie ein Tor, dannwollen wir es mit Zederngetäfel bewehren. Josef war daher der Wächterihrer Jungfräulichkeit. Hld 7,2: Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen,von Lilien eingesäumt. „Tempelwächter des Heiligen Geistes“ nennt

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Tertullian die Keuschheit. Aus dieser Ehe ergibt sich aber ein zweiterVorzug des hl. Josef: Obwohl er nicht der natürliche Vater Christi desHerrn ist, ist er doch mehr als sein Nährvater, mehr als ein Oheim.Obwohl Christus nicht das Kind Josefs ist, ist er doch sein Sohn; er istnicht sein Kind, aber er ist ein Sohn, der ihm gehört. Wenn die Taubeeine Dattel trägt und über dem Garten fallen läßt, dann gehört diePalme, die aus ihr wächst, dem Eigentümer des Gartens. Daher wird erblühen wie die Palme: der Palmbaum blüht, d. h. er trägt Frucht in derPalme.

Hld 5,11: Seine Haare gleichen den Kronen der Palmen, schwarz wieder Rabe. Die schwarzen Kronen tragen weiße Blüten. Trage den Be-richt (Plinius) vor. Der Gerechte wird blühen wie die Palme. Das giltzwar für alle, am meisten aber für den hl. Josef, der alle Tugenden, dieihn zum Gerechten machten, durch die Demut verbarg. Daher war erzu seiner Zeit ein unbekannter Mann. Kol 3,3: Ihr seid gestorben undeuer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Welche Demut offenbartdoch das heutige Evangelium! (Mt 1,18-21).

Zum Fest der Heiligen Philippus und JakobusZum Fest der Heiligen Philippus und JakobusZum Fest der Heiligen Philippus und JakobusZum Fest der Heiligen Philippus und JakobusZum Fest der Heiligen Philippus und Jakobuszugleich 5. Sonntag nach Osternzugleich 5. Sonntag nach Osternzugleich 5. Sonntag nach Osternzugleich 5. Sonntag nach Osternzugleich 5. Sonntag nach Ostern

Nr. 156: 1. Mai 1622 VIII,405-409

Am 1. Mai 1622, dem Fest der Heiligen Philippus und Jakobus und demBittsonntag, habe ich die Predigt so geschrieben.

Amen, amen, ich sage euch: wenn ihr den Vater in meinem Namenbittet, wird er es euch gewähren (Joh 16,23). Wenn ihr mich in meinemNamen um etwas bittet, werde ich es tun (Joh 14,14). Nachdem Chris-tus den Jüngern die Füße gewaschen, den Verrat des Judas und Petrusvorhergesagt hatte, sprach er in den folgenden Kapiteln Worte desTrostes, voll der Geheimnisse zu den Jüngern. Unter anderem trösteteer sie damit, daß er ihnen zwar seine sichtbare Gegenwart entziehen,sie aber immer mit seinem Beistand beschützen und erhören werde.Das drückt er auf zweifache Weise aus: wie am Anfang des Sonntags-Evangeliums: Amen, amen, ich sage euch: wenn ihr den Vater in mei-nem Namen bittet ..., und wie am Schluß des Evangeliums der Fest-messe: Wenn ihr mich in meinem Namen um etwas bittet, werde ich estun. Sowohl in dem einen wie in dem anderen Wort wird die Macht der

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Bitte und des Gebetes ausgedrückt. Deshalb müssen wir vom Gebetüberhaupt sprechen, und die Bittage verlangen es so. Wir können je-doch über das Gebet nur sprechen, wenn Gott uns belehrt. So müssenwir mit den Aposteln (Lk 11,1) sagen: Herr, lehre uns beten.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wenn ihr den Vater in meinem Na-men um etwas bittet, wird er es euch gewähren.

1. Man muß die Irrtümer der Messalianer oder Euchiten vermeiden,die (dem Gebet) zu viel (zuschreiben), und die Irrtümer der Pelagianerund der Wiclefiten. Vgl. Bellarmin, Band 3 (Kontroversen) Von denguten Werken.

2. Wiclef verwendet die Unterscheidung der echten Theologen undHeiligen falsch (drei Formen des Gebetes: mündlich, geistig, Gebetdes Lebens oder der Werke); wir müssen sie richtig anwenden.

(Mündliches Gebet) Ps 142,1: Mit meiner Stimme rief ich zum Herrn;mit meiner Stimme habe ich den Herrn angefleht. Augustinus und dieÜbung der Kirche: Herr, öffne meine Lippen, und mein Mund wirddein Lob verkünden (Ps 1,17). „Durch heilbringende Anordnung ge-mahnt und durch göttliche Belehrung angeleitet ...“ (Missale).

Geistesgebet: Jes 38,14: Wie das Schwalbenjunge rufe ich und sinnenach wie die Taube. Ps 119,97: Wie liebe ich dein Gesetz, Herr! Denganzen Tag ist es Gegenstand meiner Betrachtung. Eine schöne Stelle,Ex 14,15: Was rufst du nach mir? Bernhard (Sermo 16 zu Ps 90, § 1):„Das Rufen ist in den Ohren Gottes ein heftiges Verlangen.“ Bei Gottzählt weniger das Rufen als die Liebe. Cassiodor, zu Ps 17: „Vollkom-men ist das Gebet, das ruft durch seinen Grund und seine Sprache,durch das Leben und Denken.“

Gebet des Lebens. Sir 29,15: Verbirg, verschließe das Almosen in derBrust, im Herzen des Armen, und es wird selbst für dich beten zumHerrn. Abt Lucius im „Leben der Väter“, bei Corneille im Kommen-tar zu 1 Thess (5,17f), S. 697. So haben im Altertum die Fürsten Klö-ster gegründet und gründen fromme Männer Klöster, in denen immergebetet wird und sie selbst immer mit den Betenden beten, wie Saulusdurch die Hände der Steinigenden (steinigte: Apg 7,57.59).

3. In jedem Gebet wird immer Gott um etwas gebeten; ihm dienenwir, unnütz nicht für uns, sondern für Gott (Lk 17,10): Ich neigte meinHerz, zu tun ... (Ps 119,112). Dreierlei wird jedoch festgestellt:

Wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euchgewähren. Also sind vor allem zwei Worte zu erklären. Den Vater. Ps

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121,1: Ich habe meine Augen zu den Bergen erhoben. Jedes Gebet istan Gott gerichtet. Ps 123,1: Zu dir erhebe ich meine Augen, der du inden Himmeln wohnst. Wenn wir Vater sagen, sprechen wir von derganzen Dreifaltigkeit; so heißt es nämlich bei Johannes (14,14): Wennihr mich in meinem Namen um etwas bittet, werde ich es tun. Joh 10,30:Ich und der Vater sind eins. Joh 14,9f: Wer mich sieht, Philippus, siehtauch meinen Vater. Wißt ihr nicht, daß ich im Vater bin und der Vaterin mir ist? Wir erbitten zwar etwas von den Heiligen, aber nicht unmit-telbar, sondern wir bitten, daß unsere Gebete durch ihre Gebete un-terstützt werden. Deshalb: „Erhebt die Herzen; wir haben sie beimHerrn“ (Präfation).

In meinem Namen, als Mittler. (So beteten schon die Alten, wennauch nicht ausdrücklich; jetzt deutlicher, ausdrücklicher, wie klarergeglaubt wird.) Anders sind wir nicht wert, daß wir beachtet werden.Ps 132,10: Um Davids, deines Dieners willen weise das Antlitz deinesGesalbten nicht ab. Das Gebet ist allmächtig, denn „es ist wahrhaftwürdig und recht“, daß der Sohn vom Vater erhört wird. Röm 8,15: Ihrhabt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht,sondern ihr habt den Geist der Kinder empfangen, in dem wir rufen:Abba, Vater. Ps 83,10: Schau auf das Angesicht deines Gesalbten. DasGebet des Abtes Johannes (Corneille, S. 565). Jakob am Fuß der Lei-ter (Gen 28,12). So sind von Anfang an alle Gebete der Kirche; siebeginnt mit dem Kreuzzeichen und schließt mit dem Kreuzzeichen.

Zum Fest der KreuzerhöhungZum Fest der KreuzerhöhungZum Fest der KreuzerhöhungZum Fest der KreuzerhöhungZum Fest der Kreuzerhöhung

Nr. 158 (undatiert) VIII,414-420

Gott hat mir ein außergewöhnliches Verlangen geschenkt, den Her-zen aller Kinder der heiligen Kirche die Ehrfurcht und Liebe zumheiligen Kreuz unseres Herrn Jesus Christus einzupflanzen. Ich habeschon öfter erwogen: Nachdem der große Judas Makkabäus den Tem-pel des Alten Bundes wieder aufgebaut hatte, empfand das Volk derHebräer so viel Trost, daß alles Volk auf das Angesicht niederfiel undGott lobte und pries, der ihnen solchen Erfolg verlieh (1 Makk 4,55).Beim Gedanken daran sage ich: Mein Gott, welchen Trost und welcheHerzensfreude müssen die Christen empfinden, wenn sie die Erhö-hung des heiligen Kreuzes erwägen, das von den Ungläubigen gefälltund umgerissen und vom hochherzigen Feldherrn Heraklius wieder

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aufgehoben und aufgestellt wurde! Unsere Freude muß gewiß um sogrößer sein, als im alten Tempel stets nur Kälber, Böcke und Schafegeopfert wurden; aber auf dem Kreuz und im Kreuz hat sich der ewigeSohn Gottes selbst dargebracht und geopfert.

Der alte Tempel wurde nie von anderem Blut benetzt als dem vonTieren, das heilige Kreuz aber wurde benetzt vom Blut des Urhebersund Vollenders (Hebr 12,2) aller Opfer. Das Kreuz übertrifft die Erha-benheit des alten Tempels soviel, als das Opfer des heiligen Kreuzesalle anderen übertrifft; und es gibt keinen guten Christen, der nicht dieArmut, die Verachtung und die Schmerzen des Kreuzes Jesu Christizärtlicher lieben müßte, als die Juden des Alten Bundes die Reichtü-mer, die Pracht und die Wonnen ihres Tempels liebten.

Der Tempel des Alten Bundes wurde dreimal erbaut: das erstemalunter Salomo, das zweitemal unter Darius, das drittemal unterMakkabäus. So wurde auch das heilige Kreuz dreimal erhöht: das erste-mal unter unserem Herrn Jesus Christus, das zweitemal unter Kon-stantin durch die fromme hl. Helena, das drittemal unter Heraklius.Die guten Juden haben immer wieder versucht, den Tempel neu aufzu-bauen, wenn ihn die Feinde zerstörten oder wenn sie ihn beschädig-ten; ebenso müssen sich die guten Christen stets bemühen, das heiligeKreuz zu erhöhen, je mehr die Feinde sich anstrengen, seine Ehre undVerehrung zu zerstören.

Der hl. Paulus, dieser unvergleichliche Meister und Lehrer der ent-stehenden Kirche, hat Jesus Christus den Gekreuzigten zur Wonneseiner Liebe erwählt, zum Gegenstand seiner Predigt, zum Gipfel allseines Ruhmes, zum Ziel all seiner Bestrebungen in dieser Welt undzum Unterpfand all seiner Hoffnung auf die Ewigkeit. Ich habe dafürgehalten, sagt er (1 Kor 2.2), nichts zu kennen als meinen gekreuzigtenJesus. Gal 6,14: Es möge nie geschehen, daß ich mich in etwas ande-rem rühme als im Kreuz meines Jesus. Glaubt nicht, meine liebenGalater, daß ich ein anderes Leben besäße als das des Kreuzes, dennich versichere euch, ich sehe und fühle dermaßen überall das Kreuzmeines Erlösers, daß ich durch seine Gnade vollkommen der Weltgekreuzigt bin und die Welt mir gekreuzigt ist. Glücklich die Seele, dieebenso überall den gekreuzigten Jesus Christus sieht.

Damit meine frommen Männer und Frauen öfter die Erinnerung andas hochheilige Kreuz auffrischen, rate ich ihnen gern, daß sie stetseines um den Hals oder an ihrem Rosenkranz tragen und daß sie stetsein Kreuz bei sich haben, um es oft anzuschauen und zu küssen, denn

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der Kuß ist ein Zeichen der Freundschaft. Deshalb küßte Jesus Chris-tus, der vollendete Liebhaber unserer Seelen, seine Apostel, als sie zuihm zurückkehrten; und der hl. Paulus lehrte seine Schüler: Grüßteinander von mir, indem ihr euch den heiligen Kuß gebt (Röm 16,16;1 Kor 16,20).

Wer ohne Verstellung und Heuchelei, sondern in tugendhafter Ab-sicht seinen christlichen Bruder küßt, bezeugt in Wahrheit, daß er ihnliebt. Als Beweis unseres Glaubens dürfen wir uns nun nicht damitbegnügen, das Kreuz zu küssen, sondern wir müssen das Kreuz lieben;denn das Kreuz küssen, ohne es zu lieben, hieße den Frevel unseresUnglaubens vermehren und uns die Strafen jenes Volkes zuziehen,von dem Jesus Christus (Mt 15,8; Jes 29,13) sagte: Diese Leute ehrenmich mit den Lippen; sie geben mir heuchlerische und falsche Lob-sprüche; ihr Herz aber ist sehr weit von mir entfernt, folglich sind auchihre Werke sehr weit von meinen Absichten entfernt. Daraus muß derChrist folgern, daß es nicht genügt, das Kreuz zu verehren, wenn manes nicht liebt; es zu küssen, wenn man es nicht durch einen herzlichenund festen Entschluß umfängt; nicht nur das Kreuz zu lieben, sondernauch die Kreuzigung des Herrn.

Einige beschauliche Seelen haben erwogen, daß Jesus Christus inder Werkstatt des hl. Josef sich in den dreißig Jahren seines verborge-nen Lebens manchmal damit beschäftigt habe, Kreuze für verschiede-ne Gruppen von Menschen anzufertigen; und ich erlaube mir, sie inseinem Namen allen vorzustellen. Den hochwürdigsten Prälaten bieteich das Kreuz der Sorge und der Mühen, die ein guter Hirte auf sichnehmen muß, um seine Herde zu hüten, zu vermehren, zu nähren, zuvervollkommnen und zu bessern. Dieses Kreuz der Hirten ist das er-ste, das Jesus getragen hat. Das könnte ich leicht nachweisen durchseine Krippe, seine Wege, durch die Ermüdung und den Schweiß amBrunnen der Samariterin (Joh 4,6) und durch seine liebevolle Sorgeselbst für jene, die ihn marterten.

Den Ordensfrauen und anderen geistlichen Personen biete ich dasKreuz der Zurückgezogenheit, der Ehelosigkeit und der Verleugnungder Welt; ein heiliges Kreuz, das wahrhaftig das Kreuz Unseres Herrnberührt hat; ein kostbares Kreuz, das die Jungfrau der Jungfrauen,Unsere liebe Frau getragen hat, die nächst ihrem anbetungswürdigenSohn am heiligsten war, am unschuldigsten und am meisten gekreu-zigt von allen Seelen, die das hochheilige Kreuz lieben.

Den Herren des Adels gebe ich das Kreuz der Bescheidenheit, derguten Verwendung der Zeit durch gute und heilige Beschäftigung des

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Geistes, die so hoch über der Handarbeit der Bürgerlichen steht, wiees der Vorrang ihres Standes, ihrer Geburt und ihres Vorzugs vor denanderen ermöglicht. Und als dritten Balken dieses Kreuzes, daß siedie wahre Ehre lieben; sie ist die einzige Tugend der Frömmigkeit undder Gottesfurcht und die Flucht vor dem Trugbild einer eingebildetenEhre, das sie verfolgt; wenn es sich ihrer bemächtigt hat, verwickelt essie in Eigendünkel, in Selbstüberschätzung und von da in Duelle, uzw.in Duelle in die ewige Verdammnis.

Den Herren der Justiz biete ich das Kreuz der Gelehrsamkeit, derUnparteilichkeit und der lauteren Wahrheit; ein Kreuz, das wahrhaftangemessen ist für Diener und Sachwalter des gerechten und lebendi-gen Gottes (Röm 13,4.6). Es läßt Gerechtigkeit und Gerichte vor sei-nem Angesicht sich vollziehen und richtet die ganze Erde in Gerech-tigkeit, wie David (Ps 85,14; 97,2; 96,10.13). Ein wünschenswertesKreuz, das die menschlichen Rücksichten kreuzigt, die Menschen-furcht und die Liebe zum eigenen Vorteil, das in einem Land den Frie-den und in den Familien die Ruhe gedeihen läßt.

Den Angehörigen des dritten Standes bringe ich das Kreuz der De-mut, der Mühe und der Arbeit ihrer Hände; ein Kreuz, das Gott mitihrer Herkunft verbunden aber auch geheiligt hat dadurch, daß JesusChristus das Handwerk des Zimmermanns ausübte. Es läßt ihn mitseinem Propheten (Ps 88,16) von sich sagen: Ich bin seit meiner Ju-gend in Mühe und Arbeit. Dieses Kreuz der Arbeit ist sehr heilsam, umdem Menschen zum ewigen Heil zu verhelfen. Da Müßiggang allerLaster Anfang ist, befreit eine notwendige und gute Beschäftigung denGeist von tausend Vorstellungen, die die Ursache der Sünden sind,erhält ihn in liebenswerter Unschuld und in gutem Glauben.

Für die jungen Leute bestimme ich das Kreuz des Gehorsams, derKeuschheit und der Bescheidenheit in ihrer Haltung; ein heilsamesKreuz, welches das Ungestüm des jungen Blutes kreuzigt, das zu wal-len beginnt mit einem Mut, der noch nicht die Klugheit zur Führerinhat, das schließlich unsere jungen Leute befähigt, das überaus süßeJoch Unseres Herrn zu tragen, in jedem Stand, zu dem seine Einge-bung sie beruft.

Den Alten biete ich das Kreuz der Geduld an, der Milde und desweisen Rates; ein Kreuz, das ein Herz verlangt, das mit Mut bewaffnetist, denn sie werden in diesem fortgeschrittenen und abgekühlten Al-ter nur Mühe und Leid auf Erden finden, wie David (Ps 90,10) sagt.

Es gibt so viele Kreuze für Verheiratete, die eine Familie haben, daßes nicht notwendig ist, für sie eigene zu bestimmen. Eines, das ich

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ihnen trotzdem sehr gern vorstelle, ist das gegenseitige Ertragen, dietreue, von keiner fremden Liebe durchbrochene Freundschaft und dieSorge für die Erziehung der Kinder; mögen sie darin der ganzen Fami-lie ein gutes Beispiel geben und sich nicht schuldig machen an denVergehen anderer.

Den Witwen fehlt das Kreuz ebensowenig. Wenn sie wahrhaft Wit-wen sind (1 Tim 5,3.5), müssen ihr Herz, ihre Liebe und ihre Freudean das Kreuz Jesu Christi geheftet sein, durch den Verzicht auf dieVergnügungen der Welt und durch die Erwägung des Todes, da ihreteure Hälfte schon im Grab modert.

Der glorreiche hl. Antonius sah eines Tages die Erde mit Schlingenund Netzen bedeckt; ich meine sie mit meinem inneren Auge mitKreuzen übersät zu sehen. Glücklich jene, die das Kreuz nicht fliehen!Judas, der treulose Jünger, führte seine höllische Schar an, um Jesusgefangennehmen und an das Kreuz nageln zu lassen. Für sich selbstwies er das Kreuz vollkommen zurück; er wollte nicht einmal das derReue und Buße, das Jesus Christus ihm anbot. Die sich weigern, dasKreuz, das Gott ihnen in diesem Leben auferlegt, demütig anzuneh-men und tapfer zu tragen, werden im anderen Leben das Los des Judasteilen.

Der große König Salomo sagt (Koh 1,14): Alles, was unter der Sonnegeschieht, ist Eitelkeit und Plage des Geistes. Unter dieser Vorausset-zung gibt es keinen Menschen unter der Sonne, der dem Kreuz undLeiden entgehen könnte. Aber die Gottlosen, die schlecht gewordenenMenschen sind gegen ihren Willen und trotz des Widerwillens, den siedagegen haben, an Kreuz und Trübsal gebunden; und durch ihre Unge-duld machen sie ihr Kreuz für sich verhängnisvoll. Sie haben Gefühleder Überheblichkeit, ähnlich denen des linken Schächers (Lk 23,39);auf diese Weise vereinigen sie ihr Kreuz mit dem dieses Verbrechers,und so wird unfehlbar auch ihr Lohn der gleiche sein. Ach, der guteSchächer macht aus seinem Kreuz ein Kreuz Jesu Christi. Gewiß, dieMühen, die Ungerechtigkeiten, die Trübsale, die wir empfangen, sindKreuze eines echten Diebes, und wir haben sie wohl verdient. Wirmüssen mit dem glücklichen Schächer demütig sagen: Wir empfangenin unserem Leid, was wir durch unsere Sünden verdient haben (Lk23,41). Durch diese Demütigung machen wir unser Kreuz des Übeltä-ters zu einem Kreuz des wahren Christen. Vereinigen wir daher, wieder gute Schächer, unser Kreuz des Sünders mit dem Kreuz dessen,der uns durch das Kreuz erlöst hat. Durch diese liebevolle und from-

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me Vereinigung unserer Leiden mit den Leiden und dem Kreuz JesuChristi werden wir als gute Schächer in seine Freundschaft und in derFolge in sein Paradies aufgenommen.

Wenn ich also das heilige Kreuz Jesu mit einem Herzen voller Liebeund Ehrfurcht betrachte, werde ich folgende ewige und unverletzlicheEntschlüsse fassen: O mein Jesus, Vielgeliebter meiner Seele, erlaubemir, daß ich dich wie einen Myrrhenstrauß an meine Brust drücke (Hld1,12), gefärbt von deinem kostbaren Blut. Laß mich sagen, daß meinMund, der so glücklich ist, dein heiliges Kreuz zu küssen, sich künftigder Verleumdung, des Murrens und der Lüsternheit enthalten wird.Meine Augen, Jesus, die deine Tränen über meine Sünden, über dasKreuz fließen sehen, mögen nie mehr etwas ansehen, was gegen dichist; diese zwei Leuchten meines Leibes sollen schwach werden durchdas Emporschauen (Jes 38,14) zu meinem am Kreuz erhöhten Erlö-ser. Ich will sie abwenden, damit sie die Eitelkeit der Welt nicht sehen(Ps 119,37), sondern stets die Wahrheit deiner heiligen Liebe anschau-en. Meine Ohren, die mit soviel Trost die sieben Worte am Kreuzvernehmen, sollen keine Freude mehr haben an eitlem Lob, an fal-schen Berichten, an Reden, die meinen Nächsten herabsetzen, an eit-len Vorschlägen, an unnützem Geschwätz.

Mein Verstand, der mit Wohlgefallen die anbetungswürdigen Ge-heimnisse des hochheiligen Kreuzes erwägt, soll sich nie mehr aufleh-nen in böswilligen und schlechten Vorstellungen. Mein Wille, der sichdem Gesetz des heiligen Kreuzes und der Liebe Jesu Christi des Ge-kreuzigten unterworfen hat, soll nie jemand hassen, weil sein vielge-liebter Jesus aus Liebe für alle gestorben ist (2 Kor 5,14f).

Schließlich soll es mein eifriges Bestreben sein, das Kreuz zu errich-ten in meinem Herzen, in meinem Verstand, in meinen Augen undOhren, in meinem Mund, in allen meinen inneren und äußeren Sin-nen, damit nichts Eingang finde oder hervorgehe, was nicht verpflich-tet wäre, die Erlaubnis dazu vom heiligen Kreuz zu erbitten. Ich willdas Kreuzzeichen in Ehrfurcht machen und mit ihm mein Herz be-zeichnen beim Erwachen und vor dem Einschlafen. Wenn ich im hei-ligen Kreuz meine Stütze suche in den Ängsten dieses Lebens, hoffeich in ihm meine ewige Freude zu finden. Denn wenn ich den gekreu-zigten Jesus Christus in dieser Welt liebe, werde ich meine Freude inder anderen im verherrlichten Jesus finden. Ihm sei Ehre und Ver-herrlichung von Ewigkeit zu Ewigkeit. So sei es.

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B. Gesammelte PredigtenB. Gesammelte PredigtenB. Gesammelte PredigtenB. Gesammelte PredigtenB. Gesammelte Predigten

Darunter versteht man Predigten, die nicht vom hl. Franz von Sales geschrie-ben sind, sondern von Zuhörern mit- bzw. nachgeschrieben wurden. Man weißzwar, daß dies bei seinen Predigten öfter geschah, so bei den Fastenpredigten1604 in Dijon und besonders bei seinen Advent- und Fastenpredigten in Grenoble,doch davon war nichts mehr aufzufinden. Die 70 gesammelten Predigten derAnnecy-Ausgabe wurden ausschließlich von Schwestern der Heimsuchung gesam-melt. Die Niederschriften stammen, mit Ausnahme der wenigen, die er nicht inAnnecy gehalten hat, von Sr. Claude-Agnes de La Roche (bis Juli 1620) und vonSr. Marie-Marguerite Michel (bis April 1622).

Die erste dieser Predigten stammt vom Heiligen Abend 1613, die letzte datiertvon der Christmette 1622 in Lyon, eine der letzten Predigen, die Franz von Salesgehalten hat.

Der Inhalt dieser Predigten ist naturgemäß auf die Zuhörer abgestimmt. Dazugehörten freilich in der Kirche der Heimsuchung vielfach nicht nur die Schwes-tern, sondern auch andere Gläubige, wie aus den Themen und ihrer Behandlungmehrfach erkennbar ist. Hier wurden die meisten Ansprachen zur Einkleidungund Profeß und andere, die überwiegend Fragen des Ordenslebens behandeln,ausgeklammert, die allerdings auch in den wiedergegebenen Predigten ausgiebigzur Sprache kommen. Einige der ausgesparten Themen können in Band 12 Raumfinden.

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Zur WZur WZur WZur WZur Weihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigileihnachtsvigil

Nr. 1: Annecy, 24. Dezember 1613* IX,1-14

Hodie scietis quia Dominus veniet, et mane videbitisgloriam ejus.Heute sollt ihr wissen, daß der Herr kommt, undam Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen (vgl.Ex 16,6f).

Die heilige Kirche ist gewohnt, uns am Vortag der großen Feste vor-zubereiten, damit wir besser befähigt sind, die großen Gnadenerweisezu erkennen, die wir an ihnen von Gott empfangen haben. Wenn dieChristen der Urkirche Unserem Herrn gewissermaßen Genugtuungleisten wollten für sein Blut, das er bei seinem Tod am Kreuz so freige-big vergossen hat, dann waren sie sorgsam bedacht, die Zeit der Festerecht zu nutzen und sie möglichst gut zu feiern. Deshalb gab es fastkein Fest, das keine Vigil hatte, in der sie sich auf das Fest vorzuberei-ten begannen. Das geschah nicht nur in der Kirche, sondern auch imAlten Bund; dem Sabbat gingen stets verschiedene Vorbereitungenvoraus, die man am Tag zuvor traf.

Die heilige Kirche will also, daß wir uns in der Vigil des heiligenWeihnachtsfestes vorbereiten, und als ganz liebenswürdige Mutter willsie nicht, daß wir von einem so großen Geheimnis unvorbereitet über-rascht werden; deshalb sagt sie uns die Worte: „Heute sollt ihr wissen,daß Unser Herr morgen kommt“ (Introitus). Das heißt soviel wie:morgen wird er geboren, und ihr werdet ihn als ganz kleines Kind ineiner Krippe liegend (Lk 2,12) sehen. Diese Worte sind jenen entnom-men, die Mose an die Kinder Israels richtete, da er den Tag kannte, denGott bestimmt hatte, um ihnen das Manna in der Wüste zu geben. Erließ sie zusammenkommen und sagte ihnen deshalb (Ex 16,6f) dieWorte: Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem LandÄgypten geführt hat, und am Morgen werdet ihr die Herrlichkeit desHerrn sehen. Das heißt soviel, als hätte er gesagt: morgen früh wird erkommen. Er sprach also so, als sollte der Herr in seiner eigenen Herr-lichkeit kommen. Wir wissen aber alle, daß Gott nicht kommt undgeht, als hätte er einen Leib, denn er ist unveränderlich, fest und dau-erhaft, ohne irgendeine Bewegung. Mose gebraucht trotzdem dieseAusdrücke, um zu zeigen, daß das Manna ein so großes Geschenk war,

* Vgl. den autographen Entwurf Nr. A 95.

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daß Gott gewissermaßen selbst kommen mußte, um es den KindernIsraels auszuteilen. Daher trägt er Sorge, daß sich die Israeliten daraufvorbereiteten durch die Erwägung einer so großen Gnade, um sichwürdiger zu machen, sie zu empfangen. Ebenso sagt uns die Kirche:Heute sollt ihr wissen, daß der Herr morgen kommen wird. Dabei hatsie keine andere Absicht, als zu erreichen, daß wir unseren Verstandin die Betrachtung der Größe des Geheimnisses der hochheiligenGeburt Unseres Herrn versenken.

Um das möglichst gut zu machen, werden wir vor allem unserenVerstand demütigen und anerkennen, daß er in keiner Weise fähig ist,auf den Grund dieses großen Geheimnisses vorzudringen, das ein wahr-haft christliches Mysterium ist. Ich sage „christlich“, weil nur die Chris-ten jemals begreifen konnten, daß Gott Mensch und der Menschvergöttlicht wurde. Alle Menschen hatten stets eine gewisse Neigungzu glauben, daß das möglich sei und geschehe, doch nur die Christensind zu der Erkenntnis gekommen, wie das geschehen kann. Ich weißwohl, daß es im Alten Bund die Propheten und bestimmte große underhabene Persönlichkeiten gab, die es wußten; was aber das gewöhnli-che Volk betrifft, vermochte es niemand zu erkennen. Bei den Heidenhat die Ahnung, die sie hatten, daß Gott Mensch werde und der MenschGott, dazu geführt, daß sie absonderliche Dinge taten. Das ging soweit, daß sie oder wenigstens manche glaubten, sie könnten sich zuGöttern machen und sich von den übrigen Menschen anbeten lassen.Sie dachten nämlich, wenn es auch einen höchsten Gott gebe, der alsoberster Fürst über allem steht, könne es dennoch mehrere Göttergeben, oder wenigstens Menschen, die in irgendeiner Weise an dengöttlichen Eigenschaften teilhaben und sich Götter nennen. Als Ale-xander der Große im Sterben lag, sagten seine Höflinge, Verrückte,Schwachsinnige und Schmeichler: „König, wenn du willst, machenwir dich zu einem Gott.“ Da zeigte Alexander durch die Antwort, dieer ihnen gab, daß er nicht so töricht war wie sie: „Ihr könnt mich zueinem Gott machen, wenn ihr glückselig seid“, antwortete er, als woll-te er sagen: unglücklichen, vergänglichen und sterblichen Menschensteht es nicht zu, Götter zu sein, die nur glückselig und unsterblichsein können.

Die Christen wurden mehr erleuchtet und hatten das Glück zu wis-sen, daß der Mensch vergöttlicht wurde und Gott Mensch gewordenist, obwohl sie nicht fähig sind, die Größe des Geheimnisses derMenschwerdung und der hochheiligen Geburt Unseres Herrn zu be-greifen. Es ist ja ein Geheimnis, das verborgen ist im Dunkel und inder Finsternis der Nacht; nicht als ob das Geheimnis dunkel in sich

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selbst wäre, denn Gott ist nur Licht (Joh 1,5.9). Man weiß ja, daß unse-re Augen nicht fähig sind, das Licht oder die Klarheit der Sonne zubetrachten, ohne zu erblinden (wenn wir es unternehmen wollten, die-ses Licht zu betrachten, sind wir gezwungen, die Augen zu schließen,und sind einige Zeit unfähig, etwas zu sehen). Ebenso liegt das, wasuns daran hindert, das Geheimnis der hochheiligen Geburt UnseresHerrn zu begreifen, nicht daran, daß es in sich dunkel wäre, sonderndaran, daß es nichts als helles Licht ist. Unser Verstand, der das Augeunserer Seele ist, kann es nicht lange betrachten, ohne sich zu trüben,und muß demütig bekennen, daß er dieses Geheimnis nicht ergründenkann, um zu begreifen, wie Gott im jungfräulichen Schoß derallerseligsten Jungfrau Fleisch angenommen hat und Mensch gewor-den ist gleich uns, um uns Gott ähnlich zu machen.

Gott ließ den Israeliten in der Wüste das Manna in der Nacht regnen(Num 11,9); und damit die Israeliten mehr Grund hatten, ihm dank-bar zu sein, wollte er selbst das Mahl und die Tafel bereiten. Ihr habt jagehört, daß Mose sagte: Ihr sollt wissen, daß der Herr euch aus Ägyptengeführt hat, und am Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen. Er ließalso zunächst einen sanften Tau vom Himmel fallen, der als Tischtuchin der Wüste diente, dann fiel plötzlich das Manna wie kleine Koriander-körper. Und um zu zeigen, daß er sie ehrenvoll bediente, wie man jetztden Fürsten auf bedeckten Platten serviert, ließ er dann einen kleinenTau fallen, der das Manna bis zum Morgen bedeckte, bis die Israelitenes rasch zu sammeln kamen, ehe die Sonne aufging. Ebenso wollteGott ein ganz besonderes und unvergleichlich liebenswertes Geschenkden Menschen machen, die auf Erden wie in einer Wüste leben, nurseufzen und sich nach den Freuden des gelobten Landes sehnen, dasunsere wahre Heimat ist. Daher kommt er selbst in Person, um uns zuführen, und das auf dem Höhepunkt der Nacht (Weish 18,14f). DiesesGeschenk ist nichts anderes als die Gnade, die uns befähigt, die Freu-de der Glorie und Glückseligkeit zu erlangen, deren wir für immerberaubt wären ohne diese Gabe, die er uns in seiner Güte geschenkthat. Deshalb wird Unser Herr im Dunkel der Nacht geboren und zeigtsich uns als kleines Kind in einer Krippe liegend, wie wir ihn morgensehen werden.

Doch erwägen wir ein wenig, wie das geschieht. Die seligste Jung-frau gebar ihren Sohn jungfräulich, wie die Sterne ihr Licht hervor-bringen. Nun trägt Unsere liebe Frau in ihrem Namen die Bezeich-nung Stern des Meeres oder Morgenstern. Der Stern des Meeres ist derPol, auf den die Kompaßnadel stets zeigt; durch ihn werden die Steu-

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ermänner auf See geführt und können erkennen, wohin ihre Reise geht.Jeder weiß, daß die frühen Kirchenväter, die Patriarchen und Prophe-ten, alle nach diesem Polarstern ausschauten und ihre Seefahrt nachseiner Gunst lenkten.

Die allerseligste Jungfrau ist auch der Morgenstern, der uns die lieb-liche Kunde vom Aufgang der wahren Sonne bringt (Lk 1,78). AllePropheten haben gewußt, daß die Jungfrau ein Kind empfangen undgebären wird (Jes 7,14), das Gott und Mensch zugleich ist. Sie emp-fing aber durch die Kraft des Heiligen Geistes (Lk 1,35); sie empfingihren Sohn jungfräulich und gebar ihn ebenso jungfräulich. Ich bitteeuch, welche Wahrscheinlichkeit bestand denn, daß Unser Herr dieUnversehrtheit seiner Mutter verletzte, da er sie nur deswegen erwählthatte, weil sie Jungfrau war? Konnte er, der die Reinheit selbst war,die Reinheit seiner hochheiligen Mutter mindern oder beflecken?Unser Herr ist von aller Ewigkeit gezeugt und jungfräulich aus demSchoß seines ewigen Vaters hervorgegangen; denn obwohl er die glei-che Göttlichkeit von seinem ewigen Vater empfängt, teilt er sie den-noch nicht auf, sondern bleibt ein und derselbe Gott mit ihm. Dieseligste Jungfrau gebar ihren Sohn, Unseren Herrn, auf Erden jung-fräulich, wie er von seinem Vater ewig im Himmel gezeugt wird, je-doch mit dem Unterschied, daß sie ihn aus ihrem Schoß gebar, nichtin ihrem Schoß, denn nachdem er aus ihm hervorgegangen war, kehrteer nicht mehr in ihn zurück; sein ewiger Vater dagegen hat ihn ausseinem Schoß und in seinem Schoß gezeugt, denn er bleibt ewig inihm.

Das darf aber nicht unter die Lupe genommen noch neugierig erwo-gen werden, und unser Verstand darf diese göttliche Zeugung nichtspitzfindig untersuchen, da sie für ihn etwas zu Hohes ist. Es ist jedochgut, sich dessen als Ausgangspunkt der Betrachtungen zu bedienen,die wir über das Geheimnis der Geburt Unseres Herrn anstellen. Mitgutem Grund hat deshalb die seligste Jungfrau einen Namen, der Sternbedeutet, denn wie die Sterne ihr Licht jungfräulich hervorbringenund ohne dadurch in sich irgendeinen Schaden zu erleiden, sondernunseren Augen dadurch noch schöner erscheinen, ebenso gebar Unse-re liebe Frau dieses unzugängliche Licht (1 Tim 6,16), ihren gebene-deiten Sohn, ohne dadurch irgendeinen Schaden zu nehmen, noch ihrejungfräuliche Reinheit irgendwie zu beflecken. Es besteht aber derUnterschied, daß sie ihn gebar ohne Anstrengung, Erschütterung undirgendein Ungestüm, anders als die Sterne, die anscheinend ihr Licht,wie man sieht, mit Gewalt, Ungestüm und Kraftaufwand hervorbrin-gen.

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Als zweites stelle ich fest, daß das Manna einen dreifachen Ge-schmack hatte, der ihm eigentümlich war, abgesehen davon, daß esjeden Geschmack hatte, den man sich wünschen konnte (Weish 16,20-25). Wenn nämlich die Kinder Israels das Verlangen hatten, Brot zuessen, hatte es den Geschmack des Brotes; wünschten sie Rebhuhnoder was immer zu essen, so hatte das Manna zugleich diesen Ge-schmack. Die meisten Väter bezweifeln, ob alle, die Bösen ebenso wiedie Guten, dieser Gunst teilhaftig wurden. Ob das zutraf oder nicht,das Manna hatte insbesondere den Geschmack oder die Süßigkeit vonMehl, von Honig und von Öl (Ex 16,31; Num 11,8). Das versinnbildetuns die drei Wesenheiten, die sich in dem gebenedeiten Kind finden,das wir morgen in der Krippe liegend finden werden. Und wie dieserdreifache Geschmack oder die Süßigkeit sich in einer einzigen Speisefinden, die das Manna war, ebenso gibt es in der Person Unseres Herrndrei Wesenheiten, die dennoch alle drei nur eine Person bilden, dieaber zugleich Gott und Mensch ist.

In diesem hochgebenedeiten Kindlein findet sich die göttliche Na-tur, die Natur der Seele und die des Leibes. Das Manna hatte denGeschmack von Honig, der ein himmlischer Saft ist. Obwohl dieBienen den Honig auf den Blumen sammeln, gewinnen sie die Süßig-keit doch nicht aus den Blüten, sondern sie sammeln mit ihrem klei-nen Mund den Honig, der mit dem Tau vom Himmel fällt, und dasnur zu einer bestimmten Zeit des Jahres. Ebenso kam die göttlicheNatur Unseres Herrn vom Himmel und stieg gleichzeitig mit derEmpfängnis herab auf die gebenedeite Blüte der allerseligsten Jung-frau, unserer lieben Frau, in der die menschliche Natur sie aufnahmund im Bienenkorb des Schoßes der glorreichen Jungfrau neun Mo-nate bewahrte, nach denen sie in die Krippe gelegt wurde, wo wir siemorgen sehen werden.

Der Geschmack von Öl, der sich im Manna findet, versinnbildet unsdie Natur der hochheiligen Seele Unseres Herrn. Was ist diese hoch-gebenedeite Seele anderes als ein Öl, ein Balsam, ein verströmenderWohlgeruch (Hld 1,2), der den Geruchssinn derjenigen ungemein be-friedigt, die sich ihr in der Betrachtung ihrer Vorzüglichkeit nähern?Welchen Duft verbreitet sie doch angesichts der göttlichen Majestät,mit der sie sich vereinigt sieht, ohne es verdient zu haben, noch vonsich aus je verdienen zu können! Welche Akte vollkommener Liebe,tiefer Demut erweckt sie doch im Augenblick dieser unvergleichli-chen Vereinigung mit dem ewigen Wort gleichzeitig mit der Mensch-werdung! Und welchen Duft, welchen Wohlgeruch, welchen Ge-schmack einer unvergleichlichen Süßigkeit hat sie doch für uns ver-

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breitet, um uns zur Nachfolge und zur Nachahmung ihrer Vollkom-menheit anzuspornen!

Der Geschmack der Weizenblüte schließlich, der sich noch im Man-na fand, versinnbildet uns den anderen Teil der hochheiligen Mensch-heit Unseres Herrn, seinen anbetungswürdigen Leib, der auf dem Baumdes Kreuzes gemahlen und ein überaus köstliches Brot wurde, das unsnährt für das ewige Leben (Joh 6,35). Köstliches Brot, wer dich würdiggenießt, wird ewig leben und kann nie des ewigen Todes sterben (Joh6,50f). Welch unvergleichlich lieblichen Geschmack hat dieses Brotfür die Seelen, die es würdig genießen! Welche Köstlichkeit, ich bitteeuch, sich zu nähren mit dem Brot, das vom Himmel herabgekommenist, dem Brot der Engel (Ps 78,23-25; Weish 16,20; Joh 6,33ff)! Was esindessen am köstlichsten macht, das ist die Liebe, mit der es uns gege-ben wurde von jenem selbst, der zugleich die Gabe und der Geber ist.

Damit ich mich aber nicht so viel bei den ersten Punkten aufhalte,gehe ich weiter, um vom dritten Punkt zu sprechen, der einiges ent-hält, um unseren Willen zu entflammen.

Ich bemerke nebenbei, daß es unter der großen Zahl von Menschen,die damals in Betlehem waren, nur einfache Hirten waren, die Unse-ren Herrn aufsuchten. Nach ihnen kamen die königlichen Magier, dievon weither kamen, um unseren neuen König anzubeten, der in einerKrippe lag, und ihm zu huldigen. Als die Engel die Botschaft dieserglückbringenden Geburt verkündet hatten, gaben sie den Hirten be-wundernswerte Weisungen. Geht, sagten sie, ihr werdet das Kind fin-den, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend (Lk 2,8-10). Gott,welche Lehren sind das, um Unseren Herrn zu erkennen, und welcheEinfalt der Hirten, einfach zu glauben, was ihnen verkündet wurde!Die Engel hätten einigen Anspruch gehabt, Glauben zu finden, wennsie gesagt hätten: Geht, ihr werdet das Kind finden, auf einem Elfenbein-thron sitzend und umgeben von einem himmlischen Hofstaat, der ihmGesellschaft leistet. Aber sie sagen: Euer Erlöser ist geboren mit die-sen Insignien: ihr werdet ihn in einer Krippe liegend finden, zwischenTieren und in Windeln gewickelt.

Warum, meint ihr, wandten sich die Engel eher an die Hirten als anirgendeinen anderen in Betlehem? Aus keinem anderen Grund alsdem, weil Unser Herr als der König der Hirten (1 Petr 5,4) gekommenist und nur seinesgleichen bevorzugen wollte. Was aber bedeuten dieHirten? Die einen sagen, sie repräsentieren die Hirten der Kirche, alsda sind die Bischöfe, die Oberen der Orden, die Pfarrer und alle Seel-

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sorger. Es ist die Ansicht eines Teils der heiligen Väter, daß ihnen derHerr seine Geheimnisse eingehender offenbart, weil sie von Gott be-auftragt sind, sie dann ihrer Herde darzulegen, den Seelen, die ihnenanvertraut sind. Einige andere sagen, die Hirten stellen die Ordens-leute dar und alle, die sich das Streben nach Vollkommenheit vorge-nommen haben. Nun, wenn jeder von uns Hirte und Schäfer ist, waskann man dann unsere Schafe nennen? Das sind unsere Leidenschaf-ten, Neigungen und Anhänglichkeiten, die Fähigkeiten unserer Seele.Doch beachtet, daß nur die Hirten, die über ihre Herde wachten, dieEhre und die Gnade hatten, die liebliche Botschaft von der GeburtUnseres Herrn zu hören. Das soll uns zeigen: wenn wir nicht über dieHerde wachen, die Gott uns anvertraut hat, das heißt, wie ich gesagthabe, unsere Leidenschaften und Neigungen, die Fähigkeiten unsererSeele, um sie auf einer heiligen Weide sich nähren zu lassen, sie inOrdnung zu ihrer Pflicht anzuhalten, dann verdienen wir nicht, die soliebenswürdige Botschaft von der Geburt des Erlösers zu hören, undwir werden nicht fähig sein, ihn in der Krippe aufzusuchen, in die ihnseine gebenedeite Mutter morgen legen wird.

Wie überaus lieblich ist doch das Geheimnis der hochheiligen Ge-burt Unseres Herrn! Alle und jeder können hier einen tiefen Grunddes Trostes finden; am meisten aber jene, die besser vorbereitet sindund die nach dem Vorbild der Hirten recht über ihre Herde gewachthaben. Ach, wir wären unwürdig, zu wissen, wie wir sie recht führenund ordnen sollen; aber Unser Herr kommt selbst, um uns zu lehren,was wir tun müssen. Er ist der gute Hirte (Joh 10,11) und der überausliebenswürdige Schäfer unserer Seelen, die seine Schafe sind, für dieer soviel getan hat. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir ihn getreunachahmen und seinem Beispiel folgen, das er uns gibt. Aber was tutdieses allerliebste Kind? Seht es in der Krippe liegen. Ihr werdet esfinden, sagen die Engel, in Windeln gewickelt. Ach, es hatte nicht nötig,so gebunden zu werden. Gewiß pflegt man die Kinder zu wickeln, weilsie noch zart sind und, wenn sie nicht gewickelt und gebunden wären,die Gefahr bestünde, daß sie eine falsche Wendung machen und aufdiese Weise mißgestaltet werden. Man bindet sie auch, damit sie sichnicht die Augen oder das Gesicht zerkratzen, wenn sie die Händchenfrei haben, um sich die Augen zu reiben, wann sie wollen. Sie haben janoch nicht den Gebrauch der Vernunft, um das zu unterlassen, wie esnotwendig ist. Doch was hatte Unser Herr für sich zu befürchten, da ervom Augenblick seiner Empfängnis an den Gebrauch der Vernunftbesaß? Er, der das Ebenmaß selbst ist, konnte keine Mißbildung er-fahren. O Gott, welche Güte des liebenswürdigen Heilands! Er unter-

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warf sich, alles zu tun, was die anderen Kinder tun, um als nichts ande-res zu erscheinen denn ein armes Kindlein, dem Gesetz der Kindheitunterworfen. Er weint wirklich, aber nicht aus Selbstverzärtelung, d.h. nicht bitteren Herzens, sondern ganz einfach, um sich den anderenKindern gleichförmig zu machen.

Ich überlege, ob Unser Herr noch einen anderen Grund hatte, derihn bewog, das zu tun, daß er gebunden und gewickelt sein wollte,seiner allerseligsten Mutter unterworfen, so daß er mit sich machen,sich tragen und wickeln ließ, ganz wie es ihr gefiel, ohne irgendeinenWiderwillen zu zeigen. Er tat es, um uns zu lehren, unsere geistigeHerde zu lenken und zu leiten, d. h. unsere Leidenschaften und Nei-gungen, die Fähigkeiten unserer Seele. Aber unter allen Fähigkeitengibt es zwei, die gleichsam der Ursprung sind, von dem alle anderenabhängen, nämlich das begehrliche und das aufbrausende Vermögen.Alle anderen Kräfte, Fähigkeiten und Leidenschaften erscheinen die-sen zwei Vermögen untergeordnet und regen sich nur auf ihren Befehl.Das Begehrungsvermögen ist jenes, das uns lieben und wünschen läßt,was uns gut und nützlich scheint; es läßt uns Freude empfinden imGlück und Traurigkeit im Unglück, in der Abtötung und in allem, wasunserem Eigenwillen widerstrebt. Das aufbrausende Vermögen erzeugtden Kummer, den Widerwillen, die Regungen des Zornes, der Ver-zweiflung und ähnliches. Unser Herr will nun, daß wir von ihm ler-nen, das alles der Herrschaft der Vernunft unterzuordnen. Und wiewir ihn durch seine hochgebenedeite Mutter mit Windeln und Bän-dern gewickelt und gebunden sehen, so will er uns aneifern, alle unse-re Leidenschaften, Anhänglichkeiten und Neigungen zu binden,schließlich alle unsere inneren und äußeren Kräfte, unsere Sinne undSäfte und alles, was wir sind, durch die Bande des heiligen Gehorsamszu binden, um uns künftig nicht mehr selbst zu leiten, noch über unsselbst zu bestimmen, aus Furcht, davon einen schlechten Gebrauch zumachen, außer in dem Maß, als es der Gehorsam uns erlauben kann.

Seht doch dieses überaus liebliche Kind, das sich von seiner hoch-gebenedeiten Mutter so sehr lenken und führen läßt, daß es in keinerWeise anders zu können scheint. Das hat keinen anderen Grund, mei-ne Lieben, als den, uns zu zeigen, was wir tun müssen, vor allem dieOrdensfrauen, die Gehorsam gelobt haben. Ach, Unser Herr, dessenWille und dessen Freiheit unermeßlich sind, wollte trotzdem, daß al-les unter den Windeln verborgen sei, auch das Wissen und die ewigeWeisheit (Kol 2,3 ) mit allem, was er als Gott besaß, wesensgleich mitdem Vater, so der Gebrauch der Vernunft, die Fähigkeit zu sprechen,kurz alles, was er im Alter von dreißig Jahren tun sollte. Alles ohne

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Ausnahme wurde verschlossen und verborgen unter dem Schleier desheiligen Gehorsams, den er seinem Vater leistete, der ihn verpflichte-te, sich in nichts von den anderen Kindern zu unterscheiden, wie derhl. Paulus (Hebr 2,17) sagt, daß er in allem seinen Brüdern gleichenmußte.

Es bleibt uns noch zu sagen, daß das Geheimnis der Geburt UnseresHerrn ein Geheimnis der Heimsuchung ist. Wie die allerseligste Jung-frau ihre heilige Base Elisabet besucht hat, so müssen wir währenddieser Oktav recht oft das göttliche Kindlein besuchen, das in derKrippe liegt. Da werden wir vom höchsten Hirten der Hirten lernen,unsere Herde zu leiten und zu lenken, so daß sie seiner Güte wohlge-fällig ist. Aber die Hirten kamen ihn ohne Zweifel nicht besuchen,ohne ihm einige kleine Lämmer zu bringen; so dürfen auch wir nichtmit leeren Händen kommen, sondern müssen etwas mitbringen. Dochsagt, was können wir dem göttlichen Hirten bringen, was ihm wohlge-fälliger wäre, als das kleine Lamm unserer Liebe, die der vorzüglich-ste Teil unserer geistlichen Herde ist. Die Liebe ist ja die erste Leiden-schaft der Seele. Wie wird er uns wohlgeneigt sein wegen dieses Ge-schenkes, meine lieben Schwestern, und mit welch großer Genugtu-ung wird es die heilige Jungfrau entgegennehmen wegen ihres Verlan-gens nach unserem Wohl. Das göttliche Kind wird uns zum Dank fürunser Geschenk und als Zeichen seiner Freude darüber mit seinengebenedeiten lieblichen Augen ansehen. Wie glücklich werden wirsein, wenn wir den teuren Erlöser unserer Seelen besuchen. Wir wer-den unvergleichlichen Trost empfangen, und wie das Manna den Ge-schmack hatte, den jeder wünschen konnte, ebenso kann jeder Trö-stung finden, wenn er dieses überaus liebliche Kindlein besucht.

Die Hirten besuchten es und empfanden darüber sehr große Freude.Sie kehrten zurück, sangen das Lob Gottes und verkündeten allen,denen sie begegneten, was sie gesehen hatten (Lk 2,20). Doch der hl.Josef und die glorreiche Jungfrau empfingen unvergleichlich größereTröstungen, weil sie bei ihm blieben, um ihm nach ihrem Vermögenzu dienen. Die fortgingen und die blieben, wurden alle getröstet, abernicht in gleichem Maß, sondern jeder nach seiner Fähigkeit.

Hanna, die Mutter Samuels, blieb lange Zeit kinderlos. Das verur-sachte ihr so große Bitterkeit, daß man sie nie in gleicher Stimmungfand (1 Sam 1,18). Denn wenn sie Frauen sah, die sich mit ihren Kin-dern freuten, dann klagte sie und härmte sich, weil sie keine hatte.Und wenn sie welche sah, die sich über ihre Kinder beklagten, dann

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freute sie sich, daß Gott ihr keines geschenkt hatte. Doch sobald sieden kleinen Samuel hatte, sah man sie nie mehr schwankend. Wirhaben ohne Zweifel einige Entschuldigung, daß wir uns beklagen undwankelmütig sind in unserer Stimmung, solange wir dieses so liebens-würdige Kind nicht hatten, das eben geboren wurde oder morgen ge-boren wird. Künftig aber wird uns das nicht mehr erlaubt sein, denn inihm besteht aller Grund für unsere Freude und unser Glück.

Die Bienen finden keine Ruhe, solange sie keine Königin haben: siefliegen unablässig durch die Luft, zerstreuen und verirren sich undfinden doch keine Rast in ihrem Bienenkorb. Sobald aber ihre Köni-gin geboren ist, bleiben sie um diese versammelt und fliegen nur aus,um Honig zu sammeln, und anscheinend nur auf Befehl oder mit Er-laubnis ihrer Königin. Dasselbe gilt für unsere Sinne, unsere innerenKräfte, die Fähigkeiten unserer Seele als geistige Bienen. Bis sie einenKönig haben, d. h. bis sie unseren neugeborenen Herrn zu ihrem Kö-nig erwählt haben, finden sie keine Ruhe. Unsere Sinne verirren sichständig und ziehen unsere inneren Fähigkeiten an sich, um sich baldan den Gegenstand zu hängen, dem sie begegnen, bald an einen ande-ren. So ist das nur ein dauernder Zeitverlust, Anstrengung des Geistesund Ruhelosigkeit, die uns den Frieden und die für unsere Seele sonotwendige Gemütsruhe verlieren läßt. Sobald sie aber Unseren Herrnzu ihrem König erwählt haben, müssen sie sich nach der Art keuschermystischer Bienen um ihn scharen und dürfen ihren Bienenstock nurverlassen, um Übungen der Liebe zu sammeln, die er ihnen dem Näch-sten zu erweisen gebietet. Dann müssen sie sich sogleich zurückziehenund um ihn scharen, um den Honig heiliger, liebevoller Eindrücke zusammeln und zu bewahren, die sie von der heiligen Gegenwart unsereshöchsten Herrn gewinnen. Er wird durch einfache Blicke, die er aufunsere Seele richtet, in ihr unvergleichliche feurige Wünsche entfa-chen, ihm zu dienen und ihn immer vollkommener zu lieben.

Das ist die Gnade, die ich euch wünsche, meine Lieben, daß ihr euchnahe dem heiligen Erlöser aufhaltet, der kommt, um uns um sich zuscharen, damit wir stets unter der Fahne seines hochheiligen Schutzesbleiben, sei es, daß er als der Hirte Sorge trägt für seine Schafe undseine Herde, sei es als König der Bienen. Von der Bienenkönigin sagtman ja, daß sie so für ihre Bienen sorgt, daß sie den Bienenstock nieverläßt, ohne von ihrem ganzen kleinen Volk umgeben zu sein. SeineGüte möge uns die Gnade erweisen, daß wir seine Stimme hören, wiedie Schafe die ihres Hirten (Joh 10,27), damit wir ihn als unseren

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obersten Hirten anerkennen, uns nicht verirren und nicht auf die Stim-me des Fremden hören, der sich wie ein höllischer Wolf in unsererNähe aufhält in der Absicht, uns zu verderben und uns zu verschlingen(1 Petr 5,8). Mögen wir ebenso die Treue zu halten vermögen, unsseinem Willen und seinen Geboten ergeben, gehorsam und unterwor-fen zu halten, wie es die Bienen ihrer Königin gegenüber tun, damitwir auf diese Weise mit Hilfe der Gnade Gottes in diesem Leben zutun beginnen, was wir im Himmel ewig tun werden. Dorthin mögenuns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Zum 2. FZum 2. FZum 2. FZum 2. FZum 2. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 4: 23. Februar 1614 IX, 27-31

Die Kirche zeigt uns am ersten Fastensonntag die Versuchung Jesu,am zweiten seine Verklärung und die Herrlichkeit des himmlischenJerusalem, am dritten die Vorsehung Gottes für jene, die von Unse-rem Herrn gelernt haben, tapfer zu kämpfen, und die es so treu getanhaben, daß sie die Belohnung nach dem Kampf verdienten, die er ih-nen zeigt. Heute wollen wir einige kurze Erwägungen anstellen, durchdie wir zeigen, daß es im Gebet vier Stufen gibt. Doch vor allem laßtuns einige Worte sagen.

Die Seele Unseres Herrn war im Besitz der Seligkeit vom Augen-blick seiner Empfängnis an. Sie glich der Jakobsleiter, die mit demeinen Ende den Himmel berührte, mit dem anderen die Erde (Gen28,12). Ebenso war es mit der Seele Unseres Herrn, denn mit ihremhöheren Teil war sie im Schoß des Vaters geborgen, mit dem niederenTeil berührte sie die Erde, da er unsere Armseligkeiten, Leiden undSchwächen annehmen wollte. Daraus erkennen wir klar, daß das Ge-heimnis der Verklärung kein Wunder war, sondern eine Unterbre-chung des Wunders; denn die Schätze der Glorie, die den höheren Teildieser gebenedeiten Seele schmückten, gebührten auch dem niederenTeil; doch der erfreute sich ihrer in keiner Weise, sondern war unsererganzen Armseligkeit und Not ausgeliefert und überlassen. Das ist so,wie wenn eine mächtige Quelle auf dem Gipfel eines hohen Bergesihre Wasser zurückhielte und sie nicht in die Täler fließen ließe. Inder Stunde der Verklärung war dieses Wunder zeitweise ausgesetzt, daUnser Herr den niederen Teil seiner Seele an der Herrlichkeit und amTrost des höheren Teiles sich erfreuen ließ.

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Manche fromme Seele wird vielleicht fragen, wie wir erkennen kön-nen, daß wir im Gebet Fortschritte machen und durch das Gebet inder Vollkommenheit. Wir nehmen in der Tat durch das Gebet an Voll-kommenheit zu. Nachdem der hl. Bernhard andere Mittel dazu ange-geben hat, sagt er, daß das Gebet alle übertrifft. Die vier Erwägungen,die ich davon ableiten will, werden euch hinreichend zeigen, ob ihrFortschritte macht, denn das sind vorzügliche Stufen zur Vollkom-menheit.

Die erste Erwägung ist die: Als Jesus auf den Berg gestiegen war,begann er zu beten. Während er betete, wurde er verklärt und sein Ge-sicht wurde leuchtender als die Sonne und seine Kleider weiß wie Schnee(Mt 17,1f; Lk 9,28f). Nun erkennen wir, daß unser Gebet gut ist unddaß wir in ihm Fortschritte machen, wenn nach dem Gebet unser Ge-sicht wie das des Herrn leuchtet wie die Sonne und unsere Kleider weißwie Schnee sind, d. h. wenn unser Gesicht vor Liebe strahlt und unserLeib durch die Keuschheit. Die Liebe ist die Reinheit der Seele, dennsie kann in unseren Herzen keinerlei unreine Neigung dulden odereine, die dem widerspräche, den sie liebt (la charité und l’amour ist jadasselbe); die Keuschheit ist die Liebe des Leibes, da sie jede Art vonUnreinheit zurückweist. Wenn ihr nach dem Gebet ein verdrießlichesund ärgerliches Gesicht macht, sieht man zur Genüge, daß ihr nicht sogebetet habt, wie ihr sollt.

Die zweite Erwägung geht davon aus, daß die Apostel Mose und Elijasahen, die mit Unserem Herrn über den Ausgang sprachen, den er inJerusalem vollenden mußte. Seht ihr, während der Verklärung wirdvon der Passion gesprochen; denn dieser Ausgang ist nichts anderesals die Passion. Unser göttlicher Meister bewirkt seinen Ausgang ganzanders als wir übrigen; denn wir streben von unten nach oben. Aus-gang bedeutet Ekstase. Er sprach also vom Exzeß; welcher Exzeß?Von dem, daß Gott von seiner höchsten Glorie herabstieg; und wozu?Um unsere Menschennatur anzunehmen und sich den Menschen gleichzu machen, sogar in allem menschlichen Elend. Er ging so weit, daß ersich dem Tod unterwarf, obwohl er unsterblich war, ja dem Tod amKreuz (Phil 2,6-8). Die Liebe nährt sich nicht so, wie wir denken.Unser Herr spricht also von seinem Leiden und von seinem Tod, weildas die höchste Tat seiner Liebe ist. Auch die Seligen in der ewigenHerrlichkeit werden von nichts anderem sprechen und sich über nichtsso freuen wie über diesen Tod (Offb 5,9-12). Folglich muß man sichinmitten der Tröstungen an die Passion erinnern. Man darf gewiß nichtwie der hl. Petrus sagen: Hier ist gut sein (Mt 17,4), sondern: Es ist gut,hier zu leiden, um zum Kalvarienberg zu gehen.

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Man muß auf den Berg Tabor steigen, um getröstet zu werden, wer-det ihr sagen, denn das drängt und führt die schwachen Seelen voran,die nicht den Mut haben, das Gute zu tun, ohne daß sie dabei eineBefriedigung finden. Aber glaubt mir, die wahre Frömmigkeit erwirbtman nicht inmitten des Trostes. Seht ihr das nicht im heutigen Ge-heimnis? Obwohl die drei Apostel die Herrlichkeit Unseres Herrngesehen hatten, verließen sie ihn später in seinem Leiden, und der hl.Petrus, der stets so kühne Reden führte, beging doch eine schwereSünde, indem er seinen Meister verleugnete. Vom Berg Tabor steigtman als Sünder herab, vom Kalvarienberg dagegen gerechtfertigt (Lk18,14). Das gilt dann, wenn man sich dort fest am Fuß des Kreuzes hältwie Unsere liebe Frau, der Ausbund alles Schönen und Vorzüglichenim Himmel und auf Erden. Der hl. Johannes harrte dort treu zu Füßenseines Meisters aus, und man sieht ihn nie mehr eine Sünde begehen.In der Tröstung ist man wahrhaftig sehr in Sorge, denn man weiß nicht,ob man die Tröstungen Gottes liebt oder vielmehr den Gott der Trö-stungen (2 Kor 1,3). In der Trübsal dagegen gibt es nichts zu befürch-ten, wenn man treu ist, weil es da nichts Liebliches gibt. Soviel also zurzweiten Erwägung.

Die dritte stelle ich darüber an, daß man die Stimme des ewigenVaters hört, der spricht: Dieser ist mein vielgeliebter Sohn: auf ihn solltihr hören (Mt 17,5; 2 Petr 1,17). Man muß also dem ewigen Vatergehorchen, indem man Unserem Herrn folgt, um sein Wort zu hören.Daher werden wir belehrt, daß alle, in welchem Stand immer, bittenund beten müssen, denn vorzüglich im Gebet spricht der göttlicheMeister zu uns. Ich sage nicht, daß wir alle gleichviele Gebete verrich-ten müßten; denn es wäre nicht angebracht, wenn jene, die viel Arbeithaben, ebensoviel Zeit im Gebet verbrächten wie die Ordensleute. Ichsage aber sehr wohl: wenn ihr eure Pflicht gut erfüllen wollt, müßt ihrGott im Gebet bitten, daß wir gut zu tun lernen, was wir tun. WennUnser Herr etwas Großes unternehmen wollte, zog er sich zum Gebetzurück; nicht nur zu einem einfachen Gebet der Vorbereitung, son-dern er zog sich auf einen Berg und an einen einsamen Ort zurück.Bevor er zu predigen und die Seelen zu belehren begann, zog er sichvierzig Tage zurück (Mt 4,1f). Heute will er verklärt werden und dendrei Aposteln eine Probe seiner Herrlichkeit zeigen. Er begibt sichins Gebet und gerät in Ekstase. Dabei wird sein Gesicht leuchtenderals die Sonne und seine Kleider weißer als Schnee; das war unsere ersteErwägung. Darauf erschien er zwischen Mose und Elija im Gesprächüber den Ausgang, den er in Jerusalem vollenden sollte; das war diezweite. Dann hörte man die Stimme des ewigen Vaters, der spricht:

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Dieser ist mein vielgeliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören. Die dritteStufe des Gebetes und zugleich der Vollkommenheit besteht also da-rin, dem Vater zu gehorchen, indem man auf seinen Sohn hört.

Es würde aber nichts nützen, auf ihn zu hören, wenn wir nicht täten,was er sagt, indem wir getreu seine Gebote und seinen Willen befol-gen. Viele sind ja gern bereit, ihn zu hören; viele möchten ihm auf denBerg Tabor folgen, sehr wenige aber auf den Kalvarienberg. Trotzdemist das eine vorteilhafter als das andere. Ebenso bringt es mehr Nut-zen, den Willen Gottes zu erfüllen oder ihn zu lieben in einem Ereig-nis, das uns widerstrebt, als Unseren Herrn sprechen zu hören in derTröstung, die man manchmal im Gebet erfährt.

Ich komme zur vierten Erwägung. Als sich die Apostel aufrichteten(sie waren ja auf ihr Angesicht niedergefallen, als sie die Stimme desewigen Vaters vernahmen), da sahen sie niemand als Jesus allein (Mt17,6.8). Das ist die höchste Stufe der Vollkommenheit, in allem, waswir tun, nichts zu sehen als Unseren Herrn. Viele hüten sich wohl, dieMenschen und die Dinge dieser Welt anzusehen, aber es ist äußerstselten, daß sie nicht auf sich selbst schauen. Sogar sehr geistlich Ge-sinnte suchen und wählen unter den Übungen der Frömmigkeit jene,die mehr nach ihrem Geschmack sind und ihren Neigungen mehr ent-sprechen. Man darf indes nur Gott sehen, nur ihn suchen, nur ihnlieben, dann werden wir glücklich sein. Jene Seelen, die diese Stufeder Vollkommenheit erreicht haben, sind mit besonderer Sorgfalt dar-auf bedacht, auf den gekreuzigten Herrn auf dem Kalvarienberg zuschauen und sich bei ihm aufzuhalten; denn hier finden sie ihn eherallein als irgendwo anders. Amen.

Zum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 7: 22. März 1615* IX,46-50

Der hl. Bernhard steht hoch im Kurs bei denen, die über das Gebetzu sprechen haben. Einem Bischof schrieb er, alles, was er brauche,sei, gut zu sprechen (das bezieht sich auf das Lehren und Predigen),dann ein gutes Beispiel in der Tat zu geben und schließlich dem Gebetzu obliegen. Wir wollen das auf alle Christen anwenden und beimdritten Punkt verweilen, d. h. beim Gebet.

* Vgl. die Anmerkung zu Nr. A 105.

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Bemerken wir zunächst am Rand: so sehr wir bestimmte Häretikerunserer Zeit verurteilen, die das Gebet für nutzlos halten, behauptenwir trotzdem nicht mit anderen Häretikern, daß es allein zu unsererRechtfertigung hinreichend sei. Wir sagen nur: es ist so nützlich undnotwendig, daß wir ohne das Gebet nichts Gutes zustandebringen, dawir durch das Gebet alle unsere Handlungen gut zu verrichten lernen.

Daher halte ich meinen Wunsch für berechtigt, über das Gebet zusprechen, zumal es nicht meine Absicht ist, alle seine Formen zu er-klären, weil man darüber aus Erfahrung mehr weiß, als man sagenkönnte. Auch ist es nicht sehr wichtig, die Namen der Gebetsformenzu kennen, und ich möchte nicht, daß man je nach der Bezeichnungfragt, noch nach der Form des Gebetes, das man verrichtet. Denn derhl. Antonius sagt richtig: Ein Gebet, bei dem man darauf schaut, daßman betet, ist unvollkommen. Ein Gebet, das man verrichtet, ohne zuwissen, wie man betet, und ohne darüber nachzudenken, um was manbittet, zeigt andererseits zur Genüge, daß die Seele sehr mit Gott be-schäftigt, folglich dieses Gebet sehr gut ist. Wir wollen also an denvier folgenden Sonntagen sprechen von der causa finalis (d. h. vomZweck) des Gebetes, von der causa efficiens (der Wirkursache), da-von, was man nicht eigentlich causa materialis nennen kann, sondernseinen Gegenstand, und von der causa effectiva oder dem Gebet ansich. Jetzt will ich nur von der causa finalis sprechen. Bevor ich aberin die Erörterung des Gebetes eintrete, muß ich kurz drei oder vierDinge sagen, die man wissen soll.

Unserem Verstand sind vier Tätigkeiten eigen: das einfache Den-ken, das Studium, die Meditation und die Kontemplation. Das einfa-che Denken besteht darin, daß wir uns flüchtig mit einer Vielfalt vonDingen beschäftigen, ohne irgendeine Absicht, wie es die Mückenmachen; sie setzen sich auf die Blumen, ohne die Absicht, irgendeinenSaft aus ihnen zu gewinnen; sie lassen sich auf ihnen nur nieder, weilsie ihnen gerade begegnen. Wenn unser Verstand auf diese Weise voneinem Gedanken zum anderen wandert, selbst wenn diese GedankenGott betreffen, wenn sie aber kein Ziel haben, dann sind sie weit da-von entfernt, gut zu sein, sondern sie sind unnütz, abträglich und bil-den ein großes Hindernis für das Gebet.

Eine andere Tätigkeit unseres Verstandes ist das Studium. Es be-steht darin, daß wir die Dinge nur erwägen, um sie zu kennen, um siegut verstehen und über sie richtig sprechen zu können, ohne ein ande-res Ziel, als unser Gedächtnis damit zu speisen. Darin gleichen wirden Maikäfern; sie lassen sich auf die Rosen nur zu dem Zweck nie-der, um sich zu sättigen und ihren Bauch zu füllen. Nun, über diese

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beiden Tätigkeiten unseres Verstandes wollen wir weiter nicht spre-chen, weil sie zu unserem Gegenstand nichts beitragen.

Kommen wir zur Meditation. Um zu verstehen, was die Betrachtungist, muß man die Worte des Königs Hiskija hören, als ihm das Todes-urteil verkündet wurde, das dann durch seine Buße widerrufen wurde:Ich werde schreien wie die junge Schwalbe und werde nachsinnen wiedie Taube (Jes 38,14) in meinem großen Leid. Er wollte sagen: Wenndas Schwalbenjunge ganz allein ist, weil seine Mutter fort ist, um Schell-kraut zu suchen und ihm damit die Augen zu öffnen, dann schreit undpiepst es um so mehr, da es die Mutter nicht mehr in seiner Nähe fühltund da es nicht sehen kann. So werde auch ich schreien, wenn ichmeine Mutter, d. h. die Gnade verloren habe und niemand mir zuHilfe kommen sehe. Er fügt aber hinzu: Ich werde nachsinnen wie dieTaube. Man muß wissen, daß alle Vögel den Schnabel zu öffnen pfle-gen, wenn sie singen oder zwitschern, ausgenommen die Taube; siebringt ihren kleinen Gesang oder ihr Girren dadurch hervor, daß siedie Luft zurückhält, und sie erzeugt den Laut durch das Brummenihres zurückgehaltenen Atems. Ebenso geschieht die Betrachtung,wenn wir unseren Verstand bei einem Geheimnis verweilen lassen,aus dem wir gute Regungen zu gewinnen wünschen; denn wenn wirnicht diese Absicht hätten, wäre es nicht mehr Betrachtung, sondernStudium. Das Betrachten geschieht also, um Affekte hervorzurufen,besonders jene der Liebe. So ist die Betrachtung die Mutter der Gottes-liebe, die Beschauung die Tochter der Gottesliebe.

Zwischen der Betrachtung und der Beschauung gibt es aber die Bit-te. Wenn wir die Güte Unseres Herrn betrachtet haben, seine grenzen-lose Liebe, seine Allmacht, dann beginnen wir ihn vertrauensvoll zubitten und anzuflehen, daß er uns schenke, was wir ersehnen. Nun gibtes drei Arten von Ersuchen, die auf verschiedene Weise vorgebrachtwerden: die erste stützt sich auf die Gerechtigkeit, die zweite auf dieAutorität, die dritte auf die Gnade. Ein Ersuchen, das sich auf dieGerechtigkeit stützt, kann man nicht Bitte nennen, obwohl wir diesesWort gebrauchen, denn wir verlangen eine Sache, auf die wir einenAnspruch haben. Noch weniger kann man das Ersuchen eine Bittenennen, das sich auf die Autorität stützt. Wenn jemand, der viel Auto-rität über uns hat, wie Vater, Herr oder Meister, sich der Form derBitte bedient, sagen wir sogleich: Du kannst befehlen, oder: DeineBitte ist mir Befehl. Die wirkliche Bitte ist jene, die sich auf die Gnadeberuft, da wir um etwas ersuchen, worauf wir keinen Anspruch haben,und weil wir jemand darum ersuchen, der sehr hoch über uns erhabenist wie Gott.

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Die vierte Tätigkeit unseres Verstandes ist die Beschauung. Sie be-deutet nichts anderes als Gefallen am Gut dessen finden, den wir inder Betrachtung kennen und durch diese Erkenntnis lieben gelernthaben. Dieses Wohlgefallen wird unsere Glückseligkeit im Himmelausmachen.

Nun müssen wir vom Zweck des Gebetes sprechen. Man muß vorallem wissen, daß alle Dinge für das Gebet geschaffen sind. Als GottEngel und Menschen erschuf, geschah es mit dem Ziel, daß sie ihnewig im Himmel loben sollten. Das ist also das Letzte, wozu wir be-stimmt sind, wenn man als das Letzte bezeichnen kann, was ewig ist.Um das besser zu verstehen, können wir sagen: wenn wir irgendetwastun wollen, schauen wir stets auf den Hauptzweck, zu dem wir es tun.Wenn wir z. B. eine Kirche bauen lassen und man fragt uns, wozu wirsie bauen lassen, dann werden wir sagen, um uns dorthin zurückzuzie-hen und in ihr das Lob Gottes zu singen; das wird demnach das Letztesein, was wir tun werden. Ein anderer Vergleich: Wenn ihr in das Zim-mer eines Fürsten kommt, werdet ihr dort einen Vogelbauer mit ver-schiedenen kleinen Vögeln in einem bunten, schön ausgestatteten Käfigsehen. Wenn ihr wissen wollt, zu welchem Zweck man ihn dort hinge-stellt hat, so nur dazu, um ihrem Herrn Freude zu machen. Wenn ihreuch anderswo umseht, werdet ihr dort Sperber, Falken und Raubvö-gel mit einer Lederkappe sehen; sie sind da, um Rebhühner und ande-re Vögel als Leckerbissen für den Fürsten zu fangen. Gott aber gelü-stet nicht nach Fleisch, er hält sich keine Raubvögel, sondern nur klei-ne Vögel, die im Käfig eingeschlossen sind, um ihn zu erfreuen. Alssolche Vögel kann man sich die Ordensmänner und Ordensfrauenvorstellen. Sie haben sich freiwillig im Kloster eingeschlossen, um dasLob Gottes zu singen. So muß ihre vorzüglichste Übung das Gebetsein, um das Wort Unseres Herrn im Evangelium (Lk 18,1) zu befol-gen: Betet ohne Unterlaß.

Die Schüler des heiligen Evangelisten Markus unter den ersten Chris-ten waren so ausdauernd im Gebet, daß einige Kirchenväter ihnen denBeinamen „Beter“ gaben; andere nannten sie „Therapeuten“, weil sieim Gebet das Heilmittel für alle ihre Übel fanden. Man nannte sieauch noch Mönche, weil sie sehr einfach waren; die Bezeichnung Mönchbedeutet auch „einzig“. Daraus können wir folgern, wie notwendig dasGebet für den Menschen ist; denn ein Baum, der nicht genug Erde hat,um seine Wurzeln zu bedecken, hat keinen Bestand. Ebenso kann einMensch nicht bestehen, wenn er nicht eine besondere Sorgfalt auf diehimmlischen Dinge verwendet. Nun ist das Gebet nach den meistenVätern nichts anderes als „eine Erhebung des Geistes zu den himmli-

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schen Dingen“; andere sagen, daß es eine Bitte ist. Diese beiden Auf-fassungen widersprechen einander nicht; denn wenn wir unseren Geistzu Gott erheben, können wir ihn um das bitten, was wir für notwendighalten.

Die wichtigste Bitte, die wir an Gott richten müssen, ist die um dieEinheit unseres Willens mit dem seinen, und das letzte Ziel des Gebe-tes besteht darin, nichts zu wollen als Gott. Darin ist auch die ganzeVollkommenheit enthalten, wie der Vater Ägidius sagt, ein Gefährtedes hl. Franziskus. Als ihn einer fragte, wie er es anstellen müsse, umrecht bald vollkommen zu sein, antwortete er: „Gib die eine dem Ei-nen.“ Das heißt: du hast nur eine Seele und es gibt nur einen Gott; gibihm deine Seele, und er wird sich dir schenken. Das letzte Ziel desGebetes kann also nicht sein, daß man die Zärtlichkeiten und Tröstun-gen haben will, die Unser Herr manchmal schenkt; denn die Vereini-gung mit ihm besteht nicht in Tröstungen, sondern im Willen Gottes.

Zum 4. FZum 4. FZum 4. FZum 4. FZum 4. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 8: 29. März 1615 IX,51-56

Wir haben nun von der causa efficiens des Gebetes zu sprechen. Wirmüssen also wissen: wer kann und wer muß beten? Die Frage wäresehr schnell entschieden, wenn wir sagten, daß alle Menschen betenkönnen und daß alle es tun müssen. Um aber die Geister besser zufrie-denzustellen, wollen wir den Gegenstand ausführlicher behandeln.

Zunächst müssen wir wissen, daß Gott nicht beten kann. Das Gebetist ja eine Bitte, die sich auf die Gnade stützt, und es setzt in uns dieErkenntnis voraus, daß wir irgendeiner Sache bedürfen; man bittet jagewöhnlich nicht um etwas, was man bereits besitzt. Nun kann Gottnichts gnadenhalber verlangen, sondern nur auf Grund der Autorität;er kann weiterhin keiner Sache bedürfen, da er alles besitzt. Es ist alsoganz sicher, daß Gott nicht beten kann und nicht zu bitten braucht.Das gilt von Gott.

Einige der frühen Väter, selbst der hl. Gregor von Nazianz, lehren,daß auch unser Herr Jesus Christus nicht beten könne. (Insofern erGott ist, ist das ganz klar, da er der eine Gott mit dem Vater ist; davonhaben wir schon gesprochen.) Sie begründen ihre Auffassung mit denWorten, die der göttliche Heiland (Joh 16,16.26) zu seinen Jüngern

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gesagt hat: Ich gehe zu meinem Vater, aber ich sage nicht, daß ich ihnbitten werde. Sie fügen hinzu: Wenn er sagt, daß er nicht bitten wird,warum behaupten wir es dann? Die übrigen Väter halten daran fest,daß Unser Herr betet, weil sein Lieblingsjünger von seinem Meistergeschrieben hat, daß wir in ihm einen Anwalt beim Vater haben (1 Joh2,1). Trotzdem widersprechen sie einander mit ihren verschiedenenAuffassungen nicht, wenn es auch so scheinen mag. Es ist sicher, daßunser Herr Jesus Christus nicht beten muß, sondern er kann gerechter-weise von seinem Vater verlangen, was er will. Man sieht auch, daß dieAuserwählten gewöhnlich nichts gnadenhalber verlangen, sondernunter Berufung auf die Gerechtigkeit die Rechte, die sie beanspru-chen. Der Erlöser verlangt nichts ohne guten Rechtstitel, denn er zeigtseinem Vater seine Wundmale, wenn er von ihm etwas erlangen will.Es ist dennoch eine ganz sichere Wahrheit, daß Unser Herr, obwohl ergerechterweise verlangt, was er will, sich als Mensch vor seinem Vaterverdemütigt, mit so großer Ehrfurcht zu ihm spricht und Akte so tieferDemut verrichtet, wie es kein Geschöpf jemals verstehen und tun könn-te. So kann seine Bitte als Gebet bezeichnet werden.

An einigen Stellen der Heiligen Schrift heißt es, daß der HeiligeGeist gebeten und gebetet hat (Röm 6,26f). Das darf man nicht soverstehen, daß er gebetet hätte, denn das kann er nicht, da er mit demVater und dem Sohn wesensgleich ist. Damit soll vielmehr gesagt wer-den, daß er den Menschen eingegeben hat, ein solches Gebet zu ver-richten.

Die Engel beten. Das wird uns an einigen Stellen der Heiligen Schrift(Tob 12,12; Offb 8,3f) gezeigt. Für die Menschen, die im Himmelsind, haben wir solche Zeugnisse nicht; denn als Unser Herr starb,auferstand und in den Himmel auffuhr, waren keine Menschen imHimmel; sie waren alle in Abrahams Schoß. Es ist trotzdem ganz klar,daß die Menschen beten, da die Engel beten, in deren Gemeinschaftsie sind.

Laßt uns nun sehen, ob alle Menschen beten können. Ich sage Ja undsage, daß sich niemand davon entschuldigen kann, nicht einmal dieHäretiker. Es gab einmal einen Heiden (vgl. Apg 10,4.30f), der sovorzüglich betete, daß dieses Gebet vor den Thron der göttlichen Barm-herzigkeit gebracht zu werden verdiente. Und Gott gewährte ihm dieGnade, ihm eine Möglichkeit der Unterweisung im Glauben zu ge-ben; er wurde dann ein großer Heiliger bei den Christen. Es ist wahr,daß große Sünder viele Schwierigkeiten haben zu beten. Sie gleichenden jungen Vögeln. Sobald diese Federn bekommen, können sie selbstmit Hilfe ihrer Flügel fliegen; sobald sie sich aber auf den Leim set-

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zen, den man bereitet hat, um sie zu fangen, muß man sehen, wie dieserklebrige Saft ihnen die Flügel verklebt, so daß sie dann nicht mehrfliegen können. So ergeht es auch den Sündern, die sich auf das Lastereinlassen und sich auf seinem schlüpfrigen Boden niederlassen; sielassen sich so sehr von der Sünde fesseln, daß sie sich nicht mehrdurch das Gebet zum Himmel erheben können. Soweit sie jedoch fürdie Gnade empfänglich sind, können sie dennoch beten. Nur der Teu-fel kann es nicht, denn nur er allein ist unfähig zu lieben.

Nun bleibt noch zu erklären, welche Voraussetzungen man habenmuß, um gut zu beten. Ich weiß wohl, daß die Väter, die diese Fragebehandeln, deren eine große Zahl anführen; die einen zählen fünfzehnauf, die anderen acht. Da diese Zahl so groß ist, will ich nur drei nen-nen. Die erste ist, daß man klein sein muß durch die Demut; die zwei-te, groß in der Hoffnung, und die dritte, daß man dem gekreuzigtenJesus Christus aufgepfropft sein muß.

Sprechen wir zunächst von der ersten Bedingung; sie ist nichts ande-res als jene geistliche Demut, von der Unser Herr (Mt 5,3 nach demGriechischen) sagt: Selig die Bettler im Geiste, denn ihrer ist das Him-melreich. Obwohl einige Theologen dieses Wort auslegen mit selig dieArmen im Geiste, widersprechen sich die beiden Auslegungen nicht;denn alle Armen sind Bettler, wenn sie nicht stolz sind, und alle Bett-ler sind arm, wenn sie nicht geizig sind. Um also gut zu beten, müssenwir zugeben, daß wir arm sind, und müssen uns sehr demütigen. Sehtihr nicht, daß ein Bogenschütze, der einen Meisterschuß tun will, dieSehne um so mehr anzieht, je höher er schießen will? So müssen auchwir tun, wenn wir wollen, daß unser Gebet bis zum Himmel dringt:wir müssen uns erniedrigen durch die Erkenntnis unserer Nichtigkeit.Dazu mahnt uns David (Ps 130,1; vgl. Sir 35,21) mit den Worten:Wenn du beten willst, erniedrige dich so im Abgrund deines Nichts,daß du dann ohne Schwierigkeit dein Gebet wie einen Pfeil zum Him-mel schießen kannst.

Seht ihr nicht, wenn die Großen einen Springbrunnen auf der Höheihrer Burgen errichten wollen, nehmen sie das Wasser dafür aus einerQuelle an einem noch höher gelegenen Ort und leiten es durch Rohreso weit herunter, als sie es aufsteigen lassen wollen; denn sonst könntedas Wasser nie in die Höhe steigen. Wenn ihr sie fragt, wie sie erreichthaben, daß es hochsteigt, werden sie euch antworten: durch seinenAbstieg. Genau so ist es beim Gebet. Denn wenn man fragt, wie es zumHimmel aufsteigen kann, wird man euch antworten, daß es aufsteigtdurch seinen Abstieg in der Demut. Die Braut im Hohelied (3,6; 8,5)

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setzt die Engel in Staunen, so daß sie fragen: Wer ist jene, die aus derWüste kommt und aufsteigt wie eine Säule duftenden Rauches, zusam-mengesetzt aus Myrrhe, Weihrauch und allen guten Düften der Spezerei-en, und die gestützt ist auf ihren Vielgeliebten? Die Demut ist in ihrenAnfängen eine Wüste, obwohl sie am Ende sehr fruchtbar ist, und diedemütige Seele glaubt eine Wüste zu sein, wo weder Vögel noch wildeTiere leben und wo es keinen fruchttragenden Baum gibt.

Gehen wir nun zur Hoffnung weiter, der zweiten Voraussetzung, dienotwendig ist, um gut zu beten. Die Braut, die aus der Wüste kommt,steigt empor wie ein Schößling oder eine Säule duftenden Rauches,bestehend aus Myrrhe. Das ist ein Sinnbild der Hoffnung; denn ob-wohl die Myrrhe einen lieblichen Duft ausströmt, schmeckt sie den-noch bitter. So ist auch die Hoffnung süß, insofern sie uns verspricht,daß wir uns eines Tages dessen erfreuen dürfen, was wir ersehnen; sieist aber bitter, weil wir noch nicht im beglückenden Besitz dessensind, was wir lieben. Der Weihrauch ist ein noch treffenderes Sinnbildder Hoffnung; denn wenn er auf die Glut gelegt wird, sendet er seinenRauch stets nach oben. Ebenso muß die Hoffnung auf die Liebe gelegtwerden; andernfalls wäre sie nicht mehr Hoffnung, sondern Vermes-senheit. Die Hoffnung steigt wie ein Pfeil bis zur Pforte des Himmelsempor, aber sie kann nicht eindringen, weil sie eine Tugend ist, dieganz der Erde angehört. Wenn wir wollen, daß unser Gebet den Him-mel durchdringt (Sir 35,21), müssen wir den Pfeil schärfen mit demSchleifstein der Liebe.

Kommen wir zur dritten Bedingung. Die Engel sagten, daß die Brautauf ihren Vielgeliebten gestützt ist. So haben wir gesagt, daß die letzteVoraussetzung darin besteht, dem gekreuzigten Jesus Christus aufge-pfropft zu sein. Als der Bräutigam einmal seine Braut lobte und sieeine Lilie unter Dornen nannte, sagte sie als Erwiderung: Mein Vielge-liebter ist wie ein Apfelbaum unter Sträuchern. Dieser Baum ist ganzbedeckt mit Blättern, Blüten und Früchten; ich will mich in seinenSchatten setzen und die Früchte sammeln, die in meinen Schoß fallen;ich werde sie essen, und wenn ich sie gekaut habe, mit meinem Gau-men schmecken, wo ich sie süß und lieblich finde (Hld 2,2f). Wo aberist dieser Baum gepflanzt? In welchem Garten werden wir ihn finden?Ohne Zweifel ist er auf dem Kalvarienberg gepflanzt und man mußsich in seinem Schatten aufhalten. Was aber sind seine Blätter? Nichtsanderes als die Hoffnung auf unser Heil durch den Tod des Erlösers.Und die Blüten? Das sind die Gebete, die er für uns an seinen Vaterrichtete (vgl. Hebr 5,7). Die Früchte sind die Verdienste seines Todesund seiner Passion.

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Bleiben wir also zu Füßen des Kreuzes; gehen wir nicht fort, bis wirganz vom Blut getränkt sind, das von ihm herabfließt. Die hl. Kathari-na hatte einmal eine Entrückung, als sie über den Tod und die PassionUnseres Herrn betrachtete. Da wurde ihr geoffenbart, daß sie sich ineinem Bad aus einem kostbaren Blut befand. Als sie wieder zu sichkam, sah sie ihr Kleid ganz rot von diesem Blut; die anderen abersahen es nicht. So dürfen wir nicht zu beten beginnen, ohne daß wirmit seinem Blut besprengt sind; zum mindesten muß man sich damitbesprengen am Morgen bei seinem ersten Gebet. Der hl. Paulus schrieban seine lieben Kinder (Röm 13,14) und trug ihnen auf, sich mit Un-serem Herrn zu bekleiden, d. h. mit seinem Blut. Aber was heißt das,mit seinem Blut bekleidet sein? Ihr wißt doch, daß man sagt: DerMann ist in Scharlach gekleidet. Der Scharlach ist ein Fisch. Das Kleiddes Mannes ist aus Wolle gemacht, aber es ist gefärbt im Blut desFisches. Ebenso ist es bei uns: obwohl wir mit Wolle bekleidet sind, d.h. gute Werke verrichten, haben diese keine Geltung und keinen Wert,insofern sie von uns stammen, wenn sie nicht eingetaucht sind in dasBlut unseres Meisters, dessen Verdienst sie der göttlichen Majestätwohlgefällig macht.

Als Jakob den Segen seines Vaters Isaak haben wollte, ließ ihn seineMutter ein Zicklein wie Wildbret bereiten, weil Isaak das liebte. Au-ßerdem ließ sie ihn Fellhandschuhe anziehen, weil Esau, der Erstge-borene, dem der Segen zustand, ganz behaart war. Sie ließ ihn auch dasduftende Gewand anziehen, das für den Vorsteher des Hauses bestimmtwar, und führte ihn so zu ihrem blinden Mann. Als Jakob um denSegen bat, beugte Isaak sich vor, um seine Hände zu berühren, dannrief er ganz laut: In welcher Verlegenheit bin ich! Die Stimme, die ichhöre, ist die meines Sohnes Jakob, aber die Hände, die ich fühle, sinddie von Esau. Und nachdem er den Duft des Gewandes wahrgenom-men, sagte er: Der gute Duft, den ich wahrgenommen, ist so süß inmeinem Geruchssinn, daß ich meinem Sohn den Segen gebe (Gen27,9-29). Wenn wir das Lamm ohne Makel (1 Petr 1,19) bereitet unddem ewigen Vater dargebracht haben, um seinem Geschmack zu ent-sprechen, und ihn dann um seinen Segen bitten, wird er, wenn wir mitdem Blut Christi bekleidet sind, sagen: Die Stimme, die ich vernehme,ist die Jakobs, aber die Hände, die unsere armseligen Werke sind, sinddie Esaus; wegen des Wohlgefallens, den Duft seines Gewandes wahr-zunehmen, will ich ihm dennoch meinen Segen geben. So sei es.

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Zum PZum PZum PZum PZum Passionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntagassionssonntag

Nr. 9: 5. April 1615 IX,57-64

Wir haben gezeigt, daß das Ziel unseres Gebetes die Vereinigungmit Gott ist und daß alle Menschen, die sich auf dem Weg des Heilesbefinden, beten können und beten müssen. Aber es bleibt noch eineSchwierigkeit aus unserer letzten Predigt: ob nämlich die Sünder er-hört werden können. Ihr wißt doch, daß der Blindgeborene, von demdas Evangelium (Joh 9,31) berichtet, daß Unser Herr ihn sehend mach-te, zu denen, die ihn ausfragten, sagte, daß Gott die Sünder nicht erhört.Aber lassen wir ihn reden, denn er redet noch als Blinder.

Man muß nämlich wissen, daß es dreierlei Sünder gibt: die Unbuß-fertigen, die bußfertigen Sünder und die gerechtfertigten Sünder. Nunist es sicher, daß die unbußfertigen Sünder nicht erhört werden, zumalsie in ihren Sünden verkommen wollen. So sind auch ihre Gebete vorGott ein Greuel. Das gibt er selbst denen zu verstehen, die ihm sagten:Wir haben gefastet und unsere Seele kasteit, du aber hast nicht daraufgeachtet (Jes 58,3). Gott gibt ihnen die Antwort: Euer Fasten, eureKasteiungen und eure Feste sind mir ein Greuel, denn bei all dem habtihr eure Hände mit Blut befleckt (Jes 58,3-5; 1,13-15; 59,3). Das Ge-bet solcher Sünder kann nicht gut sein, denn niemand kann Jesus sa-gen, außer in der Kraft des Heiligen Geistes (1 Kor 12,3), und keinerkann Gott Vater nennen, wenn er nicht als sein Kind angenommen ist(Röm 8,15; Gal 4,5f). Ein Sünder, der in seiner Sünde verharren will,kann den erhabenen Namen Unseres Herrn nicht aussprechen, weil erden Heiligen Geist nicht in sich hat, denn der wohnt nicht in einemHerzen, das von Sünden befleckt ist (Weish 1,4f). Wißt ihr nicht auch,daß keiner zum Vater gelangen kann als in der Kraft des Namens sei-nes Sohnes, da er selbst (Joh 16,6.13) gesagt hat, daß man alles erhal-ten wird, was man in seinem Namen vom Vater erbittet? Die Gebeteder unbußfertigen Sünder sind also Gott nicht wohlgefällig.

Kommen wir zum bußfertigen Sünder. Man tut ihm ohne ZweifelUnrecht, wenn man ihn einen Sünder nennt, denn er ist keiner mehr,da er seine Sünde bereits verabscheut; und wenn auch der HeiligeGeist noch nicht in seinem Herzen Wohnung genommen hat, so ist erdoch bei ihm mit seinem Beistand. Wer anders als der Heilige Geisthat ihm nach eurer Meinung eingegeben, daß es ihn reut, Gott belei-digt zu haben, da wir nicht einen guten Gedanken zu unserem Heilfassen können, wenn nicht er ihn uns gibt (2 Kor 3,5)? Aber hat dieser

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arme Mensch von sich aus nichts getan? Gewiß ja; merkt auf die WorteDavids, der sagt: Herr, du hast auf mich geschaut, als ich im Sumpfmeiner Sünde steckte; du hast mein Herz aufgetan, und ich verschloßes nicht; du hast mich herausgezogen, und ich ließ mich führen; duhast mich gedrängt, und ich leistete keinen Widerstand (Ps 102,18.20f;Ps 103,3f; Jes 1,5). Wir haben eine Fülle von Beweisen, daß die Gebe-te des bußfertigen Sünders der göttlichen Majestät wohlgefällig sind;ich will mich aber darauf beschränken, das Beispiel des Zöllners an-zuführen, der als Sünder zum Tempel hinaufstieg und gerechtfertigtfortging dank des demütigen Gebetes, das er verrichtete (Lk 18,10-14).

Kommen wir nun zum Inhalt des Gebetes. Ich will nichts sagen übersein Objekt, denn darüber habe ich am Sonntag gesprochen. Gegen-stand des Gebetes ist, Gott um alles zu bitten, was gut ist. Wir müssenaber wissen, daß es zweierlei Güter gibt: die geistigen Güter und dieleiblichen oder zeitlichen Güter. Als die Braut im Hohelied (5,13)ihren Vielgeliebten pries mit den Worten, daß seine Lippen einer Lilieglichen, von der Myrrhe herabträufelte, antwortete der Bräutigam, daßsie Honig und Milch unter der Zunge habe (4,11).

Ich weiß wohl, daß man diese Worte so auslegt, daß die PredigerHonig unter der Zunge haben, wenn sie zum Volk sprechen, und Milchunter der Zunge, wenn sie für das Volk Gottes beten. Nach einer ande-ren Auslegung haben die Prediger Milch unter der Zunge, wenn sie dieTugenden Unseres Herrn als Mensch verkünden: seine Milde, seineSanftmut, seine Barmherzigkeit; und sie haben Honig unter der Zun-ge, wenn sie von seiner Gottheit sprechen. Viele täuschen sich, wennsie denken, der Honig werde nur aus dem Saft der Blüten bereitet. DerHonig ist eine Flüssigkeit, die wie Tau vom Himmel fällt, sich auf dieBlüten niederläßt und ihren Geschmack annimmt, wie das bei allenFlüssigkeiten geschieht, die man in ein Gefäß gießt, das irgendeinenGeschmack hat. Der Honig versinnbildet also die göttlichenVollkommenheiten, die alle himmlisch sind.

Doch wenden wir die Worte der Braut auf unser Gebet an. Wir ha-ben gesagt, daß es zweierlei Güter gibt, um die wir im Gebet bittenkönnen, die geistigen und die leiblichen. Bei den geistigen Gütern gibtes zwei Arten: die einen sind notwendig zu unserem Heil; um sie müs-sen wir Gott einfach und ohne Bedingungen bitten, denn er will sie unsgeben. Obwohl die anderen Güter geistig sind, müssen wir um sieunter den gleichen Bedingungen bitten wie um die leiblichen, d. h.

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wenn es der Wille Gottes ist und wenn es zur größeren Ehre Gottesgereicht. Unter diesen Voraussetzungen können wir um alles bitten.Die zu unserem Heil notwendigen Güter nun, die durch den Honigversinnbildet werden, den die Braut unter ihrer Zunge hat, sind Glau-be, Hoffnung und Liebe und die anderen Tugenden, die uns zu ihnenführen. Die übrigen geistlichen Güter sind Ekstasen, Entrückungen,Zärtlichkeiten und Tröstungen; um alle diese Dinge dürfen wir Gottnur bedingungsweise bitten, weil sie in keiner Weise zu unserem Heilnotwendig sind.

Manche denken, wenn sie mit Weisheit ausgestattet seien, wären siebesser befähigt, Gott zu lieben; aber das stimmt nicht. Ihr erinnerteuch wohl, daß der Bruder Ägidius einmal den hl. Bonaventura auf-suchte und sagte: Wie glücklich bist du, mein Vater, daß du so gelehrtbist, denn du kannst Gott viel mehr lieben als wir Unwissenden. Dar-auf antwortete der hl. Bonaventura, die Gelehrtheit helfe ihm nichts,um Gott zu lieben, und eine einfache Frau könne Gott ebenso liebenwie die gelehrtesten Männer der Welt.

Doch wer sieht nicht die Täuschung derjenigen, die ständig hinterihrem geistlichen Vater her sind, um sich zu beklagen, daß sie in ihrenGebeten nichts von diesen zärtlichen Gefühlen und Tröstungen ver-spüren? Seht ihr nicht, daß ihr euch des eitlen Ruhmes nicht erwehrenkönnt, wenn ihr solche Gefühle habt, und daß ihr nicht verhindernkönnt, daß sich die Eigenliebe darin gefällt, so daß ihr euch mehr anden Gaben erfreut als am Geber? Gott erweist euch also große Barm-herzigkeit, wenn er sie euch nicht gibt; und man darf deshalb nicht denMut verlieren, denn die Vollkommenheit besteht nicht darin, solchezärtliche Gefühle zu haben, sondern darin, unseren Willen mit demWillen Gottes vereinigt zu haben. Das ist es, was wir von der göttli-chen Majestät bedingungslos erbitten können und müssen.

Als Tobias schon alt war und seine Geschäfte ordnen wollte, gab erseinem Sohn den Auftrag, nach Rages zu reisen, um eine bestimmteSumme Geldes einzufordern, die man ihm schuldete. Dazu übergab erihm einen Schuldschein, der ihm dazu dienen sollte, daß man ihm dasGeld nicht vorenthalten konnte (Tob 4,21f; 5,3f). So müssen auch wires machen, wenn wir vom ewigen Vater sein Paradies erbitten wollen,die Vermehrung unseres Glaubens, seiner Liebe. All das will er unsgeben, wenn wir den Schuldschein übergeben, den sein Sohn ausge-stellt hat, d. h. wenn wir ihn stets im Namen Unseres Herrn und umseiner Verdienste willen bitten.

Der gute Meister hat uns klar die Ordnung gezeigt, an die wir uns beiunseren Bitten halten müssen, als er uns gebot, im Vaterunser zu sa-

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gen: Sanctificetur nomen tuum, adveniat regnum tuum, fiat voluntastua (Mt 6,9-11; Lk 11,2f). Wir müssen also vor allem bitten, daß seinName geheiligt werde, d. h. daß er von allen Menschen anerkannt undangebetet werde. Dann bitten wir um das, was uns das Notwendigsteist, daß nämlich sein Reich uns zukomme, daß wir Himmelsbewohnerwerden können; dann, daß sein Wille geschehe. Und nach diesen dreiBitten fügen wir hinzu: Unser tägliches Brot gib uns heute. Jesus Chris-tus heißt uns sagen: Gib uns unser tägliches Brot, weil unter der Be-zeichnung Brot alle zeitlichen Güter zu verstehen sind. Wir müssensehr zurückhaltend sein, wenn wir um diese Güter bitten, und müssenin großer Furcht sein, um sie zu bitten, da wir nicht wissen, ob UnserHerr sie uns nicht in seinem Zorn gibt. Deshalb bitten jene, die imGebet vollkommen sind, sehr wenig um diese Güter, sind vielmehrGott gegenüber wie Kinder gegen den Vater, dem sie volles Vertrauenschenken; oder wie ein Diener, der seinem Herrn treu dient; denn erverlangt nicht jeden Tag seine Nahrung, vielmehr sprechen seine Dien-ste hinreichend für ihn. Soviel über den Gegenstand des Gebetes.

Die frühen Kirchenväter unterscheiden drei Formen des Gebetes,nämlich das Gebet des Lebens, das Geistesgebet und das mündlicheGebet. Wir werden jetzt nicht vom Geistesgebet sprechen, sondernnur vom mündlichen Gebet. Alle Handlungen derjenigen, die gottes-fürchtig leben, sind fortgesetzte Gebete; das nennt man das Gebet desLebens. Vom hl. Johannes heißt es (Mt 2,4), daß er sich in der Wüstenur von Heuschrecken oder Grillen und Zikaden nährte, daß er wederTrauben aß noch Wein oder Berauschendes trank (Lk 1,15). Ich willmich bei all dem nicht aufhalten, sondern nur dabei, daß er nichts alsHeuschrecken oder Zikaden aß.

Man weiß nicht, ob die Zikaden himmlisch oder irdisch sind, dennsie streben immer himmelwärts, doch manchmal fallen sie auch zu-rück auf die Erde. Sie nähren sich vom Tau, der vom Himmel fällt, undsingen unablässig. Was man vernimmt, ist nichts anderes als ein Tonoder ein Zwitschern, das in ihren Eingeweiden entsteht. Mit vollemRecht nährte sich also der glückselige hl. Johannes von Zikaden, da erselbst eine mystische Zikade war. Man konnte nicht sagen, ob er himm-lisch oder irdisch war; denn obgleich er manchmal die Erde berührte,um ihren Erfordernissen zu entsprechen, erhob er sich doch sogleichwieder und strebte himmelwärts und nährte sich mehr von himmli-scher als von irdischer Speise. Seht doch seine Enthaltsamkeit. Er aßnur Heuschrecken, trank nur Wasser, und das noch sehr mäßig. Er

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sang auch fast unablässig das Lob Gottes, denn er selbst war eine Stim-me (Joh 1,23); mit einem Wort, sein Leben war ein ständiges Gebet.Ebenso kann man sagen: wer Almosen gibt, die Kranken besucht undsich in allen guten Werken dieser Art übt, der betet und seine gutenHandlungen selbst verlangen von Gott Vergeltung.

Kommen wir nun zum mündlichen Gebet. Man kann es nicht Betennennen, etwas mit den Lippen zu murmeln, wenn damit nicht die Auf-merksamkeit des Herzens verbunden ist. Um zu sprechen, muß manzuerst im Inneren geformt haben, was man sagen will. Es gibt das in-nerliche Wort und das äußere, das vernehmbar macht, was das innerezuvor ausgesprochen hat. Beten heißt nichts anderes als mit Gott spre-chen; nun ist aber sicher, daß es Gott sehr mißfällt, wenn man zu ihmspricht, ohne auf das zu achten, was man ihm sagt. Eine heilige Per-sönlichkeit berichtet, daß man einen Sittich oder Papagei abrichtete,das Ave Maria zu sprechen. Als der Sittich einmal entflogen war, stürztesich ein Sperber auf ihn; als aber der Sittich das Ave Maria herzusagenbegann, ließ der Sperber von ihm ab. Es ist nicht so, daß der Herr dasGebet des Sittichs erhört hätte; er ist ja ein unreiner Vogel (Lev 11,19)und war auch nicht als Opfertier geeignet. Er ließ es dennoch zu, umzu zeigen, wie angenehm ihm dieses Gebet ist. Die Gebete jener, diesie wie dieser Papagei verrichten, sind Gott ein Greuel (Jes 1,13); erachtet mehr auf das Herz des Betenden als auf die Worte, die er spricht.

Wir müssen wissen, daß es drei Arten von mündlichen Gebeten gibt:die einen sind geboten, die anderen empfohlen, die übrigen freiwillig.Geboten sind das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis, die wirjeden Tag sprechen müssen. Das gibt Unser Herr uns deutlich zu ver-stehen, wenn er sagt: Unser tägliches Brot gib uns heute. Das zeigt uns,daß wir jeden Tag darum bitten müssen. Wenn ihr mir sagt, daß ihrheute nicht gebetet habt, werde ich antworten, daß ihr den Tierengleicht. Die anderen gebotenen Gebete sind das Offizium für uns imkirchlichen Stand; wenn wir davon einen beträchtlichen Teil auslas-sen, sündigen wir. Nur empfohlen sind die Vaterunser oder Rosen-kränze, die verlangt werden, um die Ablässe zu gewinnen. Wenn wirsie unterlassen, sündigen wir nicht; um aber zu zeigen, daß sie wünscht,wir sollten sie verrichten, verleiht die Kirche denen Ablässe, die sieverrichten. Freiwillige Gebete sind alle übrigen außer denen, von de-nen wir eben gesprochen haben.

Wenn auch die Gebete sehr gut sind, die man freiwillig verrichtet, sosind doch die empfohlenen viel besser, weil hier die heilige Tugendder Fügsamkeit dazukommt. Es ist, als sagten wir: Gute Mutter Kir-

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che, du wünschst, daß ich es mache; auch wenn du es nicht befiehlst,bin ich sehr gern bereit, dich zufriedenzustellen. Das ist schon einwenig Gehorsam. Die gebotenen Gebete aber haben einen ganz ande-ren Wert wegen des Gehorsams, der mit ihnen verbunden ist; undohne Zweifel ist auch mehr Liebe dabei.

Von diesen Gebeten nun sind die einen öffentliche, die anderen pri-vate. Öffentliche sind die Messe, das Stundengebet und solche, die wirin Notzeiten verrichten. O Gott, mit welcher Ehrfurcht müssen wir zudiesen öffentlichen Gebeten kommen, ganz anders vorbereitet als fürprivate Gebete, weil wir bei diesen mit Gott nur von unseren Anliegensprechen, oder wenn wir für die Kirche beten, das aus Liebe tun; beiden öffentlichen Gebeten aber beten wir für alle gemeinsam. Der hl.Augustinus erzählt, daß er noch als Heide eine Kirche besuchte, woder hl. Ambrosius das Stundengebet abwechselnd singen ließ, wie manes von da an allgemein tat. Er war so hingerissen und außer sich, daß ersich im Paradies zu befinden glaubte. Manche versichern, daß sie dieEngel chorweise kommen sahen, um am Offizium teilzunehmen. Mitwelcher Aufmerksamkeit müssen wir ihm demnach beiwohnen, wenndie Engel anwesend sind und oben in der triumphierenden Kirchewiederholen, was wir hier unten singen!

Vielleicht möchten wir sagen, wenn wir einmal die Engel bei unse-rem Chorgebet gesehen hätten, würden wir mehr Aufmerksamkeit undEhrfurcht aufbringen. O nein, erlaubt mir, das würde nichts helfen.Denn wenn wir mit dem hl. Paulus in den dritten Himmel (2 Kor 12,2)entrückt würden, ja wenn wir dreißig Jahre im Paradies weilten, abernicht im Glauben festgegründet wären, würde das alles nichts nützen.Es ist eine Tatsache, die ich oft erwogen habe: der hl. Petrus, der hl.Jakobus und der hl. Johannes, die Unseren Herrn in seiner Verklä-rung gesehen hatten, haben ihn dennoch in seinem Leiden und Tod imStich gelassen.

Besonders wir, die das Chorgebet singen, dürfen dazu nie kommen,ohne Akte der Reue zu erwecken und ohne den Beistand des HeiligenGeistes zu erbitten, bevor wir beginnen. Wie glücklich sind wir doch,hier unten das zu beginnen, was wir ewig im Himmel tun werden.Dahin mögen uns führen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.Amen.

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Zum PZum PZum PZum PZum Palmsonntagalmsonntagalmsonntagalmsonntagalmsonntag

Nr. 10: 12. April 1615 IX,65-72

Es bleibt mir noch eine Einteilung im Gebet zu erklären, sowohl imGeistesgebet wie im mündlichen. Wir wenden uns in zweifacher Wei-se an Gott, um ihn zu bitten. Beide hat Unser Herr empfohlen undunsere heilige Mutter Kirche geboten. Wir bitten nämlich Gott daseine Mal unmittelbar, ein andermal mittelbar, so wenn wir dieAntiphonen Unserer lieben Frau beten, das Salve Regina und andere.Wenn wir unmittelbar beten, üben wir das kindliche Vertrauen, dassich auf Glaube, Hoffnung und Liebe stützt. Wenn wir mittelbar unddurch die Vermittlung eines anderen bitten, üben wir die heilige De-mut, die aus unserer Selbsterkenntnis hervorgeht. Wenn wir uns un-mittelbar an Gott wenden, berufen wir uns auf seine Güte und seineBarmherzigkeit, auf die wir unser ganzes Vertrauen setzen; wenn wiraber mittelbar beten, Unsere liebe Frau, die Heiligen und die seligenGeister um ihren Beistand bitten, tun wir das, um von der göttlichenMajestät besser aufgenommen zu werden, und dann berufen wir unsauf seine Erhabenheit und Allmacht und auf die Ehrfurcht, die wirihm schulden.

Ich möchte der letzten Predigt noch ein Wort hinzufügen über dieäußere Ehrfurcht, die wir beim Gebet haben müssen. Unsere MutterKirche bestimmt genau, welche Haltung wir nach ihrem Wunsch beimRezitieren des Offiziums einnehmen sollen: einmal stehen, einmalsitzen, dann knien; einmal das Haupt bedeckt, einmal unbedeckt. Allediese Verhaltensweisen sind aber nichts anderes als Gebete. Alle Ze-remonien der Kirche sind erfüllt von tiefem Sinn; die frommen, de-mütigen und einfältigen Seelen empfangen sehr viel Trost bei ihremAnblick. Sagt mir doch, was nach eurer Meinung die Zweige bedeuten,die wir heute in Händen halten? Doch nichts anderes, als daß wir Gottbitten, er möge uns siegen lassen durch das Verdienst und den Sieg,den Unser Herr am Baum des Kreuzes errungen hat.

Beim Gottesdienst müssen wir darauf achten, die Haltung einzu-nehmen, die in unseren Meßbüchern angegeben ist. Welche Ehrfurchtaber müssen wir in unseren persönlichen Gebeten wahren? Wir ste-hen genau so vor Gott wie bei den gemeinsamen Gebeten, wenn wirauch bei den gemeinsamen wegen der Erbauung des Nächsten beson-ders sorgfältig darauf bedacht sein müssen. Die äußere Ehrfurcht trägtviel zur inneren bei. Wir haben verschiedene Beispiele dafür, daß wir

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uns auch beim persönlichen Gebet in großer äußerer Ehrfurcht haltenmüssen. Hört den hl. Paulus (Eph 3,14): Ich beuge mein Knie vor demVater unseres Herrn Jesus Christus, sagt er für uns alle. Und seht ihrnicht, daß unser Erlöser selbst sich zu Boden warf, als er zu seinemVater betete (Mt 26,39; Mk 14,35)?

Noch dieses Beispiel: Ihr wißt sicher, daß der große hl. Paulus derEinsiedler viele Jahrzehnte in der Wüste lebte. Als ihn der hl. Antoni-us aufsuchte, traf er ihn im Gebet. Er sprach mit ihm und entferntesich wieder. Als er ihn aber das nächste Mal besuchen kam, fand er ihnin derselben Haltung wie beim ersten Mal: das Haupt erhoben, dieAugen zum Himmel gerichtet, die Hände gefaltet, auf beiden Knienliegend. Nachdem der hl. Antonius schon lange gewartet hatte, beganner sich zu wundern, daß er ihn nicht seufzen hörte, wie er es gewöhn-lich getan hatte. Er blickte auf, und als er ihm ins Gesicht schaute,erkannte er, daß er tot war. Es sah so aus, als ob sein Leib, der imLeben so viel gebetet hatte, auch nach seinem Tod noch betete. Miteinem Wort, der ganze Mensch muß beten. David sagt, daß sein ganzesGesicht betete (Ps 27,8), daß seine Augen so aufmerksam auf Gottgerichtet waren, so daß sein Augenlicht ganz geschwächt war (Ps 69,4)und sein Mund geöffnet wie der Schnabel eines Vögelchens, wenn esmerkt, daß seine Mutter kommt, es zu atzen. In jedem Fall aber ist jeneHaltung die beste, die uns die größte Aufmerksamkeit ermöglicht. Jaselbst das Liegen ist gut und scheint selbst zu beten. Seht ihr nicht denheiligen Mann Ijob auf seinem Misthaufen liegend ein so vorzüglichesGebet verrichten, daß es von Gott gehört zu werden verdiente (Ijob42,9f)? Nun, das sei nur nebenbei gesagt.

Sprechen wir nun vom Geistesgebet; und wenn es euch recht ist, willich euch durch einen Vergleich mit dem Tempel Salomos zeigen, daßes in der Seele vier Schichten gibt. In diesem Tempel gab es erstenseinen Vorhof, der für die Heiden bestimmt war, damit sich niemandvon der Anbetung entschuldigen konnte. Deshalb war dieser Tempelder göttlichen Majestät wohlgefälliger, da es kein Volk gab, das ihmnicht an diesem Ort seine Huldigung erweisen konnte. Die zweiteAbteilung war für die Juden bestimmt, Männer und Frauen, wenn manauch später eine Trennung einführte, um Anstößiges zu verhindern,das entstehen konnte, wenn sie beisammen waren. Weiter aufsteigendgab es dann die Abteilung für die Priester und schließlich die höchsteAbteilung, bestimmt für die Kerubim und ihren Herrn. Hier stand dieBundeslade und hier offenbarte Gott seinen Willen; sie wurde dasAllerheiligste genannt.

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In unserer Seele gibt es die erste Schicht; das ist eine bestimmteErkenntnis, die wir durch die Sinne gewinnen. So erkennen wir durchunsere Augen, ob ein Gegenstand grün, rot oder gelb ist. Dann abergibt es eine Stufe oder Schicht, die schon etwas höher ist, nämlich eineErkenntnis, die wir durch die Überlegung gewinnen. Wenn z. B. einMensch an einem Ort mißhandelt wurde, wird er durch Überlegungherauszufinden versuchen, wie er vermeiden kann, an diesen Ort zu-rückzukehren. Die dritte Schicht ist die Erkenntnis, die wir durch denGlauben haben. Die vierte, das Allerheiligste, ist die feine Spitze unse-rer Seele, die wir Geist nennen. Da diese feine Spitze stets auf Gottgerichtet ist, dürfen wir uns nicht verwirren lassen.

Die Schiffe auf dem Meer haben alle einen Kompaß, dessen Nadel,vom Magnet angezogen, stets auf den Polarstern zeigt. Selbst wenn dasSchiff nach Süden fährt, zeigt die Kompaßnadel dennoch unablässignach dem Nordpol. So scheint es auch manchmal, als ob sich die Seeleganz nach der Sünde wende, so sehr ist sie von Zerstreuungen beunru-higt; die feine Spitze der Seele aber schaut unablässig auf Gott, der ihrPol ist. Selbst die fortgeschrittensten Menschen haben manchmal sogroße Versuchungen, selbst gegen den Glauben, daß es ihnen scheint,die ganze Seele stimme zu, so verwirrt ist sie. Sie haben nur noch diesefeine Spitze, die widersteht; und dieser Teil unserer Seele ist es, derdas Geistesgebet vollzieht, denn obwohl alle anderen Fähigkeiten undKräfte der Seele von Zerstreuungen erfaßt sind, betet der Geist inseiner feinen Spitze.

Nun, im Geistesgebet gibt es vier Teile; der erste ist die Betrachtung,der zweite die Beschauung, der dritte sind die Herzenserhebungen,der vierte die einfache Gegenwart Gottes. Der erste Teil geschiehtdurch die Betrachtung in der Weise: wir wählen ein Geheimnis, z. B.Unseren Herrn am Kreuz; wenn wir ihn uns vorgestellt haben, erwä-gen wir seine Tugenden: seine Liebe gegen seinen Vater, die ihn denTod erdulden läßt, den Tod am Kreuz (Phil 2,8), viel mehr um ihm zugefallen, als um ihm nicht zu mißfallen; seine große Sanftmut, Demutund Geduld, mit der er so große Schmähungen erduldete; schließlichseine große Liebe gegen jene, die ihn töteten, indem er inmitten dergrößten Schmerzen für sie betete (Lk 23,34). Wenn wir das alles erwo-gen haben, wird unser Gemüt bewegt zum glühenden Verlangen, ihnin seinen Tugenden nachzuahmen. Dann gehen wir dazu über, denewigen Vater zu bitten, daß er uns seinem Sohn gleichförmig mache(Röm 8,29).

Die Betrachtung geschieht so, wie es die Bienen machen, wenn sieden Honig sammeln. Sie sammeln den Honig, der vom Himmel auf

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die Blüten fällt, nehmen ein wenig vom Saft der Blüten selbst undtragen ihn in den Bienenkorb. So verkosten auch wir die TugendenUnseres Herrn eine nach der anderen, um dadurch zur Nachahmungangeregt zu werden. (Dann schauen wir sie alle zusammen mit einemBlick in der Beschauung.) Gott betrachtete bei der Schöpfung (vgl. Tr.6,5). Seht, wie er, nachdem er den Himmel geschaffen hat, sagt, daß ergut war. Ebenso tat er, nachdem er die Erde geschaffen, die Tiere undschließlich den Menschen. Er fand alles gut, indem er eines nach demanderen betrachtete; als er aber alles zusammen sah, was er geschaf-fen, sagt er, daß alles sehr gut war (Gen 1,10-25.31).

Nachdem die Braut im Hohelied (5,9-16) ihren Vielgeliebten ge-priesen hat wegen der Schönheit seiner Augen, seiner Lippen, kurznacheinander aller seiner Glieder, schließt sie folgendermaßen: Wieschön ist mein Vielgeliebter, wie liebe ich ihn; er ist mein Allerliebster!Das ist die Beschauung. Denn wenn wir Geheimnis um Geheimniserwägen, wie gut Gott ist, kommen wir dahin, wie es mit den Strickenunserer Schiffe geht: wenn man sehr kräftig rudert, erhitzen sich dieStricke derart, daß sie Feuer fangen, wenn man sie nicht anfeuchtet.Unsere Seele dagegen, die sich den zu lieben erwärmt, den sie als soliebenswert erkannt hat, schaut fortwährend auf ihn, weil sie sich im-mer mehr daran erfreut, ihn so schön und so gut zu sehen.

Der Bräutigam im Hohelied (5,1 nach Sept. und Vätern) sagt: Komm,meine Vielgeliebte, denn ich habe meine Myrrhe gesammelt, ich habemein Brot gegessen und meine Honigscheibe, ich habe meinen Wein mitmeiner Milch getrunken. Kommt, meine Vielgeliebten, eßt und berauschteuch, meine Teuersten. Diese Worte stellen uns die Geheimnisse vorAugen, die in den nächsten Wochen gefeiert werden. Ich habe meineMyrrhe gesammelt und mein Brot gegessen; das geschieht im Tod undin der Passion des Erlösers. Ich habe meine Honigscheibe gegessen;das geschieht, wenn er seine Seele wieder mit dem Leib vereinigt. ZumSchluß fügt der Bräutigam hinzu: meinen Wein mit meiner Milch. DerWein versinnbildet die Freude seiner Auferstehung, die Milch seinenfreundlichen Umgang. Er hat sie beide zugleich getrunken, denn erbleibt vierzig Tage nach seiner Auferstehung auf der Erde (Apg 1,3),sucht seine Jünger auf, läßt sie seine Wundmale berühren und ißt mitihnen. Wenn er aber sagt: Eßt, meine Vielgeliebten, will er damit sagen:betrachtet. Ihr wißt doch, damit man das Fleisch schlucken kann, mußman es zuerst kauen und zerkleinern und oftmals im Mund von einerSeite auf die andere schieben. So müssen wir es auch mit den Geheim-

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nissen Unseres Herrn machen: man muß sie zergliedern und mehr-mals in unserem Verstand hin- und herbewegen, bevor wir unserenWillen erwärmen und zur Beschauung kommen. Der Bräutigamschließt dann: Berauscht euch, meine Teuersten. Was will das heißen?Ihr wißt wohl, daß man den Wein nicht zu kauen gewohnt ist; manschluckt ihn nur. Das versinnbildet uns die Beschauung, bei der mannicht kaut, sondern nur schluckt. Du hast genug betrachtet, wie gut ichbin, scheint der göttliche Bräutigam zu seiner Vielgeliebten zu sagen:schau mich an, und du wirst dich daran ergötzen zu sehen, daß ich esbin.

Der hl. Franziskus verbrachte eine Nacht damit zu wiederholen: Dubist „mein Alles“. Er sprach diese Worte in der Beschauung, als wollteer sagen: Ich habe dich Stück für Stück betrachtet, mein Herr, undhabe gefunden, daß du überaus liebenswert bist; nun schaue ich dichan und sehe, daß du „mein Alles“ bist. Der hl. Bruno begnügte sich mitden Worten: „O Güte!“ Der hl. Augustinus: „O alte und neue Schön-heit!“ Du bist alt, weil du ewig bist, aber du bist neu, weil du eine neueWonne in mein Herz gebracht hast. Das waren einige Worte über dieBeschauung.

Kommen wir zum dritten Teil des Geistesgebetes, der in den Her-zenserhebungen besteht. Davon kann sich niemand entschuldigen, weilsie im Kommen und Gehen bei den Beschäftigungen geschehen kön-nen. Ihr sagt mir, daß ihr nicht die Zeit habt, um zwei oder drei Stun-den zu beten. Wer spricht denn davon? Empfehlt euch am MorgenGott, beteuert, daß ihr ihn nicht beleidigen wollt, dann geht an euerTagewerk mit dem Entschluß, gleichwohl häufig euren Geist zu Gottzu erheben, selbst in Gesellschaft. Wer kann euch daran hindern, aufdem Grund eures Herzen mit ihm zu sprechen? Es ist ja nicht nötig,daß ihr geistigerweise oder mündlich mit ihm sprecht. Sagt kurze aberfeurige Worte. Jenes, das der hl. Franziskus wiederholt sagte, ist aus-gezeichnet, denn es war ein Wort der Beschauung, weil es andauertewie ein Fluß, der beständig fließt. Es ist wahr, es wäre nicht gut, wennman zu Gott sagte: Du bist mein Alles, dabei aber etwas anderes woll-te als ihn, denn die Worte müssen mit der Gesinnung des Herzensübereinstimmen. Aber zu Gott sagen: Ich liebe dich, obwohl wir keinstarkes Gefühl der Liebe haben, das dürfen wir nicht unterlassen, weilwir es doch wollen und ein großes Verlangen haben, ihn zu lieben.

Ein gutes Mittel, uns in diesen Herzenserhebungen zu üben, bestehtdarin, das Vaterunser nacheinander herzunehmen, indem man für je-

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den Tag einen Satz wählt. Ihr habt z. B. heute genommen: Vater unser,der du im Himmel bist. Sagt also beim ersten Mal: Mein Vater im Him-mel; eine Viertelstunde später könnt ihr sagen: Wenn du mein Vaterbist, wann werde ich ganz deine Tochter sein? So könnt ihr von einerViertelstunde zur anderen euer Gebet fortsetzen. Die heiligen Väter,die in der Wüste lebten, in Wahrheit die Ordensleute der Frühzeit,waren so sorgsam bedacht, diese Gebete und Herzenserhebungen zumachen, daß der hl. Hieronymus davon berichtet: Wenn man sie be-suchte, hörte man den einen sagen: Mein Gott, du bist alles, was ichersehne; einen anderen: Wann werde ich ganz dein sein, mein Gott?Wieder einer wiederholte: Gott, eile mir zu helfen (Ps 70,1). Man ver-nahm schließlich eine überaus angenehme Harmonie ihrer verschie-denen Stimmen. Ihr werdet mir aber sagen: Wenn man diese Wortemündlich ausspricht, warum nennen Sie das ein Geistesgebet? Weil esauch geistigerweise verrichtet wird und weil es vor allem aus demHerzen kommt.

Der Bräutigam sagt im Hohelied (4,9 nach Sept.), daß seine Vielge-liebte ihm das Herz entzückte durch eines ihrer Augen und durch einesihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt. Diese Worte sind ein Köchervoll überaus lieblicher Anregungen. Hier ist eine recht liebenswerte:Wenn ein Mann und eine Frau in ihrem Hauswesen Aufgaben haben,die sie zwingen, sich zu trennen, und sie begegnen sich zufällig, dannschauen sie einander im Vorbeigehen kurz an, aber nur mit einemAuge, weil sie einander von der Seite begegnen und man es nicht gutmit zwei Augen tun kann. So will dieser Bräutigam sagen: Obwohlmeine Vielgeliebte sehr beschäftigt ist, unterläßt sie es doch nicht,mich mit einem Auge anzuschauen und mir durch diesen Blick zuversichern, daß sie ganz die Meine ist. Sie hat mein Herz entzückt durcheines ihrer Haare, das auf ihren Hals herabfällt, d. h. durch einen Ge-danken, der aus ihrem Herzen kommt.

Wir wollen jetzt nicht mehr vom vierten Teil des Geistesgebetessprechen. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir je in den Himmelkommen! Denn dort werden wir betrachten, indem wir alle WerkeGottes im einzelnen betrachten und erwägen; und wir werden finden,daß alle gut sind. Wir werden die Beschauung haben und alle zusam-men sehr gut finden. Und wir werden ewig unser Herz zu ihm erheben.Dort wünsche ich euch alle zu sehen. So sei es.

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Zum FZum FZum FZum FZum Fest des hl. Johannes vor der lateinischen Pforest des hl. Johannes vor der lateinischen Pforest des hl. Johannes vor der lateinischen Pforest des hl. Johannes vor der lateinischen Pforest des hl. Johannes vor der lateinischen Pfortetetetete

Nr. 11: 6. Mai 1616 oder 1617 IX,73-83

Die heilige Kirche feiert heute eines der beiden Feste des glorrei-chen heiligen Evangelisten Johannes. Ich weise darauf hin, daß dasEvangelium (Mt 20,20-23), statt seine Vollkommenheiten und Vorzü-ge aufzuzählen, von seinen Unvollkommenheiten und Sünden berich-tet, vor allem von einem Fehler, den man für einen seiner schwerstenhält, nämlich von seiner Anmaßung und seinem Ehrgeiz. Statt ihn zuloben und zu preisen, scheint es ihn zu schelten und zu tadeln. Ichbewundere jene, die das geschrieben haben. Wenn die Weltleute je-mand loben wollen, den sie lieben, zählen sie stets seine Tugenden,Vollkommenheiten und Vorzüge auf, alle Titel und Eigenschaften, diesie für ehrenvoll halten. Sie verbergen, bedecken und bemänteln seineSünden und Unvollkommenheiten, lassen alles vergessen, was ihn ver-ächtlich und gemein machen könnte. Aber unsere Mutter Kirche, dieBraut Christi, tut das Gegenteil. Denn obwohl sie ihre Kinder einzig-artig liebt, berichtet sie doch, wenn sie eines loben und hervorhebenwill, getreulich seine Sünden, die es vor seiner Bekehrung begangenhat, um die Majestät dessen zu verherrlichen, der es zu seiner größerenEhre und Verherrlichung bekehrt hat, um seine grenzenlose Barmher-zigkeit erstrahlen zu lassen, mit der er es aus seinen Armseligkeitenund Sünden erhoben und es mit so vielen Gnaden und mit seiner Liebeüberhäuft hat.

Diese gute Mutter will gewiß nicht, daß wir erstaunt und in Sorgesind über das, was wir waren, über die großen Sünden, die wir früherbegangen haben, noch über unsere gegenwärtige Armseligkeit. O nein,wenn wir nur jetzt den festen und unverbrüchlichen Entschluß haben,ganz Gott zu gehören und mit Vorbedacht die Vollkommenheit undalle Mittel zu ergreifen, die uns in der heiligen Liebe zunehmen las-sen. Sie wird diesen Entschluß wirksam machen und Taten hervor-bringen. Nein, so groß unsere Armseligkeiten und Gebrechen auchsein und gewesen sein mögen, sie dürfen uns gewiß nicht entmutigen;aber ihre Wirkung muß sein, daß wir uns demütigen und in die Armeder göttlichen Barmherzigkeit werfen. Sie wird um so mehr in unsverherrlicht, je größer unser Elend ist, wenn wir uns daraus erheben;dies mit Hilfe seiner heiligen Gnade zu erreichen, darauf müssen wiralle hoffen.

Der große hl. Chrysostomus lobt den hl. Paulus, so treffend er esvermag, und spricht von ihm mit soviel Verehrung und Hochachtung.

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Es ist bewundernswert, wie er seine Tugenden, Vollkommenheiten undVorzüge aufzählt, die Auszeichnungen und Gnaden, mit denen Gottihn geschmückt und bevorzugt hat. Um aber zu zeigen, daß diese Ga-ben nicht von ihm stammten, sondern von der grenzenlosen Güte dergöttlichen Majestät, die ihn zu dem gemacht hat, was er war, deshalbspricht der gleiche Heilige anschließend auch von den Fehlern des hl.Paulus und beschreibt ausführlich seine Sünden und Unvollkommen-heiten; er sagt: Schaut euch den kleinen, mißgestalteten Buckligen an(denn er war klein von Statur und sah nicht viel gleich), wie Gott ihnzu einem Gefäß der Auserwählung (Apg 9,15) gemacht hat. Seht die-sen großen Sünder und Christenverfolger, wie er ihn aus einem Wolfin ein Lamm verwandelt hat. Seht diesen mißmutigen, eigensinnigen,hochmütigen und anmaßenden Menschen, wie Gott ihn überhäufteund erfüllte mit so vielen Gnaden und Segnungen, wie er ihn so demü-tig und liebenswürdig machte, daß er selbst von sich sagte, er sei dergeringste und kleinste unter den Aposteln (1 Kor 15,9), der größteSünder (1 Tim 1,15), und daß er allen alles geworden ist, um alle zugewinnen (1 Kor 9,22). Dieser große Heilige sagt auch noch (2 Kor11,29; Röm 12,15): Wer ist krank, mit dem ich nicht leide? Wer isttraurig, mit dem ich nicht traurig bin? Wer ist fröhlich, mit dem ichmich nicht freute? Wer nimmt Anstoß, mit dem ich nicht entbrenne?Gewiß, die in alter Zeit die Lebensgeschichte der Heiligen beschrie-ben, haben deren Fehler und Sünden gewissenhaft ausgeforscht, be-richtet und erklärt, um Unseren Herrn zu lobpreisen, der in ihnenverherrlicht wurde, da er sie aus ihrem Elend zog, sie bekehrte und sogroße Heilige aus ihnen machte.

Kommen wir nun wieder zu unserem glorreichen und ganz liebens-würdigen hl. Johannes zurück. Er hatte gewiß sehr wenige Fehler undUnvollkommenheiten, denn er war ganz rein und keusch. Er war auchnoch jung, als er mit seinem Bruder, dem hl. Jakobus, von dieser dum-men Regung des Ehrgeizes erfaßt wurde, daß sie einen Platz, einer zurRechten und der andere zur Linken Unseres Herrn haben wollten. Esist anzunehmen, daß die beiden übereingekommen waren, wie sie esanstellen wollten, um zu dieser Würde zu gelangen. Sie wollten nichtdarum bitten. O nein, Ehrgeizige hüten sich ja, selbst um eine Ehre zubitten, aus Furcht, daß sie für ehrgeizig gehalten werden. Die beidenfinden also einen Ausweg miteinander und sagen: Unsere Mutter isteine gute Frau, die uns sehr gern hat; sie wird das wohl für uns tun; undunser Meister liebt uns auch; er wird uns ohne Zweifel diese Gunstgewähren. Es ist wahr, daß er sie sehr liebte, besonders den hl. Johan-nes, seinen Lieblingsschüler; er war der liebenswürdigste Mensch, den

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man sich vorstellen kann. Sie bitten also ihre Mutter, diesen Wunschvorzubringen. Sie, die sehr auf das Glück ihrer Kinder bedacht war,suchte also Unseren Herrn in dieser Absicht auf, wie einer der Evan-gelisten (Mt 20,20) sagt. Listig wie ein kleiner Fuchs trat sie mit vielenVerneigungen und demütigen Gebärden an ihn heran, kniete vor ihmnieder, um seine Gunst zu gewinnen, damit er ihr gewähre, was sie vonihm wünschte.

Als der göttliche Heiland sie sah, sagte er zu ihr: Was willst du? Sieantwortete: Ich habe eine kleine Bitte an dich, Herr. Seht die guteFrau, die tausend Windungen macht und nicht einfach vorgeht. Nun,das hat die Eigenliebe bewirkt. Sie hütete sich, ihm zu sagen: Das willich, gewähre mir diese Gunst. O nein, denn die Eigenliebe ist dafür zuschlau und zu berechnend; sie läßt uns in heuchlerischer und unechterDemut Vorreden und wohlgesetzte Lobsprüche machen, damit manuns für recht bieder und klug halte. Sie ist ein gefährliches Tier, dasuns großen Schaden zufügt, indem sie uns daran hindert, in allem ein-fach und gerade vorzugehen, und uns bei allen Dingen unseren eige-nen Vorteil und unsere Befriedigung suchen läßt. Es gibt wenige, selbstunter geistlich Gesinnten, die einfach auf Gott schauen, ohne ihreeigene Befriedigung zu suchen, die nur ihn und nicht sich selbst zu-friedenstellen wollen.

Er sagt also zu ihr: Was willst du? Der Heiland liebte ja nicht so vieleWorte, er, der die Einfachheit einzigartig liebte. Sie antwortete: Herr,ich bitte, daß meine Kinder in deinem Reich einer zu deiner Rechtenund der andere zu deiner Linken sitzen. Und ihre Söhne, die bei ihrstanden, fügten hinzu: Herr, wir möchten, daß du uns alles gewährst,um was wir dich bitten (Mk 10,35). Seht, wie groß unsere Armseligkeitist! Wir wollen, daß Gott unseren Willen erfüllt, und wir wollen nichtseinen Willen erfüllen, wenn er nicht mit dem unseren übereinstimmt.Wenn wir uns genau prüfen, werden die meisten von uns finden, daßunsere Bitten sehr ungeläutert und unvollkommen sind. Wenn wirbeten, möchten wir, daß Gott zu uns spricht, daß er uns besuchen,trösten und aufrichten kommt; wir sagen zu ihm, daß er dies tun, daßer uns das geben soll. Und wenn er es nicht tut, obwohl das zu unseremBesten ist, sind wir darüber beunruhigt, verwirrt und bekümmert.

Unsere Seele hat zwei Kinder; eines davon ist das eigene Urteil, dasandere der Eigenwille. Beide wollen ihren Platz, das Urteil zur Rech-ten, der Wille zur Linken. Ja, denn unser Urteil will über allem ande-

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ren stehen und sich nicht unterwerfen, ebensowenig unser Eigenwille.Es gibt viele, die gehorchen, aber äußerst wenige, die ihr Urteil unter-werfen und auf ihren Willen völlig verzichten. Es gibt viele, die sichdemütigen, die sich abtöten, die ein Bußgewand tragen, die Bußwerkeund Strengheiten üben, die beten und Betrachtung halten; ganz seltenaber sind jene, die ihr eigenes Urteil und ihren Eigenwillen vollkom-men unterwerfen.

Nichts schadet uns im geistlichen Leben so sehr und nichts hindertuns so, auf dem Weg Gottes voranzukommen. Denn wenn sein heiligerWille in uns herrschte, würden wir nie die geringste Sünde begehen;wir wären nicht darauf bedacht, nach unseren Neigungen und Launenzu leben; gewiß nicht, denn sein Wille ist die Richtschnur alles Guten.Schließlich ist es dieser Eigenwille, der in der Hölle brennen wird,sagt der hl. Bernhard. Wenn er im Himmel ist, wirft man ihn hinaus;denn die Engel wurden gestürzt, weil sie ihren eigenen Willen hattenund Gott gleich sein wollten; deshalb stürzten sie in die Hölle. Wennder Eigenwille in der Welt ist, zerstört und verdirbt er alles. Wenn wirin uns etwas finden, was nicht mit dem Willen unseres teuren Erlösersübereinstimmt, müssen wir uns vor ihm niederwerfen und ihm sagen,daß wir es verabscheuen und verwerfen, das und alles, was ihm in unsmißfallen und seiner Liebe widersprechen könnte, und müssen ihmversprechen, nur das zu wollen, was seinem Wohlgefallen und seinemgöttlichen Willen entspricht.

Unser Herr antwortet demnach der Frau und ihren Söhnen: Ihr wißtnicht, um was ihr bittet. Sie verstanden wirklich nicht, um was siebaten; denn im Himmel gibt es keine linke Seite; denn auf der linkenSeite sind die Verdammten, die der Gegenwart Gottes beraubt sind.Im Himmel gibt es nur die rechte Seite, wo die Seligen sind, die sichder göttlichen Wesenheit erfreuen und sie genießen werden, die siemit aller Befriedigung und Glückseligkeit erfüllen wird. Wir wissennicht, um was wir bitten, wenn wir zu Unserem Herrn sagen, daß erunseren Willen erfüllen und uns geben soll, was wir wünschen. Gewißnicht, denn ihr wißt doch, meine Lieben, daß all unser Gut und Glückdavon abhängt, der göttlichen Vorsehung ganz ergeben zu sein, nichtszu suchen als sein Wohlgefallen, seinem heiligen Willen uns vollkom-men zu unterwerfen, uns daran zu erfreuen, daß wir diesen sich in unsund in allen Geschöpfen erfüllen sehen, wenn auch unter Anfechtun-gen und Leiden. Wir fühlen manchmal den Wunsch und die Neigung,Tugenden zu üben, die unserem Willen entsprechen. Da ist z. B. eine

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Kranke, der wir sagen: Mein Kind, du weißt doch gut, daß deineSchmerzen und Leiden der göttlichen Majestät einzigartig wohlgefäl-lig sind, wenn sie in Geduld und Unterwerfung unter seinen Willenangenommen werden. Ja, wird sie antworten, aber ich möchte lieberim Chor sein, um wie die anderen zu Gott zu beten; ich möchte wie siemit Eifer und Gefühl Bußübungen, Abtötungen und Tugendakte ver-richten. Seht ihr, sie möchte Gott dienen im Tätigsein; Gott aber will,daß sie ihm diene durch Leiden und Ertragen aus Liebe zu ihm.

Der göttliche Heiland sagt zu seinen Aposteln über diesen Ehrgeizder beiden Heiligen: Glaubt nicht, daß ihr größere Herrlichkeit undmehr Liebe hättet, wenn ihr einen Vorrang an Würde in meinem Reichinnehabt (Mt 20,25f). Ihr alle, die ich erwählt und berufen (Joh 15,6)habe, um mit mir am Tag des Gerichtes auf Thronen zu sitzen und zurichten (Mt 19,28), ihr werdet dadurch nicht mehr erhöht sein unddeshalb keine größere Herrlichkeit besitzen. O nein, denn meineMutter, die nicht zu dieser Würde erkoren wurde, wird trotzdem un-endlich mehr Herrlichkeit und Liebe im Himmel besitzen als ihr alle.

Es gibt eine affektive und eine Tatliebe, so wie es auch zwei Artengibt, das Martyrium zu erleiden: die eine affektiv, die andere tatsäch-lich. Der hl. Johannes wurde Märtyrer auf die erste Art, denn Gott ließnicht zu, daß er tatsächlich Märtyrer wurde, sondern nur dem Willenund dem Verlangen nach. Denn das siedende Öl, das man für ihn be-reitet hatte, in das man ihn warf, fügte ihm kein Leid zu, sondern warfür ihn mild und lieblich, als wäre es das wohltuendste Bad gewesen.Der hl. Jakobus wurde tatsächlich Märtyrer, denn Gott gewährte ihmdie Gnade, aus Liebe zu ihm zu sterben; gleichwohl blieb auch dem hl.Johannes der Lohn und die Krone des Martyriums nicht vorenthalten.

Unser göttlicher Meister sagte also zu den beiden Heiligen: Könntihr den Kelch mit mir trinken, der für mich bereitet ist (Mt 20,22)?Denn ich bin vom Himmel herabgestiegen, um den Willen meines Va-ters zu erfüllen, der mich gesandt hat, um sein Werk zu vollenden (Joh6,38; 4,34). Sie antworteten: Wir können es. Und er fügte hinzu: Wißtihr, was das heißt, meinen Kelch trinken? Glaubt nicht, das bedeute,Ehrenstellungen zu haben, Gunsterweise und Tröstungen; gewiß nicht.Meinen Kelch trinken heißt, an meiner Passion teilhaben, Leiden undSchmerzen erdulden, Nägel und Dornen, Galle und Essig trinken.

Wie groß sind diese Gunsterweise! Wie müssen wir es als großesGlück schätzen, mit unserem Erlöser das Kreuz zu tragen und gekreu-zigt zu werden! Die Märtyrer haben den Kelch in einem Zug ausge-

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trunken, die einen in einer Stunde, die anderen in zwei oder drei Ta-gen, andere in einem Monat. Wir können Märtyrer werden und denKelch trinken, nicht in zwei oder drei Tagen, sondern unser ganzesLeben, wenn wir uns ständig abtöten, wie es die Ordensmänner undOrdensfrauen tun und tun müssen, die Gott in einen Orden berufenhat, damit sie mit ihm das Kreuz tragen und gekreuzigt sind. Ist esnicht ein großes Martyrium, nie seinen eigenen Willen zu tun, seinUrteil zu unterwerfen, sein Herz zur entblößen, es leer zu machen vonall seinen unlauteren Regungen und von allem, was nicht Gott ist;nicht nach seinen Neigungen und Launen zu leben, sondern nach demgöttlichen Willen und nach der Vernunft? Das ist ein Martyrium, dassehr lange dauert, das langweilig ist und unser ganzes Leben währenmuß; aber am Ende werden wir als Lohn eine herrliche Krone erhal-ten, wenn wir darin treu sind.

Wenn eine große Fürstin oder ein hoher Herr eines unversehenenTodes stirbt, öffnet man ihren Leichnam, um zu sehen, an welcherKrankheit sie gestorben sind. Hat man die Todesursache gefunden, istman zufrieden und unternimmt weiter nichts. Als Unser Herr am Kreuzhing, sagte er, ehe er seinen Geist aufgab, mit lauter Stimme, fest undschallend die Worte: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist(Lk 23,46), und er gab seinen Geist auf (Mt 27,50; Joh 19,30), uzw.unmittelbar nach diesem Ausruf. Man konnte es nicht glauben, daß ergestorben ist, da er eben noch mit so kräftiger Stimme gerufen hat, sodaß es nicht den Eindruck machte, als müßte er bald sterben. Deshalbkam der Hauptmann der Soldaten, um zu erfahren, ob er wirklichgestorben sei. Als er sah, daß er tot war, befahl er, ihm einen Lanzen-stich in die Seite zu geben. Das geschah, und man stieß ihn genau insHerz (Joh 19,33 f). Als seine Seite geöffnet war, sah man, daß er wirk-lich tot war, gestorben an der Krankheit seines Herzens, d. h. an derLiebe seines Herzens.

Unser Herr wollte aus mehreren Gründen, daß seine Seite geöffnetwurde. Der erste Grund war, daß man die Gesinnungen seines Her-zens sehe; das sind die Gedanken der Liebe und herzlicher Zuneigung(Jer 29,11) für uns, seine vielgeliebten Kinder und Geschöpfe, die ernach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (Gen 1,26; 5,1). Da-durch sollten wir sehen, wie sehr er danach verlangt, uns seine Gnadenund Segnungen zu schenken, ja sogar sein Herz, wie er es der hl. Ka-tharina von Siena gewährt hat. Ich bewundere diese unvergleichlicheGnade, durch die er das Herz mit ihr tauschte. Vorher hatte sie gebe-tet: „Herr, ich empfehle dir mein Herz“; von da an aber sagte sie:„Herr, ich empfehle dir dein Herz“, da das Herz Gottes ihr Herz war.

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Gewiß, die frommen Seelen dürfen kein anderes Herz haben als dasHerz Gottes, keinen anderen Willen als den seinen, keine andere Lie-be als die seine, keine anderen Wünsche als die seinen; mit einemWort, sie müssen ihm gehören.

Der zweite Grund war, damit wir mit allem Vertrauen zu ihm kom-men, um uns in seine Seite zurückzuziehen und darin zu bergen; um inihr auszuruhen, wenn wir sehen, daß er sie geöffnet hat, um uns darinaufzunehmen mit unvergleichlicher Güte und Liebe, wenn wir unsihm schenken und uns vollkommen und ohne Rückhalt seiner Güteund Vorsehung überlassen.

Ihr möchtet mich vielleicht fragen, warum unsere Herzen vor denanderen so versteckt sind, daß man sie nicht sieht. Aus zwei Gründenist es ratsam, daß dem so ist: erstens weil man Abscheu davor hätte, inden Herzen von Bösewichten und großen Sündern so häßliche undabscheuliche Dinge, so viel Elend zu entdecken. Die hl. Katharinahatte von Gott die Gabe erhalten, die Gewissen zu durchschauen unddie geheimsten Sünden zu erkennen; sie hatte davor so großen Ab-scheu, daß sie sich abwenden mußte, um sie nicht sehen zu müssen. Inunserer Zeit hat der selige Philipp Neri von der göttlichen Güte diegleiche Gnade erhalten. Oft hielt er sich die Nase zu, um den furchtba-ren Gestank nicht wahrzunehmen, der von einem Sünder ausging. Derzweite Grund ist, daß es nicht ratsam ist, das Herz der Guten zu sehen,aus Furcht, daß sie der Eitelkeit verfallen oder daß es in den anderenNeid erwecke. Nun, bei Unserem Herrn gab es nichts zu befürchten,wenn man sein Herz sah, denn in ihm gab es nichts, was Abscheuwecken könnte, weil es so rein, so heilig und die Reinheit selbst war.Er konnte auch nicht eitel werden, da er der Urheber der Herrlichkeitist.

Ich staune über den Eifer, mit dem die beiden Heiligen UnseremHerrn antworteten, als er davon sprach, seinen Kelch zu trinken: Wirkönnen es, sagten sie. Seht ihr, wenn wir im Eifer sind, gute Empfin-dungen und Tröstungen haben, scheint es uns, daß wir Wunder voll-bringen können; aber beim geringsten Anlaß straucheln wir und las-sen die Nase hängen. Wenn man uns an der Fingerspitze oder Fußspit-ze anrührt, ziehen wir uns sofort zurück; wenn man uns ein Wörtchensagt, das nicht nach unserem Geschmack ist, sind wir gekränkt. Wirmachen es wie die Soldaten von Efraim, die in ihrer Phantasie großeKriegstaten vollbrachten und so tapfer waren, daß sie alle ihre Feindezu töten gedachten; als es aber zur Tat und zum Angriff kam, wurden

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sie blaß und mutlos und ergriffen die Flucht. Wir sind genau so, dennwir machen im Geist große Pläne und fassen schöne Entschlüsse, in-dem wir uns vorstellen, daß wir dies und jenes für Gott tun werden;wenn aber die Gelegenheit dazu kommt, dann wenden wir ihr denRücken, dann fehlen uns der Mut und die Treue.

Der hl. Petrus sagte mit großer Bestimmtheit zu Unserem Herrn:Ich werde dich nicht verlassen, sondern will mit dir sterben (Lk 22,33;Joh 13,37); aber auf das bloße Wort einer Magd hin verleugnete er ihndreimal (Mt 26,69-75). Gewiß, wenn uns solch glühende Wünschekommen, große Dinge für Gott zu tun, dann müssen wir uns mehrdenn je vertiefen in Demut und Mißtrauen gegen uns selbst und in dasVertrauen auf Gott, uns in seine Arme werfen und anerkennen, daßwir keine Kraft haben, um unsere Entschlüsse und guten Absichten zuverwirklichen, noch irgendetwas zu tun, was ihm wohlgefällig wäre.Aber in ihm und mit seiner Gnade wird uns alles möglich sein (Phil4,13). Töricht wäre, wer ein großes Bauwerk errichten wollte und nichtvorher überlegte, ob er Geld genug hat, um dafür zu bezahlen (Lk14,28-30). Wir wollen den Himmel erwerben, wollen den großen Bauder Vollkommenheit errichten; wir sind Toren, wenn wir nicht überle-gen, ob wir etwas haben, um dafür zu bezahlen, und was wir dafürgeben müssen. Fehlt diese Überlegung, dann werden wir auf dem Wegsteckenbleiben.

Die Münze, mit der wir diese Vollkommenheit erkaufen müssen, istunser Eigenwille; ihn müssen wir verkaufen und uns seiner entäußern,indem wir vollkommen auf ihn verzichten. Wir müssen uns selbst ver-leugnen und das Kreuz aufnehmen (Mt 16,24; Lk 9,23); wir müssenunser eigenes Urteil unterwerfen; wir müssen unsere schlechten Nei-gungen und Launen ablegen. Schließlich werden wir die Vollkommen-heit nie auf einem anderen Weg erreichen. Wir müssen alles verkau-fen, um diese kostbare Perle (Mt 13,46) der heiligen Liebe zu erwer-ben, die Gott für uns bereithält, wenn wir uns treu bemühen, sie zuerlangen. Glücklich sind also die Seelen, die diesen Kelch mit Unse-rem Herrn trinken, die sich abtöten, das Kreuz tragen und liebend ausLiebe zu ihm leiden, die alle Ereignisse in gleicher Weise annehmen.Aber, mein Gott, wie wenige finden sich dafür! Indessen sage ich dasnicht, ohne einige Ausnahmen zu machen.

Ihr werdet mir trotzdem sagen, daß es viele gibt, die sich danachsehnen, zu leiden und das Kreuz zu tragen. Das ist wahr. Ich weiß, daßes viele gibt, die sich danach sehnen und Gott um Leiden und Trübsal

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bitten, die ihn bitten, sie leiden zu lassen. Unter dieser Voraussetzunggeschieht es oft, daß er sie heimsucht und in ihren Leiden tröstet, ih-nen versichert, daß er sie mit Wohlgefallen leiden sieht und sie dafürreich belohnen wird mit unsterblicher Herrlichkeit. Es gibt auch man-che, die den Grad der Glorie kennen wollen, den sie im Himmel ha-ben werden. Das ist gewiß sehr vorwitzig, denn danach dürfen wir kei-neswegs fragen. Wir müssen der göttlichen Majestät dienen, so gut wires vermögen, indem wir getreu seine Gebote und Räte befolgen undseinen Willen erfüllen mit der größtmöglichen Vollkommenheit, Lau-terkeit und Liebe; wir dürfen aber nicht nach dem Lohn fragen, son-dern das seiner Güte überlassen. Er wird nicht versäumen, uns mitunendlicher und unfaßbarer Glorie zu belohnen, indem er sich selbstuns als Lohn schenkt (Gen 15,1); so hoch schätzt er und nimmt erwohlgefällig an, was wir für ihn tun. Mit einem Wort, er ist unser guterHerr, wir brauchen nur seine ganz treuen Diener und Dienerinnen zusein, und er wird uns gewiß ein treuer Vergelter sein (Mt 25,21.23).

Es ist ein unvergleichliches Glück, dem göttlichen Heiland unsererSeelen zu dienen und den Kelch mit ihm zu trinken. Seht ihr die großehl. Katharina von Siena, die die Dornenkrone der goldenen vorzog?Wir müssen es ebenso machen; denn schließlich ist der Weg des Kreu-zes, der Leiden und Trübsale ein sicherer Weg, der uns zu Gott führtund zur Vollendung seiner Liebe, wenn wir nur treu sind. Zum Schluß:wir müssen den Kelch Unseres Herrn mutig trinken und mit ihm ge-kreuzigt sein in diesem Leben. Wenn wir seinem Beispiel und seinenSpuren folgen, wird seine Güte uns die Gnade erweisen, daß wir mitihm verherrlicht werden im anderen Leben. Dahin möge uns führender Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Zur Einkleidung am Fest des hl. ClaudiusZur Einkleidung am Fest des hl. ClaudiusZur Einkleidung am Fest des hl. ClaudiusZur Einkleidung am Fest des hl. ClaudiusZur Einkleidung am Fest des hl. Claudius

Nr. 12: 6. Juni 1617 IX,84-89

Die Aufnahme von Seelen, die sich Gott weihen, um ihm im Ordens-leben zu dienen, hat man immer sehr feierlich gemacht. Ich stelleallerdings fest, daß man darin bei der Aufnahme von Mädchen mehrgetan hat als bei den Männern. Ich persönlich glaube, daß dies deswe-gen geschieht, weil man beim zarten Geschlecht um so mehr die Stär-ke bewundern und feiern muß, mit der sie sich von allen irdischen

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Dingen lossagen. Ihre Hochherzigkeit beschämt gewiß viele, die sichfür sehr tapfer und mutig halten.

Sie schätzen das Glück sehr hoch, sagen sie, ganz Gott zu gehören.Wenn es stimmt, daß ihr es so hoch einschätzt, warum zieht ihr euchnicht ins Kloster zurück, um Unserem Herrn noch ausschließlicheranzugehören und ihm noch vollkommener zu dienen, da ihr keinentriftigen Grund habt, in der Welt zu bleiben? O Gott, ich kann michvon dem und jenem nicht trennen, das ich sehr liebe; ich möchte wohl,aber ich kann nicht. Gebt also zu, daß euch die Kraft und der Mut fehltund daß ihr euch übertreffen laßt von Seelen, die ihr für schwächerund gebrechlicher haltet als euch. Damit aber die einen wie die ande-ren Gelegenheit haben, sich zu demütigen, müssen wir bekennen, daßunsere Stärke und unser Mut nicht von uns stammen; der große Apo-stel Paulus sagt ja, daß unsere ganze Fähigkeit vom Himmel kommt (2Kor 3,5). Wir müssen deshalb dem Heiligen Geist die Ehre geben,denn er gefällt sich darin, das Schwächste und Niedrigste zu erwählen,um seine Größe und seine unvergleichliche Güte zu offenbaren (1Kor 1,27f).

Überaus bewundernswert ist die Vielfalt der Lockungen des Heili-gen Geistes. Die Braut im Hohelied (1,2f) sagt zu ihrem göttlichenBräutigam: Dein Name, mein Vielgeliebter, ist wie Öl und wie ausge-gossener Balsam; er verbreitet einen so guten Duft über die ganze Erde,daß sich die Mädchen nach dir sehnen. Wie groß ist das Glück derjungen Mädchen, die aus Sehnsucht nach Unserem Herrn kommen,um sich alle seiner Liebe zu weihen! Unter den Jungen verstehe ichnicht jene, die es an Jahren sind, obwohl ihr Glück sehr groß ist, daßsie die ersten und besten Jahre dem Dienst der göttlichen Majestätwidmen können; damit meine ich vielmehr diejenigen, die noch zartund jung sind an Frömmigkeit. Was aber meint ihr, sind jene Düfte, diesie anlocken? Wieviel Ursache hat die göttliche Liebende und wievielhaben auch wir, erstaunt zu sein, denn diese Düfte sind nichts anderesals das Kreuz, die Dornen, die Nägel und die Lanze. O Gott, welchesWunder, daß Unser Herr den Seelen Sehnsucht nach ihm schenkt undsie zu seiner Nachfolge anzieht durch alles, was dem menschlichenEmpfinden so hart und abstoßend ist!

Seht, bei uns ist es nicht üblich, die Mädchen zu täuschen, die sichvorstellen, um ins Kloster aufgenommen zu werden. Denn wir sagenihnen, daß sie bei ihrem Eintritt sterben und daß sie nicht mehr für alldas leben dürfen, wofür sie in der Welt gelebt haben. In der Welt habtihr für euren eigenen Willen gelebt; den muß man jetzt sterben lassen.

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Ihr habt nach euren Sinnen gelebt; sie müssen nun gestorben sein. Ihrhabt in der Hoffnung gelebt, die Güter zu besitzen, die die alten Philo-sophen das Glück nennen wollten, nämlich Reichtum, Ehren, Größe,Würden; dem muß man absterben. Ihr werdet nichts Eigenes mehrbesitzen, man wird nicht länger euer Lob singen, man wird keine No-tiz mehr von euch nehmen, als wäret ihr nicht mehr auf der Welt. Miteinem Wort, ihr müßt dem eigenen Willen, den Sinnen und der Eitel-keit absterben.

Dem Willen sterben. Wie notwendig ist dieser Punkt! Man kanndiese Notwendigkeit nicht hoch genug ansetzen. Der große hl. Basiliusdachte darüber eines Tages nach und fragte sich: Sollte es nicht mög-lich sein, Gott vollkommen zu dienen, indem man große und harteBußwerke und Strengheiten übt, ja Großes für Unseren Herrn tut, unddoch seinen eigenen Willen zu behalten? Sogleich schien es ihm, daßUnser Herr und hochheiliger Meister ihm antwortete: Ich habe michaus meiner eigenen Herrlichkeit begeben, ich bin vom Himmel herab-gestiegen, ich habe alle menschlichen Armseligkeiten auf mich ge-nommen und bin schließlich gestorben, ja am Kreuz gestorben (Phil2,7f). Und warum das alles? Vielleicht um zu leiden und dadurch dieMenschen zu erlösen? Oder habe ich das zufällig aus freier Wahl ge-tan? O nein, erlaube, der einzige Grund, warum ich alles getan habe,was ich tat, war der, mich dem Willen meines Vaters zu unterwerfen,der das wollte. Und um zu zeigen, daß es nicht nach meiner Wahlgeschah, sollst du wissen: wäre es der Wille meines Vaters gewesen,daß ich eines anderen Todes sterbe als am Kreuz oder daß ich in Freu-den lebte, dann hätte ich mich dazu ebenso willig bereitgefunden, dennich bin nicht in die Welt gekommen, um meinen Willen zu tun, sondernden meines Vaters, der mich gesandt hat (Joh 5,30; 6,38; Ps 40,9; Röm15,3). O Gott, der Wille unseres teuren Erlösers konnte stets nur ganzvollkommen sein und folglich nichts wählen, was seinem Vater nichthöchst wohlgefällig gewesen wäre; wenn er nicht nach seinem eigenenWillen leben wollte, wie könnten wir dann so kühn sein, den unserenleben zu lassen, dessen Wahl gewöhnlich alle unsere Werke verdirbt?

Es wäre sogar wertvoller, gegen unseren Willen zu Ehrenstellen er-hoben zu werden (und es gehörte unvergleichlich mehr Mut dazu, sieanzunehmen), als sie nach eigener Wahl und Entscheidung zurückzu-weisen, wenn wir erkennen, daß wir ihrer nicht würdig sind. Dafürsehen wir ein Beispiel am großen hl. Claudius, dessen Fest wir heutefeiern. Nachdem er als Domherr von Besançon dem geistlichen Stand

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seltene Beispiele der Tugend gegeben hatte, wurde er einmütig zumErzbischof dieser Stadt gewählt. Obwohl seine Demut bewirkte, daßer sich dessen unwürdig erachtete, nahm er das Amt dennoch an, weiles der Obere befahl, der Papst es anordnete und weil ihn die einmütigeWahl des Volkes erkennen ließ, daß es der Wille Gottes war. Es istStolz, Ämter und Ehrenstellen zu suchen, es wäre andererseits Ver-messenheit, sie zurückzuweisen, wenn sie uns von denen angebotenwerden, die Macht über uns haben.

Schließlich gibt es keine echte Tugend ohne das Absterben des Eigen-willens, und der hl. Bernhard sagt, daß in der Hölle nur der Eigenwillebrennt.

Aber das ist nicht alles; denn wir sagen diesen Mädchen, die in dasKloster eintreten wollen, daß sie allen Sinnen absterben müssen. Dasheißt, man darf keine Augen mehr haben, um zu sehen, keine Ohren,um zu hören, usw. Man muß ihnen also ihre Funktion entziehen. Ihrseid gewohnt, den Blick erhoben zu halten und die Augen stets offen,um alles anzuschauen; von nun an müßt ihr den Blick senken und dieAugen nur öffnen, wenn es notwendig ist, nicht aus Neugierde. DasKleid, das wir ihnen geben, macht das hinreichend deutlich, vor allemaber der Schleier, den wir ihnen aufs Haupt setzen; er zeigt, daß siesich ihrer Sinne und ihrer Fähigkeiten für nichts Irdisches mehr be-dienen dürfen; vielmehr darf in ihnen wie in toten Mädchen, nichtsmehr von all dem lebendig sein, was bis zu dieser Stunde in ihnengelebt hat. Mit einem Wort, wir wiederholen: Ihr müßt eurem bürger-lichen Leben absterben, denn wie wir schon gesagt haben, werdet ihrkein Ansehen mehr genießen, man wird von euch nur mehr wie vonToten sprechen. Man wird euch auch mit einem schwarzen Sack be-kleiden, der euch daran erinnern soll.

Wozu aber derart allem absterben, insbesondere sich selbst? Gewißnur zu dem Zweck, daß Jesus Christus in euch lebe. Welcher Christus?Der Verherrlichte? O nein, noch nicht. Das wird im Himmel sein, daßder Verherrlichte in uns lebt; für jetzt aber muß es der Gekreuzigtesein, denn wir sind in der Zeit der Drangsal, nicht der Freude. Hört,was der hl. Paulus von sich selbst sagt: Ich lebe, doch nicht mehr ichlebe, sondern mein Herr lebt in mir (Gal 2,19f); nicht mein verherr-lichter Herr, sondern der gekreuzigte. Im übrigen wundere ich michsehr, wie man den Mut hat, zum Dienst Gottes zu kommen, da mankeine Tröstungen und Freuden verspricht, sondern daß man immerarbeiten und leiden muß, sich immer abtöten und demütigen. Da ist

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ohne Zweifel eine geheime Kraft am Werk; es ist die Kraft der Lok-kungen des Heiligen Geistes, die auf diese Weise zu seiner größerenVerherrlichung wirkt.

Indessen erwäge ich, daß im heutigen Evangelium (Mt 25,14-23)von den Talenten, die der Herr seinen Dienern übergab, als er eineReise antrat, berichtet wird, daß er davon eines übergab, dann zweiund dann fünf. Es ist ein großes Talent, christlich zu leben in der Beob-achtung der Gebote Gottes. Trotzdem ist der mehr begünstigt, derderen zwei erhalten hat, d. h. mit diesem einen auch noch das, nach derVollkommenheit des christlichen Lebens streben zu wollen. Aber, oGott, wie groß ist das Glück dessen, der darüber hinaus drei Talenteerhalten hat, in denen alle christlichen Vollkommenheiten enthaltensind! Das sind die drei wichtigsten Ratschläge Unseres Herrn: Gehor-sam, Keuschheit und Armut. Das sind die drei verwirklichten Gelüb-de, die uns mit Gott vereinigen (ich sage verwirklicht, nicht nur ge-lobt). Durch diese drei Gelübde weihen wir uns Gott und übergebenihm alles, was wir haben: durch das Gelübde der Armut übergeben wirunseren Besitz und alle Ansprüche, die wir haben, etwas zu besitzen;durch das Gelübde der Keuschheit übergeben wir unseren Leib unddurch das des Gehorsams übergeben wir unsere Seele mit all unserenKräften. – – –

Zum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller Heiligen

Nr. 15: 1. November 1617 IX,112-124

Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, esist in keines Menschen Herz gedrungen, was Gott de-nen bereitet hat, die ihn lieben (1 Kor 2,9; Jes 64,4).

Meine lieben Schwestern, das sind die Worte, deren sich der hl. Pau-lus im Brief an die Korinther bedient, um sie anzuspornen, sich vonallen niedrigen und irdischen Dingen zu lösen, sich über die hinfälli-gen irdischen Güter zu erheben, sich von den Neigungen dieses sterb-lichen Lebens freizumachen, ihre Herzen zu erheben und an die dau-erhaften ewigen Güter zu denken. Da ich am Fest aller Heiligen zueuch zu sprechen habe, gedenke ich mich der gleichen Worte des gro-ßen Apostels zu bedienen und sie an euch zu richten, um euch durchsie aufzufordern, eure Herzen und eure Gedanken zu erheben zurBetrachtung der ewigen Herrlichkeit und Glückseligkeit, die Gott

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denen bereitet hat, die ihn fürchten und lieben in diesem Leben, undum euch durch diese Predigt anzuspornen, daß ihr alle geschaffenenDinge geringschätzt und ihnen eure Liebe entzieht; denn wie der hl.Johannes in der Geheimen Offenbarung (21,1.4) schreibt, werden Him-mel und Erde vergehen, d. h. alles hier unten wird ein Ende nehmen.

Um euch nun etwas über diese Herrlichkeit zu sagen, werde ichmich einer Geschichte bedienen, die im 1. Kapitel des Buches Esterwiedergegeben ist. Da wird berichtet, daß der König Artaxerxes einFestmahl gab, großartiger, als man sehen und denken kann. Hier waralles vorhanden, was notwendig und wünschenswert ist, um ein Gelageausgezeichnet und denkwürdig zu machen. An erster Stelle: der esveranstaltete, war König über 127 Provinzen; und er war anwesend.Das ist ja etwas vom Wichtigsten beim Gastmahl, daß der Veranstalterdaran teilnimmt, besonders dann, wenn er ein Mann von königlichemRang ist. Was die Speisen betrifft, gab es die vorzüglichsten; die Weinewaren die auserlesensten und köstlichsten, die man finden konnte. Diebeim Festmahl dienten, waren vom König aufgestellt und erfülltenihre Aufgabe sehr sorgsam. Der Ort, an dem das Festmahl stattfand,war überaus schön und herrlich. Die Säulen waren aus Marmor, dasPflaster aus Smaragden, die Wandteppiche waren alle mit Seide, Gold-und Silberfäden auf azurblauem Grund bestickt. Es gab aus Gold undSilber getriebene Ruhebetten. Die schönste und vollendetste Musikvon überaus harmonischen Instrumenten und Stimmen erklang. Über-aus kunstvolle Blumenbeete waren mit einer bunten Vielfalt unzähli-ger Blumen bedeckt. Die Geladenen waren die größten Fürsten desLandes, und das Fest dauerte 180 Tage mit all diesem großartigen Glanz.Mit einem Wort, die Heilige Schrift berichtet darüber als über dasGroßartigste, das man sagen kann.

Ich habe keine Geschichte und keinen Bericht gefunden, der geeig-net wäre, euch die Herrlichkeit und die Glückseligkeit der Heiligenzu schildern, als dieses Bankett des Königs Artaxerxes, weil dieseGlückseligkeit nichts anderes ist als ein Fest oder ein Gastmahl, zudem wir geladen sind (Lk 12,37; 14,15f; Offb 19,9) und bei dem jene,die aufgenommen werden, mit jeder Art von Wonne gesättigt und er-füllt werden. Gewiß, wenn ich dieses Gastmahl mit dem des KönigsArtaxerxes zu vergleichen beginne, finde ich, daß dieses nichts ist imVergleich mit jenem. Es gibt auch nichts, das ihm gleichkommen könn-te. Bei diesem Gastmahl des Lammes ohne Makel, wie es der hl. Jo-hannes (Offb 19,7-9; 1 Petr 1,19) nennt, findet sich alles, was wir beidem des Artaxerxes festgestellt haben, aber in einer viel großartigerenWeise, weil bei ihm alle notwendigen Voraussetzungen zugleich er-

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füllt sind, um ein Festmahl großartig und ganz bewundernswert zumachen. Der es gibt, ist Gott selbst, der an Größe und Würde allesüberragt, was ist und sein kann. Und diese göttliche, königliche Per-sönlichkeit nimmt am Festmahl teil; ja mehr noch, er ist selbst dieSpeise (Joh 6,50f.56); er erquickt und sättigt die Geladenen und Aus-erwählten durch die wunderbaren Mitteilungen seiner selbst. Anwe-sende und Bedienende sind die Engel, Erzengel und die übrigen himm-lischen Geister, die Gott zu diesem Dienst berufen und bestimmt hat.Von der Schönheit des Ortes zu sprechen, an dem dieses Gastmahlstattfindet, ist unmöglich. Aber wir werden die übrigen Dinge im ein-zelnen erklären, die sich da befinden, und wir werden zu jedem und zuden Umständen und Bedingungen ein Wort sagen, wenn Gott uns dieGnade erweist, uns daran denken zu lassen.

Um mit dem Wichtigsten zu beginnen: Gott, der dieses Festmahlgibt, der anwesend und selbst die Speise ist, die die Geladenen sättigt.Denn hier ist das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, sagt derhl. Johannes (Joh 1,29); er ist das Lamm des Jeremia (11,9; Offb5,6.12), das geschlachtet ist für die Sünden der Welt. Das ist Er, der siegetilgt und hinweggenommen hat und der sich zur Speise seiner Aus-erwählten macht. Nun ist es ganz klar und über jeden Zweifel und jedeKontroverse erhaben, daß die Glückseligkeit der Seligen, wie sie dieTheologen lehren, in der Anschauung Gottes besteht, wie umgekehrtdie Strafe der Verdammten, die man Verdammnis nennt, im Verlustdieser klaren Anschauung besteht. Über die wesentliche Glorie hin-aus gibt es aber noch eine akzidentelle, die den Seligen zusätzlichzuteil wird, wie die Verdammten über die Verdammnis hinaus nocheine andere Strafe erleiden, die man Strafe der Sinne nennt.

Sagen wir ein Wort über die wesentliche Glorie, die darin besteht,Gott unverhüllt zu sehen, so wie er ist (1 Joh 3,2), ohne Schatten undGleichnis. Man sieht in dieser Glorie so erhabene und kostbare Din-ge, daß Gott in seiner unbegrenzten Allmacht keine größeren erschaf-fen kann. Das erste ist die Gottheit, d. h. Gott selbst; das zweite ist dieMutterschaft der seligsten Jungfrau; unserer erhabenen Mutter undHerrin; das dritte ist die Glorie selbst, deren erhabener GegenstandGott ist.

Was den ersten Gegenstand betrifft, der die wesentliche Glorie derHeiligen ausmacht, die Gottheit, kann man nichts Größeres sehenund kann es nichts Größeres geben, denn wie die Theologen sagen, istGott ein Sein über allem Sein, ein ganz reiner und einfacher Akt.Nichts ist größer als Gott in der Unendlichkeit seiner Macht und er

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kann nichts erschaffen, was erhabener als er selbst wäre. Denn wenn erirgendetwas Größeres oder Erhabeneres, als er selbst ist, erschaffenkönnte, wäre er nicht Gott, denn Gott ist ein Wesen über allen Wesen,dem keines gleichen kann. Darin stimmen alle Theologen überein unddas ist so klar, daß es darüber nie irgendeinen Streit gab.

Das zweite ist die Mutterschaft der seligsten Jungfrau. Sie ist daserhabenste Werk, das der allmächtige Herr in einem einfachen Ge-schöpf vollbringen konnte; denn wie konnte er sie höher erheben alsdadurch, daß er sie zur Mutter Gottes machte, d. h. zu seiner eigenenMutter (Lk 1,35)?

Das dritte ist die Glorie, die größte Herrlichkeit, die es geben kann,da sie zum Gegenstand Gott selbst hat, eine Klarheit und einungeschaffenes Licht, durch das man jedes andere Licht sieht (vgl. Ps36,10), das aus diesem hervorgeht wie aus seiner Quelle und als sei-nem Ursprung, ohne es im geringsten zu vermindern.

Dieser drei so großen und überragenden Dinge nun erfreuen sich dieSeligen. Hier sehen sie von Angesicht zu Angesicht, klar und deutlich,ohne Schatten, Bild und Gleichnis, Gott den Dreifaltigen und Einen,nicht durch ein Rätsel (1 Kor 13,12), sondern so wie er ist, mit einerKlarheit, daß man das Licht vom Licht sieht. In diesem Licht sehen siedie Größe und Erhabenheit des Geheimnisses der Mutterschaft derseligsten Jungfrau und sehen auch, welcher Art und wie groß die Glo-rie ist, die Gott seinen Auserwählten schenkt. In dieser klaren An-schauung Gottes kommen sie zur Erkenntnis und zum Verständnisder übrigen hohen und unerforschlichen Geheimnisse, deren Erkennt-nis sie mit solcher Freude erfüllt, daß sie eine größere nicht wünschenund ersehnen können. Hier empfangen sie das volle, gerüttelte undnach allen Seiten überfließende Maß (Lk 6,38), weil die Wonne undder Jubel, deren sie sich in dieser wesentlichen Glorie erfreuen, siedurch die Erkenntnis der tiefsten Geheimnisse überaus vollkommenbefriedigt. Ach, was denkt ihr, welche Wonne sie empfinden in derklaren Schau des unaussprechlichen Geheimnisses der heiligsten Drei-faltigkeit, des ewigen Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes?Welche Freude zu begreifen, daß der Sohn nicht geringer ist als derVater, daß der Vater nicht größer ist als der Sohn, um Vater zu sein,und daß der Heilige Geist in allem dem Vater und dem Sohn gleich ist!Welche Wonne zu sehen, daß der Sohn ewig und ebenso alt ist wie derVater, und daß der Heilige Geist ebenso wie der Vater und der Sohnist, und daß die drei Personen, da sie ein gleiches Wesen haben, nur eineinziger Gott sind.

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Im Leben des gottseligen Ignatius, des Gründers der Jesuiten, habeich gelesen, daß Gott ihm eines Tages das unaussprechliche Geheim-nis der anbetungswürdigen Dreifaltigkeit enthüllte. Durch diese Visi-on empfing er soviel Klarheit und Licht in seinem Verstand, daß ervon da an die denkbar erhabensten Predigten hielt. Er verbrachte meh-rere Tage damit, aufzuschreiben, was er erfahren hatte, und füllte meh-rere Hefte mit den höchsten und subtilsten Dingen der Theologie. Daszeigt, daß Gott ihn von diesen göttlichen Geheimnissen erkennen ließ,was man in diesem Leben erkennen kann. Daher blieb diese Wahrheitseinem Herzen und seinem Geist so tief eingeprägt, daß er von da aneine einzigartige Verehrung für das heilige Geheimnis der anbetungs-würdigen Dreifaltigkeit hatte, so daß er vor Freude verging, sooft ersich daran erinnerte. Wenn schon dieser Heilige solchen Trost durchdiese Vision empfing, was meint ihr, wie groß die Freude der Seligensein muß in der klaren Schau dieses unaussprechlichen Geheimnis-ses?

Sie sehen auch den unlösbaren Knoten, durch den die Menschheitmit der Gottheit verbunden und vereinigt ist, das unvergleichlicheWerk der Inkarnation, in der Gott Mensch und der Mensch vergöttlichtwurde. Sie erkennen klar, wie dieses Geheimnis verwirklicht wurde,als das Wort im Schoß der seligsten Jungfrau den menschlichen Leibannahm, ohne ihre Jungfräulichkeit im geringsten zu beeinträchtigen,da sie ganz rein und fleckenlos blieb, ohne daß ihre jungfräulicheUnversehrtheit irgendwie verletzt wurde. Welche Seligkeit und wel-che Freude auch, die Früchte und den Nutzen des Empfangs der Sa-kramente zu sehen. Denn da begreift man, wie durch sie die Gnadesich mitteilt entsprechend der Empfänglichkeit, die man dazu mit-bringt; wie die einen sie annehmen, die anderen sie zurückweisen; wieGott seine wirksame Gnade den einen gibt und sie anderen vorenthält,ohne ihnen Unrecht zu tun. Wer kann sich vorstellen, mit welcherWonne die Seligen das alles erkennen?

Nun schauen sie nicht nur Gott, der ihre Glückseligkeit ist, sondernsie hören ihn auch sprechen und sprechen mit ihm, und darin liegteiner der vorzüglichsten Gründe ihrer Seligkeit. Aber welche Rede-weise haben sie und welcher Sprache bedienen sie sich? Ihre Spracheund Redeweise ist keine andere als die eines Vaters mit seinen Kin-dern; sie ist ganz kindlich und liebevoll. Da dieser Ort die Wohnungder Kinder Gottes ist, ist auch ihre Sprache ganz kindlich und vollLiebe, denn der Himmel ist der Ort der Liebe, und niemand hat hierZutritt, der die Liebe nicht hat und Gott nicht liebt. Und welche Wor-te der Liebe sagen sie? Solche wie diese: Du wirst immer bei mir sein

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und ich immer bei dir; ich werde mich nie im geringsten entfernen; duwirst von nun an ganz mir gehören und ich ganz dir; du bist ganz meinund ich werde ganz dein sein. Von wem stammen diese Worte? Vonkeinem anderen als von Gott selbst; er wird sie zum Herzen der treu-en, glückseligen Seele sagen; sie wird mit gleicher Liebe als Antwortdie lieblichen, wonnevollen Worte der Braut (Hld 2,16; 6,2) sagen:Mein Freund ist ganz mein und ich bin ganz sein. Er ist zur Stunde ganzder Meine und ich werde von nun an die Seine sein. Wenn die Brautdiese Worte der Liebe mit solcher Wonne sagt, während sie noch indiesem Tal des Elends weilt, o Gott, was glauben wir, welche Freudeund welcher Jubel wird die Seligen erfüllen bei dem Zwiegespräch,das sie in der Glückseligkeit führen werden?

Hier wird ihnen Unser Herr die großen Geheimnisse enthüllen undmit ihnen darüber sprechen, was er gelitten, was er für sie getan hat. Erwird ihnen sagen: Damals habe ich das für dich gelitten. Er wird mitihnen über das Geheimnis der Menschwerdung sprechen, über ihreRettung und die Erlösung, und ihnen sagen: Das habe ich getan, umeuch zu erlösen und an mich zu ziehen. Ich habe euch so lange erwar-tet und bin euch nachgegangen, als ihr widerspenstig wart, ich habeeuch mit sanfter Gewalt gedrängt, meine Gnaden anzunehmen. Ichhabe euch diese Regung und jene Einsprechung zu der Zeit gegeben;ich habe mich jener bedient, um euch an mich zu ziehen. Mit einemWort, er wird ihnen seine geheimen Ratschlüsse und seine unerforsch-lichen Wege (Röm 11,33) enthüllen, die er eingeschlagen hat, um sievom Bösen abzuhalten und sie für die Gnade empfänglich zu machen.In dieser wesentlichen Glorie wird der Verstand ganz erfüllt sein vonklarer Erkenntnis, sowohl des Wesens und der Erhabenheit Gottes alsauch dessen, was der Erlöser für uns getan und gelitten hat, der Gna-den, die er uns verliehen hat, wie auch der erhabensten und tiefstenGeheimnisse der allerheiligsten Dreifaltigkeit, der Menschwerdungund alles dessen, was die Gottheit und Menschheit Unseres Herrnbetrifft, ebenso bezüglich Unserer lieben Frau.

Wie ihr wißt, war der hl. Bernhard ganz erfüllt von Liebe und tieferVerehrung für Jesus Christus und seine hochheilige Mutter, ganz be-sonders aber für die Menschheit des Erlösers, so daß er mit besonde-rer Freude über seine heilige Kindheit betrachtete. Als er sich einesTages in der Kirche von Châtillon sur Seine in die Betrachtung derheiligen Geburt Unseres Herrn vertiefte, waren sein Verstand und alleseine Fähigkeiten so in ihre Schau verschlungen, so erfüllt von Trostund Bewunderung, daß er davon völlig eingenommen war und mehre-re Tage blieb, ohne sich losreißen und zurückziehen zu können, soviel

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er sich auch bemühen mochte. In welchem Abgrund, ich bitte euch,wird sich der Verstand des Menschen verlieren bei der klaren Schaunicht nur der Geburt des Erlösers, sondern aller göttlichen Geheim-nisse? Der Wille wird dann unlösbar mit seinem Gott vereinigt sein,ohne ihm je irgendeinen Widerstand leisten zu können; vielmehr wirder stets ohne jedes Widerstreben alles erfüllen, was seinem göttlichenWillen entspricht.

Nun bleibt das Gedächtnis, das ganz erfüllt sein wird von Gott undvon allem Guten, das er uns in diesem Leben erwiesen hat, und selbstvon dem geringen Dienst, den wir ihm geleistet haben im Vergleich zudieser großen Belohnung und Vergeltung. Die Kräfte und Fähigkeitender seligen Geister werden so befriedigt sein, daß sie nichts wünschenkönnen über das hinaus, was sie besitzen. Ich werde sie speisen, sagtGott (Offb 2,17), mit himmlischem Manna, das sie sättigen wird; au-ßerdem werde ich jedem einen Stein geben, auf den ein Name geschrie-ben ist, den niemand kennt als jener, der ihn empfängt. Was ist dieserweiße Stein, der der glückseligen Seele gegeben wird, anderes als Je-sus Christus, der wahre Eckstein (Jes 28,16; 1 Petr 2,4.6), der sichjedem Seligen schenkt durch die wonnevolle Mitteilung seiner selbst?Was das Weiß dieses Steines betrifft, so ist es nichts anderes als diestrahlende Reinheit Unseres Herrn, des wahren Lammes ohne Makel(1 Petr 1,19). Aber was wird das für ein Name sein, der in diesen Steineingeprägt ist? Es besteht gewiß kein Zweifel, daß wir gleichsam dieLettern sind, die in die Menschheit des Erlösers eingeprägt wurden:Er hat uns in seine Hände geschrieben (Jes 49,16), denn die Nägel, diesie durchbohrten, haben uns in sie eingeprägt; ebenso hat er uns insein Herz geschrieben, als sie seine Seite öffneten.

Als ich diesen Abend darüber nachdachte, was ich euch sagen soll,kam mir folgender Gedanke: Das Wort, das auf diesen weißen Steingeschrieben ist, das niemand kennt als jener, der ihn empfängt, ist nichtsanderes als ein kindliches Wort, ein Wort der Liebe von der Art jener,über die wir gesprochen haben: Ich bin ganz dein und du ganz mein;du wirst dich nie von mir trennen und ich werde mich nie von direntfernen. Ach, meine teuersten Schwestern, darin liegt der Gipfel desGlückes der Seligen, daß diese Glückseligkeit ewig sein und nie einEnde haben wird. Was bereitet denn in den Glücksfällen dieses Le-bens mehr Freude als die Hoffnung, daß sie von langer Dauer seinwerden? Umgekehrt drückt und vermindert nichts so sehr die Freudewie die Furcht, daß sie nicht lang währen und bald vorübergehen wer-

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de. Die Seligen aber besitzen die Glückseligkeit mit einer vollkom-menen Freude, frei von jeder Furcht und Sorge. Sie brauchen keineAngst zu haben, das Gut zu verlieren, dessen sie sich erfreuen, dennsie haben die Gewißheit, daß ihre Glorie ewig sein wird und ihnen niegenommen werden kann (Lk 10,42).

Ihr habt sicher im Leben der gottseligen Mutter Theresia gelesen,mit welcher Frömmigkeit sie das Credo der heiligen Messe hörte, wiees die Kirche singt, besonders andächtig aber die Worte: cujus regninon erit finis, die bedeuten: sein Reich wird ewig währen. Bei der Er-wägung dieser Ewigkeit zerfloß sie ganz in Tränen außergewöhnlicherFreude. Gewiß, ich habe diesen Zug im Leben dieser großen Heiligennie gelesen, ohne zutiefst gerührt zu sein, trotz meines Elends undmeiner Herzenshärte. Wenn nun der Gedanke, daß das Reich Gottesewig ist, im menschlichen Herzen solchen Jubel bewirkt, was meintihr, wie groß die Freude der himmlischen Geister sein muß über dieGewißheit, die sie von der Ewigkeit ihrer Glorie haben? Das ist es,was ich über die wesentliche Glorie der Seligen sagen wollte.

Sagen wir nun einige Worte zur akzidentellen Glorie. Wie wir gesagthaben, kommt sie ihnen zusätzlich zu. Diese akzidentelle Glorie er-gibt sich aus verschiedenen Dingen, vor allem aber aus der Anschau-ung und klaren Schau aller Bewohner des Himmels. Ihr wißt, daßnicht alle die Glorie in gleichem Maß besitzen, sondern in verschiede-nen Graden: die einen haben sie in höherem Maß als die anderen,trotzdem aber sind alle zufrieden und gesättigt. Die sie in geringeremMaß besitzen, freuen sich über diejenigen, die mehr haben, denn imHimmel ist die Liebe vollendet und es gibt dort weder Neid nochEifersucht (vgl. 1 Kor 13,4f); sie freut sich vielmehr über die Glorieder seligen Bewohner, und durch diese Anteilnahme und Mitteilungder einen an der Glückseligkeit der anderen sind alle befriedigt. Daswerdet ihr jedoch durch einige Beispiele besser verstehen.

Da ist ein guter Familienvater, der seine zwei Kinder in goldgewirktesTuch kleidet. Da die beiden aber nicht von gleicher Größe und Statursind, braucht man für das eine mehr Stoff als für das andere. Für daseine braucht man davon sechs oder sieben Ellen, für das andere nurdrei oder vier. Wenn ihr sie anschaut, sind beide in goldgewirktes Tuchgekleidet und sie sind zufrieden, zumal jedes genug für sein Gewandhat. Obwohl der erste davon sieben Ellen und somit mehr als der mitdrei oder vier Ellen hat, hat dieser überhaupt keinen Neid gegen ihn,weil sein Gewand soviel Tuch hat, als es braucht, um ihn zu kleiden.

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Ebenso ist es mit der Seligkeit: alle sind glücklich über den Lohn undihren Anteil an der Glorie.

In diesem Leben vernehmen alle den Ton und Akkord einer Musikverschieden. Wer etwas schwerhörig ist, kann in ihr nicht alles so gutwahrnehmen, was die Melodie vollkommen macht, obwohl der dieMusik hört und erkennt, wie jener, der ein feineres Gehör hat. Obwohlder erste sich an der Lieblichkeit erfreut, die er beim Hören dieserMusik empfindet, empfindet er sie doch nicht im gleichen Maß wiejener, der sie besser hört, obwohl beide befriedigt sind.

Die Sonne wird nicht von allen in gleicher Weise gesehen. Trotzdemerfreuen sich alle ihres Lichtes und empfangen, soviel sie davon ver-tragen können. Denn wer triefende Augen hat, kann die Sonnenstrah-len nicht mit der gleichen Helligkeit wahrnehmen wie jener, der guteAugen hat. Trotzdem sind die einen wie die anderen erfreut, obwohldie Befriedigung der einen viel größer ist als die der anderen.

Über die Schönheit des Ortes zu sprechen, an dem das Festmahlstattfindet, die auch ein Teil der akzidentellen Glorie ist, und über dieWürde derjenigen, die daran teilnehmen und dabei dienen, das würdezu lange dauern, wollte man es beschreiben. Zudem wäre alles, wasman darüber sagen könnte, nichts im Vergleich zur Wirklichkeit. DieMutter Theresia bemüht sich bei der Beschreibung der Schönheit desHimmels, einige Vergleiche zu finden, um manches verständlich zumachen. Sie vergleicht also das Paradies mit einem großen Saal, derringsum bedeckt ist mit schönen Bildern und Spiegeln. Wenn mansich nun, sagt sie, in einem dieser Spiegel betrachten will, wird mandiesen Spiegel sehen, in dem man sich betrachtet, und man wird sichselbst sehen; und zugleich wird man mit einzigartigem Vergnügen alleBilder und alle Spiegel in diesem Saal sehen. Was aber noch mehr ist,man wird darin auch alles wahrnehmen, was die anderen Spiegel imeinzelnen zeigen. Dieser Saal mit den Spiegeln ist ein schwaches Bilddes Himmels. Was ist denn dieser Spiegel, in dem man alles sieht,wovon ich gesprochen habe, anderes als das Wesen Gottes, in demman ihn schaut und ihn selbst erkennt, so wie er ist? In diesem glei-chen Wesen erkennt man sich selbst mit allem, was man empfangenhat, und man sieht in ihm auch die Glorie aller anderen Heiligen, alleihre Verdienste, was sie alles getan und gelitten haben, und alle Gna-den und Gunsterweise, die ihnen verliehen wurden. Man sieht auchalle geschaffenen Dinge: wie Gott den Himmel erschaffen hat, ihn mitSonne und Mond geschmückt, ihn mit Sternen und allem bereichert

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hat, was sich an ihm befindet; wie er die Erde geschaffen hat, prangendin solcher Vielfalt von Blumen; mit einem Wort, wie er alles geschaf-fen hat und wie er dabei vorging. Das alles wird ein Bestandteil dieserakzidentellen Glorie sein, die aus der wesentlichen hervorgeht, wieihr seht.

Zur akzidentellen Glorie der Seligen gehört auch eine klare Schauder Kerubim und Serafim, der Throne und Herrschaften, der Kräfte,Mächte, Fürsten, Erzengel und Engel. Das sind die neun Chöre derseligen Geister, eingeteilt in drei Ordnungen, unter denen sich dieHeiligen befinden. Sie werden den Glauben der Patriarchen bewun-dern, den Gehorsam der Propheten, die Liebe der Apostel, den glü-henden Eifer der Märtyrer, die Reinheit der Jungfrauen, die Demutund Treue der Bekenner. Sie werden ihre Bußwerke erkennen, ihr Fa-sten, ihre Nachtwachen und Abtötungen; schließlich wird die Voll-kommenheit, Heiligkeit und Glorie aller Heiligen zur akzidentellenGlorie aller insgesamt und jedes einzelnen im besonderen beitragen.

Darüber hinaus wird nach der Auferstehung unser Leib verherrlichtsein (ich sage „unser“ Leib unter der Voraussetzung, die ich immermache, daß uns nämlich Gott die Barmherzigkeit erweist, zur Zahlder Auserwählten zu gehören). Er wird wie unsere Seele die vier Ga-ben der Glorie haben: die Einfachheit, die Behendigkeit, die Leidens-unfähigkeit und die Herrlichkeit. Jetzt ist unsere Seele in unseren Leibeingefügt, wenn man so sagen darf, der sie trägt und dahin zu gehennötigt, wohin er will, und sie scheint sozusagen irgendwie an seinemElend teilzuhaben (Weish 9,15). So werden bei der Wiedervereini-gung der verherrlichten Seele mit dem Leib diesem die vier Gabenund Kleinode der Glorie mitgeteilt, durch die sie ihn lenken und füh-ren wird, wohin sie will, ohne daß er ihr irgendeinen Widerstand lei-stet. Er wird eine so große Einfachheit besitzen, daß er durch keinHindernis aufgehalten wird; eine Behendigkeit, daß kein Pfeil schnel-ler fliegt. Und wie er einfacher sein wird als der Strahl der Sonne, sowird er ebenso behende sein wie die Regungen des Geistes und schnel-ler als der Wind. Er wird die Leidensunfähigkeit besitzen, die in kei-ner Weise verletzt oder verändert werden kann, so daß er nie einerKrankheit oder Unpäßlichkeit unterworfen sein wird, und seine Klar-heit wird schöner sein als die der Sonne (Mt 13,45). Mit einem Wort,als Höhepunkt der Glückseligkeit werden die Seligen Gott gleich sein(1 Joh 3,2), nämlich durch Teilhabe. Das lehrt uns die Heilige Schrift,wenn sie (Ps 50,1) Unseren Herrn den Gott der Götter nennt, d. h. denGott all der kleinen Götter, der Heiligen, die im Paradies sind.

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Ich wollte euch noch ein Wort zu all den anderen Dingen sagen, diesich beim Gastmahl des großen Artaxerxes, Unseres Herrn, finden;aber ich sehe, daß die Zeit vorangeschritten ist. Deshalb beende ichdiese Predigt, weil ich an einen anderen Ort gerufen bin, weil ich au-ßerdem eure Geduld nicht mißbrauchen darf. Was bleibt mir noch zusagen, meine lieben Schwestern, als euch von neuem mit den Wortendes hl. Paulus aufzufordern, eure Herzen und eure Gedanken zu erhe-ben zu den Gütern, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, keinesMenschen Herz empfunden, die Gott denen bereitet hat, die ihn lieben(1 Kor 2,9) in diesem Leben. Strengt euren Verstand an, sie zu be-trachten, meine lieben Schwestern, damit ihr durch die Schönheit unddie Vorzüge, die ihr dabei entdeckt, dahin kommt, sie zu lieben und zuersehnen. Entzieht eure Liebe allen geschaffenen und vergänglichenDingen dieses Lebens und befleißigt euch sorgsam zu tun, was notwen-dig ist, um die unvergänglichen zu erlangen. Seid ausdauernd, das gött-liche Geheimnis Unseres Herrn und unserer Erlösung zu betrachten(Eph 1,9f; 3,3f.9), damit euer Wille es zu lieben beginnt durch dieErkenntnis, die er davon erwirbt. Man muß ja dieses Gut auf Erdenlieben, um es ewig im Himmel zu lieben, weil es keinen Himmel gibtfür einen, der keine Liebe hat.

Spannt also euren Willen hier auf Erden an, ihn soviel als möglichzu lieben. Es gibt keine Grenze und kein Maß für die Liebe. Die rechteArt, Gott zu lieben, ist, ihn mehr als alles und über alles zu lieben.„Das Maß“, sagt der hl. Bernhard, „ist, kein Maß zu haben.“ Erfüllteuer Gedächtnis mit all diesen Dingen und richtet es auf Gott, indemihr ihm die Erinnerung und Vorstellung all dessen entzieht, was nichtGott ist; nährt es mit diesen göttlichen Geheimnissen, sowohl derKindheit des Erlösers als seines ganzen übrigen Lebens, seines Lei-dens und Todes. Füllt es auch mit der Erinnerung an eure Fehler undUntreuen, um euch zu demütigen und zu bessern; mit den Wohltaten,die ihr von Gott empfangen habt, um ihm dafür zu danken. Und wennihr Gnaden empfangen habt, dann erinnert euch an sie, um sie gut zupflegen und zu bewahren und euch dadurch für ihre Vermehrung undihr Wachstum bereit zu machen. Wirkt schließlich treu in diesem Le-ben und seid beharrlich bis zum Ende (Mt 10,22; 24,13), auf daß ihr inder ewigen Glückseligkeit den seligen Geistern zugezählt und mit ih-nen vereinigt werden könnt, um die göttliche Majestät zu lieben undeuch ihrer zu erfreuen in alle Ewigkeit. Das ist es, was ich euch vonganzem Herzen wünsche. Amen.

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Zur Profeß am Freitag der PfingstoktavZur Profeß am Freitag der PfingstoktavZur Profeß am Freitag der PfingstoktavZur Profeß am Freitag der PfingstoktavZur Profeß am Freitag der Pfingstoktav

Nr. 18: 8. Juni 1618 IX,149-156

Das Fest, das wir in diesen Tagen feiern, ist ein sehr hohes, sowohlwegen seines Alters als auch wegen der großen Geheimnisse, die esenthält und die es uns vor Augen stellt. Ihr wißt vielleicht nicht, daß esvon Gott selbst eingesetzt wurde, als die Kinder Israels aus Ägyptenauszogen und aus der Knechtschaft befreit wurden. Der Herr ordnetean, daß man aus Dankbarkeit fünfzig Tage nach Ostern das Pfingstfestfeierte als Danksagung für eine so große Wohltat. Um es feierlicher zugestalten, bestimmte er, was an diesem Tag nach seinem Willen ge-schehen sollte, nämlich daß man im Tempel zwei Brote aus neuemWeizen opferte, zwei Widder, kleine Lämmer und einen Ziegenbock(Lev 23,15-21; Dtn 16,9-12). Er hatte angeordnet, am Osterfest Gar-ben als Erstlingsgabe der Ernte zu opfern (Lev 23,10). Deshalb schnit-ten die Alten auf ihren Feldern die ersten Ähren, die über die anderenhinausragten, und an Pfingsten opferte man zwei Brote, die aus dembereits reifen Weizen bereitet waren.

Aber wozu soll das alles dienen, wenn nicht als Einleitung der Pre-digt, die ich euch darüber halten will? Alle Christen werden bei ihrerTaufe der göttlichen Majestät dargebracht wie die Garben am Oster-fest. Pascha bedeutet nichts anderes als Übergang (Ex 12,11); und dieMenschen vollziehen bei ihrer Taufe einen sehr glücklichen Über-gang, denn sie wechseln von der Tyrannei und Knechtschaft des Teu-fels über zur Gnade der Annahme als Kinder Gottes (Röm 8,23; Eph1,5; Kol 1,13). Sie sind wahrhaftig dargebracht als Garben, die zunichts taugen, wenn sie nicht geschlagen und zerrieben werden, damitdas Korn herausfällt, das von Stroh und tausend überflüssigen Dingenumgeben ist. So sind wir nach der Taufe von tausenderlei Neigungenzum Bösen umgeben; es ist aber um vieles schlimmer, wenn wir zuunserem Unglück diesen schlechten Trieben und verderbten Neigun-gen folgen. Wir nehmen die Gewohnheit des Bösen und der Laster an,als ob es unmöglich wäre, das zu unterlassen, wozu unsere Natur unddie Versuchung uns verleiten.

Es gibt in der Tat Leute, die sagen: Es ist wahr, daß ich jähzornig bin,aber was soll ich tun? Das ist meine Veranlagung. Wer sieht nicht dieTäuschung der Eigenliebe? Als ob es durch die Güte Gottes nicht in

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unserer Macht stünde, uns zu überwinden, gegen unsere Neigungenund nach der Vernunft zu leben, die uns lehrt, daß wir nicht auf siehören dürfen! Eine andere sagt: Es stimmt, daß ich ein wenig eitel bin;aber ich neige dazu, mich zu putzen und Verlangen danach zu haben,daß ich gelobt und geschätzt werde; ich wüßte nicht, was man da tunsoll. O Gott, man beachtet nicht, wozu die göttliche Güte zugelassenhat, daß als Folge der Sünde unseres Stammvaters uns nach der Taufemanche schlechten Neigungen geblieben sind, zumal uns in der Taufedie hinreichende Gnade geschenkt wurde, uns zu überwinden. SeineAbsicht dabei ist nichts anderes, als uns Gelegenheit zu geben, daß wirauf diese Weise mehr Verdienste erwerben, indem wir mutig daranarbeiten, aus Liebe zu Gott uns selbst zu überwinden.

Dazu empfangen wir, nachdem wir den Gebrauch der Vernunft er-langt haben, das Sakrament der Firmung, durch das wir uns unter dasBanner der göttlichen Majestät stellen, um als tapfere Soldaten für dieVerherrlichung seines Namens zu kämpfen. Nachdem die Christenauf diese Weise gestärkt sind, bringen sie sich am Pfingstfest als Brotedar, die mit dem neuen Weizen der unverbrüchlichen Vorsätze berei-tet sind, die sie gefaßt haben, lieber zu sterben, als Gott freiwillig zubeleidigen. Die Apostel aber haben diese Opfergabe viel vollständigerund vollkommener als irgendein anderer dargebracht, da sie die Voll-kommenheit viel vortrefflicher als jeder andere übten. Sie haben sichUnserem Herrn dargebracht als gesegnete Garben zur Osterzeit, d. h.als sie alles verließen, um ihm nachzufolgen (Mt 19,27). Gleichwohlwaren sie in der Tat Garben, die von viel Überflüssigem umgebenwaren; das sieht man deutlich daran, daß sie Sünden und Unvoll-kommenheiten begingen, ja sogar ihren guten Meister verließen.

Aber dann, am Pfingstfest, waren sie die vollkommene Opfergabe,da sie nicht mehr nur Garben darbrachten, sondern Brot, das im Feuerder Gottesliebe gebacken ist. So sieht man, daß der Heilige Geist aufsie herabkam in Gestalt feuriger Zungen (Apg 2,3), als wollte er sie zuechten Brandopfern machen, ganz geheiligt und ohne Rückhalt demDienst seiner Liebe geweiht; denn dieses heilige Feuer verzehrte inihnen alles Überflüssige, das sie mit sich selbst am Osterfest darge-bracht hatten, d. h. als sie sich entschlossen, Unserem Herrn nachzu-folgen.

Ihr wißt, um Brot zu bereiten, muß man das Mehl kneten, es mitWasser mischen und vermengen und schließlich backen. Bevor derTeig gebacken wird, ist er geschmeidig und leicht zu formen, hernach

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aber steif, fest und hart. So wurden die Apostel in der Zeit der Passiongemahlen; als sie dann im Abendmahlssaal versammelt waren, wo siedie Ankunft des Heiligen Geistes erwarteten, vermengten sie das Mehlihrer Entschlüsse mit dem Wasser der Betrübnis und Zerknirschung,weil sie ihren Meister verlassen und ihn auf diese Weise in seinenÄngsten allein gelassen hatten. Da waren sie also noch wie weicher,knetbarer Teig, denn sie hätten ihn von neuem verlassen und seineheilige Liebe verlieren können. Als aber der Heilige Geist in der Ge-stalt des Feuers kam, machte er sie unwandelbar und unveränderlichin der heiligen Liebe und machte den Teig ihrer Entschlüsse so fest,daß sie diese nie mehr verlassen und verlieren konnten. Das sieht manim weiteren Verlauf ihres Lebens, da sie sich für das Bekenntnis desGlaubens opferten wie kleine Lämmer, die zur Schlachtbank geführtwerden (Ps 44, 22; Jes 53,7; Röm 8,36). Sie vollendeten die Opferga-be noch, die Gott am Pfingstfest forderte. Sie opferten sich wie Böcke,ich will sagen, sie verkehrten mit den Sündern und wollten für solchegehalten werden wie die übrigen Menschen (Lk 18,11). Schließlich übtendie Apostel die Vollkommenheit nach dem Beispiel, das ihnen ihrHerr und Meister gegeben hatte.

Zu dieser Opfergabe muß ich aber eine Erklärung geben. Die altenKirchenväter verstanden unter den zwei Broten die Unterscheidungder affektiven und effektiven Liebe. Die anderen sagten, die zwei Bro-te versinnbildeten unser eigenes Urteil oder den Verstand und unse-ren eigenen Willen. Meiner Meinung nach ist das die bessere Ausle-gung, und sie paßt mir besser. Die Widder, die man opfern mußte,bedeuten unsere Einbildungskraft, die kleinen Lämmer unsere Nei-gungen und der Ziegenbock unsere Keuschheit; durch sie entsagen wiraus Liebe zu Gott allen sinnlichen Freuden, sogar den erlaubten undzulässigen.

Seht also, wie außerordentlich gut die Apostel die Opfergabe in je-der Form der Vollkommenheit darbrachten. Sie unterwarfen ihr Ur-teil und ihren Willen vollständig durch den Gehorsam. Sie opfertenden Widder ihrer Einbildungskraft durch die Armut. Die Welt will unsgewöhnlich glauben machen, daß Reichtum, Ehren und Bequemlich-keit erstrebenswerte Güter seien. Die Apostel entsagten dieser Vor-stellung für immer, indem sie die Armut als etwas sehr Schätzenswer-tes erachteten. Sie opferten die Lämmlein aller Anhänglichkeiten, umkünftig keine andere mehr zu haben als die himmlische Liebe. Sieopferten durch die Übung beständiger Keuschheit den Bock ihrerNeigung, die sie zu sinnlichen und hinfälligen Freuden haben könn-ten. Diese drei Tugenden wurden so geschätzt und als die drei wichtig-

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sten erachtet, um die Vollkommenheit zu erwerben, so daß die erstenChristen sie alle nach dem Vorbild der Apostel übten. Nachdem aberdie erste Glut erloschen war, waren es nur noch Bestimmte, die nachdieser evangelischen Vollkommenheit strebten. Da es aber äußerstschwierig war, sich ihr in der Welt zu widmen, verließen jene die Welt,die dieses großmütige Unterfangen wagen wollten, und schlossen sichim Kloster ein.

Damit bin ich nun bei dem Punkt, den ich zu behandeln vorhatte;denn was wir bisher gesagt haben, dient alles nur dazu, um besser zuverstehen, was ich davon ableiten will. Es ist sicher, daß alle Men-schen, in welchem Beruf sie auch sein mögen, sich Unserem Herrnweihen und hingeben können und müssen. Aber es ist ein großer Un-terschied zwischen der Hingabe derjenigen, die in der Welt bleiben,und jener der Menschen, die sie ganz verlassen, um sich ausschließlichder Übung der göttlichen Liebe zu weihen.

Diese Seelen bringen sich vor allem in der Gestalt von Garben undÄhren dar, umgeben von tausenderlei Einbildungen, Vorstellungen,Leidenschaften und weltlichen Neigungen. Sie sind aber entschlossen,sich unter den Händen des Gehorsams zerreiben und in der Mühle derAbtötung mahlen zu lassen, um Brot zu werden, das geeignet ist, aufden Tisch Unseres Herrn gelegt und ihm am Tag des ewigenPfingstfestes dargebracht zu werden. Dazu gibt man ihnen ein Probe-jahr. Man täuscht sie nicht, indem man ihnen etwa Tröstungen ver-spricht, obwohl die geringste, die sie verkosten, unvergleichlich mehrwert ist als alle zusammen, die die Welt bietet. Man führt sie allmäh-lich ein in die Übung eines beständigen Gehorsams, der Abtötung desEigenwillens, der Verleugnung des eigenen Urteils. Man spricht zuihnen nur „von der Abtötung der Sinne und aller menschlichen Nei-gungen“ (Konst. 44); schließlich läßt man sie erkennen, wie eitel ihreVorstellungen sind, zu glauben, daß Besitz, Reichtum und Ehren er-strebenswerte Güter seien. Man versucht alle ihre Neigungen umzu-wandeln, damit sie nur noch solche für Gott und nach seinem heiligenWillen haben. Schließlich versucht man sie im Verlauf ihres Noviziats-jahres fähig zu machen, daß sie dieses letzte Opfer ihrer selbst dar-bringen, in dem sie sich durch die Gelübde so eng mit der göttlichenMajestät vereinigen, daß sie sich nie mehr von ihm lossagen können.Dieser Dienst ist wahrhaftig ehrenvoller als die Würde von Königenund Kaisern. Es stimmt, sie unterwerfen alle Fähigkeiten ihrer Seele,alle ihre Wünsche, Neigungen und Leidenschaften, schließlich ihr gan-zes Ich dem Gesetz der Vollkommenheit durch die beständige Übungdes Gehorsams gegen die Regeln und Konstitutionen ihres Ordens.

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Aber das ist eine so milde und liebenswerte Unterwerfung, daß sietausendfach mehr Befriedigung schenkt als die Freiheit der Weltleute,nach ihrem Willen zu leben. Diese Freiheit ist eigentlich eine Tyran-nei, weil sie gewöhnlich dazu führt, daß sie tun, wovon ihr Gewissenihnen sagt, daß man es meiden muß, um Gott gemäß zu leben.

Wenn diese Seelen auf diese Weise vorbereitet sind, wie wir gesagthaben, dann haben sie bereits die Gaben des Heiligen Geistes empfan-gen (Jes 11,2f). Sie haben die Gabe der Weisheit empfangen, denn siehaben verkostet, wie mild und lieblich der Herr ist (Ps 34,9; 86,5) undwie liebenswert seine Wege sind (Ps 25,10; Spr 3,17), wenn auch hart(Ps 17,4) und rauh nach menschlicher Auffassung. Sie haben die Gabedes Verstandes empfangen, denn sie haben die Grundsätze der evange-lischen Vollkommenheit verstanden: Inmitten von Reichtümern ha-ben sie erkannt, wie kostbar die Armut ist; inmitten sinnenhafter Freu-den haben sie die Keuschheit und Reinheit erwählt; inmitten von Ei-genliebe und Eigenwillen die Selbstverleugnung, um sich dem Gehor-sam zu unterwerfen. Sie haben die Gabe des Rates empfangen, dennsie tun nichts nach ihrer eigenen Meinung und Regung, ohne vorherErleuchtung zu erbitten vom Herrn oder von jenen, die seine Stelleeinnehmen. Sie haben die Gabe der Stärke empfangen, um tapfer ge-gen die Feinde der Ehre Gottes zu kämpfen und um ihren Entschlußzu verwirklichen, sich selbst zu überwinden. Sie haben auch die Gabeder Wissenschaft empfangen, denn sie schätzen das Glück höher, sichGott ausschließlich hinzugeben, als in der Welt zu bleiben. Schließ-lich haben sie die Gabe der Frömmigkeit und der Furcht empfangen,denn sie fliehen die Gelegenheiten, die Gottesliebe zu verlieren, de-nen sie in der Welt begegnen könnten.

Wenn alle diese Gaben den Seelen so eingegossen sind, wie wir ebengesagt haben, dann sind sie auch fest entschlossen, sie zu gebrauchen,indem sie jede andere Lust zurückweisen außer der einen, zu verko-sten, wie mild und lieblich der Herr ist und wie köstlich die Wege sind,auf denen man zu ihm gelangt, d. h. auf denen wir uns mit seiner Maje-stät vereinigen. Sie sind entschlossen, ihren Verstand nie mehr mit derErwägung irdischer und hinfälliger Dinge zu befassen, sondern mitjener der ewigen Güter und mit der Erkenntnis Gottes und der Selbst-erkenntnis. Sie folgen beharrlich den Ratschlägen jener, die Gott ih-nen zu ihrer Leitung gegeben hat, und machen sich fügsam, um ihremWillen zu folgen. Sie sind entschlossen, die Werke starker und hoch-herziger Seelen zu vollbringen, denn sie erheben keinen geringerenAnspruch, als den höchsten Gipfel der christlichen Vollkommenheit

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zu erreichen, ohne sich im Guten entmutigen zu lassen; vielmehr stüt-zen sie sich und sichern sie sich die Gunst und Hilfe der göttlichenGüte, die das Werk ihrer Vervollkommnung begonnen hat und vollen-den wird (Phil 1,6), indem sie jene unterstützt, die ihr treu sind.

Sie werden sorgsam die Gabe der Wissenschaft gebrauchen, die da-rin besteht, nach den echten Gütern zu streben und die falschen zu-rückzuweisen. Mit ihrer Hilfe können sie die einen von den anderenunterscheiden. Sie werden treu die Gabe der Frömmigkeit nützen,indem sie Gott als ihren Vater betrachten und ehren, zumal er will,daß wir mit diesem Namen alles Liebenswerte bezeichnen. Dann wer-den sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um ihm zu gefallen, indemsie die Nächsten wie sich selbst als Kinder Gottes betrachten, folglichals ihre Brüder, um vollkommen jede Form der Ehrerbietung und derLiebesdienste gegen sie zu üben. Schließlich werden sie Gott unend-lich fürchten, nicht mit einer knechtischen Furcht, sondern mit einerFurcht, die aus der Liebe zu ihm hervorgeht; sie fürchtet nicht nur, ihnzu beleidigen, sondern auch, ihm nicht genug zu gefallen. Diese lie-bende Furcht wird ihnen als Ansporn dienen, um jeden Tag mehr inder heiligen Liebe voranzukommen.

Aber sagt mir bitte, was fehlt diesen glücklichen Seelen noch, diesich so bereitgemacht haben, um sich vollständig und ohne Rückhaltdem Dienst der heiligen Liebe zu weihen? Einzig, daß der HeiligeGeist, der ihnen schon seine Gaben verliehen hat, jetzt in der Gestaltdes Feuers auf ihre Opfergabe herabkommt, um sie zu verzehren oder,um besser unserer ersten Auslegung zu entsprechen, um die Brote zubacken, die sie geknetet haben, da sie ganz bereit sind, in den Ofengelegt zu werden. Der Teig wurde während ihres Noviziatsjahres berei-tet entsprechend den Entschlüssen, die sie gefaßt hatten, sich zerrei-ben und mahlen zu lassen, sowohl durch den heiligen Gehorsam wiedurch die Abtötung ihres eigenen Urteils und Willens; sie sind ja diezwei Brote, die Unser Herr von den Ordensleuten fordert. Diese See-len sind auch entschlossen, ihre Vorstellung und Einbildungskraft zuunterwerfen, die einem Widder gleich zwischen den irdischen Dingenhin- und hergeht; ebenso haben sie alle ihre Wünsche auf einen be-schränkt, auf den nach Gott.

In Verbindung mit den Gelübden, die sie gleich ablegen werden,durch die sie sich für den Rest ihres Lebens zur Übung dessen ver-pflichten, was wir eben gesagt haben, sind diese ersten Entschlüsse dasheilige Brot, das gebacken, gefestigt, haltbar und unveränderlich ge-

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macht werden muß durch das heilige Feuer des Heiligen Geistes, dieLiebe unserer Seelen. Dann wird die göttliche Majestät an ihm ihrVerlangen stillen wie an einem köstlichen Gericht beim Festmahl derEwigkeit. Als Vergeltung wird sie euer Verlangen sättigen mit ihremgöttlichen Wesen; das ist die einzige Speise, die ewige Befriedigungder Glückseligkeit, zu der uns alle seine erhabene Güte zu seiner Ver-herrlichung führen möge. Amen.

Zum Fest der Heimsuchung MariäZum Fest der Heimsuchung MariäZum Fest der Heimsuchung MariäZum Fest der Heimsuchung MariäZum Fest der Heimsuchung Mariä

Nr. 19: 2. Juli 1618 IX,157-169

Exsurgens Maria, abiit in montana cumfestinatione, in civitatem Juda.Maria machte sich auf und ging eilends ins Gebir-ge, in eine Stadt in Judäa (Lk 1,39).

Unsere überaus liebenswerte und nie genug geliebte Frau und Her-rin, die glorreiche Jungfrau, hatte kaum ihre Einwilligung zu denWorten des heiligen Erzengels Gabriel gegeben, da erfüllte sich in ihrdas Geheimnis der Menschwerdung. Als sie vom gleichen hl. Gabrielerfuhr, daß ihre Base Elisabet in ihrem Alter einen Sohn empfangenhatte (Lk 1,36), da wollte sie diese aufsuchen, da sie ihre Verwandtewar, in der Absicht, ihr zu dienen und ihr in der Zeit ihrer Schwanger-schaft beizustehen, denn sie wußte, daß dies der Wille Gottes war.Und sogleich, sagt der heilige Evangelist, verließ sie Nazaret, einekleine Stadt in Galiläa, wo sie wohnte, um sich nach Judäa zum Hausdes Zacharias zu begeben. Abiit in montana, sie stieg in das Gebirgevon Judäa hinauf und unternahm die Reise, obwohl sie lang und schwie-rig war. Wie einige Autoren sagen, war die Stadt, in der Elisabet wohn-te, 27 Meilen von Nazaret entfernt; andere sagen, etwas weniger. Eswar jedenfalls ein recht beschwerlicher Weg für diese zarte und schwa-che Jungfrau, weil er quer durch das Gebirge führte.

Sobald sie also die göttliche Eingebung vernahm, machte sie sichdorthin auf den Weg, nicht etwa gedrängt durch irgendeine Neugierde,um zu sehen, ob auch wirklich wahr sei, was ihr der Engel gesagt hatte.Daran zweifelte sie in keiner Weise, sondern sie war sicher, daß es sichso verhielt, wie er ihr erklärt hatte. Trotzdem wollten einige unterstel-len, daß bei ihrem Vorhaben die Neugierde eine gewisse Rolle ge-spielt habe. Es war ja wirklich ein unerhörtes Wunder, daß die hl.

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Elisabet, die nie ein Kind hatte und unfruchtbar war, in ihrem Alterempfangen hat. Oder es könnte sein, sagen sie, daß sie irgendeinenZweifel daran hatte, was ihr der Engel sagte. Dem war nicht so, der hl.Lukas rügt und widerlegt sie durch das Wort (1,45), das die hl. Elisabetausrief, als sie die seligste Jungfrau eintreten sah: Selig bist du, die dugeglaubt hast. Es war also weder Neugierde noch irgendein Zweifel ander Schwangerschaft der hl. Elisabet, die sie zu dieser Reise veranlaßthätten, vielmehr mehrere sehr schöne Erwägungen; davon will ich ei-nige aufgreifen.

Sie ging hin, um das große Wunder oder die große Gnade zu sehen,die Gott dieser betagten und unfruchtbaren Frau erwiesen hatte, daßsie trotz ihrer Unfruchtbarkeit einen Sohn empfing. Sie wußte ja sehrwohl, daß es im Alten Bund eine Schande war, unfruchtbar zu sein. Daaber die gute Frau alt war, ging sie auch hin, um ihr in ihrer Schwan-gerschaft zu dienen und ihr jede Erleichterung zu verschaffen, die ihrmöglich war. Zweitens geschah es, um ihr das tiefe Geheimnis derMenschwerdung mitzuteilen, das sich in ihr verwirklicht hat. Unsererlieben Frau war ja nicht unbekannt, daß ihre Base Elisabet ein gerech-ter Mensch war (Lk 1,6), sehr gut, gottesfürchtig, und die Ankunft desMessias sehnlich erwartete, der im Alten Bund verheißen war, um dieWelt zu retten. Es mußte für sie ein großer Trost sein zu erfahren, daßsich die göttlichen Verheißungen erfüllt haben und daß die von denPropheten und Patriarchen ersehnte Zeit gekommen war. Drittens gingsie auch hin, um Zacharias die Sprache wiederzugeben, die er durchseinen Unglauben gegenüber der Vorhersage des Engels verloren hat-te, als er ihm ankündigte, daß seine Frau einen Sohn empfangen wer-de, der Johannes heißen soll. Viertens wußte sie, daß dieser Besuchdem Haus des Zacharias eine Fülle des Segens bringen werde, der bisauf das Kind im Schoß der hl. Elisabet überströmen wird, das durchihre Ankunft geheiligt werden soll. Das sind die Gründe, und ich könntenoch mehrere hinzufügen; aber ich käme damit nie zu Ende.

Meint ihr übrigens nicht, meine teuersten Schwestern, was unsereglorreiche Herrin vor allem veranlaßte, diese Reise zu machen, daswar ihre überaus glühende Liebe und eine sehr tiefe Demut, die sie sogeschwind und bereitwillig in das Gebirge von Judäa gehen ließ? Ge-wiß, meine lieben Schwestern, das waren die beiden Tugenden, die siedrängten, ihr kleines Haus in Nazaret zu verlassen, denn die Liebe istnicht untätig. Sie wogt in den Herzen, in denen sie wohnt und herrscht.Die allerseligste Jungfrau war von ihr ganz erfüllt, da sie die Liebeselbst in ihrem Schoß trug. Sie besaß davon nicht nur ständige Akteder Liebe zu Gott, mit dem sie durch die denkbar vollkommenste

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Liebe verbunden war, sondern sie besaß die Liebe zum Nächsten ineinem Grad höchster Vollkommenheit, die sie das Heil der ganzenWelt und die Heiligung der Seelen glühend wünschen ließ. Da sie wußte,daß sie zur Heiligung des hl. Johannes im Schoß der hl. Elisabet bei-tragen konnte, ging sie mit großer Emsigkeit hin. Ihre Liebe drängte sieauch, sich mit der guten Greisin darüber zu freuen, da der Herr sie mitso großem Segen bedacht hat, daß die Unfruchtbare empfing und dentrug, der der Vorläufer des Mensch gewordenen Wortes werden sollte.

Sie ging also, um sich mit ihrer Base zu freuen und sich mit ihrgegenseitig zum Lob Gottes zu ermuntern, der über beide so vieleGnaden ausgegossen hat; über die Jungfrau, daß sie durch das Wirkendes Heiligen Geistes den Sohn Gottes empfing (Lk 1,35); über die hl.Elisabet, die unfruchtbar war, daß sie auf wunderbare Weise durcheine besondere Gnade den empfing, der der Vorläufer des Messiassein sollte. Es wäre nicht angemessen gewesen, wenn jener, der erwähltwar, dem Herrn die Wege zu bereiten (Lk 1,76), von der Sünde beflecktwar. Deshalb eilte Unsere liebe Frau, damit er geheiligt werde unddamit das heilige Kind, das Gott war, dem allein die Heiligung derSeelen zukam, bei diesem Besuch auf die Seele des glorreichen hl.Johannes einwirken, ihn reinigen und von der Erbsünde befreien konn-te. Das geschah so vollkommen, daß manche Theologen kühn behaup-ten, daß er nie eine läßliche Sünde beging, obwohl einige andere ander gegenteiligen Meinung festhalten.

Die Liebe war also die Ursache, daß die allerseligste Jungfrau beidieser Heiligung mitwirkte. Aber es ist kein Wunder, daß ihr heiligesHerz ganz erfüllt war von Liebe und vom Verlangen nach dem Heilder Menschen, da sie in ihrem keuschen Schoß die Liebe selbst trug,den Heiland und Erlöser der Welt. Mir scheint, daß man auf sie dieWorte des Hoheliedes (7,5) anwenden muß: Dein Haupt gleicht demBerg Karmel. Seht, wenn der göttliche Bräutigam die Schönheit seinerBraut im einzelnen beschreibt, beginnt er mit ihrem Haupt. Was aberwill der göttliche Liebhaber damit sagen, wenn er das Haupt seinerVielgeliebten mit dem Berg Karmel vergleicht? Der Berg Karmel istganz bunt von überaus duftenden Blumen, und die Bäume, die auf ihmwachsen, strömen nur Wohlgerüche aus. Was bedeuten diese Blumenund diese Wohlgerüche anderes als die Liebe? Sie ist eine überausschöne und duftende Tugend, die nie allein in einer Seele ist. Manwendet diese Worte des Hoheliedes wohl auf die Kirche an, die wahreBraut Unseres Herrn; in ihr finden sich wie auf dem Berg Karmel inFülle alle Arten von Blumen der Tugenden und sie ist ganz duftendvon Heiligkeit und Vollkommenheit. Man kann das aber auch von der

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heiligen Jungfrau sagen, denn sie ist die getreue Braut des HeiligenGeistes. Da sie nun die Liebe in solcher Vollendung besaß, glich siedem Berg Karmel durch die häufigen Akte der Liebe sowohl gegenGott als gegen den Nächsten; und diese Liebe verströmte wie ein Duft-baum überaus angenehmen Duft und Süßigkeit.

Aber die Rabbiner und einige andere scheinen noch deutlicher zumachen, daß der göttliche Bräutigam die Liebe meint, wenn er vomHaupt seiner Vielgeliebten spricht; sie übersetzen nämlich: Dein Hauptgleicht dem Scharlach. An anderer Stelle (Hld 4,3; 6,6) werden dieWangen der Braut mit den Kernen des Granatapfels verglichen, dieganz rot sind. Was ist das alles, wenn nicht das natürliche Sinnbild derLiebe in der seligsten Jungfrau? Sie besaß ja nicht nur die Liebe, son-dern hatte sie in solcher Fülle empfangen, daß sie die Liebe selbst war.Sie hatte jenen empfangen, der ganz Liebe ist und sie selbst zur Liebemachte. Deshalb kann man auf sie besser als auf irgendjemand diefolgenden Worte des Hoheliedes (2,7; 3,5) anwenden. Als der heiligeBräutigam seine Vielgeliebte in ihrer lieblichen Ruhe betrachtete,wurde er von heiligem Wohlgefallen erfüllt, das ihn veranlaßte, dieTöchter Jerusalems zu beschwören, sie ja nicht zu wecken; er sagte:Töchter Jerusalems, ich beschwöre euch bei den Zicklein und Ziegendes Feldes, weckt meine Vielgeliebte nicht, die in der Liebe ist, bis siewill oder es wünscht. Und warum? Weil sie in der Liebe ist. Nach eineranderen Version heißt es: Töchter Jerusalems, ich beschwöre euch,weckt die Liebe selbst nicht, bis sie es will. Diese Liebe ist meine Viel-geliebte, d. h. die heilige Jungfrau, die nicht nur die Liebe besitzt,sondern selbst die Liebe ist. Sie ist es, auf die Gott mit ganz besonde-rem Wohlgefallen geschaut hat. Denn wer konnte Unserem Herrn ge-fallen wie jene, die alle Arten der Tugend in vollem Maß besaß? Zu-sammen mit der Liebe war sie ausgestattet mit einer tiefen Demut, wiedie Worte zeigen, die sie sprach, als die hl. Elisabet sie pries: Da Gottauf die Demut seiner Magd geschaut hat, werden alle Nationen sie rüh-men und seligpreisen (Lk 1,48).

Um aber unseren Geist vor jeder Verwirrung zu bewahren, wollenwir erklären, wie diese Worte zu verstehen sind. Mehrere Theologenmeinen, als Unsere liebe Frau sagte, daß der Herr auf die Demut sei-ner Magd schaute, wollte sie nicht von der Tugend der Demut spre-chen, die in ihr war. Unter denen, die diese Meinung vertreten, findetman Maldonat und einige andere. Sie sagen: obwohl die seligste Jung-frau eine tiefe Demut besaß, hielt sie sich nicht für demütig und wolltenoch weniger von der Demut sprechen, weil ein solches Wort gegendie Demut selbst gewesen wäre. Wenn sie sagt: Er hat auf die Demut

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seiner Magd geschaut, wollte sie damit vielmehr die Nichtswürdig-keit, die Armseligkeit und Niedrigkeit bezeichnen, die sie in sich sah,in dem, was ihrer Natur und dem Nichts entsprach, aus denen sie her-vorgegangen war. In diesem Sinn versicherte sie, daß Gott auf die De-mut seiner Magd geschaut hat; denn, sagen diese Theologen, der wahr-haft Demütige glaubt und sieht nie, daß er die Tugend der Demut be-sitzt.

Andere vertreten die gegenteilige Meinung, und sie ist die wahr-scheinlichere. Sie denken, daß Unsere liebe Frau von der Tugend derDemut sprechen wollte und klar erkannte, daß diese Tugend es war,die den Sohn Gottes ihren Schoß wählen ließ. Es gibt also keinenZweifel daran, daß sie diese Tugend in sich sah, und das ohne dieGefahr, sie zu verlieren; sie erkannte ja, daß die Demut, die sie in sichsah, nicht von ihr stammte. Bekannte nicht der große heilige ApostelPaulus, daß er die Liebe besaß, uzw. mit so sicheren Worten, daß ereher anmaßend als demütig zu sprechen scheint? Er sagte (Röm 8,35-39): Wer wird mich von der Liebe Christi trennen? Etwa Ketten, Trüb-sale, der Tod, das Kreuz, das Feuer, das Schwert? Nein, nichts vermagmich von der Liebe Gottes zu scheiden, die in Jesus Christus ist. Sehtihr, mit welcher Sicherheit der Apostel spricht? Wenn er bekennt, daßnichts ihn von der Liebe Gottes zu trennen vermag, muß er also glau-ben, daß er die Liebe besitzt. Gewiß, daran besteht kein Zweifel, zu-mal man seine Worte, Wer wird mich von der Liebe Gottes trennen?,dahin verstehen muß: mit Hilfe der Gnade Gottes. So ermangelte auchdie seligste Jungfrau nicht der Demut, noch beging sie den geringstenFehler gegen sie, als sie versicherte, daß Gott auf die Demut seinerMagd geschaut hat, ebensowenig wie der hl. Paulus, als er ausrief: Werkönnte mich von der Liebe trennen? Sie wußte ja, daß unter allen ande-ren Tugenden diese das Herz Gottes rührt und anzieht.

Nachdem der Bräutigam im Hohelied seine Braut im einzelnen be-trachtet hatte, richtete er seinen Blick auf ihre Schuhe und auf ihrenGang. Das befriedigte ihn so sehr, daß er bekannte, darin ganz verliebtzu sein: Deine Schuhe gefallen mir, sagt er (Hld 7,1); welche Anmut istin deinem Schreiten! In der Heiligen Schrift lesen wir auch (Jdt 10,3;16,10f), daß Judit besonders schön geschmückt war, als sie Holofernesaufsuchte. Ihr Gesicht war von der denkbar köstlichsten Schönheit,ihre Augen leuchteten, ihre Lippen waren purpurrot, ihre Haare fielenin Locken auf die Schultern. Trotzdem war Holofernes weder von denAugen Judits eingenommen noch von ihren Lippen und ihren Haarennoch von irgendetwas, was ich euch an ihr hätte beschreiben können.

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Als er aber seinen Blick auf ihre Sandalen und ihre Schuhe richtete,war er davon ganz hingerissen und gerührt. Wir können uns ja denken,daß sie besonders geschmackvoll mit Gold verziert waren. Ebensobetrachtete Unser Herr wohl die Vielfalt und Schönheit der TugendenUnserer lieben Frau, die sie überaus schön machten; als aber der ewi-ge Vater seine Augen auf ihre Sandalen oder Schuhe richtete, war erdavon so ergriffen, daß er sich dadurch bestimmen ließ und ihr seinenSohn sandte, der in ihrem keuschen Schoß Mensch wurde.

Was sind diese Sandalen oder Schuhe der seligsten Jungfrau anderesals ihre Demut, versinnbildet durch die Schuhe? Sie sind der geringsteSchmuck, dessen man sich zur Zierde des Leibes bedient, denn siesind stets der Erde nahe, treten in Schmutz und Schlamm. Das ist auchder Demut eigen, wenn sie echt sein soll, da sie stets niedrig, klein undjedermann zu Füßen ist. Sie ist der Boden und das Fundament desgeistlichen Lebens, denn sie will immer nahe der Erde, ihrer Nichtig-keit und Niedrigkeit sein. Auf diese Niedrigkeit schaute Gott bei derheiligen Jungfrau, und davon ging all ihr Glück aus. Sie sagt ja, daß siedeshalb seliggepriesen wird von allen Geschöpfen, von Geschlecht zuGeschlecht. Als nun Unsere liebe Frau sagte, daß Gott auf ihre Demutgeschaut hat, dachte sie an sich ihrer Natur und ihres Wesens wegen,und das bewirkte, daß sie sich demütigte.

Der Glaube Abrahams war so groß, daß er die Gaben Gottes in sichnicht verkennen konnte. Wie in der Genesis (18,27) berichtet wird,bekannte er dennoch, daß er nichts anderes sei als Staub und Asche.Unser Herr sagt von sich selbst (Ps 22,7), er sei ein Wurm und keinMensch. Als die seligste Jungfrau ihr ganz heiliges und ganz reinesLeben erwog, fand sie es gut; und da sie in sich die Demut sah, konntesie in diesem Sinn sagen, daß Gott auf ihre Demut geschaut hat. Da sieaber andererseits ihre Nichtigkeit sah, sagte sie, daß er auf ihre Nied-rigkeit geschaut hat, auf ihr Klein- und Verächtlichsein, und daß siedeswegen seliggepriesen wird.

Sowohl in dem einen wie im anderen Sinn sprach sie nun mit sogroßer Demut, daß sie klar erkennen ließ, sie habe all ihr Glück daringefunden, daß Gott seine Augen auf ihr Kleinsein richtete. Man kanndeshalb auf sie die Worte des Hoheliedes (1,11) anwenden: Dum essetRex in accubito suo, nardus mea dedit odorem suum.* Meine Vielge-liebte ist für mich ein Narde, die einen sehr starken Duft verbreitet.Die Narde ist ein kleiner Strauch, der einen überaus lieblichen Duft

* Während der König auf seinem Lager ruhte, gab meine Narde ihren Duft.

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ausströmt. Er erhebt sich nicht in die Höhe wie die Zedern des Liba-non, sondern bleibt niedrig und gibt einen Duft von solcher Lieblich-keit von sich, daß er alle erquickt, die ihn riechen. Diese kostbareNarde war die heilige und allerseligste Jungfrau; sie hat sich nie er-höht wegen irgendetwas, was ihr geschah oder gesagt wurde; wie dieNarde hat sie vielmehr in ihrer Niedrigkeit und ihrem Kleinsein denDuft eines so lieblichen Wohlgeruchs verbreitet, daß er bis zum Thronder göttlichen Majestät emporstieg. Gott war von ihm so gerührt underfreut, daß er den Himmel verließ, um auf die Erde herabzukommenund im reinsten Schoß dieser unvergleichlichen Jungfrau Mensch zuwerden.

Ihr seht also, meine teuersten Schwestern, wie wohlgefällig Gott dieDemut ist. Die glorreiche Herrin wurde zur Mutter Unseres Herrnerwählt, weil sie demütig war. Das bestätigte ihr göttlicher Sohn selbst.Als jene gute Frau das Wunder sah, das er eben gewirkt hatte, und dasMurren der Juden hörte, da erhob sie sich und rief mit lauter Stimme:Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brüste, die dich genährthaben! Darauf antwortete der Heiland: Seliger noch sind jene, die dasWort Gottes hören und es bewahren (Lk 11,27f). Damit wollte er sa-gen: Es ist wahr, daß meine Mutter sehr glücklich ist, weil sie mich inihrem Schoß getragen hat; aber sie ist es noch mehr durch die Demut,mit der sie die Worte meines himmlischen Vaters gehört und sie be-wahrt hat. An einer anderen Stelle heißt es: Als man ihm mitteilte, daßseine Mutter nach ihm fragte, antwortete der göttliche Meister, daßjene seine Mutter, seine Brüder und Schwestern sind, die den Willenmeines Vaters tun (Mt 12,47-50). Nicht daß er seine Mutter verleug-nen wollte, vielmehr wollte er zu verstehen geben, daß sie Gott nichtnur wohlgefällig war, weil sie ihn in ihrem Schoß getragen hat, son-dern viel mehr durch die Demut, mit der sie seinen Willen in allemerfüllte.

Doch ich sehe, daß die Zeit vergeht. Deshalb will ich diese Betrach-tung beenden und die kurze Zeit, die noch bleibt, der Begebenheit desheutigen Evangeliums widmen. Sie ist ja, wie mir scheint, außeror-dentlich schön und sehr lieblich anzuhören. Der Evangelist sagt also,die selige Jungfrau machte sich eilends auf den Weg und ging in dasGebirge von Judäa. Damit will er die rasche Bereitschaft zeigen, mitder man den göttlichen Eingebungen Folge leisten muß; denn es istdem Heiligen Geist eigen, wenn er an ein Herz rührt, daraus alle Lau-heit zu vertreiben. Er liebt die rasche Bereitschaft; er haßt die Verzö-gerung und den Aufschub in der Erfüllung des göttlichen Willens.Exsurgens Maria, sie erhob sich sogleich und ging eilends in das Gebir-

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ge von Judäa. Das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, behindertesie in keiner Weise, denn es war nicht mit anderen zu vergleichen.Folglich empfand die seligste Jungfrau nicht die Beschwerden wieandere Frauen, die schwerfällig sind und schlecht gehen können we-gen der Last des Kindes, das sie tragen, weil diese Kinder Sünder sind.Das Kind Unserer lieben Frau aber war kein Sünder, sondern der Er-löser der Sünder, der kam, um die Sünde der Welt hinwegzunehmen(Joh 1,29). Deshalb fühlte sie sich durch ihn nicht belastet, sondernleichter und beschwingter. Sie ging auch eilends, weil ihre jungfräuli-che Reinheit sie dazu antrieb, um bald geborgen zu sein; denn dieJungfrauen sollen im Verborgenen bleiben und sich so wenig wie mög-lich im Getümmel der Welt aufhalten.

Intravit Maria. Sie betrat das Haus des Zacharias und grüßte ihreBase Elisabet (Lk 1,40). Sie küßte und umarmte sie. Seht, ich folgerasch dem Evangelium, denn die Zeit ist vorangeschritten. Der hl.Lukas sagt wohl, daß sie Elisabet grüßte, von Zacharias dagegen sagter das nicht; denn die Jungfräulichkeit erlaubte Unserer lieben Fraunicht, Männer zu grüßen. Sie wollte uns damit auch zeigen, daß dieJungfrauen nie zu viel bedacht sein können, ihre Reinheit zu bewah-ren. Es gibt dafür tausend schöne Belege, aber ich will weitergehenund die Geschichte zu Ende erzählen. Welche Gnaden und Gunster-weise, denkt ihr, meine lieben Schwestern, kamen über das Haus desZacharias, als die seligste Jungfrau eintrat? Abraham empfing so vieleGnaden, weil er drei Engel in seinem Haus beherbergte (Gen 18);Jakob brachte Laban so viel Segen (Gen 29), obwohl er ein schlechterMensch war; Lot wurde vor der Zerstörung Sodoms gerettet, weil erdrei Engel aufgenommen hatte (Gen 19); der Prophet Elija füllte alleGefäße der armen Witwe (1 Kön 17,10-16); Elischa erweckte das Kindder Schunemitin wieder zum Leben (2 Kön 4); schließlich empfingObed-Edom so viele Gunsterweise des Himmels, weil er die Bundes-lade bei sich geborgen hatte (2 Sam 6,10f). Welche Gnaden und wel-che Fülle himmlischen Segens kamen erst über das Haus des Zachari-as, in das der Engel des großen Ratschlusses (Jes 9,6 nach Sept.) ein-trat, der wirkliche Jakob und göttliche Prophet, die wahre Bundesla-de, Unser Herr im Schoß Unserer lieben Frau!

Gewiß, das ganze Haus wurde erfüllt von Freude: das Kind hüpftevor Freude, der Vater gewann die Sprache wieder, die Mutter wurdevom Heiligen Geist erfüllt und erhielt die Gabe der Weissagung, dennals sie die heilige Jungfrau ihr Haus betreten sah, rief sie aus: Woherkommt mir, daß die Mutter meines Gottes mich heimsuchen kommt

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(Lk 1,41-44.64)? Seht ihr, sie nennt Maria Mutter, ehe sie geboren hat.Das entspricht nicht dem allgemeinen Brauch, denn man nennt dieFrauen nicht Mutter, bevor sie ein Kind geboren haben, weil sie häufigeine Fehlgeburt haben. Elisabet aber wußte sicher, daß die seligsteJungfrau eine glückliche Niederkunft haben werde; deshalb zögert sienicht, sie Mutter zu nennen, ehe sie es ist, denn sie ist sicher, daß sie essein wird, und nicht nur Mutter eines Menschen, sondern Gottes, folg-lich Königin der Menschen und der Engel. Deshalb ist sie erstaunt,daß eine so hohe Fürstin sie heimsucht.

Darauf sagt sie (Lk 1,45.42): Glückselig bist du, hohe Frau, weil dugeglaubt hast; und weiter: Du bist gebenedeit über alle Frauen. Darausersehen wir, in welchem Grad sie die Gabe der Weissagung empfan-gen hat, denn sie spricht von vergangenen, gegenwärtigen und zukünf-tigen Dingen. Glückselig bist du, weil du geglaubt hast, was dir derEngel gesagt hat, denn damit hast du gezeigt, daß du mehr Glaubenhast als Abraham. Du hast geglaubt, daß die Jungfrau und die Un-fruchtbare empfangen werden, denn das ist etwas, was den Lauf derNatur übersteigt. Das also wußte sie in prophetischem Geist von derVergangenheit. Von der Zukunft sah sie durch den gleichen Geist, daßdie seligste Jungfrau gebenedeit unter allen Frauen sein wird, und sieverkündete es. Sie sprach auch von der Gegenwart und nannte sie MutterGottes. Außerdem fügte sie hinzu, daß das Kind, das sie trug, bei ihrerAnkunft vor Freude hüpfte. Gewiß ist es nicht verwunderlich, wennder hl. Johannes vor Freude hüpfte bei der Ankunft seines Erlösers.Unser Herr sagt ja (Joh 8,56) zu den Juden: Euer Vater Abraham freu-te sich, als er meinen Tag in prophetischem Geist kommen sah, den ihrseht. Alle Propheten ersehnten den im Alten Bund verheißenen Mes-sias und freuten sich, da sie wußten, daß alles sich zu seiner Zeit erfül-len wird. Um wieviel mehr müssen wir denken, daß der hl. Johannesvon Freude erfüllt wurde, als er vom Schoß seiner Mutter aus denwahren verheißenen Messias sah, den Ersehnten der Patriarchen (Apg2,8), der ihn aufsuchen kam, um mit ihm das Werk der Erlösung zubeginnen, indem er ihn aus dem Sumpf der Erbschuld zog!

Meine sehr teuren Schwestern, wie sehr müßt ihr von Freude erfülltsein, da ihr vom göttlichen Heiland heimgesucht werdet im allerhei-ligsten Sakrament des Altares und von inneren Gnaden, die ihr stünd-lich von der göttlichen Majestät empfangt durch so viele Eingebungenund Worte, die er zu eurem Herzen spricht. Er ist ja immer da, klopftan und sagt euch, was er will, daß ihr aus Liebe zu ihm tun sollt. Ach,wieviel Dank schuldet ihr dem Herrn für so viele Gunsterweise! Wie

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müßt ihr mit großer Aufmerksamkeit auf ihn hören, treu und raschseinen Willen erfüllen!

Als die allerseligste Jungfrau vernahm, was ihre Base Elisabet zuihrem Lob sagte, gab sie für alles Gott die Ehre. Dann bekannte sie,daß ihr ganzes Glück, wie ich gesagt habe, daher kam, daß er auf dieNiedrigkeit seiner Magd geschaut hat, und stimmte den wundervollenLobgesang des Magnificat an (Lk 1,46-55). Dieser Lobgesang über-trifft alle, die andere Frauen sangen. Er ist erhabener als das Lied derJudit (16,1-21), unvergleichlich schöner als jenes, das die Schwesterdes Mose sang, als die Kinder Israels durch das Rote Meer zogen,Pharao und die Ägypter in seinen Fluten begraben waren (Ex 15,1-21), kurz, schöner als jene, die von Simeon (Lk 2,29-32) und all denanderen gesungen wurden, von denen die Heilige Schrift berichtet.

Meine lieben Schwestern, ihr habt die seligste Jungfrau zur Mutter,ihr seid Töchter der Heimsuchung Unserer lieben Frau und der hl.Elisabet; mit welcher Sorgfalt müßt ihr sie nachahmen, vor allem inihrer Demut und Liebe. Sie sind die vorzüglichsten Tugenden, die die-se Heimsuchung sie üben ließ. In diesen Tugenden müßt ihr euch vorallem auszeichnen, wenn ihr euch mit großem Eifer freudig aufmacht,eure kranken Schwestern zu besuchen, indem ihr einander erleichtertund in den geistigen und leiblichen Krankheiten herzlich dient. Undin allem, wo es die Demut und die Liebe zu üben gilt, müßt ihr es mitbesonderer Sorgfalt und Bereitschaft tun; denn seht, für euch genügtes nicht, Töchter Unserer lieben Frau zu sein und euch damit zu be-gnügen, in einem Haus der Heimsuchung zu sein und den Schleier derOrdensfrauen zu tragen. Das hieße einer so guten Mutter Unrecht tun;es hieße aus der Art schlagen, wollte man sich damit begnügen. Manmuß sie vielmehr nachahmen in ihrer Heiligkeit und in ihren Tugen-den. Meine lieben Schwestern, seid also sehr sorgfältig bestrebt, euerLeben nach dem ihren zu gestalten. Seid sanft, demütig, liebenswür-dig, gutherzig, und verherrlicht mit ihr Unseren Herrn in diesem Le-ben. Wenn ihr das treu und demütig in dieser Welt tut, werdet ihrzweifellos im Himmel mit der seligsten Jungfrau das Magnificat sin-gen. Und indem ihr durch diesen heiligen Gesang die göttliche Maje-stät preist, werdet ihr von ihr die ganze Ewigkeit gesegnet sein. Dort-hin mögen uns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.Amen.

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Zum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme MariasZum Fest der Aufnahme Marias

Nr. 21: 15. August 1618* IX,178-191

Die heilige Kirche feiert heute das Fest des glorreichen Heimgangsoder Entschlafens der allerseligsten Jungfrau und ihrer Aufnahme inden Himmel. Manche haben diesem Fest verschiedene Namen gege-ben: die einen nennen es die Himmelfahrt, andere die Krönung Unse-rer lieben Frau, die übrigen ihre Aufnahme in den Himmel. Man könn-te zahllose Erwägungen zu diesem Gegenstand anstellen; ich will michaber darauf beschränken, nur über zwei davon zu sprechen, nämlichwie die heilige Jungfrau unseren Herrn und Meister empfing, als ervom Himmel auf die Erde herabstieg, und wie ihr göttlicher Sohn sieempfing, als sie die Erde verließ, um in den Himmel einzuziehen.

Das Evangelium, das wir heute in der heiligen Messe gelesen haben(Lk 10,38-42), bietet uns Stoff genug für das eine und das andere Vor-haben. Dieses Evangelium handelt davon, daß Unser Herr durch ei-nen Ort mit dem Namen Betanien kam und in das Haus einkehrte, daseiner Frau namens Marta gehörte. Sie hatte eine Schwester mit NamenMaria Magdalena. Marta war sehr aufgeregt und eifrig bemüht, Unse-rem Herrn ein Mahl zu bereiten. Maria saß zu seinen Füßen und lausch-te seinem Wort. Marta wünschte, daß alle ebenso besorgt seien wie sie,dem Heiland zu dienen; sie beklagte sich bei ihm und sagte, er mögeihre Schwester auffordern, ihr zu helfen. Sie hielt es nicht für nötig,daß jemand bei ihm bleibe, da er sich ganz allein zu unterhalten wüß-te. Aber unser göttlicher Meister rügte sie und sagte ihr, sie sei sehrgeschäftig und bemühe sich um viele Dinge; und er fügte hinzu: Nureines ist notwendig; Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nichtgenommen werden soll.

Die beiden Frauen stellen Unsere liebe Frau dar: Marta in dem Emp-fang, den die heilige Jungfrau ihrem göttlichen Sohn bereitete, und inder Sorge für ihn, solange er in diesem sterblichen Leben weilte; Ma-ria in dem Empfang, der ihr von ihrem Sohn oben in seiner Gloriebereitet wurde. Unsere liebe Frau erfüllte bewundernswert gut in die-sem Leben die Aufgabe der einen wie der anderen der beiden Schwes-tern. O Gott, mit welcher Sorgfalt versah sie doch Unseren Herrn mitallem Notwendigen, solange er klein war! Welche Geschäftigkeit, oderbesser gesagt, welche Sorgfalt wandte sie auf, um dem Grimm des

* Vgl. Anm. 1 zu Nr. A 147.

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Herodes zu entgehen! Was tat sie nicht alles, um ihn aus so vielenGefahren und Unfällen zu retten, von denen er bedroht war!

Doch sehen wir ein wenig, wie wunderbar gut sie die Aufgabe derMaria erfüllte. Das heilige Evangelium erwähnt ausdrücklich dasSchweigen Unserer lieben Frau (Lk 2,51). Maria schwieg und hieltsich zu Füßen ihres Meisters. Sie hatte nur eine Sorge: in seiner Ge-genwart zu sein. Ebenso scheint unsere würdige Herrin nur diese Sor-ge gehabt zu haben. Seht sie in der Stadt Betlehem, wo man alles Mög-liche unternimmt, um eine Unterkunft für sie zu finden. Es findet sichkeine; sie sagt kein Wort. Sie geht in den Stall, sie kommt nieder undgebiert ihren vielgeliebten Sohn; sie legt ihn in die Krippe. Die Köni-ge kommen, um ihn anzubeten, und man kann sich denken, welchesLob sie dem Kind und der Mutter spenden; sie sagt kein Wort. Sie trägtihn nach Ägypten, sie bringt ihn zurück, ohne mit einem Wort ihrenSchmerz auszudrücken, daß sie ihn dorthin bringen muß, noch dieFreude, die sie empfinden mußte, ihn zurückzubringen. Was aber nochbewundernswerter ist: seht sie auf dem Kalvarienberg (Joh 19,25-27).Sie stößt keinen Seufzer aus, sie sagt kein einziges Wort; sie steht zuFüßen ihres Sohnes, und das ist das einzige, was sie ersehnt. Folglichist sie wie in vollkommenem Gleichmut: Alles komme, wie es mag,scheint sie zu sagen; wenn ich nur bei ihm bin und ihn besitze, bin ichzufrieden, denn ich will und suche nur ihn.

Beachtet bitte, daß Unser Herr Marta rügte, weil sie zu geschäftigwar, nicht deswegen, weil sie Sorge trug. Unsere liebe Frau verwandtegroße Sorgfalt auf den Dienst unseres göttlichen Meisters, aber eineSorgfalt ohne Verwirrung und Aufregung. Die Heiligen im Himmelsind mit Sorgfalt darauf bedacht, Gott zu verherrlichen und zu loben,aber ohne Unruhe, denn die gibt es dort nicht. Die Engel haben Sorg-falt für unser Heil, aber in Frieden und Ruhe. Nun, wir sind so armse-lig, daß wir selten für etwas Sorge tragen ohne Aufregung und Verwir-rung. Sehr oft könnt ihr einen Mann sehen, der großen Eifer für diePredigt hat; verwehrt ihm zu predigen, und schon ist er verwirrt. Einanderer, der die Kranken besuchen und trösten will, wird es nichtohne Geschäftigkeit tun, ja ohne sich zu beunruhigen, wenn er verhin-dert ist, es zu tun. Wieder ein anderer, der eine große Vorliebe für dasGeistesgebet hat, so daß er nur auf den Geist bedacht zu sein scheint,wird doch aufgeregt und verwirrt sein, wenn man ihn daran hindert,um ihn etwas anderes tun zu lassen.

Sagt mir nun: wäre Marta so geschäftig gewesen, wenn sie nur Sorgegetragen hätte, Unserem Herrn zu gefallen? Gewiß nicht, denn eineinziges Gericht, gut zubereitet, hätte als Nahrung für ihn genügt, zu-

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mal er mehr Freude empfungen hätte, wenn sie ihm zugehört hätte wieMaria. Mit ihrer Arbeit und Geschäftigkeit, dafür zu sorgen, was unserMeister brauchte, verband Marta auch ein wenig Selbstgefälligkeit,die sie zeigen und wünschen ließ, daß man die Höflichkeit und Freund-lichkeit sehe, mit der sie jene empfing, die ihr die Ehre erwiesen, siezu besuchen. Deshalb ging sie ganz in der Aufwartung auf, die deräußeren Bedienung des Heilands galt. Das gute Mädchen glaubt noch,auf diese Weise eine gute Dienerin Gottes zu sein, und hielt sich füretwas Besonderes. Da sie ihre Schwester sehr liebte, wünschte sie, daßauch diese wie sie geschäftig sei, um ihren teuren Meister zu bedienen.Er aber hatte trotzdem mehr Gefallen an der Haltung Marias, in derenHerz er durch seine Worte größere Gnaden träufelte, als wir denkenkönnen.

Das entspricht der Antwort, die er jener Frau gab, von der im Evan-gelium (Lk 11,27f) berichtet wird. Du sagst, selig der Leib, der michgetragen, und die Brüste, die mich genährt haben; ich aber sage dir:selig sind jene, die das Wort Gottes hören und es bewahren. Nun, jene,die sich ereifern und abmühen wie Marta, etwas für Unseren Herrn zutun, halten sich für fromm und diese Geschäftigkeit für eine Tugend.Das stimmt trotzdem nicht, wie er selbst zu verstehen gibt: Nur einesist notwendig, nämlich Gott haben und ihn besitzen. Wenn ich nur ihnsuche, was kann es mir dann ausmachen, daß man mich dies oder dastun heißt? Wenn ich nur seinen Willen erfüllen will, ist es dann wich-tig für mich, ob man mich nach Spanien oder Irland schickt? Undwenn ich nur sein Kreuz suche, warum rege ich mich darüber auf,wenn man mich nach Indien schickt, in die neue oder alte Welt? Ichbin ja sicher, daß ich das Kreuz überall finden werde.

Unsere glorreiche Herrin versah schließlich das Amt der Marta,indem sie Unseren Herrn mit größter Liebe und Ehrfurcht in ihremHaus und in ihrem Schoß aufnahm. Sie diente ihm sein ganzes Lebenlang mit beispielloser Sorgfalt. Bleibt noch zu zeigen, wie ihr Sohn siezum Lob dafür im Himmel aufnahm. Das geschah mit unvergleichli-cher Liebe und Glorie, mit einer Herrlichkeit, die jene aller Heiligenin dem Maß übersteigt, als ihre Verdienste die der Heiligen übertref-fen.

Bevor wir aber von ihrer Aufnahme in den Himmel sprechen, müs-sen wir sagen, wie und welchen Todes sie starb. Ihr kennt die Ge-schichte ihres glorreichen Heimgangs. Ich fühle mich trotzdem stetsgedrängt, mit Rücksicht auf die gewöhnlichen und einfachen Zuhörervon den Geheimnissen zu berichten, die wir feiern. Als unsere liebeFrau und würdigste Herrin das Alter von 63 Jahren erreicht hatte,

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starb sie oder vielmehr fiel sie in den Schlaf des Todes. Es gibt genugLeute, die sich darüber wundern und sagen: Unser Herr liebte dochseine heilige Mutter so zärtlich und so sehr; wieso hat er ihr nicht dasPrivileg verschafft, daß sie nicht sterben mußte? Der Tod ist doch dieStrafe für die Sünde, sie aber hat nie eine begangen; wieso hat er siedann sterben lassen? Ihr Sterblichen, eure Gedanken widersprechendenen der Heiligen und eure Entscheide sind weit entfernt von denender göttlichen Majestät (Jes 55,8f)! Wißt ihr nicht, daß der Tod nichtmehr schmachvoll sondern kostbar ist, seit Unser Herr und Meistersich von ihm an den Baum des Kreuzes heften ließ? Es wäre für dieheilige Jungfrau kein Vorzug und kein Privileg gewesen, nicht zu ster-ben, sondern sie hat den Tod stets ersehnt, seit sie ihn in den Armen, jaselbst im Herzen ihres allerheiligsten Sohnes gesehen hat. Der Tod istso süß und erstrebenswert, daß die Engel sich glücklich schätzen wür-den, wenn sie sterben könnten, und die Heiligen waren glücklich, ihnzu erleiden, und haben darin viel Trost gefunden, weil unser göttlicherErlöser, der unser Leben ist (Kol 3,4), sich dem Tod als Beute über-ließ.

Man sagt gewöhnlich: Wie das Leben so der Tod. Was meint ihr also,welchen Todes starb die heilige Jungfrau, wenn nicht des Todes ausLiebe? Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß sie aus Liebe starb, aberich sage das nicht, weil es geschrieben steht. Sie war immer die Mutterder schönen Liebe (Sir 24,24). Man kann in ihrem Leben keine Ent-rückungen und Ekstasen feststellen, weil diese Entrückungen ständigandauerten. Sie liebte mit einer stets starken, stets glühenden aberruhigen und von tiefem Frieden begleiteten Liebe. Und obschon dieseLiebe unaufhörlich zunahm, geschah dieses Wachsen nicht ruck- oderstoßweise, sondern stets fließend wie ein ruhiger Strom und fast nichtwahrnehmbar, durch die stets so ersehnte Vereinigung ihrer Seele mitder göttlichen Güte.

Als nun für die glorreiche Jungfrau die Stunde gekommen war, ausdiesem Leben zu scheiden, bewirkte die Liebe die Trennung ihrer See-le von ihrem Leib, und der Tod war nichts anderes als diese Trennung.Ihre ganz heilige Seele flog geradewegs in den Himmel; denn was hät-te sie daran hindern können, ich bitte euch. Sie war ja ganz rein undhatte sich nie den geringsten Makel der Sünde zugezogen. Was unsdaran hindert, wie Unsere liebe Frau geradewegs in den Himmel zukommen, wenn wir sterben, ist die Tatsache, daß wir fast alle Stauboder Schmutz an unseren Füßen haben. Deshalb müssen wir sie wa-schen und reinigen gehen an dem Ort, den man Reinigungsort nennt,bevor wir in den Himmel eingehen.

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Die Großen dieser Welt veranstalten manchmal Gesellschaften, undmeist ganz unnütze. Es kommt ihnen in den Sinn, daß sie den Ort ihrerZusammenkunft nicht hell wünschen, sondern sie wollen ihn dunkelund finster haben; und das, um irgendein Ballett, oder was weiß ich, zuveranstalten, das im Dunkeln vorteilhafter erscheint. Die Kerzen undFackeln verbreiten zu viel Licht, folglich muß man Lampen verwen-den, die mit duftendem Öl gespeist werden. Die Lampen verströmenständig eine Ausdünstung und spenden der Gesellschaft mehr Lieb-lichkeit und Ergötzen. Wenn nun diese Lampen erlöschen, verbreitensie einen viel herrlicheren Duft und erfüllen den Raum mit größeremWohlgeruch. An vielen Stellen der Heiligen Schrift finden wir, daß dieLampen die Heiligen versinnbilden. Sie gleichen Lampen, die ständigden Duft des guten Beispiels vor den Menschen verströmen und stetsvom Feuer der Gottesliebe entbrannt waren. Welch süßen Duft habendiese Lampen während ihres Lebens vor der göttlichen Majestät ver-breitet, aber viel mehr noch in der Stunde ihres Todes. Der Tod desGerechten ist kostbar vor dem Herrn, wie im Gegenteil der Tod desBösewichts ihm ein Greuel ist (Ps 34,22), so daß er sie zur Verdamm-nis führt.

Wenn nun die Heiligen brennende und duftende Lampen waren (Hld8,6; Joh 5,35), um wieviel mehr die allerseligste Jungfrau. Ihre Voll-kommenheit übertrifft die aller Seligen. Ja, wenn alle ihreVollkommenheiten in eine vereinigt wären, wäre sie nicht zu verglei-chen mit der ihren. Sie war gewiß eine Lampe, vollkommen gespeistmit duftendem Öl. Was meint ihr also, welchen Wohlgeruch sie in derStunde ihres glorreichen Hinscheidens verströmte? Die jungen Mäd-chen folgten ihr nach wegen des Duftes ihrer Salben (Hld 1,2f). Dieheilige Seele unserer glorreichen Herrin flog geradewegs in den Him-mel und begann ihren Wohlgeruch vor der göttlichen Majestät zu ver-strömen, die sie aufnahm und auf einen Thron zur Rechten ihres Soh-nes setzte.

Doch was glaubt ihr, mit welchem Triumph, mit welchem Prunk sievon ihrem vielgeliebten Sohn empfangen wurde als Erwiderung derLiebe, mit der sie ihn empfing, als er auf die Erde kam? Man darf wohlglauben, daß er nicht undankbar war, sondern daß er sie belohnte miteinem Grad der Glorie, um soviel erhabener über alle seligen Geister,als ihre Verdienste die aller Heiligen zusammen überragten. Der gro-ße heilige Apostel Paulus gibt einen Hinweis, wenn er von der Herr-lichkeit des Gottessohnes, unseres Herrn spricht, durch den man denhohen Grad der Glorie seiner allerseligsten Mutter gut erkennen kann.Er sagt (Hebr 1,5-7): Jesus wurde soviel über alle Kerubim und die

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übrigen seligen Geister erhöht, als sein Name über alle anderen Na-men erhaben ist. Von den Engeln steht geschrieben: Ihr seid meineDiener und meine Boten; aber zu welchem von ihnen wurde gesagt: Dubist mein Sohn, ich habe dich gezeugt? Ebenso können wir von derallerseligsten Jungfrau sagen: sie ist der Ausbund alles Schönen imHimmel und auf Erden. Zu welcher Frau wurde gesagt: Du bist dieMutter des Allmächtigen und des Gottessohnes, außer zu ihr? Ihr könnteuch also gut vorstellen, daß sie über alles erhöht wurde, was nichtGott ist.

Als die hochheilige Seele Unserer lieben Frau ihren reinsten Leibverlassen hatte, wurde dieser ins Grab gelegt und der Erde übergebenwie der ihres Sohnes, denn es war sehr angemessen, daß die Mutternicht mehr Vorrechte besaß als der Sohn. Wie aber Unser Herr nachdrei Tagen auferstanden ist, ebenso ist auch sie nach drei Tagen aufer-standen, allerdings auf andere Weise: Der Erlöser ist aus eigener Kraftund Autorität auferstanden; Unsere liebe Frau ist auferstanden durchdie Allmacht ihres Sohnes. Er befahl der gebenedeiten Seele seinerhochheiligen Mutter, sich wieder mit ihrem Leib zu vereinigen. Eswar gewiß sehr geziemend, weil aus seinem keuschen Schoß der LeibUnseres Herrn gebildet wurde und in ihm neun Monate geborgen war.

Die Bundeslade, in der sich die Gesetzestafeln befanden (1 Kön 8,9;Hebr 9,4), konnte in keiner Weise von Fäulnis befallen werden, dennsie war aus Zedernholz gemacht, das unverweslich ist (Ex 25,10). Wie-viel angemessener ist es, daß die Arche von jedem Verfall ausgenom-men war, in der der Herr des Gesetzes ruhte! Die Auferweckung derallerseligsten Jungfrau ist vorhergesagt mit den Worten (2 Chr 6,41;Ps 132,8): Erhebe dich, Herr, du und die Arche deiner Heiligung. DieWorte erhebe dich beziehen sich auf die Auferstehung Unseres Herrn;die folgenden Worte, und die Arche deiner Heiligung, müssen von jenerseiner Mutter verstanden werden. Unser Leib wird wieder zu Staub,ob wir das wollen oder nicht; das ist der Tribut, den wir schuldig sindund den wir alle bezahlen müssen für die Schuld, die wir alle in Adamauf uns geladen haben. Erde bist du, und zur Erde wirst du zurückkeh-ren (Gen 3,19; Koh 12,7). Die Würmer werden uns fressen, und wirhaben allen Grund, zu den Würmern zu sagen: Ihr seid mir Vater, ihrseid mir Mutter (Ijob 17,14).

Ich weiß nicht, ob euch aufgefallen ist, daß der junge David, ehe erden Kampf gegen Goliat aufnahm, sich bei den Kriegern genau erkun-digte, was man dem geben wird, der diesen Riesen, den Feind derKinder Gottes, besiegt und bezwingt. Man antwortete ihm, der König

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habe dem große Reichtümer versprochen, dem es gelingt, ihn zu über-wältigen. Aber das genügte dem Herzen Davids nicht, das großmütigwar und an nichts weniger als an Reichtümer dachte. Man fügte denReichtümern die Ehre hinzu und sagte: Der König wird ihn nicht nurreich machen, er wird ihm seine Tochter zur Frau geben, ihn zu seinemSchwiegersohn machen und darüber hinaus sein Haus von Abgabenbefreien (1 Sam 18,25-27.30).

Als unser Herr und Meister in diese Welt kam, erkundigte er sichwie sein Vorfahre David, was man dem geben wird, der den mächtigenGoliat besiegen wird, den Teufel, den er selbst den Fürsten dieser Welt(Joh 12,31; 14,30) nennt wegen seiner großen Macht vor der Mensch-werdung des Wortes. Man gab ihm die gleiche Antwort wie David: DerKönig wird den reich machen, der diesen grausamen Goliat überwin-det. Und hört das Unvergleichliche, das der ewige Vater sagte: Ichwerde ihn zum König machen und ihm alle Macht im Himmel und aufErden geben (Ps 2,6-8; Hebr 1,2). Aber Unser Herr wäre damit nichtzufrieden gewesen, hätte man nicht hinzugefügt: Der König hat ver-sprochen, ihm seine Tochter zur Frau zu geben. Nun, die Tochter desKönigs, d. h. Gottes, ist nichts anderes als die Herrlichkeit. Unsergöttlicher Meister war immer sehr glorreich und besaß stets die ganzeHerrlichkeit. Seine Seele war im höheren Bereich stets unlösbar ver-einigt und verbunden mit der Gottheit vom Augenblick seiner Emp-fängnis an. Aber die Herrlichkeit, die ihm versprochen wurde, war dieVerherrlichung seines Leibes. Trotzdem wäre er noch nicht damit zu-frieden gewesen, wenn man nicht hinzugefügt hätte, daß sein Hausvom Tribut befreit sein wird. Was ist aber das Haus Unseres Herrn,wenn nicht der heilige jungfräuliche Leib Unserer lieben Frau? Siewar also durch die Verdienste ihres Sohnes vom Tribut befreit, d. h. siewurde auferweckt, bevor sie im Grab irgendeinen Makel oder Scha-den erlitt.

Was bleibt uns nun noch zu sagen, als zu fragen, ob wir nicht inirgendeiner Weise die Himmelfahrt unserer glorreichen und höchstwürdigen Herrin nachahmen können. Dem Leib nach können wir dasbis zum Tag des Jüngsten Gerichtes nicht; da werden die Leiber derSeligen glorreich auferweckt, die Verworfenen, um ewig verdammt zusein. Doch sehen wir, wie wir sie der Seele nach darin nachahmenkönnen, daß sie sich untrennbar mit der göttlichen Majestät zu verei-nigen und zu verbinden strebte. Im Evangelium heißt es, daß Marta,als Unser Herr ihr Haus betrat, sehr geschäftig war, hin- und herging,um ihn gut zu bedienen, während Maria zu Füßen des Heilands blieb,

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wo sie sein Wort hörte. Während Marta darauf bedacht war, den Leibihres Meisters zu speisen, gab Maria diese Sorge auf zugunsten jener,seine Seele zu erquicken und zu stärken; das tat sie, indem sie Unse-rem Herrn lauschte.

Marta wurde von einem Anflug des Neides erfaßt. Es gibt äußerstwenige, die das nicht sind, so vergeistigt sie sein mögen. Je mehr manvergeistigt ist, um so feiner und kaum wahrnehmbar ist der Neid; ergeht so geschickt vor, daß man große Mühe hat, ihn zu bemerken.Wenn wir jemand loben und ein wenig von dem Lob zurückhalten, vondem wir wissen, daß es ihm gebührt, wer bewirkt das, wenn nicht derNeid, den wir auf seine Tugend haben? Aber Marta führt ihren kleinenSchlag und macht den kleinen Ausbruch ihres Neides in Form einesScherzes, und das ist die feinste. Sie sagt: Meister, läßt du zu, daßmeine Schwester mir nicht hilft und mir die ganze Sorge um das Haus-wesen überläßt? Befiehl ihr, daß sie mir zu Hilfe kommt. Unser Herr,der beispiellos gütig ist, tadelt sie nicht streng, obwohl er ihre Unvoll-kommenheit sehr wohl erkennt, sondern liebevoll, denn dieses Evan-gelium ist erfüllt von Liebe. Der Evangelist vermerkt, daß er sie an-sprach und sagte: Marta, Marta, du machst dir Sorge um vieles. Nureines ist notwendig; Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nichtgenommen werden soll.

Aber sprechen wir noch ein wenig von den kleinen Streichen desNeides, die unsere Eigenliebe verübt. Sie sind gewiß wie kleine Füch-se, die den Weinberg verwüsten und verderben (Hld 2,15). Hört dieOrdensleute, wenn sie von ihrem Institut sprechen; sie schätzen esstets höher als alle anderen. Es ist wahr, sagen sie, dieser Orden, vondem ihr sprecht, ist von großer Vollkommenheit, aber der meine istimmer etwas voraus. O, ich spreche nicht von mir, sondern nur vonder großen Vollkommenheit, nach der man in ihm strebt. Gebt achtauf euch, denn schließlich werdet ihr auf euch selbst zurückkommen,ich sage sogar, ohne es zu bemerken. Ein anderer wird sagen: Ich binarmselig, ich kann nichts tun, was einen Wert hätte; aber eine solchePredigt, wie ich sie gehalten habe ... Und er wird tun, als wolle er dieseWorte nicht fortsetzen, bis man die Predigt irgendeines anderen lobt.Und so auch, wenn wir hören, daß man jemand lobt, streuen wir ne-benbei irgendein kleines Wort ein, damit man auf uns selbst zurück-komme.

Kommen wir zur geschäftigen Marta zurück. Gewiß, wir verstehenes nicht, etwas ohne Geschäftigkeit zu tun, oder besser gesagt, ohnegroße Beflissenheit dem äußeren Menschen nach. Wir müssen wissen,daß es zwei Teile in uns gibt, die den einen Menschen bilden: den

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äußeren Menschen und den inneren. Der innere Mensch strebt stetsnach der Vereinigung mit der göttlichen Majestät und führt die not-wendigen Gespräche, um zu dieser Vereinigung zu gelangen. Der äu-ßere Mensch ist der, den wir sehen, der schaut, der spricht, der be-rührt, der schmeckt, der hört. Er ist es, der geschäftig ist in der Übungder Tugenden, die das Gebot der Nächstenliebe betreffen, währendder innere Mensch die Gottesliebe übt. Diese zwei Menschen betäti-gen sich also in der Beobachtung der zwei Hauptgebote, auf denen wieauf zwei Säulen das ganze Gesetz und die Propheten beruhen (Mt22,40). Die alten Philosophen sagten, man muß vor dem Werk auf dasZiel schauen; wir aber tun genau das Gegenteil, denn wir machen unsgeschäftig an die Ausführung des Werkes, das wir unternommen ha-ben, bevor wir überlegen, welchen Zweck es haben soll.

Sagen wir das etwas deutlicher. Das Ziel unseres Lebens ist der Tod.Wir müßten also sorgfältig überlegen, wie unser Tod beschaffen seinsoll und was dazu notwendig ist, damit wir unser Leben einstellen aufden Tod, den wir uns wünschen. Es ist ja sicher: wie unser Leben ist, sowird unser Tod sein, und unser Tod ist so, wie unser Leben war.

Sehen wir nun, wie der äußere Mensch nichts ohne größte Geschäf-tigkeit zu tun weiß, selbst nicht die Übung der Tugenden. Die Alten,die eine Aufzählung der Tugenden vornahmen, haben deren eine gan-ze Völkerschaft festgestellt und schließlich gefunden, daß sie sich nochzu kurz gefaßt haben. Treten wir in diese Abfolge der Tugenden ein,um zu untersuchen, ob wir keine davon ohne Sorgfalt und Aufmerk-samkeit üben können. Man muß große Sorgfalt darauf verwenden, dieSittsamkeit zu üben. Seht ihr diesen Menschen, der sich vorgenom-men hat, sie zu üben? Er beginnt damit, ein Abkommen mit seinenAugen (Ijob 31,1) zu schließen, daß sie nur die notwendigen Dingeansehen und nichts darüber hinaus. Dazu macht er es mit ihnen wiemit den Sperbern, denen man eine Kappe aufsetzt, wenn man sie nichtfliegen lassen will, um sie leichter auf der Faust zu halten. Das gleichemacht er mit seinen Augen, denn er bedeckt sie mit ihrer natürlichenKappe, das sind die Lider, damit sie nur sehen, was notwendig ist. Erist außerdem sehr darauf bedacht, sich ständig sittsam zu verhalten,damit ihm keine Handlung unterlaufe, die leichtfertig aussieht.

Welcher Aufmerksamkeit bedarf es doch, um die Geduld zu übenund um nicht in Zorn zu geraten! Cassian schreibt, daß es nicht ge-nügt, die Gelegenheiten zu meiden, mit den Menschen zu sprechenund zu verkehren. Das Mittel, diese Tugend zu erwerben, besteht nichtdarin, die Gelegenheit zu ihrer Übung zu meiden, zumal er von sichselbst berichtet, daß er allein in der Wüste nachts aufstand und den

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Feuerstein nahm, um seine Lampe anzuzünden; wenn der Stein kei-nen Funken geben wollte, geriet er in Zorn und warf den Stein zuBoden.

Man muß gewiß sehr darauf achten, keine Handlung in Ungeduld zuverrichten; aber, o Gott, die geistliche Tapferkeit zu üben, sich nie-mals im Guten entmutigen zu lassen, das kann man nur erreichendurch große Achtsamkeit, die Bescheidenheit zu wahren. Das gleichesage ich von der Standhaftigkeit, von der Beharrlichkeit, von derFreundlichkeit, vom Maßhalten und vor allem vom Maßhalten in sei-nen Worten. Welche Zügel muß man doch der Zunge anlegen, um siedaran zu hindern, daß sie wie ein durchgegangenes Pferd durch dieStraßen läuft und in das Haus des Nächsten eindringt, ja sogar in seinLeben, um sie zu zügeln und sie zu überwachen oder ihr doch einwenig von der Wertschätzung zu nehmen, von der wir wissen, daß sieihr zusteht.

Aber welches Mittel gibt es dagegen, fragt ihr mich, daß man so vielSorge hat, da ich mich doch in der Tugend üben muß? Diese Sorge istgewiß sehr lobenswert, wenn sie ohne Ängstlichkeit und Geschäftig-keit ist. Hier ist gleichwohl ein Mittel, um euch von zuviel Sorge zubefreien: Unser Herr sagt: Nur eines ist notwendig, nämlich um geret-tet zu werden. Zur Förderung unseres Heiles bedarf man nicht so viel-facher Mittel, wenn auch die Förderung für alles notwendig ist. Ichsage euch: Habt die hochheilige Liebe, und ihr werdet alle Tugendenbesitzen. Daß dem so ist, hört vom großen Apostel (1 Kor 13,4-7): DieLiebe ist mild, sie ist geduldig, sie ist gütig, sie ist mitfühlend, sie istdemütig, sie ist freundlich, sie erträgt alles; schließlich begreift sie insich selbst alle Vollkommenheiten der anderen Tugenden, aber vielvorzüglicher, als diese selbst es tun. Die Liebe hat nur einen Akt, näm-lich den der Verbindung und Vereinigung. Gott über alles zu lieben, istdas erste Gebot; den Nächsten über alles zu lieben, was nicht Gott ist,ist das Abbild des ersten Gebotes (Mt 22,37-39).

Die allerseligste Jungfrau, unsere glorreiche Herrin, übte die eineund die andere Form dieser Liebe in dem Empfang, den sie ihremSohn bereitete: sie liebte und empfing ihn als ihren Gott; sie empfingihn, liebte ihn und diente ihm als ihrem Nächsten. Man kann die eineLiebe nicht ohne die andere haben (1 Joh 4,20f). Liebt ihr Gott voll-kommen, dann liebt ihr also auch den Nächsten vollkommen. In demMaß, in dem die eine Liebe wächst, nimmt auch die andere zu; ebensobleibt es nicht aus, wenn die eine abnimmt, daß sich auch die anderevermindert. Wenn ihr die Gottesliebe habt, dann laßt euch nicht aufMühen und Sorgen ein, die anderen Tugenden zu üben, zumal wenn

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sich keine Gelegenheit bietet, sich darin zu üben, wenn ihr es nichtohne Sorge tut. Ich sage, welche Tugend immer das sein mag: die Ge-duld, die Güte, die Sittsamkeit und ebenso die anderen.

Die Kaninchen werfen alle drei Wochen Junge; es gibt eine Mengevon Häschen, abertausende von Fliegen, unzählige Mücken, aber nursehr wenige Adler. Der Elefant bekommt nur ein Kalb, ein Elefanten-junges; die Löwin wirft immer nur einen jungen Löwen. Ebenso be-steht die Übung der Marta aus einer Vielzahl von Akten, aber jene derMaria, nämlich die Liebe, nur aus einem einzigen, nämlich in der Ver-bindung und Vereinigung, wie wir gesagt haben.

Es hat den Anschein, daß die Aufnahme Unserer lieben Frau in denHimmel in gewisser Hinsicht herrlicher und strahlender war als dieHimmelfahrt Unseres Herrn, zumal bei seiner Himmelfahrt nur dieEngel zugegen waren, die ihm entgegenkamen, bei der Aufnahme sei-ner hochheiligen Mutter kam der König der Engel selbst. Deshalbriefen die Engel voll Staunen aus: Wer ist jene, die heraufsteigt aus derWüste, gestützt auf ihren Vielgeliebten (Hld 8,5)? Von daher könnenwir erkennen: obwohl Unsere liebe Frau ganz rein in den Himmelauffuhr, stützte sie sich unbeschadet ihrer Reinheit dennoch auf dieVerdienste ihres Sohnes; kraft dieser Verdienste ging sie in die Glorieein. Nie hatte man so viele Spezereien in der Stadt Jerusalem gesehen,wie die Königin von Saba brachte, als sie den großen König Salomobesuchte; er hingegen machte ihr Geschenke entsprechend seiner Grö-ße und königlichen Herrlichkeit (1 Kön 10,1f.10). Ebenso sage ich,daß nie so viele Verdienste und so viel Liebe durch irgendein bloßesGeschöpf in den Himmel mitgebracht wurden, wie die hochheiligeJungfrau bei ihrer glorreichen Aufnahme dorthin mitbrachte. AlsGegengabe verlieh ihr der große König der Ewigkeit, der allmächtigeGott einen Grad der Herrlichkeit, der seiner Erhabenheit würdig ist,ebenso die Macht, denen, die sie verehren, Gnaden zu vermitteln, dieihrer Freigebigkeit und Herrlichkeit würdig sind. Amen.

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Nr. 23: 9. Oktober 1618 IX,202-207

Ich habe überlegt, wovon ich bei der Zeremonie ausgehen soll, diewir feiern, wenn wir unsere Postulantin in das Noviziat aufnehmen.Da fand ich die Worte des hl. Paulus in seinem Brief an die Epheser(4,22-24) und an die Kolosser (3,9f) passend: Erneuert euch in Ge-rechtigkeit und Wahrheit; zieht den alten Menschen aus, um euch vonneuem zu bekleiden mit unserem Herrn Jesus Christus. Er sagt: Ziehtdie Gewohnheiten der Welt und ihre Neigungen aus. Das ist derWunsch der Kirche bei der Segnung, wenn sie den Jungfrauen denSchleier aufsetzt. Wenn wir Ihnen gleich den Schleier geben werden,teuerste Tochter, werden wir sagen: „Der Herr möge dich des altenMenschen entkleiden, um dich neu zu bekleiden.“ Das ist gleichsamein Vorwort dafür, was ich behandeln will.

Viele gehen aus unterschiedlichen Gründen ins Kloster. Die einentun es aus Hoffnungslosigkeit, denn sie wissen nicht mehr, was sie inder Welt machen sollen. Da die Welt von ihnen nichts mehr wissenwill, kommen sie ins Kloster. Ach, ihre Absicht ist nicht gut. Anderewollen eintreten aus Furcht vor der Hölle. Sie fürchten, verloren zugehen, wenn sie in der Welt bleiben inmitten der ständigen Gelegen-heiten zur Sünde und zu soviel Unglück und Elend, die dort herr-schen. Wieder andere kommen, um das Paradies zu gewinnen, dennsie wissen, daß man es leichter im Kloster erwirbt. Zurückgezogenvom Plunder dieser Welt und in der Observanz lebend können sieleichter in den Himmel kommen. Es gibt noch andere, die sich insKloster zurückziehen, um durch das Gebet immer bei Unserem Herrnin Ruhe zu leben und hier die Wonnen zu genießen, die er denenschenkt, die ihm dienen; denn wer wünscht diese Wonnen nicht?

Jeder dieser Beweggründe ist sehr unvollkommen und entsprichtnicht der Absicht Unseres Herrn, weshalb er die Orden geschaffenhat, nämlich „um sich vollkommen mit Gott zu vereinigen“ auf demKalvarienberg (Konst. 33.44) und mit ihm im Himmel zu leben (Röm6,8; 2 Tim 2,11f), um den alten Menschen auszuziehen und mit demneuen bekleidet zu werden. Die mit einer anderen Absicht kommen,täuschen sich sehr. Man darf nicht kommen, um es schön zu haben,denn man muß sich in allem abtöten, woran die Natur in der Welt

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Gefallen haben kann; man muß seinen Eigenwillen verleugnen, um inallem dem der anderen zu folgen; man muß sein eigenes Urteil ver-leugnen, seine Neigungen und Leidenschaften überwinden, um sichvollständig den Vorgesetzten zu unterwerfen. Mit einem Wort, manmuß den alten Menschen ausziehen, sich selbst, sein Fleisch, seineGewohnheiten, denen man in der Welt so sehr gefolgt ist.

Die schlechten Gewohnheiten sind in uns als Folge der Sünde unse-rer Stammeltern Adam und Eva, die durch den Ungehorsam die ur-sprüngliche Gnade verloren haben. Seither sind sie groß geworden.Man sieht ja heute viel mehr Eitelkeit als früher, mehr Habsucht, mehrBegehrlichkeit nach weltlichen Freuden, mehr Streben nach Ehre undWürden (vgl. 1 Joh 2,16). Ich erinnere mich an die Zeit, als ich einjunger Mann war. Da kannte man nicht so viel Prunk; die Kinder wa-ren einfacher gekleidet. Heutzutage muß man für die Eitelkeit so vielaufwenden. Die Damen von Paris sinnen stets darauf, neue Eitelkeitenzu erfinden, um das Geld ihrer Gatten auszugeben. So lebt man in derWelt nach dem alten Menschen. Was heißt das, nach dem alten Men-schen leben? Das heißt leben wie die Weltmenschen. Sie sind ständigbegierig nach Reichtum, um immer mehr davon zu besitzen, und be-kommen davon nie genug. Sie jagen nach Würden, um höher als allegeschätzt zu werden. Sie folgen unaufhörlich dem rohen, sinnlichenund ehrlosen Vergnügen. Sie wollen Herr über alle sein und von nie-mand eine Zurechtweisung annehmen. Sie lieben bei allem ihr Fleischund ihre Bequemlichkeit. Das ist der alte Mensch, von dem der hl.Paulus sagt, daß er gekreuzigt werden muß, um nach dem neuen Men-schen zu leben in Gerechtigkeit und Wahrheit.

Der alte Mensch, das ist unser Stammvater Adam und unsereStammmutter Eva. Von ihnen haben wir die Sünde und alle unsereLeidenschaften: den Zorn, die Begierlichkeit, die uns Güter und Eh-ren wünschen läßt; die Liebe zur Selbstgefälligkeit, dieSelbstverzärtelung, die uns die Freiheit so lieben läßt, daß man dieUnterordnung nicht liebt. Nun, das alles muß man abtöten, um insKloster zu kommen, und Gewohnheiten annehmen, die der Welt ganzentgegengesetzt sind; um nach dem neuen Menschen zu leben. Manliebt die Freiheit; hier muß man sich den Regeln, dem Gehorsam undden Befehlen der Vorgesetzten unterwerfen. In der Welt liebt und pflegtman die Selbstgefälligkeit sehr; im Kloster muß man vor allem dieDemut üben; denn wer sich in dieser Tugend gut übt, besitzt bald alleanderen. Unser Herr hat sie hervorragend und in höchstem Grad ge-übt; denn es gibt kein Geschöpf in der Welt, selbst unter allen Heili-gen und unter allen Engeln, das der Demut unseres Heilands nahekä-

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me. Im Kloster muß man in beständiger Keuschheit leben, die derFreizügigkeit des Fleisches und Blutes entgegengesetzt ist; in voll-kommener Armut, entgegen den Reichtümern und Bequemlichkei-ten, von denen die Welt so viel Aufhebens macht; man muß sein Urteilabtöten, was sehr schwierig ist, seine Neigung zur eigenen Ruhe, dasBehagen, das man am Gespräch mit Gott findet, um seine Wonnen zugenießen.

Mag die letztgenannte Absicht auch gut scheinen, so ist das dochnicht die Absicht, deretwegen die Orden geschaffen wurden. Dies ge-schah zu dem Zweck, daß man Gott vollkommener diene, den altenMenschen ausziehe und den neuen anziehe; denn wenn man in denOrden eintritt, darf man nicht die alten Gewohnheiten mitbringen.Der hl. Basilius schrieb an Syncleticus, der Senator war und Ordens-mann wurde, und fragte ihn: „Mein Bruder, was hast du gemacht? Duhast einen Senator abgeschafft, aber du hast keinen Ordensmann ausihm gemacht.“ Du bist nicht mehr Senator, denn du hast dieses Amtniedergelegt; du bist aber kein guter Ordensmann, denn du lebst mitden Gewohnheiten, die du von der Welt mitgebracht hast.“ Meine lie-be Tochter, wenn Sie im Kloster bleiben wollen, dürfen Sie nicht dieSitten der Welt mitbringen, sondern müssen sich des alten Menschenentledigen: der kleinen Wallungen des Zornes, die man fühlt, wennman uns tadelt, denn niemand liebt die Zurechtweisung; derSelbstverzärtelung, wenn man uns widerspricht; der Tränen des Mit-leids und der kleinen Regungen der Ungeduld, wenn man unserenNeigungen und Launen widerspricht; der hohen Meinung von unsselbst, dem Wunsch, wegen der Abstammung aus gutem Haus für et-was Besseres als die anderen gehalten zu werden. O, wir sind alle gleich,denn wir sind alle Kinder des gleichen Vaters Adam und der gleichenMutter Eva. Es ist deshalb eine große Torheit, sich seiner Abstam-mung zu rühmen.

Alles dessen muß man sich entledigen. Es bedeutet nichts, die äuße-ren Kleider abzulegen, die man sieht, um das Ordenskleid zu nehmen,wenn wir nicht die Gewohnheiten und Sitten des Ordenslebens anneh-men. Wie viele Menschen sah man Heilige werden in Kleidern ausSeide und Atlas, Samt und Goldbrokat. Beispiele dafür sind die heili-ge Königin Radegunde von Frankreich, die heilige Königin Elisabethvon Ungarn, die heilige Königin Elisabeth von Portugal und viele an-dere. Es bedeutet nichts, die äußeren Kleider abzulegen, wenn mansich nicht von neuem bekleidet in Gerechtigkeit und Wahrheit. DieKirche verrichtet noch dieses Gebet: Gott „möge dich des alten Men-

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schen entkleiden und dich von neuem bekleiden“, um uns zu zeigen,daß all unsere Kraft von Gott kommt. Als der hl. Paulus UnserenHerrn bat, ihn von seinen Gebrechen zu befreien, antwortete ihm die-ser: Paulus, meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft vollendet sich indeiner Schwachheit (2 Kor 12,8-10). Was bedeutet: meine Kraft voll-endet sich in deiner Schwachheit? Das bedeutet: wenn wir uns in unse-rer Schwachheit schwach glauben, um das Gute zu unternehmen, dannstützen wir uns vollständig auf Gott, erkennen unser Kleinsein unddaß wir ohne göttliche Gnade nichts aus uns vermögen. O, wir müssenuns sehr demütigen, denn durch diese Tugend werden wir der göttli-chen Majestät sehr wohlgefällig und gestalten uns in Unseren Herrnum.

Der hl. Augustinus war sehr gut erzogen und lebte lange Zeit in derLebensart der Welt. Eines Tages befand er sich in einem Garten untereinem Feigenbaum; da hörte er etwas wie Stimmen kleiner Kinder,die so melodisch sangen, daß er nie Ähnliches gehört hatte. OhneZweifel waren es die Engel, die sangen: „Nimm und lies; nimm undlies.“ Sie wollten, daß Augustinus die Briefe des hl. Paulus lese, die erbei sich hatte. Er nimmt das Buch, öffnet es und findet den Brief, dender Apostel an die Römer geschrieben hatte: Seid nicht dem Trunkergeben und haltet keine Gelage, flieht den Umgang mit Frauen, usw.(13,13f). Nun, Unser Herr sprach zum Herzen des hl. Augustinus:Ändere die alten Gewohnheiten, liebe nicht Feste, Vergnügungen, eit-le Unterhaltungen, zieh den alten Menschen aus, und du wirst mit demneuen bekleidet.

Um vor dem ewigen Vater zu erscheinen, muß man die Livree seinesSohnes anziehen und alles verachten, womit die Welt soviel Staat macht.Als Isaak alt und krank geworden war, hatte er Lust, Wildbret zu es-sen. Er sagte zu Esau: Wenn du mir Wildbret bringst, werde ich dirmeinen priesterlichen Segen geben. Ich will nicht die ganze Geschich-te (Gen 27,1-29) erzählen, denn das ist nicht nötig. Rebekka hattegehört, was Isaak zu Esau sagte, nahm ein Böcklein, das sie anstelledes Wildbrets zubereitete, dann ließ sie es durch Jakob seinem Vaterbringen, damit er seinen Segen erhalte (Gott ließ nicht zu, daß er aufEsau komme). Um aber Isaak besser zu täuschen, ließ sie Jakob dieKleider seines Bruders anziehen, die stark dufteten. Isaak umarmteseinen Sohn, den er für Esau hielt, und als der den Duft seiner Kleiderwie blühendes Feld spürte, nahm er seine Hände und gab ihm denSegen des himmlischen Erbes. Meine liebe Tochter, bekleiden auchSie sich mit den Kleidern und Gewohnheiten des heiligen Sohnes des

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ewigen Vaters, damit Sie der Gnade gewürdigt werden können, seinenSegen zu empfangen.

Wie glücklich sind die Seelen, die um dieses höchsten Zieles willenin den Orden eintreten: um die Blüten der Gnade Gottes zu sammelnund dann ihre Früchte im Himmel zu genießen! Jene aber, die ausanderen Beweggründen gekommen sind, brauchen den Mut nicht zuverlieren. Man kann ja seine Absicht immer berichtigen, sie gut undbesser machen, wenn man den alten Menschen auszieht, wie wir gesagthaben, und die Gewohnheiten des Ordenslebens annimmt.

Wohlan denn, meine sehr teure Tochter, bleiben wir im Frieden, undSie werden den neuen Menschen anziehen, wie wir Ihnen sagen wer-den, wenn wir Ihnen den Schleier aufsetzen, und Sie werden den Segenempfangen, den die Kirche in dieser Absicht gibt. Amen.

Zum Fest der Darstellung MariasZum Fest der Darstellung MariasZum Fest der Darstellung MariasZum Fest der Darstellung MariasZum Fest der Darstellung Marias

Nr. 26: 21. November 1619 IX,231- 239

Das Evangelium (Lk 11,27f), das uns die heilige Kirche am heutigenFest vorlegt, setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die beide auf dasLob der hochheiligen Jungfrau hinauskommen, deren Darstellung imTempel wir feiern. Der erste berichtet: Während Unser Herr predigt,ruft eine Frau ganz laut und sagt zu ihm: Selig ist der Schoß, der dichgetragen, und die Brüste, die dich genährt haben. Er antwortet ihr dar-auf: Selig sind jene, die das Wort Gottes hören, es anhören und es befol-gen. Das ist der zweite Teil; bei ihm will ich vor allem verweilen, weiler mehr zum Ruhm der seligsten Jungfrau beiträgt.

Das gibt unser göttlicher Meister uns zu verstehen durch die Ant-wort, die er jener Frau gab; denn wenn auch der erste Lobspruch vomHeiligen Geist eingegeben war, wurde er doch von einem Menschenausgesprochen. Da aber der Heiland das Lob, das man seiner hoch-heiligen Mutter spendete, nicht mindern sondern steigern wollte, setz-te er das Loblied fort, das von der hl. Marcella zu Ehren Unsererlieben Frau angestimmt wurde, und sagte: Das ist wahr, aber nochseliger ist sie, weil sie das Wort meines Vaters gehört und es befolgthat. Ohne Zweifel ist es eine große Ehre, daß sie mich in ihrem Schoßgetragen und mit der Milch genährt hat, die ihren Brüsten entquoll,mich, der ich die Nahrung der Engel und der Menschen in der himm-

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lischen Glorie bin. Dennoch war das nicht die Grundlage ihrer Glück-seligkeit, sondern daß sie stets gehorsam gegen den Willen meinesVaters war. Die Seligkeit ist nicht an die Würde gebunden und wirdnicht nach deren Maß verliehen, sondern nach dem Maß unserer Ein-heit mit dem göttlichen Willen. Wenn man also die Würde der MutterGottes von der vollkommenen Unterwerfung der allerseligsten Jung-frau unter seinen heiligen Willen trennen könnte, hätte sie doch dengleichen Grad der Glorie und die gleiche Glückseligkeit besessen, diesie jetzt im Himmel hat. Nun, das sei nebenbei gesagt.

Unsere liebe Frau hatte drei große Vorzüge vor allen bloßen Ge-schöpfen: 1. war sie dem Willen Gottes, d. h. seinem Wort stets ganzgehorsam, und das vom Augenblick ihrer Empfängnis an, ohne jemalsauch nur einen Augenblick zu schwanken oder abzuweichen. Sie warnie einer Versuchung ausgesetzt und konnte sich nie lösen von jenerVereinigung und Verbindung ihres Willens mit dem Willen Gottes,die sie damals einging. Dieser Vorzug wurde keinem anderen Geschöpfzuteil, nicht einmal den Engeln; sie konnten sich ja ändern und sichder Gnade begeben, die sie von der göttlichen Majestät bei ihrer Er-schaffung empfangen hatten. Das zeigt der Sturz Luzifers und seinesAnhangs zur Genüge. Und was die Menschen betrifft, wer könnteMensch sein und nicht wissen, daß er dem Wechsel und der Verände-rung unterworfen ist? Diese Erfahrung machen wir an uns selbst jedenTag. Wo ist einer, der stets in der gleichen Stimmung wäre? Zur Stundewollen wir dies, gleich darauf wollen wir es nicht mehr, sondern möch-ten etwas anderes; innerhalb kurzer Zeit sind wir fröhlich, dann trau-rig; kurz, es ist ein ständiger Wechsel.

Unsere liebe Frau kann nie von der ersten Gnade abweichen, die sievon der erhabenen Majestät empfangen hat, da sie immer in Abhängig-keit vom göttlichen Willen blieb, so daß sie unaufhörlich neue Gna-den verdiente. Und je mehr sie empfing, um so mehr wurde ihre Seelefähig, Gott anzuhangen, so daß sie sich mehr denn je mit ihm vereinig-te und ihre erste Verbindung mit ihm festigte. Wenn man also eineVeränderung in der seligsten Jungfrau feststellen kann, dann die, daßsie sich noch mehr vereinigte und, soviel sie konnte, in jeder Art vonTugend zunahm, um ihren Entschluß, Gott ganz zu gehören, unverän-derlich zu machen. Deshalb wollte sie sich in den Tempel zurückzie-hen, nicht weil es für sie notwendig gewesen wäre, sondern um uns, diewir dem Wandel unterworfen sind, zu lehren, daß wir uns aller mögli-chen Mittel bedienen müssen, um unsere inneren und äußeren gutenVorsätze recht zu bestärken und zu bewahren. Für sie genügte es, umin ihrem guten Vorsatz zu beharren, daß sie sich vom ersten Augen-

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blick ihres Lebens an Gott hingegeben hat, ohne daß sie deswegen dasHaus ihres Vaters hätte verlassen müssen. Sie brauchte nicht zu fürch-ten, daß äußere Dinge sie je ablenken könnten; aber als gute Mutterwollte sie uns lehren, daß wir nichts unterlassen dürfen, um unsereBerufung recht zu sichern, wie der hl. Petrus uns mahnt (2 Petr 1,10).

Die heilige Jungfrau besaß den Gebrauch der Vernunft vom Augen-blick ihrer Empfängnis an und sah im selben Augenblick, wie die gött-liche Güte sie vor dem Abgrund der Erbsünde bewahrte, in den siegestürzt wäre, hätte sie nicht seine allmächtige Hand zurückgehalten.Aus Dankbarkeit für diese Gnade übergab und weihte sie sich so un-bedingt seinem Dienst, daß das Wort, das sie der göttlichen Majestätgab, unwiderruflich war. Dessen ungeachtet aber hielt sie drei Jahrelang ihren Entschluß verschlossen und verborgen unter der Gestaltdes Kindseins. Ich sage, unter dem äußeren Anschein, denn in Wirk-lichkeit war sie kein Kind, sondern führte ein rein beschauliches Le-ben, da sie den Gebrauch der Vernunft besaß. Sie war ein so weisesKind, wie man sich keines vorstellen kann, das ihr je gleichkäme, ab-gesehen von ihrem vielgeliebten Sohn. Als sie drei Jahre alt war, wur-de sie einen Teil des Weges von Nazaret nach Jerusalem getragen, denanderen Teil legte sie mit ihren kleinen Füßen zurück. Es wird berich-tet, wie schön es anzusehen war, als sie freudig die fünfzehn Stufen desTempels hinaufstieg.

Damit sind wir schon beim zweiten Teil unserer Predigt. Der hl.Joachim und die hl. Anna trugen sie tatsächlich, um das Gelübde zuerfüllen, das sie Gott gemacht hatten, sie ihm in seinem Tempel darzu-bringen. Das gebenedeite Kind kam aber auch, gedrängt von seinemeigenen Willen; und obwohl es sich an die Grenzen der Kindheit hieltund diesen Willen nicht offen zeigte, wurde ihm doch die Zeit lang,bis es sich vollkommen dem Dienst der göttlichen Majestät geweihtsah. Sie kam mit unvergleichlichem Verlangen, sich Gott ohne Rück-halt hinzugeben. Hätte sie es gewagt, dann hätte sie offenbar zu denfrommen Frauen, die die Mädchen erzogen, die man im Tempel demHerrn weihte, gern gesagt: Ich bin in euren Händen wie eine Wachs-kugel; macht mit mir alles, was ihr wollt, ich werde keinen Wider-stand leisten. Sie war auch so gefügig und unterwürfig, daß sie sich vonjeder Hand leiten ließ, ohne jemals irgendeinen Wunsch nach demoder jenem zu äußern. Sie zeigte sich so fügsam, daß sie Bewunderungerweckte.

Von da an begann sie ihren Sohn nachzuahmen, der sich dem Willenjedes einzelnen so unterwerfen sollte, daß er sich dem nie widersetzen

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wollte, obwohl es in seiner Macht lag, allen zu widerstehen. Am Be-ginn seines Leidens zeigte er seine Allmacht, da er als Löwe aus demStamm Juda (Offb 5,5) das Wort brüllte: Ego sum; ich bin es. Als dieJuden ihn suchten, fragte er sie: Wen sucht ihr? Sie antworteten ihm:Jesus von Nazaret. Er sagte: Ich bin es, und mit diesem Wort warf eralle seine Feinde zu Boden (Joh 18,4-6). Doch gleich darauf hieß ersie wieder aufstehen und verbarg seine Allmacht von neuem unterdem Mantel einer heiligen Sanftmut und Milde. Vom Augenblick an,da sie ihn gefangennahmen und zum Tod führten, fanden sie bei ihmnicht den geringsten Widerstand. Er erlaubte ihnen nicht nur, ihn zuscheren wie ein sanftes Lämmlein (Jes 53,7; Jer 11,19), sondern ihnauch bis auf die Haut zu entblößen. Die heilige Jungfrau sah das allesvoraus, unterwarf sich ohne jeden Vorbehalt, ergab sich und liefertesich vollkommen der Hand des göttlichen Willens aus.

Das ist der zweite Vorzug, den sie vor allen Geschöpfen besaß, dennkeines übergab sich je so vollkommen und bedingungslos wie sie dergöttlichen Majestät. Sie gehorchte vollkommener dem Wort Gottesals irgendjemand und schenkte sich ihm bedingungsloser als alle. Weralles gibt, behält nichts zurück. Aber ich bitte euch, was heißt das, unsGott ganz schenken? Das heißt, nichts für sich behalten, was nichtGott wäre, nicht einmal eine einzige unserer Neigungen oder einenWunsch. Verlangt das Gott von uns? Hört bitte den heiligen Erlöserunserer Seelen: Mein Kind, schenk mir dein Herz (Spr 23,26), wieder-holt er für jeden von uns.

Aber, wird man mir sagen, wie kann das geschehen, daß ich Gottmein Herz schenke, das voll von Sünden und Unvollkommenheitenist? Wie könnte es ihm wohlgefällig sein, da es ganz erfüllt ist vonUngehorsam gegen seinen heiligen Willen? Armer Mensch, worüberregst du dich auf? Warum weigerst du dich, es ihm so zu schenken, wiees ist? Begreifst du nicht, daß er nicht sagt: Gib mir ein Herz wie dasder Engel oder Unserer lieben Frau, sondern: schenk mir dein Herz?Es ist dein eigenes Herz, das er verlangt; schenk es ihm so, wie es ist.Denn ach, wissen wir denn nicht, daß alles zum Guten gewendet wird,was in seine heiligen Hände gelegt wird (Röm 8,28)? Ist dein Herzauch aus Erde, Schlamm oder Schmutz, fürchte dennoch nicht, es indie Hände Gottes zu legen. Als er Adam erschuf, nahm er wohl einwenig von der Erde, dann schuf er daraus ein lebendes Wesen (Gen2,7). Hast du ein gutes Herz? Schenk es ihm so, wie es ist, denn das istes, was die göttliche Güte verlangt. Er will nichts, als was wir sind undwas wir haben.

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Im Alten Bund hatte Gott angeordnet, daß jeder seinen Tempelbesuche; er verbot aber, daß einer mit leeren Händen komme (Ex23,15; Dtn 16,16), ob arm oder reich. Dennoch wollte er nicht, daßalle das gleiche Opfer darbrachten, sondern wollte, daß die Reichenals Wohlhabende entsprechend ihrem Reichtum opferten, die Ar-men entsprechend ihrer Armut (Ex 12,8; Lk 2,24). Folglich war ernicht zufrieden, wenn die Reichen Gaben darbrachten, die denender Armen entsprachen, weil das Geiz verriet. Ebensowenig war ereinverstanden, daß die Armen die Gabe der Reichen darbrachten,weil das Anmaßung wäre. Wenn die Weltleute der göttlichen Maje-stät ihren Wunsch und Willen darbringen, seinen Geboten zu folgen,wird Gott sich damit begnügen und sie werden recht glücklich sein;denn wenn sie diese beobachten, werden sie gerettet (Mt 19,17). Aberdie Seelen, die reich an heiligen Vorsätzen sind, große Dinge fürGott zu tun, dürfen nicht die Gabe der Armen darbringen, denn da-mit wird er sich nicht begnügen. Der Herr hat euch reich mit seinerGnade beschenkt; er will, daß ihr ihm bringt, was ihr habt.

Unsere liebe Frau bringt heute eine Gabe dar, wie Gott sie wünscht;denn abgesehen von der Würde ihrer Person, die alle anderen außerihrem Sohn übertrifft, opfert sie alles, was sie ist und was sie hat; dasist es, was Gott verlangt. Wie glücklich sind wir also. Durch die Ge-lübde, die wir gemacht haben, haben wir ihm alles geweiht: unserenLeib, unser Herz und unseren Besitz. Auf Reichtümer haben wir ver-zichtet durch das Gelübde der Armut, auf die Freuden des Fleischesdurch das der Keuschheit und auf unseren Eigenwillen durch das desGehorsams. Ihr Weltleute, erfreut euch eures Besitzes, wenn es euchgutdünkt, soweit ihr niemand unrecht tut; genießt die erlaubten undvon der heiligen Kirche gebilligten Freuden; tut euren Willen bei sovielen Gelegenheiten; Gott erlaubt euch das alles. Wir aber müssensehr darauf achten, nichts zurückzubehalten, denn Gott will keinenVorbehalt, er will alles. Und wie er sich uns in seinem göttlichen Sa-krament ganz schenkt, ebenso will er uns ganz. Beachten wir, daß ernicht getäuscht werden kann (Gal 6,7). Wenn wir sagen, daß wir allesgeben wollen, müssen wir es ganz tun, auf die Gefahr hin, wie Hananiasund seine Frau Saphira bestraft zu werden, die den Heiligen Geistbelogen (Apg 5,1-10).

Bei uns ist es aber nicht wie bei Unserer lieben Frau. Sie hatte esnicht nötig, ihre Opfergabe von neuem zu bekräftigen, nachdem siediese einmal dargebracht hatte; denn sie hörte nie auch nur einenAugenblick auf, ganz Gott zu gehören, dem göttlichen Willen verhaf-

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tet und verbunden zu sein. Für uns dagegen ist es wegen der Unbestän-digkeit und Wandelbarkeit unserer Neigungen und Launen notwen-dig, daß wir jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr dasVersprechen und das Wort, das wir gegeben haben, ganz Gott zu gehö-ren, wieder bekräftigen und erneuern. Deshalb hat man nicht nur imNeuen Bund, sondern selbst im Alten Bund stets daran festgehalten,bestimmte Zeiten und bestimmte Tage hervorzuheben, um die Men-schen zu ermutigen, ihre guten Entschlüsse zu erneuern.

Die Israeliten, die das Volk Gottes waren, machten ihre Erneuerungan jedem Neumond, und um dazu jeden einzuladen, begingen sie feier-liche Feste und bliesen die Hörner (Lev 23,24; Num 10,10; 29,1; Ps81,4), um den Geist anzuregen, nicht zu Prahlerei oder Nichtigkeit,sondern zu den ewigen Dingen. Die heilige Kirche als weise Mutterbietet uns das ganze Jahr hindurch von Zeit zu Zeit besondere Feste,um uns zu ermutigen, unsere guten Vorsätze zu erneuern. Denn ichbitte euch, wer wollte sich am hohen Osterfest nicht ganz erneuerndurch heilige Affekte und Entschlüsse, es besser zu machen, wenn erUnseren Herrn in seiner Auferstehung ganz erneuert sieht? WelcherChrist erneuerte nicht sein Herz am Pfingstfest, wenn er bedenkt, daßGott vom Himmel einen neuen Geist auf jene herabsendet, die ihnlieben (Ps 1,12; Ez 18,31; Apg 2,17); und am Fest aller Heiligen, andem uns die heilige Kirche die Glorie und Glückseligkeit der seligenGeister vor Augen stellt, nach der wir uns sehnen und die wir erhof-fen? Wer könnte schließlich so wenig Mut haben, daß er sich am Weih-nachtsfest nicht zu erneuern trachtete, an dem man den Erlöser unse-rer Seelen ein überaus liebenswürdiges Kindlein werden sieht, das unsloszukaufen kommt?

Doch über alle diese Feste hinaus ist es Brauch bei allen, die sich inbesonderer Weise Gott geweiht haben wie die Ordensmänner und Or-densfrauen, einen bestimmten Tag zu wählen, um ihre Gelübde zubekräftigen, damit sie den Rat des großen Apostels (2 Petr 1,10) bes-ser befolgen, unsere Berufung recht zu festigen. Wie könnten wir dasbesser tun als durch die neue Bekräftigung unseres Vorsatzes und derWahl, die wir getroffen haben? Ihr, meine Lieben, habt also heuteeinen neuen Nagel auf eure Berufung gesetzt durch die Erneuerungeurer Gelübde in Gegenwart der göttlichen Majestät. Sie erwartet dasvon euch als Anerkennung für die heilige Gabe, die sie euch gleichzei-tig durch sich selbst geschenkt hat.

Zum dritten Vorzug der glorreichen Jungfrau kann ich nicht mehrkommen. Fügen wir trotzdem noch das Wort hinzu, daß sie der göttli-chen Majestät gehorsam war, nicht nur ihren Geboten, sondern auch

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ihren Wünschen und Eingebungen. Sie darin möglichst genau nachzu-ahmen, darauf müssen wir bedacht sein, meine Lieben. Das sage ichdeswegen, weil sich sehr wenige finden, die das getreu tun, und viele,die erklären, es tun zu wollen. Dem Willen Gottes gehorchen heißt,seinem Wort folgen. Fragt doch einen Christen, ob er das Wort Gottesnicht befolgen will: O, das will ich gewiß. Doch hört Unseren Herrn,der (Mt 5,3f) sagt: Selig sind die Armen im Geiste. Trotzdem gibt es sowenige, die nicht reich sein möchten! Ich mache mir nichts daraus,reich zu sein, ja ich liebe die Armut. Ja, wenn euch nichts mangelt.Und wer wird dem Wort des Erlösers: Selig sind die Sanftmütigen,gerecht? Ich komme eben aus der Welt und ich kann euch versichern,daß es sehr wenige gibt, die das verwirklichen. Wenn man ihnen Sanft-mut predigt, weil Unser Herr gesagt hat: Lernt von mir, denn ich binsanft und demütig von Herzen (Mt 11,29), gibt es wenige, die nichterwidern: Aber die Sanften fürchtet man nicht genügend. O Gott, wennihr gefürchtet sein wollt, werdet ihr nicht demütig sein, denn nichts istder Demut mehr entgegengesetzt. Beachtet, daß unser göttlicher Mei-ster nicht gefürchtet werden wollte, außer einmal in seinem Leben,wie ich schon erwähnt habe, als er im Ölgarten zu denen, die ihn er-greifen wollten, sagte: Ich bin es. Es gibt noch weniger, die an das Wortglauben wollen: Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen(Mt 5,10).

Bei diesem Gehorsam darf es ebensowenig eine Ausnahme gebenwie bei der Hingabe unserer selbst, die Gott von uns will. Unsere liebeFrau wäre der göttlichen Majestät nicht wohlgefällig gewesen ohnediesen bedingungslosen Gehorsam. Das zeigt Unser Herr durch dasLob, das er ihr nach jenem der begnadeten Frau spendete, von demunser Evangelium berichtet. Um so weniger werden wir es sein. Meinelieben Schwestern, wenn auch keine andere als die seligste Jungfraudie Ehre haben konnte, tatsächlich die Mutter Unseres Herrn zu sein,müssen wir dennoch danach trachten, diesen Namen zu verdienen durchden Gehorsam gegen den Willen Gottes. Ihr wißt ja, daß Unser Herreines Tages im Tempel Worte des ewigen Lebens (Joh 6,69) sprach,während Unsere liebe Frau draußen stand. Da sagte ihm jemand, daßseine Mutter und seine Brüder nach ihm verlangten (es gab nämlicheinige Verwandte, die er seine Brüder nannte). Darauf antwortete er:Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Das sind jene, die denWillen meines Vaters im Himmel tun (Mt 12,46-50). – – –

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Zum Fest Maria ReinigungZum Fest Maria ReinigungZum Fest Maria ReinigungZum Fest Maria ReinigungZum Fest Maria Reinigung

Nr. 28: 2. Februar 1620 IX,250-265

Gott spricht, wenn er wirkt, und er wirkt, indem er spricht (Ps 33,9;148,5). Damit zeigt er uns, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen,gut zu sprechen; vielmehr müssen wir unseren Vorsätzen die Wirkun-gen folgen lassen und unseren Worten die Taten, wenn wir ihm wohl-gefällig sein wollen. Wie sein Wort Tat ist, ebenso will er, daß unseremWort unverzüglich die Tat folgt und unserem guten Vorsatz die Aus-führung. Wenn man deshalb im Altertum den guten Menschen vorstel-len wollte, bediente man sich des Vergleichs mit einem Pfirsich, aufden man ein Blatt des Pfirsichbaums legte, weil der Pfirsich die Formeines Herzens hat und das Blatt des Pfirsichbaums die Form der Zun-ge. Damit drückte man aus, daß der gute, tugendhafte Mensch nichtnur eine Zunge hat, um viel Gutes zu sagen; da diese Zunge auf seinemHerzen liegt, spricht er vielmehr nur, insofern sein Herz es will. Dasheißt: er sagt nur Worte, die zuerst aus seinem Herzen hervorgehen,das ihn zugleich zur Ausführung und zur Verwirklichung seiner Worteführt. Aus dem gleichen Grund hatten die vier Wesen (Ez 1,5-8) nichtnur Flügel, um zu fliegen, sondern unter ihnen auch Hände. Das soll zuverstehen geben, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, Flügel zuhaben, um durch heilige Wünsche und Erwägungen zum Himmel zufliegen, wenn wir nicht zugleich Hände haben, die uns zur Verwirkli-chung und Ausführung unserer Wünsche bringen. Es ist ja sicher, daßuns gute Vorsätze und heilige Entschlüsse allein nicht in das Paradiesführen, wenn sie nicht von Wirkungen begleitet sind, die ihnen ent-sprechen.

Um diese Wahrheit zu bekräftigen, kommt also Unser Herr heute inden Tempel, um hier Gott, seinem Vater dargebracht zu werden. Da-mit unterwarf er sich dem Gehorsam gegen das Gesetz, das Gott einstdem Mose auf die steinernen Tafeln geschrieben gegeben hat (Ex 24,12;34,1; 2 Kor 3,7). In diesem Gesetz gab es eine Reihe besonderer Vor-schriften, die unseren göttlichen Meister und Unsere liebe Frau inkeiner Weise verpflichteten. Der Erlöser ist ja der König und Herr-scher aller Welt, der Himmel, der Erde und all dessen, was sie erfüllt;er konnte daher keinem Gesetz und Gebot unterworfen sein. Weil eruns aber als erhabenes und unvergleichliches Vorbild vor Augen ge-stellt werden sollte, dem wir in allem gleichförmig werden müssen,

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soweit es die Schwachheit unserer Natur zulassen kann, deswegenwollte er trotzdem das Gesetz beobachten und sich ihm unterwerfen,nach seinem Beispiel auch seine hochbegnadete Mutter, wie wir imheutigen Evangelium (Lk 2,22-38) sehen. Es berichtet von der Reini-gung Unserer lieben Frau und von der Darstellung Unseres Herrn imTempel. Darüber will ich drei Erwägungen anstellen, bei denen ichmich nicht lange aufhalten, sondern sie nur im Vorbeigehen streifenwill. Ich überlasse sie dann eurem Geist, daß ihr sie wie die reinenTiere (Lev 11,2f.47) wiederkäuen und sie gut und nutzbringend ver-dauen könnt. Die erste Erwägung betrifft das Beispiel einer tiefen,echten Demut, das unser göttlicher Heiland und die glorreiche Jung-frau uns geben; die zweite den Gehorsam, der auf die Demut gepfropftist; an dritter Stelle erwäge ich die vorzügliche Methode, gut zu beten,die sie uns lehren.

Zum ersten: welch größere und tiefere Demut könnte man sich vor-stellen als jene, die Unser Herr und Unsere liebe Frau üben, indem siein den Tempel kommen, der eine, um wie alle Kinder der sündigenMenschheit hier dargebracht zu werden, die andere, um gereinigt zuwerden? Es ist ganz sicher, daß Unser Herr zu dieser Zeremonie nichtverpflichtet sein konnte, die nur Sünder betraf, da er die Reinheit selbstwar. Und welcher Reinigung konnte Unsere liebe Frau bedürfen, dasie weder befleckt war noch sein konnte? Sie hatte vom Augenblickihrer Empfängnis an eine so außergewöhnliche Gnade empfangen, daßdie der Kerubim und Serafim in keiner Weise damit zu vergleichen ist.Denn obwohl Gott ihnen vom Augenblick ihrer Erschaffung an mitseiner Gnade zuvorkam, um sie davor zu bewahren, in Sünde zu fal-len, waren sie dennoch nicht von diesem Augenblick an so gefestigt,daß sie nicht untreu werden konnten, sondern wurden es erst hernachkraft der Entscheidung, die sie fällten, sich dieser ersten Gabe zu be-dienen, und durch die freiwillige Unterwerfung ihres freien Willens.Unserer lieben Frau jedoch kam die Gnade Gottes zuvor und sie wur-de im Augenblick ihrer Empfängnis zugleich so gefestigt, daß sie we-der fallen noch sündigen konnte. Unbeschadet ihrer Reinheit kamenjedoch das Kind und seine Mutter an diesem Tag, sich im Tempel dar-zustellen, als wären sie Sünder wie die übrigen Menschen. O unver-gleichlicher Akt der Demut!

Je größer die Würde der Person ist, die sich demütigt, um so höherist der Akt ihrer Demut zu schätzen. O Gott, welche Größe UnseresHerrn und Unserer lieben Frau, die seine Mutter ist! Welch schöneErwägung, zugleich die nützlichste und fruchtbarste, die wir anstellenkönnen, ist die über die Demut, die der Heiland so innig geliebt hat!

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Es hat den Anschein, daß sie seine Vielgeliebte war und daß er nurvom Himmel herabstieg, um aus Liebe zu ihr auf die Erde zu kom-men. Sie ist die größte der rein sittlichen Tugenden, denn ich will nichtvon der Gottesliebe und der heiligen Liebe sprechen; sie sind nichtnur eine besondere Tugend, sondern eine allgemeine Tugend, die alleanderen umfaßt und von der sie ihren Glanz empfangen. Was aber dieeinzelnen Tugenden betrifft, gibt es keine, die so groß und so notwen-dig ist wie die Demut.

Unser Herr hat sie so sehr geliebt, daß er lieber sterben wollte, als vonihrer Übung zu lassen. Er hat selbst (Joh 15,13) gesagt: Es gibt keinegrößere Liebe, als sein Leben einzusetzen für das, was man liebt. Nun, erhat wahrhaftig sein Leben gegeben für diese Tugend, denn sterbend hater den hervorragendsten und erhabensten Akt der Demut gesetzt, denman sich je vorstellen kann. Um uns in etwa die Liebe unseres Erlöserszu dieser heiligen Tugend begreiflich zu machen, sagt der heilige Apo-stel Paulus (Phil 2,8), daß er sich erniedrigt hat bis zum Tod und bis zumTod am Kreuz, als wollte er sagen: Mein Meister hat sich nicht nur füreinige Zeit oder für einige bestimmte Handlungen verdemütigt, son-dern bis zum Tod, d. h. vom Augenblick seiner Empfängnis an und dannsein ganzes Leben lang bis zum Tod; und nicht nur bis dahin, sondern erwollte sogar im Sterben die Demut üben. Er überbietet diese Demutund fügt hinzu: zum Tod am Kreuz, zum schimpflichsten und über jedeandere Todesart hinaus verächtlichen Tod.

Dieses göttliche Vorbild belehrt uns, daß wir uns nicht damit begnü-gen dürfen, die Demut in einigen besonderen Akten zu üben oder nurfür einige Zeit, sondern immer und bei jeder Gelegenheit; nicht nurbis zum Tod, sondern bis zur Abtötung unser selbst, indem wir aufdiese Weise die Liebe zu unserer eigenen Hochschätzung und dieHochschätzung unserer Eigenliebe demütigen. Man darf sich nichtmit der Übung einer bestimmten Demut in der Haltung und in Wortenabgeben; sie besteht darin, zu sagen, daß wir nichts sind, und so vieleäußere Ehrenbezeigungen und Verdemütigungen zu machen, wie ihrwollt, und was weiß ich für Dinge, die nichts weniger als die Demutselbst sind. Nun, damit sie gut ist, muß sie uns nicht nur erkennen,sondern anerkennen lassen, daß wir ein wahres Nichts sind, das nichtzu leben verdient. Sie macht uns biegsam, geschmeidig und gegen je-dermann gefügig. Auf diese Weise befolgen wir das Gebot des Hei-lands, der uns befiehlt, uns selbst zu verleugnen, wenn wir ihm folgenwollen (Mt 16,24).

Viele täuschen sich darin, daß sie denken, die Demut sei eine nur fürNovizen und Anfänger geeignete Übung; sobald sie ein kleines Stück

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auf dem Weg zu Gott zurückgelegt hätten, könnten sie gut in dieserÜbung nachlassen. Gewiß, während sie sich schon für weise halten,werden sie als sehr töricht erfunden (Röm 1,22). Sehen sie denn nicht,daß Unser Herr sich erniedrigte bis zum Tod, d. h. die ganze Zeit seinesLebens? Wie gut wußte der göttliche Meister unserer Seelen, daß die-ses Beispiel für uns notwendig war. Er hatte es ja in keiner Weise nötig,sich zu erniedrigen, und wollte dennoch dabei bleiben, es zu tun, weildie Notwendigkeit dazu in uns lag. Wie notwendig ist die Ausdauer indiesem Punkt, denn wie viele hat man schon gesehen, die sehr gut mitder Übung der Demut begannen, aber aus Mangel an Ausdauer ge-scheitert sind. Unser Herr hat nicht gesagt: Wer anfängt, sondern werausharrt in der Demut, wird gerettet (Mt 10,22; 24,13).

Was ließ die Engel sündigen, wenn nicht der Mangel an Demut?Denn obwohl ihre Sünde Ungehorsam war, ließ sie dennoch der Stolzungehorsam werden, um alles bei seinem Ursprung zu erfassen. Derelende Luzifer begann damit, sich anzuschauen und zu betrachten,dann ging er dazu über, sich zu bewundern und sich in seiner Schön-heit zu gefallen, und aus diesem Wohlgefallen sagte er: Ich will nichtdienen, und warf damit das Joch der heiligen Unterwerfung ab (Jes14,13f; Jer 2,20). Er hatte wohl recht, sich zu sehen und die Vorzüg-lichkeit seiner Natur zu betrachten, aber nicht, um sich darin zugefallen und darüber eingebildet zu werden. Es ist nicht schlecht,sich zu betrachten, um Gott für die Gaben zu preisen, die er unsgeschenkt hat, wenn wir nicht zur Eitelkeit und Selbstgefälligkeitübergehen. Es gibt ein Wort der Philosophen, das aber von den christ-lichen Lehrern für gut befunden wurde, das heißt: erkenne die Vor-züglichkeit deiner Seele, um sie nicht geringzuschätzen und zu ver-achten. Indessen muß man immer in den Grenzen und im Rahmeneiner heiligen, liebevollen Dankbarkeit gegen Gott bleiben, von demwir abhängig sind und der uns zu dem gemacht hat, was wir sind (Ps100,3).

Unsere Stammeltern und fast alle anderen, die gesündigt haben,wurden durch den Stolz bewogen. Als guter, liebevoller Arzt faßt Un-ser Herr das Übel an der Wurzel und beginnt anstelle des Stolzes vorallem die schöne und nützliche Pflanze der hochheiligen Demut ein-zusetzen; jene Tugend, die uns um so notwendiger ist, als das entgegen-gesetzte Laster unter den Menschen allgemein verbreitet ist. Wir ha-ben gesehen, wie es bei den Engeln den Stolz gab und wie der Mangelan Demut sie für immer verlorengehen ließ. Sehen wir aber, wie vieleMenschen, die gut begonnen haben, aus Mangel an Ausdauer in dieser

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Tugend gescheitert sind. Was hat König Saul am Beginn seiner Regie-rung nicht alles getan. Die Heilige Schrift sagt (1 Sam 13,1), daß erunschuldig war wie ein Kind von einem Jahr. Trotzdem änderte er sichdurch seinen Stolz derart, daß er verdiente, von Gott verworfen zuwerden. Welche Demut bewies doch Judas, solange er in der Gefolg-schaft Unseres Herrn lebte; seht indessen, welchen Stolz er im Ster-ben hatte. Da er sich nicht demütigen und Werke der Buße tun wollte,die eine sehr große, gediegene Demut voraussetzen, verzweifelte er,daß er Vergebung erlangen könnte (Mt 27,4f). Es ist unerträglicherHochmut, sich vor der göttlichen Barmherzigkeit nicht erniedrigenzu wollen, von der wir alles Gute und all unser Glück erwarten müs-sen.

Mit einem Wort, das ist ein allen Menschen gemeinsames Übel.Deshalb kann man nie genug darüber predigen und ihrem Geist dieNotwendigkeit der Ausdauer in der Übung der hochheiligen und über-aus liebenswürdigen Tugend der Demut einprägen. In dieser Absichtkamen Unser Herr und Unsere liebe Frau heute, um das Brandmalder Sünder anzunehmen, sie, die es nicht sein konnten, und um sichdem Gesetz zu unterwerfen, das für keinen von beiden erlassen war.Welch große Demut, sich so zu erniedrigen! Die Erniedrigung derKleinen ist nichts Großes und nichts sehr Bedeutendes im Vergleichmit der von Riesen. Die Katzen, die Ratten und ähnliche Tiere, derenBauch fast die Erde berührt, haben keine große Schwierigkeit, sichwieder zu erheben, wenn sie einmal gefallen oder zusammengebro-chen sind; wenn aber die Elefanten einmal gefallen oder gestürzt sind,haben sie die größte Mühe und Schwierigkeit, sich wieder zu erhebenund auf die Beine zu kommen. Ebenso ist es nichts Großes zu sehen,daß wir uns erniedrigen und demütigen, denn wir sind nur ein kleinesNichts und verdienen nur Verachtung und Erniedrigung; unser lieberHeiland dagegen und die heilige Jungfrau sind wie Riesen von unver-gleichlicher Größe und Erhabenheit; ihre Demütigungen sind von un-schätzbarem Wert. Seit sie sich einmal gedemütigt hatten, blieben siees die ganze Zeit ihres Lebens und wollten sich nicht mehr erheben.Vielmehr hat Unser Herr, und seine hochgebenedeite Mutter nachihm, sich erniedrigt bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Wir Elen-den aber kriechen und schleichen wie Ratten, Katzen oder ähnlicheTiere nur über die Erde; doch wenn wir uns bei einer günstigen Gele-genheit erniedrigt haben, erheben wir uns sogleich wieder, werdenhochmütig und streben danach, für etwas Besonderes gehalten zu wer-den.

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Wir sind die Unlauterkeit selbst und wollen, daß man uns für reinund heilig halte; wahrhaftig eine größere Torheit, als man sagen kann.Unsere liebe Frau hat nicht gesündigt, wollte aber dennoch für eineSünderin gehalten werden. Nehmt doch eine Tochter Evas: wofür er-wartet sie nicht geehrt und geachtet zu werden? Gewiß, wenn diesesÜbel auch allgemein unter den Menschen verbreitet ist, so scheint esdennoch, daß dieses Geschlecht mehr dazu neigt als jedes andere.Unsere glorreiche Herrin war in keiner Weise ein Tochter Evas demGeist, sondern nur dem Blute nach, denn sie war stets nur äußerstdemütig und bescheiden, wie sie selbst in ihrem heiligen Lobgesang(Lk 1,48) sagt: Der Herr hat auf die Demut seiner Magd geschaut;deswegen werden mich alle Geschlechter seligpreisen. Ich weiß wohl,sie hat es so verstanden, daß Gott auf ihr Kleinsein und ihre Niedrig-keit geschaut hat; aber gerade darin erkennen wir ihre tiefe und auf-richtige Demut besser. Hört sie bitte, wie sie sich stets geringschätzte,vor allem, als der Engel ihr verkündete, daß sie die Mutter des Gottes-sohnes werden sollte: Ich bin seine Magd, sagte sie. Ich beschließe denersten Punkt (denn man muß sich kurz fassen, zumal sich das Themaoft bietet). Unser göttlicher Meister lehrt uns, welche Hochschätzungwir für die hochheilige Demut haben müssen, der stets seine Liebegehörte. Sie ist auch der Boden und das Fundament des ganzen Gebäu-des der Vollkommenheit. Dieses kann nur beruhen und sich erhebenauf der Übung einer tiefen, aufrichtigen und wahrhaftigen Anerken-nung unserer Niedrigkeit und Schwachheit, die uns zu echter Ernied-rigung und Selbstverachtung führt.

Gehen wir zum zweiten Punkt über und sagen wir: die Demut unse-res göttlichen Heilands und seiner hochgebenedeiten Mutter war stetsvon einem vollkommenen Gehorsam begleitet. Dieser Gehorsam hat-te solche Macht über beide, daß sie lieber sterben wollten, ja des Todesam Kreuz, als nicht zu gehorchen. Unser Herr starb am Kreuz ausGehorsam. Und welch glänzende Akte des Gehorsams machte Unse-re liebe Frau selbst in der Todesstunde ihres Sohnes, der das Herzihres Herzens war! Sie widersetzte sich ja nicht im geringsten demWillen des himmlischen Vaters, sondern verharrte fest und standhaftam Fuß des Kreuzes (Joh 19,25) und dem göttlichen Wohlgefallenganz unterworfen. Wir können die gleichen Worte des hl. Paulus (Phil2,8) anwenden, wie wir es für die Demut getan haben: Unser Herr istgehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Die ganzeZeit seines Lebens tat er alles nur im Gehorsam, wie er selbst bestä-tigt, wenn er (Joh 6,38) sagt: Ich bin nicht gekommen, um meinenWillen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Er

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schaute also stets in allem auf den Willen seines himmlischen Vaters,um ihm zu folgen, und nicht nur einige Zeit, sondern immer, bis zumTod.

Was Unsere liebe Frau betrifft, seht und betrachtet den Verlauf ihresLebens; ihr werdet darin nichts als Gehorsam finden. Sie schätzte die-se Tugend so hoch, daß sie sich fügte, als ihr befohlen wurde, sich zuvermählen, obwohl sie das Gelübde der Jungfräulichkeit gemacht hat-te. Hernach verharrte sie immer im Gehorsam, wie wir heute sehen,da sie in den Tempel kommt, um dem Gesetz der Reinigung zu gehor-chen, obwohl weder für sie noch für ihren Sohn irgendeine Notwen-digkeit bestand, ihm zu gehorchen, wie wir bereits im ersten Punktausgeführt haben. Das war vielmehr ein ganz freiwilliger Gehorsam,und er war nicht geringer, da er freiwillig und nicht notwendig war. Siehat diese Tugend selbst so sehr geliebt, die ihr göttlicher Sohn wie eingöttliches Reis auf den Stamm der heiligen Demut gepfropft hat, daßsie den Menschen keine andere empfahl. Im Evangelium findet sichkein Wort, außer daß sie bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sagte:Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). Damit hat sie dieBeobachtung des Gehorsams gepredigt. Diese Tugend ist die unzer-trennliche Begleiterin der Demut. Die eine findet sich nicht ohne dieandere; denn die Demut bewirkt, daß wir uns dem Gehorsam unter-werfen.

Unsere liebe Frau und heilige Herrin fürchtete nicht, ungehorsamzu sein, weil sie dem Gesetz in keiner Weise unterworfen war; siefürchtete vielmehr den Schatten des Ungehorsams. Denn wäre sie nichtin den Tempel gekommen, um Unseren Herrn darzubringen und sichzu reinigen, obwohl sie dessen nicht bedurfte, da sie ganz rein war,hätten sich Leute finden können, die Nachforschungen über ihr Lebenanstellen wollten, um zu erfahren, warum sie nicht tat wie die übrigenFrauen. Sie kommt also heute in den Tempel, um den Menschen jedenArgwohn zu nehmen, den sie hegen könnten, aber auch noch, um unszu zeigen, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, die Sünde zumeiden, sondern auch den Schatten der Sünde; daß wir nicht bei unse-rem Entschluß stehenbleiben dürfen, diese oder jene Sünde nicht zubegehen, sondern daß wir sogar die Gelegenheiten fliehen müssen, dieuns zur Versuchung werden könnten, in sie zu fallen. Sie lehrt unsauch, daß wir nicht mit dem Zeugnis unseres guten Gewissens zufrie-den sein dürfen, sondern sorgfältig darauf achten müssen, jeden Arg-wohn zu meiden, durch den andere an uns oder unserem BenehmenAnstoß nehmen könnten. Das sage ich für gewisse Leute, die entschlos-sen sind, bestimmte Sünden nicht zu begehen, die sich aber nicht be-

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mühen, die Äußerungen zu meiden, daß sie diese Sünden gern begin-gen, wenn sie es wagten.

Wie sehr muß dieses Beispiel des hochheiligen Gehorsams, dasUnser Herr und Unsere liebe Frau uns geben, uns anspornen, unsvollkommen und ohne Rückhalt dem Gehorsam zu unterwerfen inallem, was uns befohlen wird, uns aber damit nicht zu begnügen, son-dern auch das zu befolgen, was uns geraten wird, um uns der göttlichenGüte wohlgefälliger zu machen. Mein Gott, ist es etwas so Großes, unsgehorsam zu sehen, die wir geboren sind, um zu dienen, da der erha-benste König, dem alles untertan sein muß, sich dem Gehorsam unter-werfen wollte? Nehmen wir also dieses heilige Beispiel an, das derHeiland und die glorreiche Jungfrau uns geben; lernen wir, uns zuunterwerfen, biegsam, geschmeidig und für alle Hände lenksam zuwerden durch den hochheiligen Gehorsam, und nicht nur für einigeZeit, noch für bestimmte einzelne Akte, sondern für immer, für dieganze Zeit unseres Lebens bis zum Tod.

Sehen wir drittens, wie wir im heutigen Evangelium eine vorzügli-che Art finden können, das Gebet zu verrichten. Viele täuschen sichsehr, wenn sie glauben, daß es vieler Dinge, vieler Methoden bedürfe,um es gut zu machen. Einige von ihnen findet man sehr eifrig bemüht,alle möglichen Mittel ausfindig zu machen, um eine bestimmte Kunstzu finden, die zu kennen ihnen notwendig scheint, um es gut zu ma-chen, und sie hören nie auf, an ihrem Gebet herumzutüfteln und zuklügeln, um zu sehen, wie sie es nach ihrem Wunsch machen könnten.Die einen denken, man dürfe nicht husten und sich nicht rühren, ausFurcht, daß sich der Geist Gottes zurückziehe; eine überaus großeTorheit, als ob der Geist Gottes so empfindlich wäre, daß er von derMethode oder von der Haltung derer abhinge, die das Gebet verrich-ten. Ich sage nicht, daß man sich nicht bestimmter Methoden bedie-nen soll; aber man darf sich nicht an sie klammern und an ihnen hän-gen, so daß wir unser ganzes Vertrauen in sie setzen wie jene, die glau-ben, wenn sie nur stets ihre Erwägungen vor den Affekten machen, seialles gut. Es ist sehr gut, Erwägungen zu machen, nicht aber, sich der-maßen an die eine oder andere Methode zu klammern, daß man denkt,alles hänge von unserer Betriebsamkeit ab.

Um ein gutes Gebet zu verrichten, ist nur eines notwendig, nämlichUnseren Herrn in unseren Armen zu halten. Wenn das zutrifft, ist esimmer gut gemacht, auf welche Weise wir es auch anstellen. Es gibtkeinen anderen Kunstgriff, und ohne diese Voraussetzung vermögenunsere Gebete nie etwas und können von Gott nie angenommen wer-

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den. Der göttliche Meister hat ja selbst (Joh 14,6) gesagt: Niemandkann zum Vater gelangen, außer durch mich. Das Gebet ist nichts an-ders als „eine Erhebung unseres Geistes zu Gott“, die wir keineswegsaus uns selbst machen können. Wenn wir nun unseren Heiland in un-seren Armen halten, wird uns alles leicht. Seht doch den hl. Simeon,wie gut er betet, während er Unseren Herrn in seinen Armen hält. Laßnun deinen Diener in Frieden gehen, sagt er, denn er hat sein Heil, sei-nen Gott gesehen. Es wäre ein übler Streich, wollte man unseren HerrnJesus Christus aus seinem Gebet ausschließen und meinen, es ohneseinen Beistand gut zu machen. Ohne Zweifel können wir dem ewigenVater nicht gefallen, wenn er uns nicht anschaut durch seinen Sohn,unseren Heiland (vgl. Ps 84,10; Röm 8,29); und nicht nur die Men-schen, sondern auch die Engel, denn wenn er auch nicht ihr Erlöserist, so ist er doch ihr Retter und sie sind durch ihn in der Gnade gefe-stigt. Wenn man durch ein rotes oder violettes Glas schaut, erscheintunseren Augen alles, was man sieht, von der gleichen Farbe; ebensofindet uns der ewige Vater so schön und gut, wie er es wünscht, wenn eruns durch die Schönheit und Güte seines hochgebenedeiten Sohnesanschaut; denn sonst sind wir die Häßlichkeit und Unförmigkeit selbst.

Ich habe gesagt, das Gebet ist „eine Erhebung zu Gott“. Das ist rich-tig; denn obwohl wir auf dem Weg zu Gott den Engeln und Heiligenbegegnen, erheben wir den Geist nicht zu ihnen, noch richten wir un-sere Gebete an sie, wie die Häretiker boshafterweise behaupten woll-ten. Vielmehr bitten wir sie nur, ihre Gebete mit den unseren zu verei-nigen und eine heilige Verschmelzung mit ihnen zu bewirken, damitdurch diese heilige Verbindung die unseren von der göttlichen Gütebesser aufgenommen werden. Er wird sie immer gnädig annehmen,wenn auch wir seinen teuren Benjamin mitbringen, wie die KinderJakobs taten, als sie ihren Bruder Josef in Ägypten aufsuchten (Gen43,15). Wenn wir ihn nicht mitbringen, werden wir die gleiche Strafeerhalten, die Josef seinen Brüdern androhte, daß sie nämlich seinAngesicht nicht mehr schauen und von ihm nichts bekommen würden,wenn sie ihren kleinen Bruder nicht mitbrächten (Gen 42,20; 43,3).

Unser lieber kleiner Bruder ist das gebenedeite Kindlein, das Unse-re liebe Frau heute in den Tempel bringt, das sie selbst oder durch denhl. Josef dem guten Greis Simeon übergibt. Es ist wahrscheinlicher,daß es der hl. Josef tat, nicht die seligste Jungfrau; dies aus zwei Grün-den: einmal, weil die Väter ihre Kinder darzubringen kamen, so alshätten sie mehr Anteil an ihnen als die Mutter selbst; zum anderen,

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weil sich die Frauen, solange sie noch nicht gereinigt waren, dem Al-tar nicht zu nahen wagten, auf dem das Opfer geschah (Lev 12,4). Wiedem auch sei, das hat nicht viel zu bedeuten. Es genügt, daß der hl.Simeon das hochgebenedeite Kindlein auf seine Arme nahm, entwe-der aus den Händen Unserer lieben Frau oder des hl. Josef. Wie glück-lich sind jene, die in der rechten Verfassung in den Tempel kommen,um diese Gnade zu erlangen, von der Gottesmutter oder ihrem Bräu-tigam unseren Herrn und Meister zu empfangen. Denn wenn wir ihn inunseren Armen halten, haben wir nichts mehr zu wünschen und wirkönnen wohl das heilige Lied singen: Nun laß deinen Diener in Friedenziehen, mein Gott, denn meine Seele ist ganz zufriedengestellt, da siealles besitzt, was das Wünschenswerteste im Himmel und auf Erdenist (Ps 73,25).

Ich bitte euch aber, erwägen wir ein wenig die notwendigen Voraus-setzungen, um diese Gunst zu erlangen, daß wir den Erlöser in dieArme schließen und ihn aus den Händen Unserer lieben Frau empfan-gen wie der hl. Simeon und Hanna, jene gute Witwe, die das Glückhatte, zur gleichen Zeit im Tempel zu sein. Die Kirche läßt uns (imBrevier) singen, daß der hl. Simeon gerecht war, weil er gottesfürchtigwar. Das Wort gottesfürchtig an mehreren Stellen der Heiligen Schriftläßt uns an die Ehrfurcht vor Gott und den Dingen in seinem Dienstdenken. Er war also voll Ehrfurcht vor den heiligen Dingen. Dannerwartete er die Erlösung Israels und der Heilige Geist war in ihm. Diesevier Voraussetzungen sind notwendig, um das Gebet gut zu verrichten,denn diese muß man zunächst erfüllen, damit wir Unseren Herrn inunseren Armen halten können; denn darin besteht das wahre Gebet.

Erstens, Simeon war gerecht. Was heißt das anderes, als daß er sei-nen Willen nach dem Willen Gottes ausgerichtet hatte? Gerecht seinheißt nichts anderes als nach dem Herzen Gottes sein und nach sei-nem Wohlgefallen leben. Was uns betrifft, sind wir um so wenigerfähig, das hochheilige Gebet zu verrichten, je weniger wir unserenWillen dem Unseres Herrn angeglichen haben. Fragt jemand, wohiner gehe: Ich gehe beten. Das ist gut; Gott möge dich zum Ziel deinesWunsches und Unterfangens führen. Aber sag mir bitte, was willst dudabei tun? Ich will Gott um Tröstungen bitten. Das ist gut gesagt: duwillst also nicht deinen Willen nach dem Willen Gottes ausrichten,der will, daß du Trockenheit und Unfruchtbarkeit hast? Das heißt nichtgerecht sein. O, ich will Gott bitten, daß er mich von den vielen Zer-streuungen befreit, die mir beim Gebet kommen und mich dabei belä-stigen. Ach, seht ihr nicht, das heißt doch nicht, euren Willen befähi-

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gen, sich dem Unseres Herrn zu vereinigen und anzupassen. Er will,daß ihr zu Beginn des Gebetes entschlossen seid, dabei die Not ständi-ger Zerstreuungen, Trockenheiten und des Widerwillens zu ertragen,die euch überkommen, und ebenso zufrieden zu sein, als wenn ihrviele Tröstungen und Ruhe hättet. Es ist ja sicher, daß euer Gebet Gottnicht weniger angenehm, noch uns weniger nützlich sein wird, weil esunter vielen Schwierigkeiten verrichtet wird. Wenn wir nur unserenWillen bei allen Ereignissen nach dem der göttlichen Majestät aus-richten, sei es im Gebet oder bei anderen Gelegenheiten, werden wirimmer unsere Gebete und alles andere nützlich und in den Augenseiner Güte angenehm verrichten.

Die zweite Voraussetzung, die notwendig ist, um das Gebet gut zuverrichten, besteht darin, daß wir wie der gute hl. Simeon die ErlösungIsraels erwarten, d. h. daß wir in der Erwartung unserer eigenen Voll-endung leben und nicht ablassen zu warten. Das sage ich für manche,die das Verlangen haben, vollkommen zu werden durch die Aneig-nung von Tugenden, die aber alle auf einen Schlag haben möchten, alsob die Vollkommenheit in nichts anderem bestünde als im Verlangennach ihr. Das wäre gewiß eine große Wohltat, wenn wir sogleich ohneandere Mühe demütig sein könnten, sobald wir das Verlangen haben,es zu sein. Oder wenn ein Engel eines Tages eine Schatzkammer mitTugenden und mit der Vollkommenheit selbst füllen könnte und wirnichts anderes zu tun hätten, als hinzugehen und sie anzuziehen, wiewir es mit einem Kleid tun. Das wäre gewiß sehr angenehm. Weil dasaber nicht möglich ist, müssen wir uns daran gewöhnen, das Eintretenunserer Vollkommenheit in Herzensruhe zu suchen, indem wir allestun, was wir vermögen, um die Tugenden zu erwerben durch die Treuein ihrer Übung, jeder nach seinem Stand und Beruf. Was das Errei-chen des Ziels unseres Strebens früh oder spät betrifft, bleiben wir inErwartung; überlassen wir das der göttlichen Vorsehung. Sie wird dar-auf bedacht sein, uns wie den hl. Simeon zu der Zeit zu trösten, die siedafür bestimmt hat (1 Petr 5,7.10). Und selbst wenn das erst in derStunde unseres Todes wäre, muß uns das genügen, wenn wir nur unserePflicht erfüllen, indem wir stets tun, was an uns liegt und in unsererMacht steht. Wir würden immer früh genug haben, was wir ersehnen,wenn wir es haben, sobald es Gott gefällt, es uns zu geben.

Die dritte Bedingung ist, daß wir gottesfürchtig sein müssen wie derhl. Simeon, d. h. voll Ehrfurcht vor Gott zur Zeit des heiligen Gebetes.Denn welche Verehrung und Ehrfurcht müssen wir doch haben, wennwir mit der göttlichen Majestät sprechen, wenn die Engel, die so rein

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sind, in seiner Gegenwart zittern. Aber, mein Gott, ich kann diesesGefühl der Gegenwart Gottes nicht haben, die eine so große Erniedri-gung der ganzen Seele bewirkt, d. h. aller Fähigkeiten unserer Seele,und schließlich jene fühlbare Ehrfurcht, die mich so sanft und ange-nehm vor Gott erniedrigt. Nun, von dieser Ehrfurcht will ich nichtsprechen, sondern von jener, die bewirkt, daß der höhere Teil und dieSpitze unseres Geistes sich niedrig und demütig vor Gott hält, seineunendliche Größe und unsere tiefe Niedrigkeit und Unwürdigkeitanerkennt. Wie gut tut es, die Ehrfurcht zu sehen, mit welcher der hl.Simeon das göttliche Kind in seinen Armen hielt, da er die Erkenntnisder erhabenen Würde dessen besaß, den er trug!

Viertens wird gesagt, daß der Heilige Geist im hl. Simeon war undseine Wohnung in ihm nahm. Das geschah deshalb, weil er gewürdigtwurde, unseren Herrn zu sehen und in seinen Armen zu halten. Wirmüssen also dem Heiligen Geist Raum in uns geben, wenn wir wollen,daß Unsere liebe Frau oder der hl. Josef uns den göttlichen Heiland zutragen und in unseren Armen zu halten gibt. Darin besteht unser gan-zes Glück, denn wir können nur durch seine Vermittlung und seineGunst Zugang zu seinem Vater haben (Röm 5,2; Eph 2,18; 3,12). Wasmuß man nun tun, um dem Heiligen Geist Raum in uns zu geben? DerGeist des Herrn ist ausgegossen über die ganze Erde (Weish 1,7). Trotz-dem heißt es aber an einer anderen Stelle (4,5), daß er nicht in einemfalschen und heuchlerischen Herzen wohnt. Es ist wichtig, daß derGeist Gottes nur den Vorbehalt der Falschheit und Heuchelei macht,um nicht in uns zu wohnen. Wir müssen also schlicht und einfach sein,wenn wir wollen, daß er zu uns kommt und nach ihm Unser Herr. DerHeilige Geist scheint ja der Quartiermacher unseres Erlösers JesusChristus zu sein. Wie er von aller Ewigkeit von ihm als Gott ausgeht,scheint er mit ihm zu tauschen, indem Unser Herr als Mensch von ihmausgeht.

Was bleibt uns jetzt noch zu sagen? Wenn wir in diesem vergängli-chen und sterblichen Leben den Heiligen Geist in uns haben und unsin großer Achtung und Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät halten,ergeben das Erreichen unserer Vollkommenheit erwarten und, sovielwir können, unseren Willen dem Willen Gottes angleichen, dann wer-den wir das Glück haben, den Heiland in unseren Armen zu halten,und durch diese Gnade werden wir ewig selig sein. Amen.

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Zum KarZum KarZum KarZum KarZum Karfreitagfreitagfreitagfreitagfreitag

Nr. 29: 17. April 1620 IX,266-285

Der große heilige Apostel Paulus, der Prediger des Kreuzes UnseresHerrn, berichtet (Apg 17,22f), daß er eines Tages durch die Stadt Athenging und sein Blick zufällig auf einen Altar fiel, der die Aufschrifttrug: Dem unbekannten Gott. Er sagt: Zufällig sah ich mit meinenAugen einen Altar, dem unbekannten Gott geweiht. Das nahm er zumAnlaß, den Athenern zu verkünden, wer dieser unbekannte Gott ist,den sie verehrten. Vielgeliebte, teuerste Athener, sagte ihnen der gro-ße Prediger des Kreuzes, dieser Gott, den ihr noch nicht kennt, denich euch eben jetzt kennen lehren will, ist kein anderer als Gott, derewige Vater, der seinen Sohn auf die Erde herabsandte, damit er unse-re menschliche Natur annehme. Obwohl er Gott war wie sein Vater, inNatur und Wesen ihm gleich, hat er dennoch in der menschlichenNatur den Tod erlitten, ja den Tod am Kreuz (Phil 2,8), um dem ge-rechten Gott, seinem Vater, Genugtuung zu leisten; der war mit Rechtgegen die Menschen erzürnt wegen der Sünde unserer Stammeltern,eine Sünde, die ohne Zweifel allen den ewigen Tod brachte. Wie diemeisten Menschen jener Zeit anerkannten die Athener mehrere Göt-ter, doch schließlich bekannten sie, daß unter diesen einer war, den sienicht kannten.

Der große Apostel nahm also diese Aufschrift zum Anlaß, ihneneine ausgezeichnete Predigt zu halten und sie mit bewundernswertenAusdrücken den Gott erkennen zu lehren, den sie noch nicht kannten.Meine sehr teuren Schwestern, da ich hier kurze Zeit zu euch sprechensoll, habe ich bei meiner Erwägung die Augen auf die Inschrift gerich-tet, die ich nicht auf dem Altar der Athener, sondern auf dem unver-gleichlichen Altar gesehen habe, auf dem unser Erlöser und Meistersich für uns Gott, seinem Vater geopfert hat als überaus wohlgefälligesOpfer von unvergleichlicher Lieblichkeit. Dieser Altar ist nichts an-deres als das Kreuz, das seither stets als überaus kostbar und anbe-tungswürdig verehrt wurde. Als ich nun über die Inschrift nachdachte,die auf ihm angebracht ist, glaubte ich nach dem Vorbild des Predigersdes Kreuzes keinen anderen Gegenstand als Grundlage nehmen zudürfen für das, was ich euch zu sagen habe. Nicht daß ich zu euchsprechen wollte über einen unbekannten Gott, denn dank seiner Gütekennen wir ihn; gewiß könnte ich aber von einem verkannten Gottsprechen. Wir werden euch also diesen Gott nicht kennen lehren, son-

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dern euch lehren, ihn, der für uns gestorben ist, als ganz liebenswürdiganzuerkennen.

Wie nützlich ist doch diese Anerkennung! Denn wahrhaftig, um nureiniges zu nennen: Abraham, Isaak und Jakob hätten eine gewisse Ent-schuldigung gehabt, wenn sie die göttliche Majestät nicht anerkannthätten, da sie ihn nicht so klar erkannten wie wir. Wir sind unent-schuldbar, denn wir haben von Gott selbst erfahren, wer er ist, durchden göttlichen Mund Unseres Herrn, der mit seinem Vater der gleicheGott ist, wie wir gesagt haben. Die Christen werden unentschuldbarsein (Röm 1,20), wenn sie ihn nicht aus ganzem Herzen geliebt undihm gedient haben, denn sie wurden so gut belehrt, wie liebenswert erist und wie sehr er sie geliebt hat, indem er sein Leben für sie hingab(vgl. Gal 2,20; Eph 5,2).

Nun habe ich nicht die Absicht, meine lieben Schwestern, zu euchdarüber zu sprechen, unter wieviel Schmach und Schmerzen, Bitter-keit und Angst, Schimpf, Beleidigung und Verachtung unser göttli-cher Meister den Tod erlitten hat; ich will euch auch keine Beschrei-bung der bitteren Grausamkeit geben, mit der die Juden ihn ans Kreuzschlugen. Ihr wißt ja, ich habe euch immer zu verstehen gegeben, daßdies die weniger wichtige Erwägung über die Passion unseres Erlösersist und jene, bei der ihr weniger verweilen sollt, weil die Regung desMitleids über sein Leiden weniger nützlich ist. Er scheint uns das selbsteinprägen zu wollen, als er zu den Frauen, die ihm folgten, sagte, siesollten nicht über ihn, sondern über sich selbst weinen (Lk 23,27f).Wenn wir Tränen haben, weinen wir ganz einfach, denn wir können sieüber keinen würdigeren Gegenstand vergießen. Aber bleiben wir nichtdabei stehen, gehen wir zu nützlicheren Erwägungen über, wie sie dasLeiden unseres Erlösers erfordert.

Ich greife also mein Vorhaben wieder auf und erwäge die Inschrift,die über das Kreuz gesetzt ist. Wie bewundernswert ist sie doch! Wennich sie erwäge, bin ich ganz ergriffen! Jesus von Nazaret, König derJuden (Joh 19,19). Wer hätte je annehmen können, daß so heilige Wortedurch den erbärmlichen Mund eines derart schlechten Menschen aus-gesprochen würden, wie Pilatus es war? Sie waren dennoch sehr wahr,und Unser Herr hat sie in seiner Passion bestätigt, wie wir im Verlaufunserer Predigt sehen werden. Es ist bemerkenswert, welch schöneWorte die Juden beim Tod unseres Erlösers gesagt haben, obgleich siedas nicht beabsichtigten, sondern sie böswillig in schlechter Absichtsagten. Welch schönere und der Wahrheit besser entsprechende Aus-sage hätte man machen können als die des Schlechtesten unter allenMenschen, des erbärmlichen Kajaphas: Es ist notwendig, daß ein

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Mensch stirbt (nämlich der Vortrefflichste aller Menschen), aus Furcht,daß andere zugrundegehen, als daß alle zugrundegehen (Joh 11,49f).Und die Juden: Sein Blut werde ausgegossen über uns und unsere Kin-der (Mt 27,25). Das geschah in der Person vieler von ihnen, so durchdie Bekehrung der Apostel und der anderen Jünger, die ihre Kinderwaren. Als Pilatus die Inschrift des Kreuzes geschrieben hatte, sagteer: Was ich geschrieben habe, ist geschrieben (Joh 19,22); damit be-kräftigte er diese Wahrheit.

Was aber wollen diese geheimnisvollen Worte besagen? 1. Jesus be-deutet soviel wie Erlöser; 2. von Nazaret, der blütenreichen, blühen-den Stadt; 3. wird gesagt, daß Unser Herr König war: drei Eigenschaf-ten, die ihm in höchstem Maß zukamen.

Zunächst: er ist Erlöser. Wie wahr ist das! Er ist Heiland nicht nurder Menschen, sondern auch der Engel. Alle empfangen das Heil vonder göttlichen Güte und empfangen es kraft des Todes und LeidensJesu Christi; denn von Ewigkeit faßte er diesen Gedanken voll Erbar-men (Jer 29,11; 31,3), für alle zu sterben. Man muß aber bekennen,daß die Menschen im Tod und Leiden Unseres Herrn einen Grundunausprechlichen Trostes haben; denn wenn er auch der Retter derEngel ist, so ist er doch nicht ihr Erlöser, wohl aber der Menschen. Alsdie Engel gesündigt hatten, wurden sie sogleich in ihrer Bosheit ver-härtet infolge der freien Wahl des Bösen, die sie trafen, und dessen,was Gott mißfallen konnte. So gab es für sie von da an keine Hoffnungmehr, sich davon freimachen zu können. Seit sie die Sünde gewählthatten, waren sie deren Sklaven (Joh 8,34; Röm 6,16; 2 Petr 2,19). Siewaren der Verworfenheit in einem Maß verfallen und verhaftet, daß esihnen nie mehr möglich sein wird, sich von ihr zu lösen. Unglückli-cher Weise machten sie von ihrer Willensfreiheit gegen den göttlichenWillen Gebrauch; deshalb wurde dieser freie Wille für immer denQualen der Hölle unterworfen. Als aber der Mensch von der verbote-nen Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse (Gen 2,17;3,6) gegessen hatte, beschloß Unser Herr, d. h. die zweite göttlichePerson der heiligen Dreifaltigkeit, diesen armen Menschen um denPreis seines überaus kostbaren Blutes zu erlösen und die menschlicheNatur anzunehmen, die er untrennbar mit seiner göttlichen Personvereinigte, um leiden und sterben zu können, wie er es getan hat.

Wie lieblich und erfreulich, mehr als man sagen kann, ist dieserGedanke! Welche Freude, welche Rührung des Herzens, welches Lab-sal muß diese Wahrheit im Menschen bewirken, daß Unser Herr seinErlöser und Retter ist und daß er sein Leben von ihm erhält! Ihm istdas Leben dazu gegeben, damit er es jedem schenke und damit alle es

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von ihm empfangen, wie er es vom Vater hat (Joh 5,24-26; 6,58). Es istnicht das Leben des Leibes, wovon wir zu sprechen beabsichtigen, dar-an kann niemand zweifeln, sondern das geistliche Leben. Unser Herrbesaß nun nicht ein gewöhnliches, kleines Leben, sondern ein überrei-ches Leben (Joh 10,10), damit jeder Mensch daran teilhaben und le-ben kann aus diesem gleichen Leben, nämlich dem der Gnade, dasganz vollkommen und ganz liebenswürdig ist. Um uns aber diesesLeben zu erwerben, hat Unser Herr es für uns erkauft um den Preisseines Blutes (1 Kor 6,20; 1 Petr 1,18f) und das seine hingegeben.Also ist unser Leben nicht das unsere, sondern das seine; wir gehörennicht mehr uns, sondern ihm. Da er uns erkauft hat, sind wir seineSklaven. Welch glückliche Sklaverei! Wir dürfen also nicht mehr füruns leben, sondern für ihn (2 Kor 5,15). Welche Macht hat dieser Zu-sammenhang, uns zu veranlassen, daß wir uns ganz dem Dienst dieserhimmlischen Liebe weihen, durch die wir so liebevoll begünstigt wor-den sind, wenn ich es zu sagen wagen darf, sogar mehr als die Engel.

Sehen wir nun, auf welche Weise sich Unser Herr in seinem Tod undLeiden wahrhaft als Erlöser und Retter der Menschen erwies. Als dietreulosen Juden ihre unerhört barbarische Grausamkeit gegen dasüberaus sanfte Lamm (Jer 11,19) fast gestillt und ihn ans Kreuz ge-schlagen hatten, da stieß ihr elender Mund mehrere abscheuliche Got-teslästerungen gegen die göttliche Majestät aus. Als Antwort auf dieseungerechten und unwürdigen Gotteslästerungen rief unser Erlöser diegöttlichen Worte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun(Lk 23,34). Mein Gott, wie bewundernswert sind diese Worte! Ichbitte euch, bedenkt die Herzensgüte unseres Meisters und seht, zuwelchen Mitteln die Liebe greift, um das Ziel ihrer Absichten zu errei-chen, nämlich die Ehre Gottes und das Heil des Nächsten. Mein Vater,rief unser teurer Erlöser, als wollte er sagen: Ich bin dein Sohn; erin-nere dich, daß du mein Vater bist und mir deshalb nichts abschlagendarfst. Und um was bittet er? Um nichts für sich, denn er hat sichselbst vergessen. Er leidet mehr, als man sich je vorstellen kann; erdenkt aber trotzdem nicht an sich und an das, was er erduldet. Er tutgenau das Gegenteil von uns; wenn wir einen Schmerz haben, könnenwir nur daran denken und vergessen fast alles andere; ja sogar Zahn-schmerzen lassen uns alles um uns herum vergessen, so sehr lieben wiruns selbst und sind wir dem armseligen Leib verhaftet.

Die Menschen denken fast ihr ganzes Leben lang daran, was sie beiihrem Tod machen müssen, wie sie ihren letzten Willen gut aufsetzen,damit er recht verstanden wird für das, was sie ihren Kindern oderanderen hinterlassen, die ihr Vermögen erben sollen. Deshalb machen

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viele ihr Testament bei voller Gesundheit, da sie fürchten, die Machtdes Todesleidens könnte sie der Möglichkeit dazu berauben, ihre Ab-sichten bei ihrem Tod zu bekunden. Unser Herr aber wußte, daß ersein Leben hingeben und es bewahren konnte, wie es ihm gefiel (Joh10,17f); er schob es bis zu seinem Tod auf, sein Testament zu machen;ein Testament, das er versiegelte und verschloß, bevor es geschriebenund verkündet wurde.

Um zu zeigen, daß das Geschriebene ihr Wille ist und daß sie ver-langen, es soll so geschehen, verschließen die Menschen das Testa-ment mit ihrem Siegel, das sie aber erst anbringen, wenn alles vollen-det ist. Der Erlöser wollte sein Testament erst am Kreuz und kurz vorseinem Tod verkünden; trotzdem drückte er ihm sein Siegel auf undverschloß es vor allem anderen. Sein Siegel ist nichts anderes als erselbst, wie er Salomo in seiner Person der frommen Seele sagen ließ:Drücke mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie einen Stempel aufdeinen Arm (Hld 8,6). Er brachte dieses heilige Siegel an, als er dasallerheiligste und anbetungswürdigste Sakrament des Altares einsetz-te, das er sein neues Testament nennt (Mt 26,8; Lk 22,20; 1 Kor 11,25).Dieses Sakrament enthält in sich die Gottheit und Menschheit zu-gleich und vollkommen die heilige Person Unseres Herrn.

Durch die heilige Kommunion legte und drückte er sich also wie einheiliges Siegel und ein überaus liebenswürdiger Stempel auf unserHerz. Dann machte er sein Testament und tat seinen letzten Willen amKreuz kund, kurz bevor er starb, damit alle Menschen, die seine Miter-ben (Röm 8,17) im Königreich seines himmlischen Vaters sein sollen,ganz genau unterrichtet sind, sowohl darüber, was sie tun müssen, wieüber seine unvergleichliche Liebe zu ihnen. Er vergißt sich selbst, umzuerst an sie zu denken, so groß ist seine Liebe; erst dann kommt er aufsich zurück.

Sein Testament, meine Lieben, ist nichts anderes als die göttlichenWorte, die er am Kreuz sprach. Ganz eingenommen von der Liebe, dieer zu den Sündern hegte, wollte er also seinen himmlischen Vater be-sänftigen, indem er ihn Vater nannte: Mein Vater, vergib ihnen, denn siewissen nicht, was sie tun. Welch unvergleichlicher Beweis vollkomme-ner Liebe! Liebet einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 13,34; 15,12;vgl. Mt 5,44f; Lk 10,37), hatte er oft gesagt, als er dem Volk oder denAposteln predigte, so daß es schien, als liege ihm nichts anderes so amHerzen, als ihnen diese hochheilige Liebe einzuprägen. Jetzt aber gibter dafür ein ganz und gar unvorstellbares Beispiel: er entschuldigtsogar jene, die ihn gekreuzigt und mit geradezu barbarischer Wut be-schimpft haben, und er sucht Gründe, um zu erreichen, daß sein Vater

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ihnen verzeihe, und das sogar, während sie sündigen und ihn schmä-hen. Wie armselig sind wir dagegen; denn zur Not können wir eineBeleidigung zehn Jahre, nachdem sie uns zugefügt wurde, vergessen.Ja, es gab sogar solche, die nicht einmal in der Todesstunde jene nen-nen hören und ihnen vergeben wollten, von denen sie irgendein Un-recht erfahren hatten. O Gott, wie groß ist unser Elend! Wir könnenunseren Feinden kaum verzeihen, und Unser Herr liebte sie so innigund bat so inständig für sie!

Diese so bewundernswerte Bitte trug solche Früchte, daß einige vonihnen sich bekehrten: die einen sogleich; nachdem sie gehört hatten,was die menschliche Natur völlig überstieg, bekannten sie, daß er wahr-haftig der Sohn Gottes war (Mt 27,34; Mk 15,39). Die anderen glicheneinem Hirsch; wenn er getroffen ist, sucht er dennoch den Todeskampfweit genug von dem Ort entfernt, wo er den tödlichen Stoß empfing.Unser göttlicher Meister hatte von seinem himmlischen Vater erwirkt,daß er aus der Höhe viele Pfeile in die Herzen jener abschoß, für die erbat. Das geschah ganz so, wie er gewünscht hatte. Trotzdem übergabenviele ihr Leben nicht sogleich, sondern trugen die Wunde von diesengöttlichen Pfeilen als innere Gewissensbisse bis zum Pfingstfest. Andiesem Tag bekehrten sich auf die erste Predigt des hl. Petrus an die3000 Menschen (Apg 2,41). Unter ihnen waren zweifellos manchevon denen, die beim Tod Unseres Erlösers zugegen waren. Diese Be-kehrung ist das Verdienst des bewundernswerten Gebetes, das er anseinen himmlischen Vater richtete, selbst inmitten der Schmach undBosheiten, die seine Feinde ihm zufügten.

Diese entarteten, unglücklichen Menschen stießen gegen seine gött-liche Majestät und gegen die seines Vaters unerträgliche Gottesläste-rungen aus wie diese: Wenn er allmächtig ist, wie er sagt, und aufseinen Vater vertraut, der ihn gesandt hat, soll er ihn jetzt anrufen, daßer ihn rette; wenn er will, daß wir an ihn glauben, dann rette er sichjetzt selbst; er sagt, daß er den Tempel in drei Tagen wieder herstellenwird, und ähnliche wahrhaft teuflische Worte (Mt 27,39-43; Mk 15,29-33; Lk 23,35-37). Zur selben Zeit, sage ich, sendet Unser Herr Seufzerdes Mitleids zu Gott und Worte, die süßer als Honig (Ps 119,103) undZucker sind, damit er ihnen ihre Freveltaten verzeihe und ihnen seineGnade schenke. Seht also, daß Unser Herr gerechterweise Erlöser ge-nannt wird.

Doch abgesehen davon, daß er den Sündern Gnade gewährt, erbitteter sie von seinem himmlischen Vater mit einer so erfinderischen Lie-be, daß er ihn nicht Gott und Herr nennt, wie wir sehen werden, daß eres später tun wird, wenn er für sich spricht. Er sagt vielmehr mein

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Vater zu ihm, denn er weiß wohl, daß dieses zärtliche Wort, in herzli-cher Liebe ausgesprochen, ehrfürchtiger ist als mein Herr und er des-halb eher erhört wird. Anscheinend beginnt er sein Gebet damit, umdas väterliche Herz zu gewinnen, daß er den armen Sündern verzeihe,für die er sich zum Gewährsmann und Bürgen gegenüber der göttli-chen Gerechtigkeit macht. Es ist, als habe er sagen wollen: Mein Vater,vergib diesen armen Sündern, selbst denen, die mich kreuzigen, dennich bin da, um für sie zu bezahlen. Ich bitte nicht um Schonung fürmich, denn ich bin auf den Zahltisch des Kreuzes gestiegen, um füralle ihre Schulden Genugtuung zu leisten. Damit du nichts von ihnenforderst und damit deine Güte ihnen vergibt, will ich mein Blut bis aufden letzten Tropfen vergießen, obwohl ein einziger ausreichend wäre.Ich nehme es bereitwilligst auf mich, die Forderungen deiner Gerech-tigkeit zu erfüllen. Räche an mir ihre Sünden, den Sündern aber ver-gib, denn das ist mein Wille. O Gott, welche Güte und welche Mildedes Herzens unseres überaus gütigen Erlösers!

Das erste Vermächtnis in seinem Testament war, den Sündern seineGnade zu schenken, durch die sie dann zu seiner Herrlichkeit gelan-gen könnten, zu der niemand gelangen kann ohne seine Gnade undohne die Verdienste seines Leidens. Nachdem er also bereits gezeigthat, daß er sehr zu Recht Erlöser genannt wird, da er den Sündern seineGnade schenkt, verspricht er dem guten Schächer, der bußfertig war,seine Herrlichkeit (Lk 23,39-43). Am Rande muß aber bemerkt wer-den, daß einer der Schächer sich bekehrte, der andere nicht. Wir wer-den gerechterweise bestraft für unsere Missetaten, sagt der gute Schächer,denn wir waren stets böse und schlecht und haben große Diebereienverübt. Auf diese Weise bekannte er seine Sünden. Wir könnten dasebenso jedesmal tun, wenn wir irgendeine Trübsal erleiden. Wir wer-den mit Recht bestraft, müßten wir sagen, indem wir aus der Not eineTugend machen und unsere Sünden bekennen. Aber ach, wir beneh-men uns wie der andere Schächer, der in seiner Verhärtung verharrteund Gott noch im Sterben lästerte.

Nachdem der gute Schächer sein Bekenntnis gemacht hatte, erbat ersogleich die Lossprechung: Ach, Herr, fügte er hinzu, gedenke meiner,wenn du in deinem Reich sein wirst. Darauf antwortete unser teurerErlöser gütig: Heute noch wirst du bei mir im Paradies sein. Soviel manweiß, war dies das erstemal, daß er dies versprach. Welch lieblichesund liebenswertes Wort: Heute wirst du bei mir sein. Groß war stets dieLiebe Unseres Herrn zu den Bußfertigen. Kurz zuvor hatte er gebeten,daß den Sündern Gnade zuteil werde; nun schenkt er den Büßern dieHerrlichkeit. Die Gnade macht die Sünder bußfertig, und nur sie sind

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der Herrlichkeit würdig. Der Himmel ist fast ausschließlich von Buß-fertigen erfüllt. Da sind nur Unsere liebe Frau, der hl. Johannes derTäufer, der hl. Josef und einige andere, die von der Sünde frei waren;ihnen kam die Gnade zuvor und bewahrte sie davor, daß sie sündigten.Die allerseligste Jungfrau stand einzigartig über allen anderen, dennsie wurde nicht nur vor der Erbsünde und der persönlichen Sündebewahrt, sondern auch vor ihrem Schatten, indem sie nicht einmalUnvollkommenheiten beging, so klein sie auch sein mochten.

Das Paradies ist ganz geschmückt mit Büßern, und wie wir gesehenhaben, findet man dort sonst fast nichts. Die Märtyrer waren Büßer,indem sie ihr Blut vergossen, in dem sie gewaschen wurden wie ineinem Bad der Buße. Alle Martern, die sie erduldeten, waren nichtsanderes als Akte der Buße. Die Jungfrauen waren Büßer, ebenso dieBekenner. Mit einem Wort, keiner kam in den Himmel ohne Bußeund ohne sich als Sünder zu bekennen, außer jene, von denen wir ge-sprochen haben. Alle ohne Ausnahme bedurften der Verdienste desBlutes, das Unser Herr vergossen hat. Ich glaube, es verbreitete sovorzügliche Düfte und Wohlgerüche vor der Majestät des ewigen Va-ters wie vor den Menschen, daß es fast unmöglich war, es nicht anzuer-kennen als das Blut nicht eines bloßen Menschen, sondern eines Gott-Menschen.

Nach meiner Meinung war dieses hochheilige Blut wie Weihrauch;wenn man ihn auf das Feuer legt, verbreitet er rings um sich einenduftenden Rauch, ja läßt diesen Rauch in die Höhe steigen. Ebensoverbreitete das Blut Unseres Herrn Wohlgerüche nach allen Seiten(vgl. Eph 5,2), als es bis zum letzten Tropfen aus seinem hochheiligenLeib zur Erde floß. Dieser kostbare Duft erreichte auch den gutenSchächer, der von so großer Lieblichkeit erfüllt wurde, daß er sichaugenblicklich bekehrte und das gnadenvolle Wort zu hören verdien-te: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. Von diesem Paradieswollte unser Erlöser nicht sprechen, bis er jetzt so nahe daran war,dort einzutreten, und schon an seiner Pforte stand. Ist es nicht einechtes Zeichen, daß Unser Herr wahrhaftig unser Erlöser ist, da er sounbedingt die Herrlichkeit verspricht, daß er es nicht aufschiebt, siezu schenken, sondern heute sagt? O Wort voll Trost für die bußferti-gen Sünder! Doch was seine Güte für den guten Schächer getan hat,wird sie auch für alle anderen Kinder des Kreuzes tun, d. h. für dieChristen. Glückliche Kinder des Kreuzes, denn sobald ihr bußfertigseid und eure Sünden bereut, habt ihr die Gewißheit, daß unser Erlö-ser im gleichen Augenblick euer Retter sein und euch die Herrlich-keit schenken wird.

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Dennoch bleibt ihm noch manches Vermächtnis in seinem göttli-chen Testament zu machen. Wie, sagt ihr mir: gibt es noch etwas ande-res? Was, meine lieben Schwestern? Da ist eine gewisse geistliche Zärt-lichkeit, die er seinen liebsten Freunden schenken mußte; eine Zärt-lichkeit, die nichts anderes ist als ein ganz einzigartiges Mittel, dieerworbene Gnade zu bewahren und zu einem höheren Grad derHerrlichkeit zu gelangen. Da er also mit Augen voll Mitleid auf seinegebenedeite Mutter schaute, die mit seinem Lieblingsjünger am Fußdes Kreuzes stand, wollte er ihr nicht die Gnade schenken oder erbit-ten, denn die besaß sie schon in höchstem Grad, noch weniger wollteer ihr die Herrlichkeit versprechen, denn die war ihr ganz sicher; erschenkte ihr vielmehr eine bestimmte Herzenseinheit und zärtlicheLiebe für den Nächsten. Diese gegenseitige Liebe ist eines der größtenGeschenke, die seine Güte den Menschen gemacht hat.

Doch welche Liebe? Eine mütterliche Liebe. Frau, sagt er, sieh dei-nen Sohn (Joh 19,26). Gott, welcher Tausch! Statt des Sohnes derDiener, statt Gott das Geschöpf! Trotzdem weigert sie sich nicht, dennsie weiß sehr wohl, daß sie in der Person des hl. Johannes alle Kinderdes Kreuzes als ihre Kinder empfängt und daß sie ihnen eine liebevol-le Mutter sein wird. Unser göttlicher Meister lehrt uns dadurch: wennwir teilhaben wollen an seinem Testament und an den Verdienstenseines Todes und Leidens, müssen wir alle einander lieben mit einerzärtlichen und überaus herzlichen Liebe des Sohnes zur Mutter undder Mutter zum Sohn, die in gewisser Hinsicht größer ist als die derVäter.

Man muß darauf hinweisen, daß Unsere liebe Frau am Fuß des Kreu-zes stand. Hier haben jene sehr unrecht, die meinen, sie sei vom Schmerzso überwältigt gewesen, daß sie ohnmächtig wurde. Das trifft ohneZweifel nicht zu; sie blieb vielmehr fest und standhaft, wenn auch ihrSchmerz der größte war, den je eine Frau über den Tod ihres Kindesempfand, weil es nie eine gab, die so viel Liebe hatte wie sie zu Unse-rem Herrn, nicht nur, weil er ihr Gott war, sondern auch, weil er ihrüberaus teurer und liebenswerter Sohn war.

Groß war die Standhaftigkeit der seligsten Jungfrau und desLieblingsjüngers. Deshalb wurde er mit dem Geschenk ausgezeichnet,das seine Güte ihm mit seiner heiligen Mutter machte, der liebens-würdigsten Mutter, die man sich vorstellen kann. Diese Tugend derStandhaftigkeit und der Großmut des Geistes liebte Unser Herr stetsmehr als viele andere. Die Liebe Unserer lieben Frau war wahrhaftigstärker und zärtlicher, als man sagen kann, folglich ihr Schmerz beimTod und Leiden Jesu Christi heftiger als jeder andere. Wie aber diese

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Liebe dem Geist gemäß war, gelenkt und geleitet von der Vernunft, sobewirkte sie auch keine ungeordnete Regung in dem Schmerz, den sieempfand, als sie sich ihres Sohnes beraubt sah, der ihr unvergleichli-chen Trost brachte. Die glorreiche Mutter blieb also fest, standhaftund dem Wohlgefallen Gottes vollkommen unterworfen; er hatte be-stimmt, daß Unser Herr für das Heil und die Rettung der Menschenstarb.

Wir müssen weitergehen, denn ich habe nicht die Zeit, lange beidiesem Gegenstand zu verweilen, obwohl es mir Freude gemacht hät-te, über dieses heilige Zartgefühl zu Ende zu sprechen, d. h. über dieherzliche und zärtliche Liebe, die wir nach dem Willen unseres teurenMeisters zueinander haben sollen. Unser Herr wurde also Erlöser ge-nannt, und mit vollem Recht, weil er es selbst bestätigt hat und weil eres am Kreuz in besonderer Weise verwirklicht hat, wie wir sagten.Denn wenn auch alles, was er im Lauf seines sterblichen Lebens getanhat, geschah, um uns zu erlösen, und in der Absicht, seinem himmli-schen Vater für uns Genugtuung zu leisten, so wird dennoch das, waser in seinem Tod und Leiden wirkte, als dessen Zusammenfassung dasWerk unserer Erlösung schlechthin genannt.

Er erwies sich aber nicht nur als würdig des Namens Jesus, sondernauch jenes des Nazareners. Das ist der zweite Punkt unserer Predigtund das zweite Wort der Inschrift, die ich über dem Altar des Kreu-zes gesehen und erwogen habe, der nicht dem unbekannten Gott ge-weiht ist, sondern dem verkannten. Der gütige Erlöser unserer See-len hat gewollt, daß man ihn Jesus von Nazaret nannte, weil Nazaretblühende und blumenreiche Stadt bedeutet. Er selbst wollte im Ho-helied (2,1) die Blume des Feldes und die Lilie der Täler genannt wer-den. Um uns nun zu zeigen, daß er nicht nur eine Blume, sondern einBlumenstrauß war, zusammengesetzt aus einer Anordnung der schön-sten und duftendsten Blumen, die man finden kann, deshalb wollteer den Namen Blühender am Baum des Kreuzes behalten. Aber sagtmir, war Unser Herr am Kreuz nicht eher eine verwelkte, verdorrteund verblühte Blume als eine blühende? Seht ihn doch, wie er eswagt, sich blühend zu nennen, obwohl er so erstarrt ist, ganz bedecktund besudelt von ekelhaftem, übelriechendem Speichel, die Augeneingefallen und trüb, das Gesicht von Schlägen zerschunden, blaßund farblos durch die heftigen Schmerzen und weil er sein hoch-gebenedeites Blut vergossen hat. Mit einem Wort, die Todesschmerzen(Ps 18,5; 115,3) hatten sich bereits aller Teile seines Leibes bemäch-tigt.

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Meine lieben Schwestern, groß und wunderbar schön sind die Blü-ten, die diese gesegnete Pflanze des Todes und Leidens aufblühen undsich entfalten ließ, solange er am Kreuz hing. Es würde zu lange dau-ern, euch alle zu schildern; deshalb werde ich mich damit begnügen,nur deren vier zu nennen. Ich werde sie nur im Vorbeigehen berührenund es dann jeder von euch überlassen, sie den Rest des Tages über zubetrachten, damit ihre überaus angenehmen Düfte eure Seelen durch-duften können und sie mit dem Wohlgeruch eines heiligen Vorsatzeserfüllen, oft an ihnen zu riechen, wie es der Heiland für euren Fort-schritt in der Vollkommenheit wünscht. Diese vier Blüten sind nichtsanderes als vier von den bedeutendsten und notwendigsten Tugenden.Die erste ist die hochheilige Demut, die wie das Veilchen einen über-aus lieblichen Duft beim Tod Unseres Herrn verbreitete; die zweite istdie Geduld, die dritte die Beharrlichkeit; die vierte ist eine überausvortreffliche Tugend, nämlich der heilige Gleichmut.

Was die erste betrifft: hat denn Unser Herr während seines Leidensnicht nur die tiefste Demut geübt, die echteste und aufrichtigste, dieman sich vorstellen kann, sondern die unvorstellbarste in allen Peinenund Erniedrigungen, die er erduldete? Hat er diese Tugend nicht seinLeben lang geübt? Sie war gewiß groß darin, daß er sich wohl nachJerusalem nennen lassen konnte oder nach Betlehem, der Stadt, in derer geboren war und die seinem Vorfahren David gehörte, daß er esaber trotzdem nicht wollte. Damit wollte er zeigen, daß er seine Wahlim Gegensatz zu den Großen dieser Welt traf, die die ehrenvollstenNamen annehmen, die sie können. Er aber wählte den Namen dergeringsten Stadt, den er annehmen konnte, denn er behielt als seinenAnteil stets die Erniedrigung, die Armut und Niedrigkeit.

Nun sagen uns die Evangelisten (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44f):Sogleich nachdem unser Erlöser die ersten drei Worte gesprochen hatte,die wir erwähnten, kam eine Finsternis über die ganze Erde und dieSonne verfinsterte sich für die Dauer von drei Stunden. Nicht daß dieseFinsternis natürlich gewesen wäre, sie trat auf außergewöhnliche Wei-se ein. Der Mond hatte seinen Lauf geändert und kam vor der Sonne zustehen, woraus die Finsternis folgte. Dabei stelle ich mir vor, daß derMond den Sternen einen besonderen Gefallen tat, damit sie die Ehrehatten, ihr Licht in Gegenwart der wahren Sonne der Gerechtigkeit(Mal 3,2) erstrahlen zu lassen, die ohne Zweifel verfinstert zu seinschien, so matt war ihre Farbe. Diese Blume war verwelkt durch dieTodesschmerzen, die sie schon umgaben, so daß sie gestorben zu seinschien; denn die ganze Zeit über sprach der Erlöser kein Wort, son-

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dern wahrte während drei Stunden tiefstes Schweigen. Daher kommtes, daß man in allen gut reformierten Klöstern stets einige Stunden desSchweigens angeordnet hat, um das Schweigen Unseres Herrn amKreuz nachzuahmen.

Doch was denkt ihr, tat der gütige Erlöser unserer Seelen währenddieses Schweigens? Er zog sich in sich selbst zurück und betrachtetedas Geheimnis seiner Erniedrigung. Was ist denn die Demut anderesals ein Einkehren in uns selbst, um uns gründlich zu betrachten? Daßdem so ist, gibt er uns zu verstehen durch das, was er nachher sagt:Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Ps 22,1; Mt27,46; Mk 15,34). Nachdem er nicht so sehr seine äußere, sondernvielmehr seine innere Armut betrachtet hatte, rief er dieses Wort voll-kommener Demut aus und ließ seine Not, seine Erniedrigung undVerlassenheit erkennen. Trotzdem darf man das nicht so verstehen, alshätte der himmlische Vater ihn in der Weise verlassen, daß er seineväterliche Gunst für den überaus liebenswerten Sohn zurückgezogenhätte, denn das ist unmöglich, weil er mit der Gottheit verbunden undvereinigt war. Was aber das Bewußtsein dieser ganz heiligen Huld undEinheit betrifft, war es einzig auf die Spitze seines Geistes beschränkt,die übrige Seele war vollkommen den Peinen und Bedrängnissen allerArt ausgeliefert, so daß es ihn drängt zu sagen: Warum hast du michverlassen? Während seines Lebens hatte er stets oder gewöhnlich ir-gendwelche Tröstungen empfangen. Manchmal zeigte er, daß er Freu-de empfand über die Bekehrung von Sündern, wie er zu den Apostelnsagte (Lk 15,4.10.32); in seinem Todesleiden aber hatte er keinerleiTrost. Alles gereichte ihm zur Bedrängnis, zur Qual und Bitterkeit.Groß war deshalb seine innere Armut, groß auch der Akt der Demut,daß er sie uns zu erkennen gab.

Und was denkt ihr, hat unser gütiger Erlöser während dieses langenSchweigens noch getan? Für mich steht es außer Zweifel, daß er alleKinder des Kreuzes schaute, alle wahrhaft guten Menschen, im beson-deren jene, die Nutzen aus seinem Tod und Leiden ziehen würden. Erbetrachtete uns alle, eines nach dem anderen, und erwog die erforder-lichen Mittel, um uns die Verdienste seines Leidens zuzuwenden. OGott, welche Herzensgüte unseres Meisters, der uns so innig liebte!Uns, sage ich, und sogar jene, die die furchtbarste Sünde begingen, dieein Mensch je begehen kann. Es gibt ja keine größere Sünde, als Gottzu hassen, der in sich in keiner Weise hassenswert sein kann. Nein,dieser Haß kann sich nur im Herzen von Menschen finden, die rasendsind vor Verzweiflung und Wut infolge heftiger Schmerzen, die sieerleiden. Daher kommt es manchmal, daß sie Gott hassen und ganz

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unfähig sind, ihn zu lieben. Was aber die Juden betrifft, die UnserenHerrn kreuzigten, so war ihre Sünde ein Ungeheuer an Bosheit. Trotz-dem hatte Unser Herr Gedanken der Liebe für sie, indem er die Mittelvoraussah, die er ihnen geben wollte, um Nutzen aus seiner heiligenPassion zu ziehen.

Das gehört bereits zur zweiten Blüte, die wir zu betrachten unter-nommen haben, nämlich zur Geduld. Diese Geduld war so groß, mehrals man sagen kann; denn niemals hörte man eine Klage aus dem Munddes Erlösers kommen (Jes 53,7). Er gibt kein Zeichen, wie wir es tun,von der Größe seiner Schmerzen, um die Anwesenden zum Mitleidmit ihm zu bewegen. Seine Leiden waren unbeschreiblich. Ich gebeeuch zu bedenken: er war mit Nägeln an das Kreuz geheftet, vom Kopfbis zu den Füßen derart zerschunden, daß er nur eine Wunde hatte, diesich über seinen ganzen Leib erstreckte (Jes 1,6); seine Glieder warenganz verrenkt. Was seine inneren Leiden betrifft, waren sie unvergleich-lich größer. Jenes Wort nun, das wir vorhin wiedergegeben haben, sag-te er keineswegs, um sich zu beklagen, sondern nur, um uns zu lehren,wie wir uns mitten in unseren inneren Leiden, in Hilflosigkeit undinnerer Verlassenheit an Gott wenden müssen und uns nur bei ihmbeklagen; er allein soll unsere Bedrängnis sehen und wir sollen sie dieMenschen so wenig wie möglich merken lassen.

Wie groß aber war der Schmerz unseres Meisters, als er die abscheu-lichen Gotteslästerungen hörte, die seine Feinde gegen ihn und gegenseinen himmlischen Vater ausstießen, und als er sah, daß ihre Wutnicht gestillt werden konnte, soviel sie ihn auch quälten. Ohne Zwei-fel durchbohrte ihm dies das Herz noch mehr, als die Nägel seineFüße und seine hochgebenedeiten Hände durchbohrten. Wie groß mußüberdies die Rührung gewesen sein, die ihm der Schmerz seiner hoch-heiligen Mutter verursachte, die er so innig liebte. Die Herzen desSohnes und der Mutter schauten einander in beispiellosem Mitleid an,aber auch mit unvergleichlicher Großmut und Standhaftigkeit; dennsie beklagten sich nicht, sie wandten den Blick nicht voneinander ab,um ihr Leid weniger merken zu lassen, sondern sie sahen sich fest an.Mit einem Wort, wir können nicht beschreiben, wie groß die Schmer-zen unseres Meisters in seinem Leiden waren.

Trotzdem beklagte er sich nie. Er sagte wohl, daß er Durst hatte (Joh19,28); aber obwohl das wahr war, verlangte er doch nicht zu trinken,denn wonach er dürstete, das war das Heil der Seelen. Er tat dennochzu unserer Belehrung einfach seine Not kund, wenn ihr es in diesemSinn nehmen wollt. Danach machte er einen Akt größter Unterwer-

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fung; denn als jemand einen Schwamm, der mit Essig getränkt war,auf die Spitze einer Lanze gesteckt hatte, um seinen Durst zu stillen,saugte er daran mit seinen hochgebenedeiten Lippen (Joh 19,29f).Sonderbar, ihm war nicht unbekannt, daß dies ein Trunk war, derseine Pein steigern wird; trotzdem nahm er ihn einfach, ohne irgend-wie zu zeigen, daß es ihn kränkte oder daß er es nicht gut fand. Damitwill er uns lehren, mit welcher Fügsamkeit wir nehmen müssen, wasuns verordnet wird, wenn wir krank sind, selbst wenn wir im Zweifelwären, ob das unser Übel vergrößern könnte. Ebenso müssen wir esmit den Speisen machen, die uns vorgesetzt werden, ohne irgendwiezu zeigen, daß sie uns nicht schmecken oder daß wir Widerwillendagegen haben.

Ach, wenn wir ein noch so geringes Übel haben, tun wir genau dasGegenteil von dem, was unser überaus gütiger Meister uns gelehrt hat,denn wir jammern und klagen unaufhörlich. Wir können anscheinendnicht genug Leute finden, um ihnen alle unsere Leiden im einzelnenzu schildern. So klein unser Übel auch sein mag, es ist unübertrefflich,und was die anderen leiden, ist nichts im Vergleich damit. Wir sindmißmutiger und ungeduldiger, als sich sagen läßt. Wir finden nichtsso, daß es uns befriedigt. Es ist sehr erbärmlich zu sehen, wie wenigwir die Geduld unseres Erlösers wahren. Er vergaß seine Leiden undtrachtete nicht danach, die Menschen auf sie aufmerksam zu machen,sondern begnügte sich damit, daß sein himmlischer Vater sie kannte(Mt 6,1-6.16-18) durch den Gehorsam, mit dem er sie ertrug, unddadurch, daß er seinen Zorn gegen die menschliche Natur besänftigte,für die er litt.

Ich gehe weiter und weise auf die dritte Tugend hin, die Unser Herram Kreuz uns wie eine sehr angenehme Blüte vorstellt. Das ist dieheilige Beharrlichkeit, eine Tugend, ohne die wir der Früchte seinesTodes und Leidens nicht würdig sein können. Es ist ja nicht alles, gutzu beginnen, wenn man nicht ausharrt bis zum Ende (Mt 10,22; 24,13).Der Zustand, in dem wir uns am Ende unserer Tage befinden werden,wenn Gott den Faden unseres Lebens abschneidet, wird ja sicher derZustand sein, in dem wir die ganze Ewigkeit bleiben (vgl. Ekkl 11,3).Glücklich wird also die Seele sein, die beharrlich ist, gut zu leben unddas zu tun, wozu sie gesandt wurde, wie Unser Herr, der bis zu seinemTod beharrlich alle Tugenden aus Gehorsam übte, wie der hl. Paulus(Phil 2,8) schreibt: Er war gehorsam bis zum Tod, d. h. sein ganzesLeben bis zum Tod. Deshalb sagt er am Ende sehr richtig: Alles istvollbracht (Joh 19,30). Dieses Wort ist wundervoll: Alles ist vollbracht,

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d. h. es bleibt nichts mehr zu tun von dem, was mir aufgetragen wurde.Wie glücklich wären die Ordensmänner und Ordensfrauen, wenn sieam Ende ihres Lebens ganz wahrheitsgemäß mit dem Erlöser sagenkönnten: Alles ist vollbracht, ich habe alles getan, was mir aufgetragenwurde, sei es durch die Regeln, sei es durch die Konstitutionen oderdurch die Anordnungen der Vorgesetzten; ich habe getreu ausgeharrtin meinen Übungen, mir bleibt nichts mehr zu tun.

Aber vorzüglicher als jede andere ist die vierte Tugend, denn sie istdie Blüte der Liebe, der Duft der Demut, anscheinend das Verdienstder Geduld und die Frucht der Beharrlichkeit. Diese Tugend ist großund verdient allein, von den liebsten Kindern geübt zu werden; das istder überaus liebenswerte Gleichmut. Mein Vater, sagt unser gütigsterErlöser nach dem sechsten Wort, in deine Hände übergebe ich meinenGeist (Lk 78,46). Es ist wahr, wollte er sagen, alles ist vollbracht undich habe alles erfüllt, was du mir aufgetragen hast (Joh 17,4); wenn esaber dein Wille ist, daß ich weiter an diesem Kreuz hänge, um nochlänger zu leiden, bin ich damit trotzdem zufrieden. Ich gebe meinenGeist in deine Hände zurück, du kannst mit ihm ganz so verfahren, wiees dir gefällt. Meine lieben Schwestern, wir müssen es bei allen Gele-genheiten ebenso machen, sei es, daß wir leiden, oder sei es, daß wiruns freuen, und wir müssen wiederholen: Mein Vater, in deine Händeempfehle ich meinen Geist, mache mit ihm alles, was dir gefallen mag.So müssen wir uns vom göttlichen Willen führen lassen, ohne uns jevon unserem eigenen Willen einnehmen zu lassen.

Unser Herr liebt also mit besonders zärtlicher Liebe jene, die soglücklich sind, sich vollkommen seiner väterlichen Sorge zu überlas-sen, die sich von seiner göttlichen Vorsehung leiten lassen, wie es ihmgefällt. Sie geben sich nicht mit Überlegungen ab, ob die Wirkungendieser Vorsehung ihnen nützlich, vorteilhaft oder abträglich sind. Siesind überzeugt, daß uns von diesem väterlichen und sehr liebenswür-digen Herzen nichts geschickt werden kann und daß es nichts über unskommen lassen wird, woraus es uns nicht Gutes ziehen ließe, wennwir nur unser ganzes Vertrauen auf ihn setzen und aufrichtig sagen: Indeine Hände empfehle ich meinen Geist; und nicht nur meinen Geist,sondern meine Seele, meinen Leib und alles, was ich habe, auf daß dudamit verfährst, wie es dir gefallen wird.

Dabei wird sich erweisen, daß Unser Herr sehr vernünftiger undgerechterweise König genannt werden muß. Das ist die dritte Eigen-schaft, die Pilatus ihm zuschrieb; von ihr wollte die Güte unseres

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Meisters, daß sie ihm bis jetzt zuerkannt wird. Er will ja, daß wir sei-nem Willen ganz und ohne Vorbehalt unterworfen bleiben. Unser teu-rer Erlöser setzt seine Seele aus (Jes 53,11f), d. h. er setzt sein Lebender Grausamkeit der Feinde der Menschen aus, um sie vor jedem Un-glück zu bewahren und ihnen den Frieden wiederzuschenken, den siedurch die Sünde für immer verloren hatten. Um uns wieder in seineGunst zu versetzen und uns seiner Barmherzigkeit würdig zu machen,hat er die Schläge der göttlichen Gerechtigkeit auf sich genommen.Diese Gerechtigkeit müßte sich an uns auswirken, weil wir allein essind, gegen die sie mit Recht aufgebracht war. Überlegen wir also, ober nicht mit Recht unser König genannt werden muß, da er solcheSorge trug, sein armes Volk vor allem Unglück zu schützen, und esgegen seine Feinde verteidigte.

Da er nun unser König ist, müssen wir alles seinem Dienst unterord-nen, was wir haben. Wir schulden ihm unseren Leib, unser Herz undunseren Geist, damit er darüber verfüge als über sein Eigentum undwir sie nie im Gegensatz zu seinen göttlichen Gesetzen gebrauchen.Was aber sind die Gesetze unseres Königs? Was sind sie denn, meinelieben Schwestern? All das, wovon ich eben gesprochen habe. Er hates zuerst befolgt, um uns ein Beispiel zu geben: die hochheilige De-mut, Großmut, Geduld, Standhaftigkeit und unveränderliche Beharr-lichkeit und schließlich die überaus liebenswürdige und vorzüglicheTugend des Gleichmuts. Er will, daß wir diese Tugenden von ihm ler-nen bei der Erwägung seines Todes und Leidens und er wünscht, daßwir ihm durch sie unsere Liebe und unsere Treue bezeigen, denn durchihre Übung hat er uns die Größe und Glut seiner Liebe zu uns bewie-sen, deren wir so unwürdig waren. Der Name Jesu sei gepriesen. Amen.

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Nr. 30: 21. April 1620 IX,286-307

Friede sei mit euch. Ich bin es. Fürchtet euch nicht(Lk 24,36-39).

Die Apostel und die Jünger des Herrn waren wie Kinder ohne Vaterund wie Soldaten ohne Hauptmann. Ganz verschreckt, wie sie waren,hatten sie sich in ein Haus zurückgezogen. Da erschien der Heilandunter ihnen, um sie in ihrer Betrübnis zu trösten, und sagte zu ihnen:Friede sei mit euch. Er wollte ihnen gleichsam sagen: Warum seid ihr

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so furchtsam und betrübt? Wenn es der Zweifel ist, daß nicht eintrifft,was ich euch von meiner Auferstehung gesagt habe, dann Pax vobis;bleibt in Frieden, es werde Friede in euch, denn ich bin auferstanden.Seht meine Hände, berührt meine Wunden; ich bin es doch selbst. Fürch-tet euch nicht mehr; Friede sei mit euch. Von diesen Worten ausgehendunterscheide ich einen dreifachen Frieden. Der erste ist der Friede desheiligen Evangeliums und der Kirche; denn das Evangelium und dieKirche sind nur Friede, Güte und Ruhe. Außerhalb der Befolgung desEvangeliums und des Gehorsams gegen die Kirche gibt es nichts alsKrieg und Aufregung, wie wir gleich darlegen werden. Der zweite istjener Friede, in dem die Väter unterschieden haben den Frieden mitGott, den Frieden untereinander und den Frieden mit sich selbst. Diedritte Form des Friedens ist jener, den wir im ewigen Leben besitzenwerden. Wenn die Zeit reicht, werde ich diesen dreifachen Friedenbehandeln, wenigstens aber will ich über die beiden ersten Formensprechen.

Als die Israeliten die Beobachtung der Gebote Gottes aufgegebenund sich von seiner Gnade entfernt hatten, war der Herr mit Rechtüber sie erzürnt und ließ sie zur Strafe in die Hände der Midianiter,ihrer geschworenen Feinde fallen (Ri 6,1-24). Somit entzog er ihnenseinen Frieden, in dem er sie stets bewahrt hatte, solange sie treu wa-ren. Wahrhaft groß ist die Züchtigung, die Gott über uns verhängt,wenn er uns in die Hände unserer Feinde fallen läßt, wenn er unsseinen göttlichen Beistand entzieht und uns nicht mehr unter seinerheiligen Obhut hält. Wenn er uns der Verstoßung überläßt, ist das einganz deutliches Zeichen und ein sicherer Hinweis auf unseren Unter-gang; denn ohne Zweifel werden die Midianiter, d. h. unsere geistli-chen Feinde uns überwältigen und wir werden besiegt sein.

Die Midianiter hatten also beschlossen, die Israeliten langsam zuvernichten. Sie kamen jedes Jahr zur Zeit der Ernte scharenweise inihre Dörfer, so daß ihnen nichts mehr zum Leben blieb. Nachdem nunGott die Israeliten ungefähr sieben Jahre lang im Stich gelassen hatte,beschloß er in seiner Güte, die so groß gegen die Menschen ist, Mit-leid mit ihnen zu haben. Er schickte einen Engel zu Gideon, um ihmzu verkünden, daß er sie durch seine Vermittlung wieder in den ur-sprünglichen Frieden einsetzen wolle. Der Engel kam also zu ihm aneinem Ort, wo er Korn drosch, und grüßte ihn mit den Worten: DerHerr ist mit dir, du Starker unter allen Menschen. Dann forderte er ihnauf, seine Arbeit aufzugeben und die Waffen gegen die Midianiter zuergreifen; er werde unfehlbar den Sieg erringen und die Feinde nieder-werfen. Gideon war über diese Worte sehr erstaunt und antwortete:

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Ach, wie kann das wahr sein, was du sagst? Du versicherst mir, daß derHerr mit mir ist; wenn das stimmte, wie wäre es dann möglich, daß ichvon soviel Bedrängnis betroffen und umgeben bin? Der Herr ist derGott des Friedens (Röm 15,33; 16,20), ich aber bin nur in Kampf undAufregung. Ein Fall großer Täuschung der Welt und der Menschen;sie glauben, wo Unser Herr ist, da könnte es Bedrängnis und Not nichtgeben, sondern stets überreichen Trost. Das trifft aber nicht zu. ImGegenteil: in Bedrängnis und Trübsal ist Gott uns näher, weil wirseines Schutzes und seines Beistands mehr bedürfen.

Der Herr ist mit dir, sagt der Engel, obwohl du in Bedrängnis bist.Wie aber wagst du mich stark zu nennen, antwortet Gideon, da ich soschwach bin? Dem Feind ist es eigen, uns selbst für schwach halten zulassen, so daß wir keine Kraft zu haben glauben. Du sagst mir, fährt erfort, ich soll zu den Waffen greifen und ich werde siegreich sein. Ach,weißt du denn nicht, daß ich der Geringste unter allen Menschen bin?Das ist unwichtig, antwortet der Engel; Gott will, daß du es bist, derdie Israeliten aus der Bedrängnis befreit, in der sie sind. Gut, sagtGideon, ich glaube, was du mir ankündigst; um aber sicherer zu sein,möchte ich, daß es dir gefalle, mir irgendwelche Zeichen zu geben,durch die ich erkennen kann, daß alles eintrifft, was du mir versi-cherst. Da gibt der Engel seinem Verlangen nach und sagt ihm: Geh,nimm ein Ziegenböcklein und bring dem Herrn ein Opfer. Gideon tutdas sogleich. Nachdem er das Böcklein geschlachtet und mit einerguten Tunke zubereitet hat, nimmt er Mehl und macht auf der Aschegebackene Kuchen. Dann kam er zurück und bereitete seine Opferga-be. Sobald diese bereitet war, berührte der Engel sie mit der Spitzeseines Stabes und sogleich fiel Feuer vom Himmel, das sie verzehrte.Dann entschwand der Engel. Als Gideon das sah, sagte er: Ich bin desTodes, denn ich habe einen Engel gesehen. Es war eine Volksmeinung,wenn auch falsch, denn die Erfahrung hat das mehrmals gezeigt, einlebendiger Mensch könne einen Engel nicht sehen, ohne zu sterben.Als er sich aber ein wenig beruhigt hat, gewinnt er Mut und Kraft undtut, was ihm der Engel befohlen hat, den er bis dahin für irgendeinenWanderpropheten gehalten hatte. Darauf errichtete er einen Altar andem Ort, wo er zu ihm gesprochen hatte, und nannte ihn Domini pax,d. h. Friede des Herrn, weil ihm an diesem Ort von Gott der Friedeangekündigt wurde.

Es gibt keinen Zweifel, meine Lieben, daß das Kreuz in wunderba-rer Weise diesen Altar darstellt, auf dem das Opfer des Friedensdargebracht und der dann Friede des Herrn genannt wurde; oder viel-

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mehr war das Opfer Gideons und sein Altar das Vorbild dessen, dasunser Herr und Meister am Kreuz vollendet hat, da dieses Opfer alsdas Opfer der Versöhnung und Befriedung bezeichnet wurde. Dennnachdem die Menschen mit Gott ausgesöhnt waren (Röm 5,1; Eph2,14-16; Kol 1,20), empfingen sie den Frieden in sich selbst durchdie Gnade, die der Erlöser ihnen durch seinen Tod und sein Leidenerworben hatte. In seinem Sterben wurde er für uns zur Sünde ge-macht, wie der hl. Paulus (2 Kor 5,21) sagt. Das heißt: Er, der nichtsündigen konnte, wurde vor dem Angesicht Gottes, seines Vaters,wie ein Sünder, da er in seiner unerhörten Güte alle unsere Misseta-ten auf sich genommen hat, um für uns der göttlichen GerechtigkeitGenugtuung zu leisten.

So wurde er wie ein gebratenes Böcklein geopfert. Im Alten Bund(Ex 12,5) war nicht so ausdrücklich gesagt, daß man das Pascha feiernsollte, indem man ein Lamm aß, daß man nicht statt des Lammes einZiegenböcklein nehmen könnte, so daß man sich des einen oder desanderen bediente. Aber bei diesem Pascha oder diesem Opfer, dasUnser Herr am Tag seiner Passion feierte, brachte er sich selbst dar,nicht nur als ein ganz sanftes Lamm (Jes 53,7; Jer 11,19), ganz sanft,gütig und in voller Reinheit, sondern auch als ein Ziegenböcklein, dasdie Sünden seines Volkes trägt (Lev 16,21f). So wurde er für uns zurSünde gemacht.

Als das Opfer Gideons bereitet war, berührte es der Engel mit einemStab, durch den das Feuer darauf niederfiel und es verzehrte. Als dasOpfer des Kreuzes bereitet war, berührte es der ewige Vater und nichtein Engel mit seiner ganzen Güte, und sogleich kam das Feuer seinerhochheiligen Liebe darauf herab und verzehrte es. Und wie durch die-ses Zeichen Gideon bestärkt wurde in der Hoffnung auf den kommen-den Frieden und auf den Sieg, den er über die Midianiter erringensollte, wie ihm der Engel vorhergesagt hatte, ebenso wurden die Men-schen, als das Opfer des Kreuzes vollbracht war und Unser Herr ge-sagt hatte: Mein Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist (Lk23,46), sogleich in der Hoffnung bestärkt, die ihnen die Prophetendurch so viele Jahrhunderte gegeben hatten, daß eines Tages der Frie-de in ihnen hergestellt und der Zorn Gottes durch dieses Opfer be-sänftigt werde, das ein Opfer der Versöhnung und der Befriedung ist,daß sie über ihre Feinde siegen und triumphieren werden (Lk 1,70-79).

Das wollte unser göttlicher Meister seinen Aposteln mit den Wortenankündigen: Friede sei mit euch; seht meine Füße und meine Hände.

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Damit gab er ihnen ein sicheres Zeichen, daß ihnen der Friede durchseine Wunden sicher war. Es ist, als wollte er ihnen sagen: Was habtihr? Ich sehe wohl, daß ihr ganz verschreckt und furchtsam seid; aberdazu habt ihr von jetzt an keinerlei Ursache mehr, denn ich habe denFrieden erworben, den ich euch schenke. Den schuldet mir mein Vaternicht nur, weil ich sein Sohn bin, sondern auch, weil ich ihn erkaufthabe um den Preis meines Blutes und dieser Wunden, die ich euchzeige. Seid nun nicht mehr feige und furchtsam, denn der Krieg istbeendet. Ihr hattet einigen Grund zur Furcht in den vergangenen Ta-gen, als ihr saht, daß ich gegeißelt wurde (oder wenigstens davon spre-chen hörtet, denn alle haben mich verlassen außer einem von euch, dermir treu blieb). Ihr habt also gewußt, daß ich geschlagen wurde, mitDornen gekrönt, zerschlagen vom Kopf bis zu den Füßen (Jes 1,6; 53,5),ans Kreuz geschlagen; daß ich viel Schmach, Verlassenheit undSchimpf ertragen habe und daß die gegen mich verbündeten Feindemich tausend Qualen erdulden ließen. Jetzt aber fürchtet euch nichtmehr; der Friede sei in euren Herzen. Ich bin ja Sieger geblieben undhabe alle meine Feinde zu Boden geschlagen: Ich habe den Teufelüberwunden, die Welt und das Fleisch. Habt keine Furcht, denn ichhabe den Frieden hergestellt zwischen meinem himmlischen Vaterund den Menschen. Durch dieses Opfer, das ich der göttlichen Gütedargebracht habe, vollzog ich diese heilige Aussöhnung. Bis zur Stun-de habe ich euch verschiedene Male meinen Frieden entboten, jetztaber zeige ich euch, wie ich ihn für euch erworben habe. Ich bin arm,denn ich habe nichts. Ihr wißt, daß meine Größe nicht im Besitz vonirdischen Gütern besteht, weil ich die ganze Zeit meines Lebens sol-che nicht besessen habe. Aber statt aller Reichtümer habe ich denFrieden; er ist das Vermächtnis, das ich euch bestimmt habe, als ichvon euch ging (Joh 14,27), das ich noch einmal bestätige. Der Friedeist alles, was ich meinen Liebsten gebe; deshalb Pax vobis und allen,die an mich glauben.

Früher (Mt 10,7.12.14; Lk 10,3.5) hatte er ihnen gesagt: Geht, ver-kündet den Menschen, was ich euch gelehrt habe, und sagt, wenn ihr inein Haus kommt: Der Friede herrsche hier. Das ist, als wollte er sagen:Verkündet beim Eintritt in ein Haus vor allem, daß ihr nicht kommt,Krieg zu bringen, sondern meinen Frieden. Wer immer euch aufnimmt,wird im Frieden bleiben; wer euch dagegen abweist, wird ohne Zwei-fel Krieg haben. Aber darüber werde ich gleich sprechen.

Das heilige Evangelium ist ebenso wie die heilige Kirche nur Frie-de. Es begann mit dem Frieden, wie wir im Evangelium sehen, das beider Geburt Unseres Herrn gelesen wird; da sangen die Engel: Ehre sei

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Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens (Lk2,14). Und später verkündet es nur Frieden: Ich gebe euch meinenFrieden, sagt der Heiland zu seinen Aposteln, ich übergebe euch mei-nen Frieden, aber ich gebe ihn euch nicht so, wie die Welt ihn gibt. DieWelt, scheint er sagen zu wollen, hält nicht, was sie verspricht, dennsie ist eine Betrügerin. Sie schmeichelt den Menschen und versprichtihnen viel, dann gibt sie ihnen schließlich nichts und verspottet sienoch, nachdem sie sie betrogen hat. Ich aber verspreche euch nicht nurden Frieden, sondern ich gebe ihn euch; und nicht nur irgendeinenFrieden, sondern einen, wie ich ihn von meinem Vater empfangen habe.Durch ihn werdet ihr alle eure Feinde überwinden und Sieger über siesein. Sie werden wohl Krieg gegen euch führen, aber trotz ihrer An-griffe werdet ihr Ruhe und Frieden in euch selbst bewahren. Mit ei-nem Wort, das heilige Evangelium handelt fast ausschließlich vomFrieden; und wie es mit dem Frieden beginnt, so schließt es mit demFrieden, um uns zu lehren, daß er das Erbe ist, das Gott der Herr,unser Meister, seinen Kindern hinterlassen hat, die in Abhängigkeitvon der hochheiligen Kirche leben, unserer guten Mutter und seinersehr lieben Braut.

Da indessen dieser Friede etwas zu allgemein ist, müssen wir vomzweiten sprechen; das ist jener, der uns mit Gott aussöhnt, mit demNächsten und mit uns selbst. Zum ersten haben wir schon gesagt, daßwir mit Gott durch den Tod und die Passion Unseres Herrn versöhntwurden. Da wir aber widerspenstig und ungehorsam gegen seine gött-lichen Gebote wurden und, sooft wir in Sünde fielen, den Friedenverloren, den Jesus Christus uns erworben hatte, bedurften wir einesneuen Mittels der Versöhnung. Zu diesem Zweck hat unser göttlicherMeister das allerheiligste und erhabenste Sakrament der Eucharistieeingesetzt. Wie unser Friede mit seinem Vater hergestellt wurde durchdas Opfer, das er selbst ihm am Kreuz dargebracht hat, so soll er aufgleiche Weise besänftigt werden durch dieses göttliche Opfer, sooft esseiner erzürnten Gerechtigkeit dargebracht wird. Kein Mensch außerden Kindern der Kirche kann solche Mittel haben, um sich mit Gottauszusöhnen; ohne sie bleiben sie Kinder des Zornes (Eph 2,3) undarmselig.

Unser Herr sagte also sehr richtig: Ich gebe euch meinen Frieden,weil er selbst sich gegeben hat, der der wahre Friede ist (Eph 2,14; Mi5,15). Der Friede gehört nur den Kindern der Kirche, das ist wahr;denn alle anderen haben nicht die Mittel der Versöhnung, die unserErlöser uns gegeben hat, um uns wieder in die Gunst Gottes, seines

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Vaters, zu versetzen, sooft wir sie verlieren, obwohl wir sie wahrhaftigdurch unsere Schuld verloren haben. Krieg gibt es unter den Christennur in dem Maß, als sie nicht in der Gnade Gottes sind; denn wenn siein ihr bleiben, haben Teufel, Welt und Fleisch keine Macht über sie.Seht ihr das nicht, da Unser Herr seinen Aposteln versicherte, daß siein Frieden leben werden, da er durch seine Wunden und seine Peinihre Feinde niedergerungen und deren Macht gebrochen hat?

Stellt euch einen Fürsten vor, der aus dem Krieg heimkehrt, in demer seine Feinde von allen Seiten geschlagen hat. Er ließ sie über dieKlinge springen, ohne einen am Leben zu lassen, außer einigen Flücht-lingen, einigen Lakaien und Feiglingen, denen er aus Mitleid Gnadegewährte. Nach diesem Sieg wird er im Triumph in die Hauptstadtzurückkehren, wenn auch mit Wunden bedeckt. Wenn er vor seineUntertanen tritt, wird er ihnen sagen: Mut, meine Freunde; das sinddie Wunden, durch die ich euch den Frieden gewonnen habe. Bleibtruhig, habt keine Furcht mehr, denn ich habe unsere Feinde niederge-schlagen. Ich habe wohl einigen Troßknechten das Leben geschenkt,die euch möglicherweise ein wenig belästigen werden; aber fürchtetnichts, denn die haben keinerlei Macht über euch und sie werden euchnicht schaden können, wenn sie euch auch lästig sind.

Unser Herr und Meister wird der Friedensfürst genannt (Jes 9,6). Erkommt aus dem Kampf zurück, in dem er wahrhaftig viele Wundenempfangen hat, aber Wunden, die nicht der Verachtung, sondern un-vergleichlicher Ehre würdig sind; er macht sie zum Siegeszeichen undverdient dafür ewiges Lob. Er wendet sich an seine Apostel als seinvielgeliebtes Volk und zeigt ihnen die Wunden: Pax vobis, seht meineWunden. Berühre sie, wird er am Sonntag zum hl. Thomas sagen, be-rühre mit deinen Fingern die Wunden meiner Füße und meiner Hän-de; wenn es dir gutdünkt, lege deine ganze Hand in meine Seite (Joh20,27) und sieh, daß ich selbst es bin (Lk 24,39); und wenn du dasgetan hast, sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig. Seht meine Wun-den und wißt, daß ich sie empfangen habe, als ich eure Feinde zu Bo-den streckte und besiegte, die ich geschlagen und vernichtet habe. Essind zwar einige übriggeblieben, aber fürchtet euch nicht, denn siewerden keine Macht über euch haben, sondern ihr werdet volle Ge-walt über sie haben; bleibt also in Frieden.

Die zweite Seite dieses Friedens ist, daß wir ihn untereinander ha-ben. Sein Fehlen ist die Quelle allen Unglücks, aller Bedrängnis undNot, die man in dieser Welt unter den Menschen sieht. Denn ich bitte

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euch, woher kommt so viel Armut, unter der viele leiden, wenn nichtvon der elenden Anmaßung der anderen, ihren Besitz zu vermehrenund reich zu sein, auch wenn es auf Kosten des Nächsten geschieht?Die einen haben zu viel und die anderen haben nichts. Was ist derUntergang des Friedens, wenn nicht die Prozesse, der Ehrgeiz, dasVerlangen nach Ehren, Würden und Vorrang? Wenn der Friede un-ter den Menschen herrschte, würde man solches Elend nicht sehen.Woher kommen so viele Kriege, wenn nicht davon, daß der Friedefehlt?

Mit einem Wort, nichts führt Krieg gegen den Menschen als derMensch selbst. Es gibt nichts, was nicht vom Menschen und nur vomMenschen geordnet und gelenkt werden könnte. Wohl ist die Macht,die Gott dem Adam im irdischen Paradies über alle Tiere gegebenhat, durch die Sünde etwas beeinträchtigt worden; trotzdem kann derMensch, wie die Erfahrung täglich lehrt, die wildesten Tiere zähmenmit Hilfe der Vernunft, mit der Gott ihn begabt hat. Wenn die Men-schen untereinander in Frieden lebten, könnte nichts ihre Ruhe stö-ren. Wovor sollten sie Angst haben, wovor sich fürchten? Vor Löwen?Keineswegs, denn wie wir gleich hören werden, hätten sie von sich ausGeschicklichkeit genug, um sich vor ihrer Wut und vor der aller ande-ren Tiere zu schützen, so wild sie auch sein mögen.

Unser Herr wußte sehr gut, wie überaus notwendig die Menschenden Frieden haben. Deshalb hat er über nichts so viel gepredigt wieüber diesen Frieden, der aus der gegenseitigen Liebe hervorgeht, dieer uns so sehr empfohlen hat. Sie hat er seinen Aposteln am meisteneingeprägt. So sagt der glorreiche hl. Paulus, daß er nichts andereskennen und predigen will als den gekreuzigten Jesus Christus (1 Kor2,2), der uns ausgesöhnt und uns jenen Frieden geschenkt hat, durchden wir ihm in allem gleichgeworden sind (vgl. Hebr 2,17), demFriedensfürsten, der den Frieden sowohl auf Erden wie im Himmel her-gestellt hat (Kol 1,20). Der Erlöser besucht seine Apostel, aber erst,da sie alle versammelt sind, da sie alle im Frieden sind und alle inheiliger Einheit leben. Obwohl er den zwei Jüngern erschien, die vonder Stadt Jerusalem fortgegangen waren, die den Frieden versinnbildet,da sie Schau des Friedens genannt wurde, dürfen wir doch nicht glau-ben, daß er für alle tun wollte, was er für die beiden getan hat. Der hl.Thomas hatte diese Gunst nicht, bis er in die Gemeinschaft der Apo-stel zurückgekehrt war (Joh 20,24-26). Wenn wir nicht miteinander inFrieden und Eintracht leben, dürfen wir nicht die Gnade erwarten,unseren auferstandenen Herrn zu sehen.

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Die dritte Eigenschaft dieses Friedens besteht darin, daß wir ihn mituns selbst und in uns selbst haben. Um das besser zu verstehen, mußman wissen, was uns der große Apostel (Röm 7,21-25; Gal 5,17) sehrgenau bestätigt, daß es nämlich in uns zwei Bereiche gibt, die sichständig bekämpfen: den Geist und das Fleisch. Das Fleisch begehrtgegen den Geist und der Geist hat seine Gesetze, die denen des Flei-sches völlig entgegengesetzt sind. Jeder der beiden Bereiche hat seineAnhänger und Untergebenen. Das Fleisch hat den Bereich der Begier-den, bestimmte Fähigkeiten und Sinne, die ihm mit der Seele gemein-sam sind, die in seinem Interesse gegen den Geist streiten. Der Geisthat als seine ganze Streitmacht nur drei Soldaten, die für ihn kämpfen,die ihn noch dazu bei jeder Gelegenheit im Stich lassen und die Treuebrechen, die sie ihrem Feldherrn schulden; sie schlagen sich auf dieSeite des Fleisches, um für dieses gegen den Geist selbst zu kämpfen,der ihr Herr ist.

Ja, wenn diese Soldaten treu wären, hätte der Geist nichts zu fürch-ten, sondern könnte seiner Feinde spotten wie jene, die sich mit aus-reichenden Vorräten versehen im Turm einer uneinnehmbaren Fe-stung befinden, und das, obwohl die Feinde bereits in den Vorortensind, ja sogar die Stadt eingenommen haben. So geschah es bei derZitadelle von Nizza. Die Streitkräfte von drei großen Fürsten vor ihrwaren nicht imstande, jene zu erschrecken, die sich im Turm befan-den. Der Geist, der der Turm der Seele ist, fürchtet ebenfalls nichts,wenn er auf sich zurückgezogen bleibt und von seinen drei Soldatenumgeben ist, vom Verstand, dem Gedächtnis und dem Willen. Wenndie Welt, der Teufel und das Fleisch alle ihre Kräfte gegen ihn vereini-gen, können sie ihn keineswegs in Schrecken versetzen. Sie werdenzwar einige Verwirrung stiften, indem sie sich der anderen Fähigkei-ten der Seele bedienen; sie können ihm aber trotzdem nicht schadendank dem Frieden, den Unser Herr uns erworben hat. Wenn der Geistin gutem Einvernehmen mit diesen drei Gefolgsleuten lebt, wird erstets seiner Feinde spotten und sie werden unterlegen sein.

Die wahre Rüstung der Christen ist der Friede; mit ihm werden siein allen Kämpfen siegreich bleiben. Wenn er aber fehlt und wenn dasEinvernehmen zwischen dem Geist, dem Verstand, dem Gedächtnisund dem Willen schwindet, ist alles verloren; der Mensch wird ohneZweifel unterliegen. Solange der Verstand daran festhält, was uns derGlaube lehrt oder was Unser Herr uns gelehrt hat, behält er eine un-vergleichliche Macht über das Fleisch, das im Vergleich zu ihm nurSchwäche ist. Wenn er aber auf die Gründe und Einwände zu hören

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beginnt, die das Fleisch vorbringt, um ihn von der Beachtung der gött-lichen Wahrheiten abzubringen, ist sogleich alles verloren; das bestä-tigt die Erfahrung täglich.

Niemand kann daran zweifeln, daß unser teurer Meister gesagt hat:Selig die Armen und die Verfolgung leiden. Statt fest auf diese Wahrheitbedacht zu sein, beginnt der Verstand die Vorstellung anzunehmen,die ihm das Fleisch macht, man müsse viele Güter besitzen, um ihmsein Wohlbehagen und seine Bequemlichkeit zu verschaffen, und schonbeginnt der Krieg. Das Fleisch redet dem Geist jammernd ein, dieArmen seien nicht geachtet; hört er auf diese Auffassung, ist er schonverloren. Mit einem Wort, alles, was das Fleisch wünscht, ist dem Geistvöllig entgegengesetzt. Wenn er vom himmlischen Licht erleuchtet ist,kann er nicht umhin zu sehen, daß die Gründe, die ihm vom Fleischeingeflüstert werden, tierisch und ungebührlich sind und daß er sienicht anerkennen kann.

Auf diese Weise wird der Geist in einen sehr schweren Kampf ver-strickt, wenn er sieht, daß einer seiner Soldaten gewonnen und er oftschon ganz verloren ist. Wir sagen zwar alle, daß wir den Glaubenhaben, aber wir zeigen ihn nicht durch Taten. Wenn wir in uns selbstden Frieden mitten im Krieg bewahren wollen, müssen wir den Ver-stand fest an die Wahrheiten gebunden halten, die Unser Herr unsgelehrt hat, und müssen ihn daran hindern, auf die menschlichen Mei-nungen und Gründe zu hören oder sie anzunehmen.

Von daher ist das Verderben der Engel und der Menschen gekom-men. Die abtrünnigen Engel hörten auf die falsche Meinung, sie müß-ten sein wie Gott, und sie verloren sich in ihren Gedanken (Röm 1,21).Der hl. Michael unternahm es, ihrer Verwegenheit zu widerstehen,und sagte: Elende, wer ist wie Gott? Auf dieses Wort hin wurden siegestürzt und für immer unselig. Sobald aber Luzifer sah, daß ihn seinvermessener Ehrgeiz zugrundegerichtet hat, bereitete er unserer ar-men Mutter Eva die gleiche Versuchung. Er versicherte ihr, sie werdenicht sterben, auch wenn Gott es gesagt habe, sie werde ihm vielmehrgleich sein, wenn sie von der verbotenen Frucht esse. Statt sich fest andas Wort zu halten, das der Herr ihr gegeben hatte, hörte die Ärmsteauf ihn und stimmte dem verderblichen Vorschlag zu, der die Ursachewar, daß sie zugrundeging und ihr Mann mit ihr (Gen 3,1-6). Es wärebesser für sie und uns gewesen, wenn sie dem Feind geantwortet hätte:Elender, laß uns in der Niedrigkeit und Demut bleiben, in der wirerschaffen wurden, statt uns eine Erhöhung vorzuschlagen, durch diedu gestürzt wurdest. Wie glücklich wäre Adam gewesen, wäre er allein

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geblieben und unverheiratet, denn dann wäre er nicht bei Gott in Un-gnade gefallen, indem er untreu gegen sein Gebot war.

Unser Verstand ist gewöhnlich so voll von Gründen, Meinungenund Erwägungen, die ihm von der Eigenliebe eingeflößt werden, daßdas schwere Kämpfe in der Seele auslöst. Statt uns damit zu begnügenund damit zu befassen, uns in allem so zu verhalten, wie Unser Herr esuns gelehrt hat, machen wir uns Erwägungen der menschlichen Weis-heit zu eigen, die uns weismacht, man müsse wohl unterscheiden unddie Dinge der Klugheit entsprechend mäßigen, damit alles gut geht.Indessen trifft das Gegenteil zu, denn das führt dazu, daß alles schlechtgeht. Gewiß, man weiß nicht, wie man diesen Menschen beikommensoll, die sich dieser falschen Klugheit bedienen. Denn statt ihren Ver-stand zu vereinfachen, wollen sie die Gründe nicht hören, die manihnen sagt, und bringen hundert Gegenargumente, um ihre Meinungzu stützen, wenn sie auch oft schlecht sind. Wenn sie sich einmal dar-auf festgelegt haben, weiß man nicht mehr, was man mit ihnen machensoll.

Bedient euch der Klugheit, denn sie ist gut; aber gebraucht sie wieein Pferd: besteigt sie, lenkt sie mit sicherer Hand, gebt ihr hundert-mal die Sporen, bis ihr sie gezügelt und gezähmt habt, um sie derEinfachheit Unseres Herrn zu unterwerfen. Der überaus gute Meistersah die Apostel verstrickt in verschiedene Erwägungen und Zweifelüber die Erfüllung seiner Verheißung. Sie hatten nicht die Geduld,den Abend des Tages abzuwarten, für den er ihnen seine Auferstehungvorhergesagt hatte (es war erst Morgen, als sie zu zweifeln begannen).Pax vobis, sagte er zu ihnen; euer Verstand werde befriedet durch dieZurückweisung aller Überlegungen. Seht meine Wunden und seid nichtmehr ungläubig sondern gläubig.

Wieviel Aufhebens um den menschlichen Geist! Unser Herr hatgesagt: Alles, worum ihr in meinem Namen bitten werdet, wird euchgegeben (Joh 14,13; 16,23). Trotzdem werden wir sogleich wankendim Glauben an diese Verheißung, weil wir es nicht so schnell erhalten,wie wir möchten. Aber ich habe schon so viel um diese Tugend gebe-tet, und trotzdem habe ich sie nicht. Geduld! Der Tag ist noch nichtvergangen; es ist erst Morgen, und du zweifelst. Warte den Abend die-ses sterblichen Lebens ab. Wenn du beharrlich bittest, wirst du sieohne Zweifel erhalten. Die Apostel sahen den auferstandenen Herrnnicht sogleich, und schon waren sie bestürzt. Ach, dachten sie bei sich,wie glücklich wären wir gewesen, hätten wir einen unsterblichen Mei-ster gehabt, und mehrere derartige Überlegungen, durch die sie zeig-

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ten, daß sie an der Wirksamkeit der Verheißungen des Heilands zwei-felten. Deshalb sagte er ihnen, um sie zu beruhigen: Friede sei miteuch. Die erste Ursache, die in uns den Kampf bewirkt und den Frie-den vertreibt, ist also nichts anderes als der Mangel an sicherem Glau-ben an die Worte Unseres Herrn sowie die Leichtigkeit, mit der wirauf die Vielzahl von Gründen der menschlichen Klugheit hören.

Der zweite Soldat unseres Geistes ist das Gedächtnis. Wenn seineZuverlässigkeit fehlt, wird die Unruhe in der Seele groß. Das Gedächt-nis ist der Sitz der Hoffnung und der Furcht. Ich weiß wohl, daß dieHoffnung eine Sache des Willens ist, aber für jetzt will ich so sagen.Der Großteil der Unruhe in unserem Geist kommt daher, daß diePhantasie des Fleisches der Einbildungskraft des Geistes Erinnerun-gen bietet; wenn unser Gedächtnis sie aufgenommen hat, dann lassensie uns zu eitlen Befürchtungen übergehen, daß wir von dem und je-nem nicht genug besäßen, statt uns damit zu befassen, uns der Verhei-ßung zu erinnern, die Unser Herr uns gegeben hat, und auf diese Weisefest im Vertrauen zu verharren, daß eher alles vergehen werde, als daßdiese Verheißungen nicht erfüllt werden (Mt 24,35; Mk 13,31); daherkommt diese Unruhe. Das Fleisch bietet alle seine Kräfte gegen denGeist auf, bringt den Verstand und das Gedächtnis auf seine Seite, umgegen uns zu kämpfen.

Es ist ein Jammer, welchen Schaden das Fehlen des Friedens in derSeele anrichtet. Statt uns einer großen Ruhe zu erfreuen, wenn dasGedächtnis fest dabei bleibt, sich der göttlichen Verheißungen zu er-innern, die uns nicht nur der Treue Gottes versichern, sondern auchseiner zärtlichen und liebevollen Fürsorge für alle jene, die auf ihnvertrauen und ihre ganze Hoffnung auf seine Güte gesetzt haben (Klgl3,25). Wie glücklich wären wir, wenn wir uns damit befaßten, unsnicht nur der Versprechungen zu erinnern, die wir bei der Taufe, son-dern die Mehrzahl von uns durch die Gelübde Gott gemacht haben,ihm treu zu sein und uns stets nur damit zu befassen, was uns in seinenAugen wohlgefälliger machen kann! Wenn die Ordensmänner undOrdensfrauen ihre Versprechen erfüllten, ihre Regeln und Konstitu-tionen treu zu beobachten und die Ratschläge zu befolgen, die ihnengegeben werden, ich sage, dann würden sie den Frieden in ihrer Seelebesitzen; dann würde Unser Herr zu ihnen kommen und ihnen sagen,wie er zu seinen Aposteln gesagt hat: Friede sei mit euch.

Der dritte und stärkste Soldat unseres Geistes ist der Wille; dennnichts kann die Freiheit des menschlichen Willens überwinden. SelbstGott, der ihn erschaffen hat, will ihn in keiner Weise zwingen oder

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ihm Gewalt antun (Sir 15,14.17f). Und doch ist er so feig, daß er sichsehr oft durch die Beredsamkeit des Fleisches gewinnen läßt und sichseinen Bestrebungen anpaßt, obwohl er weiß, daß das Fleisch der ge-fährlichste Feind des Menschen ist. Es ist die treulose Delila, die denarmen Simson arglistig tötete, der sie so herzlich liebte (Ri 16). DasFleisch kennt Listen ohnegleichen, um den Geist zu besiegen und ihnfür seine tierischen Neigungen zu gewinnen. Aber der Hauptfeind desWillens und das, was ihn so feig macht, daß er den Geist im Stich läßt,der wie sein liebster Gemahl ist, das ist die Menge unserer Wünschenach dem und jenem. Mit einem Wort, unser Wille ist so voller An-sprüche und Pläne, daß er sich sehr oft damit abgibt, sie einen nachdem anderen zu betrachten, statt sich damit zu befassen, einige dernützlichsten zu verwirklichen.

Wie viele Wünsche hast du in deinem Willen, kann man zu einemsagen. Wie viele? Ich habe deren nur zwei. Das ist zu viel, denn manbraucht nur einen. Das sagt Unser Herr selbst: Maria hat das einzigNotwendige erwählt. Und was ist das eine? Man muß Gott wollen,meine lieben Schwestern, und sonst nichts. Denn wem Gott nichtgenügt, der verdient, nichts zu besitzen. Ihr werdet mir erwidern:Aber muß man nicht den Nächsten lieben? Wenn Sie sagen, daß mannur Gott lieben darf und nur ihn allein wollen, wozu dann so vielegeistliche Bücher, so viele Predigten und alle anderen Übungen derFrömmigkeit? Ein Beispiel wird euch das verständlich machen. Ihrschaut diese Wand an, die weiß ist, und ich frage euch, was ihr seht.Ihr werdet antworten: Ich sehe diese Wand, die weiß ist. Aber sehtihr nicht die Luft, die zwischen ihr und euch ist? Nein, werdet ihrantworten, weil ich nur diese Wand ansehe; obwohl mein Blick durchdie Luft hindurchgeht, die dazwischen ist, sehe ich sie dennoch nicht,weil mein Blick nicht bei ihr verweilt. Ebensogut könntet ihr sagen:Wenn ich Gott liebe, treffe ich mehrere andere Dinge, wie die Bü-cher, die Tugenden, das Gebet, den Nächsten, die ich wirklich rechtliebe. Indessen bewirkt meine Hauptabsicht, nur Gott zu lieben, daßich alle diese Dinge liebe und mich ihrer bediene, aber nur wie imVorbeigehen, um mich anzuspornen, Gott noch mehr und immervollkommener zu lieben, denn das ist mein Wille, und ich will nieetwas anderes.

Schließlich und endlich: wenn wir den Frieden in uns selbst habenwollen, dürfen wir nur einen Wunsch haben, wie wir gesagt haben,und nicht anders als der hl. Paulus, der sich vornahm, nichts andereszu kennen und zu predigen als unseren gekreuzigten Herrn Jesus

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Christus (1 Kor 2,2). Das war seine ganze Lehre, darin bestand seineganze Wissenschaft; mit dem Tod Unseres Herrn befaßte er seinGedächtnis und auf diese Liebe zum Gekreuzigten allein hatte er allsein Verlangen und sein ganzes Wollen beschränkt. So können auchwir es machen, meine Lieben, dann werden wir wie er den wahrenFrieden besitzen. Wenn alle unsere Kräfte und Fähigkeiten in unsgesammelt sind, wird unser göttlicher Heiland, dem zuliebe wir sievereinigt haben, ohne Zweifel nicht verfehlen, in uns zu sein und unsdiesen Frieden zu bringen, den er heute seinen vielgeliebten Apo-steln schenkt.

Aber, mein Gott, was für ein Friede ist das und wie verschieden ist ervon jenem, den die Welt gibt (Joh 24,27)! Die Weltleute rühmen sichmanchmal, den Frieden zu besitzen, aber es ist ein falscher Friede, aufden schließlich ein ganz großer Krieg folgt. Stellt euch bitte vor, ihrseht zwei Boote oder Schiffe auf dem See fahren; eines davon ist jenes,in dem Unser Herr mit seinen Aposteln ist und ganz sanft schläft.Während er schläft, erheben sich die Winde, der Sturm nimmt zu, dieWogen werden so ungestüm, daß sie das Schiff jeden Augenblick zuverschlingen scheinen. Die Apostel sind durch die gegenwärtige Ge-fahr ganz aufgeregt, sie laufen vom Bug zum Heck und vom Heck zumBug. Schließlich wecken sie Unseren Herrn und sagen: Meister, wirgehen zugrunde, wenn du uns nicht zu Hilfe kommst. Arme Leute,warum seid ihr unruhig? Habt ihr nicht den Erlöser bei euch, der derwahre Friede ist? Da sagt Jesus zu ihnen: Was fürchtet ihr, kleingläubi-ge Menschen? Habt keine Angst. Sogleich gebot er dem See, sich zuberuhigen, und sofort trat Stille ein (Mt 8,23-26; Lk 8,23-25). Der gött-liche Meister blieb im Frieden, in dem er geschlafen hatte, der aus derUnschuld und Reinheit seiner Seele hervorging. Ebenso machte esnach ihm sein vielgeliebter Apostel, der hl. Petrus, denn er schlieffriedlich, als der Engel kam, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien,am Abend vor dem Tag, an dem er hingerichtet werden sollte (Apg12,6). So ruhig sind die echten Freunde Gottes und besitzen den Frie-den, den Unser Herr ihnen erwirkt hat.

Das zweite Schiff, von dem ich gesprochen habe, das den Frieden derKinder der Welt darstellt, ist jenes, auf dem sich Jona befand. DerSturm war heftig und die Matrosen wußten nicht mehr, was sie tunsollten, um der höchsten Gefahr zu entrinnen, der sie sich fast ausge-liefert sahen. Da stiegen sie in den Bauch des Schiffes hinab und fan-den dort Jona schlafend, aber nicht den Schlaf des Friedens, sondernden Schlaf der Hilflosigkeit. Sie sagen zu ihm: Wie, du Elender, du

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schläfst in dieser Bedrängnis? Als sie sich erkundigten, woher er kom-me, antwortete er: O, ich bin ein elender Mensch und fliehe vor demgerechten Unwillen Gottes, der über mich erzürnt ist. Als der Schiffs-hauptmann das hörte, sagte er sogleich zu ihm: Woher kommst du undwoher bist du? Jona antwortete wieder: Ich bin ein elender Mensch.Da warfen ihn die Schiffsleute sofort ins Meer (Jona 1,4-15). So ma-chen es auch die Sünder, wenn sie dem Zorn Gottes zu entgehen ge-denken. Sie rühmen sich eines guten Schlafs, als ob sie den Friedenbesäßen, aber oft sehen sie sich beim Erwachen sehr getäuscht, wennsie sich von tausend Wirren umgeben sehen, die sie fast in das Meerewiger Stürme stürzen, wenn sie nicht bereuen und sich an die göttli-che Güte wenden, um sein Erbarmen zu erflehen, damit sie durch ihreZerknirschung die Gnade wiedergewinnen können, die sie inmittenihres Friedens und der Ruhe verloren haben. Dieser Friede müßteeher Unfriede genannt werden, weil er schließlich in einer unerträgli-chen Unruhe endet.

Der Friede, meine Lieben, findet sich nur unter den Kindern Gottesund der Kirche, die nach dem göttlichen Willen in der Beobachtungseiner Gebote leben. Viel echter und größer aber ist der Friede, denjene besitzen, die nicht nur nach den Geboten leben, sondern in derBeobachtung der Räte und nach der Regel der Tugend, denn der wahreFriede findet sich in vollkommener Abtötung. Die Kinder des Frie-dens (Lk 10,6) führen beständig Krieg gegen das Fleisch, das sehrheftige Angriffe gegen sie unternimmt, das aber doch nicht die Machthat, ihre Ruhe zu trüben, ebensowenig wie der Teufel und die Welt,wie wir schon gesagt haben.

Jeder von uns muß aber wissen, daß man nicht in einem Friedenbleiben darf, der vom Faulenzen begleitet ist, denn man muß immerkämpfen. Wir können das Fleisch wohl schwächen, unseren Haupt-feind, der uns so nahe ist, daß er uns nie verläßt. Trotzdem können wires aber nicht ganz zur Strecke bringen und niederschlagen, weil eseiner jener Flegel und Schurken ist, die Gott am Leben gelassen hat,um uns in Übung zu halten, wenn sie uns auch nicht schaden können.Das Fleisch wohnt in unserer Brust (Mi 7,5); deshalb beunruhigt esmanchmal das Herz. Wenn wir aber fest im Turm bleiben, begleitetvon den drei Soldaten, von denen wir gesprochen haben, werden wirimmer die Stärkeren sein und den wahren Frieden besitzen, der unszufrieden erhält inmitten von Beleidigungen und Verachtung, vonBedrängnissen und Widersprüchen und schließlich inmitten all des-sen, was uns der Natur Widerstrebendes begegnet.

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Dazu muß ich euch ein schönes Beispiel erzählen, das ich kürzlichin den neu gesammelten „Leben der Väter“ gelesen habe (ein Buch,das noch nicht ins Französische übersetzt ist). Mit diesem Beispielwill ich schließen. Ein junger Mann wurde vom Geist Gottes gedrängt,sich in einen Orden zurückzuziehen; er begab sich in ein Kloster derThebais, um einen geistlichen Vater zu finden. Dem berichtete er vonseiner Absicht und bat ihn, ihn als seinen Schüler aufzunehmen. Erhielt eine seinem Eifer entsprechende bemerkenswerte Rede und sag-te: Mein Vater, ich komme zu Euch, damit Ihr mich unterweist, wieich es anstellen kann, sehr bald vollkommen zu sein. Seht ihr, er woll-te es sein, aber sehr bald. Der gute Vater lobte seine Absicht und ant-wortete ihm: Mein Sohn, soweit es darum geht, dir den Weg zu zeigen,um dich zu vervollkommnen, werde ich das gerne tun; aber daß du sobald vollkommen wirst, wie du möchtest, das kann ich dir nicht ver-sprechen; denn in diesem Haus haben wir nicht eine fertige Vollkom-menheit, sondern jeder muß seine eigene machen.

Der Ärmste dachte, die Vollkommenheit würde ihm geschenkt, wieman den Ordenshabit verleiht. Da hatte er sich schwer getäuscht, dennder geistliche Vater fuhr in seiner Belehrung fort und sagte: Mein Sohn,die Vollkommenheit gewinnt man nicht mit einem Schlag, wie dumeinst; so schnell kann man sie nicht erreichen. Man muß alle Stufendurchlaufen, angefangen von den untersten, eine nach der anderen hin-aufsteigen bis zur höchsten. Siehst du nicht, daß die Jakobsleiter Spros-sen hatte, auf denen man von einer zur anderen aufsteigen mußte, bisman ganz oben war, wo man dem Herzen Gottes begegnete (Gen28,12f)? Bevor man an seiner göttlichen Brust trinken kann, muß manvon Stufe zu Stufe hinaufsteigen; denn die Vollkommenheit, die duersehnst, findet man nicht fertig vor. Wenn du sie eines Tages besitzenwillst, werde ich dich gern lehren, wie man sie erwirbt, mein Sohn,wenn du nur guten Willen hast und wenn du getreu tust, was ich dirsagen werde. Als der junge Mann das hörte, versprach er, es zu tun. Dafügte der gute Vater hinzu: Mein Sohn, drei Jahre lang mußt du dichaußer der allgemeinen Übung der Tugenden damit befassen, alle Brü-der zu entlasten. Wenn du z. B. den Koch triffst, der Wasser holen,Holz sammeln oder spalten geht, sollst du für ihn gehen. Wenn dudann andere triffst, die beladen sind, wirst du ihre Last nehmen und sieentlasten, indem du diese für sie trägst. Mit einem Wort, du wirst dichzum Diener aller machen und ihnen in allem ohne Ausnahme dienen.Wirst du wohl den Mut haben, das zu tun? Der junge Neuling, der sichnach der Vollkommenheit sehnte, fügte sich dem. Aber werde ich am

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Ende dieser drei Jahre vollkommen sein? Das kann ich nicht wissen,antwortete der Vater; wir werden sehen, was dann sein wird.

Als die drei Jahre vorüber waren, suchte der gute Novize seinenMeister wieder auf, um zu erfahren, ob er vollkommen sei. MeinVater, sagte er, ich sehe mich am Ende meiner Frist. Das ist nichtalles, erwiderte der gute Vater; wenn du vollkommen sein willst, mußtdu noch eine andere Übung für weitere drei Jahre auf dich nehmen.Du hast in diesen drei Jahren gut und treu getan, was ich dir aufgetra-gen hatte, das ist wahr; aber dabei darf man nicht stehenbleiben. OGott, sagte der arme Junge, wie, ist es noch nicht so weit? Muß mannoch einmal von vorne beginnen? Genügen drei Jahre Noviziat nicht?Ach, ich glaubte vollkommen zu sein, indem ich es sein wollte, undtrotzdem ist noch so viel zu tun! Nachdem er seine Klagen vorge-bracht hatte, war der Vater nicht sehr erstaunt und begann ihn zuermutigen. Er sagte, nachdem er schon so viel getan habe, müsse erweitermachen. Die Vollkommenheit sei ein so hohes Gut, daß unsweder Mühe noch Zeit reuen dürfen, die man darauf verwendet, siezu erwerben.

Schließlich war der arme Novize so überzeugt, daß er versprach,noch drei Jahre zu tun, was man ihm sage. Die Übung, die ihm derVater auftrug, bestand darin, alle Abtötung, Verachtung, Zurecht-weisung und Demütigung gut anzunehmen, so daß er nie unterlasse,denen irgendeinen Dienst zu erweisen oder ein Geschenk zu ma-chen, die sie ihm zufügten, und das prompt. Und wenn er nichtsanderes zu schenken habe, solle er einen Strauß binden und ihnenschenken, eine Matte flechten oder ähnliche Dinge. Er versprach, eszu tun, und tat es sehr getreu, so daß er keine Gelegenheit zur Übungversäumte; denn der geistliche Vater gab den Auftrag, wenn es not-wendig sei, ihn zu prüfen, ob er sich bei jeder Gelegenheit bemühe,Geschenke zu machen, so daß es ihm nicht an Verachtung, Abtötungund Demütigungen fehlte.

Als nun das zweite Noviziat beendet war, kam er, seinem MeisterRechenschaft zu geben, voll Verlangen zu erfahren, ob er vollkommensei. Der Vater aber sagte ihm: Mein Sohn, das Urteil, ob du es bist odernicht, steht nur Gott zu; wenn du aber willst, machen wir eine kleineProbe. Er ließ ihn also ganz beschmieren und nahm ihn in eine nahe-gelegene Stadt mit. An ihrem Tor waren Soldaten, die nichts andereszu tun hatten, als die Vorübergehenden zu beobachten und über sie zulachen. Sobald sie den armen jungen Mann sahen, fielen sie über ihnher. Der eine stichelte mit Worten gegen ihn, es kam bis zu Schlägen,andere beleidigten ihn; mit einem Wort, sie belustigten sich mit ihm

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ganz so, als wäre er verrückt. Zu der Meinung, daß er verrückt sei,kamen sie deswegen, weil er, je mehr ihn die Soldaten behandelten,wie ich beschrieben habe, darüber in seinem Herzen solche Freudeempfand, daß sie auf seinem Gesicht zu sehen war. Je mehr Beleidi-gungen man ihm sagte, um so fröhlicher und zufriedener schien er zusein. Darüber staunten die Umstehenden sehr und der geistliche Va-ter, der ihn während dieser Probe beobachtete, war damit sehr zufrie-den.

Einer der Soldaten kam schließlich durch das Verhalten des armenNovizen zur Besinnung und voll Staunen begann er ihn auszufragen.Er fragte ihn, wieso er lachen könne (er lachte nicht laut, sondernlächelte nur). Er konnte nicht verstehen, daß ein Mensch so unemp-findlich gegen Beleidigungen sein konnte, wie er es zu sein schien.Seht ihr, Unser Herr erlaubt stets, daß die Tugenden seiner wahrenFreunde und Diener von manchen erkannt werden. Da antwortete dergute Novize: Gewiß, ich glaube guten Grund zu haben, zu lachen undzufrieden zu sein, denn ich habe den Frieden in meiner Seele inmitteneurer Angriffe und eures Gelächters über mich. Aber mehr noch, ichhabe allen Grund zufrieden zu sein, denn in Wirklichkeit seid ihrgütiger und freundlicher zu mir, als es mein Meister war, den ihr hierseht, der mich hergebracht hat. Er hat mich nämlich drei Jahre insolcher Unterwürfigkeit gehalten, daß ich allen ein Geschenk machenmußte, die mich quälten, als Vergeltung für die Kränkung, die sie mirzugefügt haben. Ihr dagegen versucht mich zu quälen und zu betrübenund verpflichtet mich nicht, es euch zu vergelten.

Groß war der Friede, den dieser junge Mann in seiner Seele hatte, daBeleidigungen, Spötteleien und Gelächter einer liederlichen Bandeihn überhaupt nicht erschütterten. Das ist der wahre Friede, meineLieben. Ich wünsche euch, daß er erhalten bleibt, ja daß er zunimmtmitten im Kampf und Wirbel des Sturms der Verfolgungen und De-mütigungen, der Abtötungen und Widersprüche, die wir in diesemsterblichen Leben erfahren. Auf diese Bedrängnisse und Nöte werdenschließlich Tröstungen und ewige Ruhe folgen, wenn wir sie nach demBeispiel dieses guten Ordensmannes in innerem Frieden ertragen ha-ben. Nun, solchen Frieden gewinnt man in diesem Leben nur durchdie Einheit des Verstandes, des Gedächtnisses und des Willens mitdem Geist, wie wir es eben gezeigt haben. Mehr noch, er kann sichnicht außerhalb der heiligen Kirche finden, wie uns die Erfahrungtäglich lehrt. Schließlich und endlich findet er sich stets nur im Ge-horsam gegen das heilige Evangelium, das nur Friede ist. Amen.

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Zum PfingstfestZum PfingstfestZum PfingstfestZum PfingstfestZum Pfingstfest

Nr. 32: 7. Juni 1620 IX,315-323

Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sichverteilten und auf jeden von ihnen niederließen; undalle wurden vom Heiligen Geist erfüllt (Apg 2,3f).

Wir feiern heute das Fest der Geschenke und der Gabe aller Gaben;das ist der Heilige Geist, der vom Vater und vom Sohn in Gestaltfeuriger Zungen auf die Apostel herabgesandt wurde. In dieser Gabesind aber sieben andere enthalten, die wir Gaben des Heiligen Geistesnennen. Es war gewiß ein überaus großes Geschenk, das der himmli-sche Vater der Welt machte, als er ihr seinen eigenen Sohn gab, wie erselbst gesagt hat und nach ihm sein großer Apostel, der hl. Paulus:Wenn schon der ewige Vater die Welt so sehr geliebt hat, daß er ihrseinen eigenen Sohn gab, warum sollte er ihr nicht mit dieser Gabe jedeandere verleihen (Joh 3,16; Röm 8,32)?

Erinnert euch an die schöne Geschichte des ägyptischen Josef (Gen42ff). Sie wurde schon so oft erzählt, kann aber nicht genug erwogenwerden. Als er Vizekönig von Ägypten war, kamen seine Brüder mehr-mals zu ihm, um bei ihm Hilfe zu finden in der äußersten Not, in derJakob und sie sich befanden infolge der Hungersnot, die in ihrem Landherrschte. Er schickte sie jedesmal mit Korn und Lebensmitteln verse-hen zurück. Als man aber den kleinen Benjamin zu ihm brachte, schick-te er sie nicht nur wie früher ausreichend mit Proviant versehen zu-rück, sondern überdies mit reichen Geschenken, mit Wagen, die mitallem beladen waren, was sie nur wünschen konnten. Wir sehen, daßder ewige Vater an diesem Tag das gleiche tat. Obwohl er im AltenBund seinem Volk sehr große Gaben verlieh, geschah es doch nur inausreichendem Maß. Im Neuen Bund aber, als er seinen lieben Benja-min wiedersah, d. h. sobald Unser Herr in seine Herrlichkeit einge-gangen war (Lk 24,26; Joh 7,39), öffnete er seine Hand, um alle Gläu-bigen mit seinen Gaben und seinen Gunsterweisen zu überhäufen (Ps68,19; 145,16; Joh 3,34; Eph 4,8), wie (Joel 2,28) geschrieben steht,daß er seinen Geist über alles Fleisch ausgießen wird, d. h. über alleMenschen, nicht nur über die Apostel.

Ihr wißt doch, daß (Jes 11,2f) geschrieben steht, daß der Erlöserunermeßliche Gnaden empfangen hat und daß die Gaben des HeiligenGeistes auf seinem Haupt ruhen. Und warum das, da er selbst die

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Gnade ist und keiner davon bedurfte noch bedürfen konnte? Das ge-schah also nur, um uns zu verstehen zu geben, daß alle Gnade und allerhimmlische Segen uns durch ihn zuteilwerden muß, indem er sie überuns ausströmen läßt, die wir Glieder der Kirche sind, deren Haupt erist (1 Kor 12,12; Eph 1,22f; 4,7-16). Und als Beweis für diese Wahr-heit vernehmt, was er selbst seiner Vielgeliebten im Hohelied (5,2)sagt: Öffne mir, meine Braut, meine Schwester. Er nennt sie meineBraut wegen der Größe seiner Liebe und meine Schwester, um dieReinheit seiner Zuneigung zu beteuern, sagt er, aber öffne mir schnell,denn meine Haare sind voll Tau und die Locken meines Hauptes sindvoller Tropfen der Nacht. Nun, der Tau und die Tropfen der Nacht sinddasselbe. Was denkt ihr, wollte der Vielgeliebte unserer Seelen damitausdrücken, wenn nicht den glühenden Wunsch, daß ihm seine Brautunverzüglich die Tür ihres Herzens öffne, damit er dort wie Tau undkostbares Naß die Gaben und Gnaden ausgießen kann, die er so über-reich von seinem Vater empfangen hat?

Sehen wir nun, wie Gott seinen Heiligen Geist allen sandte, die imAbendmahlssaal versammelt waren. Ihre Zahl war 120 und alle rede-ten, wie es ihnen der Heilige Geist eingab. Die Apostel hatten ihn schonempfangen, als Unser Herr sie anhauchte und ihnen sagte: Empfangtden Heiligen Geist, da er sie als Vorsteher seiner Kirche einsetzte undihnen die Gewalt verlieh, die Seelen zu binden und zu lösen (Joh20,22f). Das geschah aber nicht mit dem Glanz und der Pracht, mitder sie ihn am heutigen Tag empfingen, und hinterließ in ihnen nichtdie gleichen Wirkungen. Ebenso verlieh der ewige Vater der Welt einüberaus großes Geschenk, als er ihr seinen eigenen Sohn gab; es waraber ein verborgenes Geschenk, eingeschlossen und gedrängt in derniedrigen und geringen Hülle unserer sterblichen Menschennatur. DasGeschenk aber, das er an diesem Tag seiner Kirche macht, muß als dashervorragendste erachtet werden, weil der Vater und der Sohn es sen-den (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7).

Der Wert der Geschenke wird nach der Liebe bemessen, mit der siegegeben werden. Dieses hier ist nun nicht nur mit großer Liebe gege-ben worden, sondern die Liebe selbst wird gegeben, denn jeder mußwissen, daß der Heilige Geist die Liebe des Vaters und des Sohnes ist.Wenn wir aber sagen, der Heilige Geist ist uns verliehen vom Vaterund vom Sohn, dann darf man das nicht so verstehen, daß er von ihnengetrennt worden sei, denn das ist nicht möglich, da es nur einen unteil-baren Gott gibt. Wir wollen damit vielmehr sagen, daß Gott uns seingöttliches Wesen geschenkt hat, wenn es auch in der Person seines

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Geistes geschah. Darüber kann man nicht viel sprechen, aber fest dar-an glauben.

Wir können die Größe der Verleihung des Heiligen Geistes erwägenmit allen Wirkungen, insofern er vom ewigen Vater und von UnseremHerrn seiner Kirche verliehen wurde, oder insofern er jedem einzel-nen von uns verliehen wurde. Gewiß können wir Gott nicht genugdafür danken, daß er seiner Kirche dieses einmalige Geschenk ge-macht hat, wegen des Guten, das daraus folgt. Der Heilige Geist wurdesehr sinnvoll in der Form und Gestalt von Zungen verliehen, uzw. vonfeurigen Zungen, denn in der Sprache liegt alle Macht der Kirche. Werwüßte nicht, daß sie alle ihre Geheimnisse durch die Sprache wirkt?Die Predigt geschieht durch die Sprache; bei der heiligen Taufe, ohnedie niemand gerettet werden kann (Mk 16,16), muß die Sprache dazu-kommen, um dem Wasser die Kraft zu verleihen, unsere Sünden undMissetaten abzuwaschen; ebenso kann das hochheilige Meßopfer nurvermittels der Sprache gefeiert werden.

Ich bitte euch aber, erwägen wir dieses kostbare Geschenk, inso-fern es jedem einzelnen von uns verliehen wird. Wir haben schongesagt, daß in ihm sieben weitere Gaben enthalten sind; wir nennensie die Gaben der Furcht, der Wissenschaft, der Frömmigkeit, derStärke, des Rates, des Verstandes, der Weisheit (Jes 11,2f). Sofernwir von diesen sieben Gaben Gebrauch machen und auf ihnen wieauf einer Leiter emporsteigen, werden wir erkennen, ob wir denHeiligen Geist empfangen haben oder nicht, denn gewöhnlich teilter sie den Seelen mit und steigt zu denen herab, die er bereit findet,ihn aufzunehmen.

Beginnen wir also mit der Gabe der Furcht. Die Gabe der Furcht istdie allgemeinste. Wir sehen ja, daß sogar die Bösen Furcht und Schrek-ken bekommen, wenn sie vom Tod sprechen hören, vom Gericht undden ewigen Peinen. Diese Furcht ließ sie jedoch weder Sünde nochBosheit meiden, weil sie nicht den Heiligen Geist empfangen haben.Denn die Furcht, die man eine Gabe des Heiligen Geistes nennt, läßtuns nicht nur das göttliche Gericht, den Tod und die Hölle fürchten,sondern läßt uns Gott als unseren Herrn und Richter fürchten undbringt uns deshalb dazu, das Böse zu fliehen und alles, wovon wirwissen, daß es ihm mißfällt. Beachten wir doch, daß es heißt, die Ga-ben des Heiligen Geistes, jene der Weisheit und die übrigen, ruhtenauf dem Haupt unseres göttlichen Erlösers, und dann: Er war erfülltvon der Furcht des Herrn. Was soll das heißen? Unser Herr bedurftedoch nicht der Furcht. Wir müssen es also so verstehen, daß er von ihr

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erfüllt wurde, um sie auf jeden von uns auszugießen, auf Vollkomme-ne und Unvollkommene; denn die Vollkommenen müssen fürchten,in ihrer Vollkommenheit nachzulassen, die Unvollkommenen, sie nichterreichen zu können. Wir sehen eine Flasche mit irgendeiner Flüssig-keit gefüllt, ohne daß sie dessen bedürfte, denn sie ist so hart, daß sieselbst davon nicht durchdrungen wird. Ebenso war unser gebenedeiterErlöser erfüllt von der Furcht des Herrn, nicht für sich, denn er konn-te sich ihrer nicht bedienen, sondern nur, um sie auf seine Brüderauszugießen.

Man braucht nicht viel über die Furcht zu sprechen, vor allem andem Ort nicht, wo ich mich befinde, denn man muß sich ihrer nurbedienen als Hilfe für die Liebe, wenn es erforderlich ist. Man darfsich auch nicht länger bei der Furcht aufhalten, noch weniger sie inunserem Herzen bewahren, das der Sitz der Liebe ist; man darf sievielmehr nur vor der Tür unseres Herzens lassen (1 Joh 4,18), damitsie bereitstehe, der Liebe zu Hilfe zu kommen, wie ich gesagt habe.Gehen wir also zur Gabe der Frömmigkeit über, die die zweite ist.

Die Frömmigkeit ist nichts anderes als eine kindliche Furcht, die unsGott nicht mehr als unseren Richter betrachten läßt, sondern als unse-ren Vater; ihm zu mißfallen fürchten wir und ihm zu gefallen wün-schen wir.

Es würde uns aber kaum nützen, daß wir den Wunsch haben, Gott zugefallen, und die Furcht, ihm zu mißfallen, wenn uns nicht der HeiligeGeist die dritte Gabe verliehe, jene der Wissenschaft. Durch sie lernenwir, was Tugend ist und was Laster, was Gott gefällt und was ihm miß-fällt. Mehrere der alten Philosophen wußten diese Unterscheidungwohl zu machen. Aristoteles hat eine bewunderswerte Abhandlungüber die Tugenden verfaßt. Das bewahrte ihn trotzdem nicht davor, inder Hölle zu braten; denn obwohl er den Weg der Tugend erkannte,wollte er ihm nicht folgen. Durch die Gabe der Weisheit hilft uns derHeilige Geist, die Tugenden zu erkennen, deren Übung für uns not-wendig ist, und die Laster, die man meiden muß.

Es ist außerdem sehr notwendig, daß uns der Heilige Geist die vierteGabe verleiht, das ist die der Stärke, denn sonst würden uns die vor-ausgehenden nichts nützen. Es genügt ja nicht, daß man den Willenhat, das Böse zu meiden und das Gute zu tun, noch weniger, das einewie das andere zu kennen, wenn wir nicht Hand anlegen. Deshalb brau-chen wir die Stärke sehr notwendig; wir müssen aber wissen, worin siebesteht. Sie dient nicht dazu, um es wie Alexander der Große zu ma-chen, der die ganze Welt durch die Stärke der Waffen eroberte. Er

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besaß nicht die Gabe der Stärke, soviel man sie ihm auch wegen seinerEroberungen zuschreiben mag. Seine Stärke bestand in den Bleikugeln,die die Mauern der Städte niederrissen und die Festungen zerstörten.Noch weniger besaß er den Mut, den man so sehr an ihm rühmt; daszeigt sich darin, daß er nicht einmal Macht über sich selbst besaß, sichzu überwinden und ein Glas Wein nicht zu trinken, denn er war einTrinker. Seht, wie er sich am Boden wälzte und weinte, als ein Philo-soph ihm sagte, es gebe noch andere Welten als jene, die er unterwor-fen und erobert hatte. Er war so traurig darüber, sie nicht erobern zukönnen, daß er sich nicht trösten konnte.

Vergleichen wir ein wenig die Tapferkeit und den Mut eines heiligenEinsiedlers Paulus oder vielmehr des großen heiligen Apostels Paulusmit diesem Alexander. Dieser zerstörte die Städte, schleifte die Fe-stungen, eroberte die Welt durch die Stärke der Waffen und ließ sichschließlich durch sich selbst besiegen. Unser großer Apostel dagegenwollte offenbar die ganze Welt durcheilen und unterwerfen, nicht umdie Mauern einzureißen, sondern die Herzen der Menschen, und sieseinem Meister durch seine Predigt zu unterwerfen (1 Kor 1,21-23).Damit nicht genug, seht doch seine Gewalt über sich selbst, indem erseine Neigungen und Leidenschaften besiegt, der Ordnung der Ver-nunft unterwirft und alles dem hochheiligen Willen der göttlichenMajestät. Darin besteht die Gabe der Stärke und die Größe des Mutes:sich selbst zu überwinden, um sich Gott zu unterwerfen; sich abzutö-ten und ausnahmslos alles Überflüssige und Unvollkommene in unse-rem Geist zu beschneiden, so gering es sein mag. Darüber hinaus läßtuns diese Gabe es unternehmen, zum Gipfel der Vollkommenheit zugelangen, ohne die Schwierigkeiten zu fürchten, die damit verbundensind, sie zu erwerben.

Doch wenn wir so entschlossen und gefestigt sind, die wahre Übungder Tugenden zu erwählen, brauchen wir die Gabe des Rates, um jeneTugenden auszuwählen, die unserer Berufung nach die notwendigstenfür uns sind. Denn wenn es auch immer gut ist, die Tugenden zu üben,so muß man sie doch in der rechten Ordnung zu üben wissen. Weißich, ob es bei einer bestimmten Gelegenheit ratsamer ist, daß ich dieGeduld nur innerlich übe und nicht äußerlich, oder ob ich beides mit-einander verbinden muß? Man muß deshalb die Gabe des Rates besit-zen, um die Übung fortzusetzen, die uns die Gabe der Stärke und desMutes beginnen ließ, und damit wir uns nicht selbst täuschen und dieTugenden nach unseren Neigungen auswählen und nicht nach der Not-wendigkeit für uns, indem wir nur auf das Äußere schauen und nichtauf das wahre Wesen der Tugenden.

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Nach der Gabe des Rates kommt die des Verstandes. Sie läßt unsdurch Erwägungen in die Geheimnisse unseres Glaubens eindringenund die Lehren der inneren Vollkommenheit auf dem Grund dieserGeheimnisse gewinnen. Bedenkt aber bitte, daß ich sage, durch dieBetrachtung und das Gebet, und nicht durch Wißbegierde, Spekulati-on und Studium, wie es die Theologen machen. Denn ein einfachesarmes Weiblein ist dazu fähiger als die hervorragendsten Theologen,die weniger Frömmigkeit besitzen. Seht diese arme Frau: sie wird sichunter dem Kreuz des Erlösers sogleich des Grundsatzes der Vollkom-menheit erinnern: Selig die Armen im Geiste (Mt 5,3). Im Geheimnisder Menschwerdung entdeckt sie die gleiche Grundregel, außerdemdie der Demut und Erniedrigung. Ihr seht also sehr deutlich die Wir-kungen der Gabe des Verstandes. Über das hinaus, was wir gesagt ha-ben, läßt sie uns die Wahrheit der Geheimnisse begreifen, ebenso, wienotwendig es für uns ist, auf das wahre Wesen der Tugenden zu schau-en und nicht nur auf den äußeren Anschein; außerdem, wie nützlich esfür uns ist, den erkannten Wahrheiten zu folgen, sei es durch die Gabedes Rates oder die des Verstandes.

Nun läßt es aber der Heilige Geist gewöhnlich nicht dabei bewen-den, einer Seele diese sechs Gaben zu verleihen, die wir eben erklärthaben, ohne auch die der Weisheit hinzuzufügen, d. h. die Gabe einer„köstlichen Gelehrsamkeit“ (Thomas). Er verleiht der Seele Neigung,Geschmack und Wertschätzung, mit einem Wort Befriedigung in derVerwirklichung der Grundsätze der christlichen Vollkommenheit, diesie durch die Gabe des Verstandes erkannt hat. Ganz im Gegensatz zuden Weltmenschen, die die Reichen für glücklich halten, jene, die ge-ehrt werden und in Genüssen leben, wird sie die Armen im Geisteglücklich schätzen, weil sie diese Tugend im Herzen Gottes selbstgefunden hat. Glücklich die Demütigen, glücklich jene, die in ihremÄußeren sichtbar die Abtötung tragen, die aus der inneren Verleug-nung und Verachtung alles dessen hervorgeht, womit die Welt Staatmacht.

Ich schließe mit der Erwägung, daß alle, die im Abendmahlssaalwaren, den Heiligen Geist empfingen und redeten, wie es der gleicheHeilige Geist ihnen eingab; nicht jedoch alle auf gleiche Weise. Erwurde ja nicht allen verliehen, um das Evangelium zu verkünden wieder hl. Petrus und die anderen Apostel. Man kann ja nicht leugnen, daßauch Frauen dabei waren, wie der Evangelist (Apg 1,14f) schreibt, daßes mit Unserer lieben Frau und den anderen Frauen 120 waren. Nun,sie redeten so, wie es ihnen der Heilige Geist eingab; d. h. jene, die

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nicht öffentlich predigten, ermutigten sich gegenseitig, Gott zu prei-sen. Wir müssen aber wissen, daß es ein Sprechen gibt, das ohne Wortegeschieht; das ist das gute Beispiel. David sagt (Ps 19,1): Die Himmelverkünden die Ehre Gottes. Wie das? Die Himmel sprechen doch nicht.Er will sagen, daß die Schönheit des Himmels und des Firmaments dieMenschen einlädt, die Größe der Schöpfung zu bewundern und seineWunder zu verkünden. Er fügt hinzu, daß die Tage und die Nächte sichablösen, die Herrlichkeit Gottes zu künden. Wer wüßte nicht, daß wir,wenn wir in einer recht klaren Nacht den Himmel betrachten, ange-regt werden, die Allmacht und Weisheit dessen zu bewundern undanzubeten, der ihn mit so vielen schönen Sternen übersät hat? Es istnicht anders, wenn wir einen schönen Tag vom Licht der Sonne er-leuchtet sehen, ja selbst wenn Unser Herr uns den Regen sendet, da erdazu dient, die Pflanzen wachsen zu lassen.

Was will ich mit all dem anderes sagen als das: Wir, die wir mehrsind als die Himmel und alles Geschaffene, weil das alles für uns ge-schaffen ist und nicht wir für sie, wir sind fähiger, die HerrlichkeitGottes zu künden als die Himmel und die Sterne. Das gute Beispiel isteine stumme Predigt. Wenn wir auch nicht die Sprachengabe empfan-gen haben, um zu predigen, können wir es doch auf diese Weise immertun. Ist es nicht ein größeres Wunder, eine mit großen Tugenden ge-schmückte Seele zu sehen als den Himmel geschmückt mit Sternen?Die Tage lösen einander ab, die Herrlichkeit Gottes zu künden; werwüßte nicht, daß die Heiligen dasselbe getan haben, indem sie ihreTugenden einander weitergaben? Auf den hl. Augustinus folgte der hl.Hilarion, auf den hl. Hilarion andere Heilige, und so wird es immerbleiben. – – –

Zum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. Augustinus

Nr. 33: 28. August 1620 IX,324-339

Der hl. Augustinus berichtet von dem großen Streit und Zwist beiseiner Bekehrung, von dem Kampf und der Spannung zwischen denbeiden Bereichen seiner Seele, dem niederen und dem höheren, denhärtesten Kampf, den man sich denken kann. Schließlich gewahrt er

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die Augen der Barmherzigkeit, die ihn schon bisher angeblickt haben,und ruft am Anfang des 9. Buches seiner „Bekenntnisse“ aus: Herr, duhast auf deinen Diener geschaut, auf den Sohn deiner Magd. Als erdann die machtvolle Hand Gottes fühlt, die ihn befreit, fährt er mitden Worten aus Psalm 116 (3f.7) fort: Dirupisti vincula mea. Du hastmeine Fesseln zerbrochen; Herr, du hast mich von den Banden meinerSünden befreit. Was kann ich zum Dank für eine solche Gunst tun? Ichwill dir ein Opfer des Lobes weihen, ich will den Kelch des Heiles trinkenund den Namen des Herrn anrufen. Da ich zu euch zu sprechen habe,welch besseren Gegenstand könnte ich wählen als diese Worte desPsalmisten: Dirupisti ...? Um aber meine Predigt leichter verständlichzu machen, will ich sie in drei Punkte einteilen: Im ersten werden wirsehen, was das für Bande sind, von denen der hl. Augustinus befreitwurde; im zweiten, welches Lobopfer er Unserem Herrn dargebrachthat; und im dritten, was dieser Kelch des Heiles ist.

Zum 1. Punkt: Es ist wunderbar, wie der große hl. Augustinus vonsich selbst im gottbegnadeten Buch seiner „Bekenntnisse“ spricht undin bewundernswertem Stil von den Banden berichtet, mit denen ergefesselt war. Ich will mich nicht dabei aufhalten, euch viel darüber zusagen, denn ihr habt dieses Buch. Dort könnt ihr diese Dinge mit grö-ßerer Freude ausführlich lesen, besser als ich es erzählen könnte. Ichwerde mich damit begnügen, euch zu sagen, was meinem Thema ent-spricht. Er schreibt: Ich war gebunden und gefesselt mit Ketten undBanden einer fluchwürdigen Leidenschaft, mit einem verhärteten Wil-len, der bewirkte, daß ich mich aus freien Stücken in meinen lasterhaf-ten Gewohnheiten wälzte.

Wenn die Theologen von den Banden sprechen, mit denen die Men-schen gefesselt sind, sagen sie, daß es deren drei Arten gibt. Der Teufelhat Bande und Ketten, mit denen er die Menschen gefesselt hält, sie zuseinen Sklaven und Untertanen macht. Diese Ketten sind nichts ande-res als die Sünde, die uns nicht nur zu Sklaven unserer Leidenschaften,sondern auch des Teufels macht. Und niemand kann uns davon befrei-en als die mächtige Hand Gottes. Wie uns der gleiche hl. Augustinussagt, sind diese Bande vortrefflich versinnbildet durch die Ketten undeisernen Handschellen, mit denen der hl. Petrus im Gefängnis gebun-den war (Apg 12,6). Denn wenn er auch ungerecht eingekerkert war,versinnbilden uns seine Bande dennoch die Sünde. Wie eiserne Hand-schellen und Ketten hält sie den Sünder so fest gefangen, daß keineraußer Gott ihn befreien kann.

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Die zweite Art der Bande sind die der Welt; sie sind nichts anderesals die Sinnlichkeit und Wollust; Bande, die überaus gefährlich undschwer zu zerreißen sind.

Aber auch Gott hat Bande, Stricke und Ketten, mit denen er seineDiener fesselt: die einen sind aus Eisen, die anderen aus Gold. Wieunser großer Vater, der hl. Augustinus sagt, sind die eisernen nichtsanderes als die Furcht vor dem Gericht, vor dem Tod und der Hölle; essind die Drohungen, die wir im Evangelium lesen und mit denen derheilige Apostel Paulus die Könige und Fürsten, die Bauern und Hand-werker, Groß und Klein erschreckte, wenn er ihnen (Apg 17,31; 24,25;2 Kor 5,10f; Kol 4,1) sagt: Ich mache euch aufmerksam, daß es einenhöchsten Richter der Lebenden und Toten gibt, dem ihr Rechenschaftschuldet. Viele nun, die diese und ähnliche Worte hörten und dieschrecklichen Gerichte Gottes fürchteten, taten Buße, ließen sichdurch die Furcht und lebhafte Angst fesseln und bekehrten sich. Diegoldenen Bande sind die Bande der Liebe, mit denen Unser Herr vieleSeelen fesselt und sie zu seinen Sklaven und Untertanen macht, aberin einer milden und sehr liebevollen Knechtschaft. Das sind jene See-len, die ohne jeden Gedanken der Furcht, vielmehr angezogen von dermilden und liebenswürdigen Anziehung unseres teuren Meisters kom-men, um sich vollkommen seinem göttlichen Dienst hinzugeben undzu weihen.

Der hl. Augustinus war mit dreierlei Banden gefesselt, von denen erin seinen „Bekenntnissen“ spricht; gewiß aber in einer Weise, daß esjene zu Tränen rührt, die es aufmerksam lesen, wenn sie sehen, wie derbedauernswerte junge Mann hilflos und so bedrängt war, daß er sichnicht befreien konnte. Seht ihn gefesselt mit den fluchwürdigen Ban-den der Wollust. Er glaubte nicht leben zu können, ohne dieses ab-scheuliche Laster zu begehen. Er wünschte und wollte doch nicht vonihm befreit werden. Was taten Alypius und seine übrigen Freunde nichtalles, um ihn davon abzubringen. Sie redeten ihm zu, sich zu verheira-ten, damit er dadurch seine unerlaubten Freuden in erlaubte verwand-le; alle ihre Bemühungen waren vergeblich. Es bedurfte deiner all-mächtigen Hand, Herr, sagte er selbst, um mich von diesen Banden zubefreien und mich den Krallen meines Feindes zu entreißen, denenich mich freiwillig ausgeliefert hatte. Gewiß, diese Sünde ist abscheu-lich und die gefährlichste von allen. Wenn sie auch nicht so groß istwie die Gotteslästerung und der Gotteshaß, so ist es doch schwierigerals bei allen anderen, sich von ihr loszumachen und zu befreien.

Die zweite Fessel, mit der der hl. Augustinus gebunden war, ist dieEitelkeit, denn er war ein Meister der Rhetorik. Was aber ist Rede-

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kunst und weltliche Humanität anderes als eine Schule der Eitelkeit?Er war also Meister in der Eitelkeit, und er gesteht das selbst. ArmerAugustinus, damals warst du Meister der Rhetorik, und bei den schö-nen Phrasen und Dichtungen, bei ungebundener Rede und Vorträgenwar deine Seele aufgeblasen, eitel und hochmütig, denn das menschli-che Wissen bläht auf (1 Kor 8,1). Er war ein großer Redner und hieltwundervolle rhetorische Vorträge. Deshalb war er so gefürchtet, dennman wagte ihm nicht nahezutreten und einen Disput mit ihm aufzu-nehmen, weil man fürchtete, verwirrt daraus hervorzugehen. Das bläh-te ihn noch mehr auf. Dazu trug noch sein schöner und überaus subti-ler Geist bei.

Ich pflege zu sagen, daß zwischen einem schönen und einem gedie-genen Geist der gleiche Unterschied besteht wie zwischen dem Pfauund dem Adler. Wie jeder weiß, ist der Pfau ein schöner Vogel und hatschöne Federn, aber er ist sehr eitel und stolz. Er macht ein Rad undspreizt sein Gefieder; was aber sind seine Werke? Er gibt sich nur mitAlbernheiten ab; er nährt sich von Fliegen und Mücken; deshalb füt-tert ihn der Bauer nicht, da er außerdem unnütz in seinem Haus ist. Erverursacht Schaden, denn er steigt auf das Dach und deckt es ab, umSpinnen zu suchen. Die Adler dagegen, die kein so schönes Gefiederhaben und nicht dieses schöne Äußere, verrichten trotzdem edlereWerke. Man sieht sie fast nie auf der Erde, sie schwingen sich vielmehrstets in die Lüfte. So sagen die Naturforscher, daß der Adler der Königder Vögel ist, nicht wegen seiner Schönheit, sondern wegen seinerHochherzigkeit.

Ebenso verhält es sich mit einem schönen und einem gediegenenGeist. Der eine ist eitel; er beschäftigt sich nur mit eitlen Vorstellun-gen, und so wenig er tut, bläht er sich doch großartig auf. Ein gediege-ner Geist dagegen vollbringt gute und gediegene Werke; er bläht sichdeswegen nicht auf, sondern wird demütiger und bescheidener. Einkleiner Schüler der Rhetorik bläht sich über eine kleine Redewen-dung oder Geschichte auf und wird ein sogenannter Pedant, d. h. auf-geblasen, eingebildet und hochmütig. Was kann man da tun? EinSchöngeist ist solchen Eitelkeiten und Torheiten unterworfen, ein ge-diegener Geist aber vollbringt gute und gediegene Werke, wie ich ge-sagt habe; er bläht sich nicht auf und rühmt sich nicht, sondern bleibtimmer bescheiden und demütig. So machte es der hl. Augustinus nachseiner Bekehrung; er verwandelte die Schönheit seines Geistes in Ge-diegenheit oder verband vielmehr die Gediegenheit mit der Schön-heit, denn er war der Phönix unter den Kirchenlehrern und man teilt

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den Ruhm zwischen dem hl. Thomas und dem hl. Augustinus; dereine erhält ihn für die Theologie im allgemeinen, der andere für dieScholastik im besonderen.

Die dritte Fessel, mit der der hl. Augustinus gebunden war, ist dieHabsucht, denn er lehrte um des Gewinnes willen. Er verdientewegen seiner Gelehrsamkeit viel, war berühmt und sehr angesehen.(Er war nicht von hoher Herkunft, sondern stammte vielmehr auseiner guten, wenn auch armen Familie. Er hatte Brüder und Schwes-tern. Er bekennt selbst und schämt sich nicht zuzugeben, daß erwährend des Studiums von einem Edelmann unterstützt wurde. OGott, das würde ein Mann unserer Zeit nicht sagen!) Nun, er warhabsüchtig; das ist eine starke Fessel, denn infolge seines Einkom-mens hatte er große Pläne und Hoffnungen, reich zu werden undvoranzukommen.

Gott, wie bedurfte es einer allmächtigen Hand, um ihn aus so mäch-tigen Ketten zu befreien! Ach, wer könnte die Kämpfe und Krämpfebegreifen, die diese bedauernswerte Seele erduldete, als sie ihre Frei-heit wiedergewinnen und die eisernen Fesseln abstreifen wollte, mitdenen sie gefesselt war? Als aber Gott in seiner grenzenlosen Barm-herzigkeit diese Bande berührte, fühlte sie sich in Freiheit, begannganz hingerissen das hohe Lied der göttlichen Erbarmungen zu singenund rief von Staunen ergriffen aus: Dirupisti vincula mea! Herr, meinGott, du hast mich befreit von den Fesseln und Ketten meiner Leiden-schaften, lasterhaften Sitten und Gewohnheiten. Gott, wie groß sinddie Wirkungen deiner Macht und Barmherzigkeit!

Nun sind manche ebenso wie der hl. Augustinus vom gleichen Herrnbefreit worden, als sie in den Orden eintraten. Manche kommen keuschund frei von aller Sinnlichkeit; andere sind nicht habsüchtig und ver-lassen bereitwillig allen zeitlichen Besitz, um arm zu werden. Indes-sen verläßt man sehr oft die Erde und andere Nichtigkeiten dieser Art,aber es gibt nur wenige, die auf ihre Anmaßung verzichten und ihreninneren Geiz ablegen. Man hat so viele Wünsche, so schöne Hoffnun-gen; man ist so wenig leer von seinem Eigennutz! Und was die Eitel-keit betrifft, weiß ich gewiß nicht, ob es einen gibt, der von ihr frei ist.Sie ist ein allgemein verbreitetes Übel; es gibt nur sehr wenige, dienicht in ihre Netze verstrickt sind. Der hl. Augustinus sagt darüber:Ich weiß nicht, ob irgendjemand von der Eitelkeit, Selbstgefälligkeitund Hochschätzung seiner selbst ausgenommen ist. Wenn es zutrifft,weiß ich nichts davon, aber ich meinerseits gehöre nicht dazu, dennich bin ein sündhafter Mensch (Lk 5,8).

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O Gott, wie zerknirscht und demütig (Ps 51,19) war dieser Heiligenach seiner Bekehrung, wie bescheiden und voll Dankbarkeit für dieGnaden, die er von der erhabenen Güte empfangen hatte! Mit welchliebevollen Empfindungen schrieb er: Was soll ich dem Herrn vergel-ten für soviel Gutes, das er mir erwiesen hat? Dann sagte er, sich miteinem Geist voll demütiger und liebevoller Dankbarkeit besinnend:Ich will ihm ein Opfer des Lobes weihen (Ps 116,4).

Was will er mit diesen Worten ausdrücken? (Sie sind einer jenerhebräischen Wendungen entnommen, die gewiß besonders geeignetsind, das darzustellen, was sie ausdrücken.) Es gibt tausend Auslegun-gen davon, aber ich will mich mit der folgenden begnügen. Ein Opferdes Lobes darbringen heißt nichts anderes, als Gott für seineErbarmungen loben und preisen. Die göttliche Majestät loben, das istein Akt, zu dem jeder Mensch verpflichtet ist und wovon sich niemandausschließen kann. Man kann nicht leugnen, daß jeder die Pflicht hat,Gott für seine Wohltaten zu loben, wie man auch nicht leugnen kann,daß ein Gott der Schöpfer und Lenker der Welt ist. Die heidnischenPhilosophen waren gezwungen, das zu bekennen, obwohl sie nicht vomLicht der Wahrheit erleuchtet waren. Ein Cicero hat wie mehrere an-dere freimütig anerkannt, daß es eine Gottheit gibt und daß niemandanderer als sie den Menschen erschaffen noch das ganze Weltall regie-ren und erhalten konnte. Die christliche Lehre zeigt uns, daß manGott jederzeit loben muß (Ps 34,1): wenn wir trinken und essen, wa-chen und schlafen, bei Tag und Nacht (vgl. 1 Kor 10,31; Kol 3,17),zumal wir jederzeit die Wirkungen seiner Barmherzigkeit erfahren.Alle guten Christen tun es, wenn sie dem Gottesdienst beiwohnen oderin die Kirche gehen, um Gott zu erkennen, ihn zu loben und anzube-ten, und wenn sie ihn bei ihren übrigen Beschäftigungen benedeienund anrufen.

Der hl. Augustinus sagt aber nicht einfach, daß er sein Lob singenwill, sondern daß er ihm ein Opfer des Lobes weihen will, um uns zuzeigen, daß er nicht nur von jenen sprechen will, die wie das gewöhnli-che Volk Gott loben, sondern von solchen, die von ihm besondereGnaden empfangen haben. Sie ziehen sich dazu aus dem Getümmelder Welt zurück, widmen und weihen sich dem Dienst Unseres Herrnund bringen hier ein Opfer des Lobes dar. Das heißt nichts anderes, alsvon Herzen und im Geist das aussprechen, was sie mit dem Mundsagen (vgl. Jes 29,13; Mt 15,8), indem sie mit ihren Gesängen,Psalmodien, Hymnen und Liedern eine liebevolle, fromme Aufmerk-samkeit verbinden, die den Vielgeliebten unserer Seelen erfreut.

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Das hat der göttliche Bräutigam gemeint, wenn er von der Braut imHohelied (5,1; 6,1f) sagt: Meine Vielgeliebte, meine Liebste, die beieuch ist, die ihr kennt, die sich mir ganz geschenkt hat, findet ihreFreude darin, mich zu loben und mich mit den Früchten ihres Gartenszu erquicken; und nicht zufrieden damit, mir seine Früchte zu schen-ken, gibt sie mir auch den Baum. Wenn er an anderer Stelle (4,9) dieSchönheit dieser Schulammit beschreibt, sagt er schließlich: MeineVielgeliebte ist so beschaffen, daß sie mein Herz verwundet; sie gleichtden Chören und den Heeren (6,3; 7,1). Wer ist diese Schulammit, wennnicht die fromme Seele? Was sind die Chöre, wenn nicht die Stätten,die dazu bestimmt sind, das Lob Gottes zu singen? Wenn also diefromme Seele Gott zu loben und zu verherrlichen sucht, gleicht sieden Chören. Aber damit begnügt sich der göttliche Bräutigam nicht,sondern sagt auch noch, daß sie den Heeren gleicht. Was sind dieseHeere, wenn nicht die verschiedenen Affekte der Liebe, der Demut,der Zerknirschung und Unterwerfung, mit denen sie die Lobpreisun-gen begleitet, die sie auf ihren Vielgeliebten singt?

Diese liebliche Schulammit gleicht also den Chören und den Hee-ren, denn sie verbindet ihre Lobpreisungen mit Liebe und ihre Liebemit dem Lob. Sie schenkt die Früchte ihres Baumes, wenn sie ihnpreist, und den Baum, wenn sie mit dem Lob ihre liebevollen Affekteverbindet. Und mit dieser schönen Vielfalt schlägt sie wie ein himmli-sches Heer die Feinde Gottes in die Flucht, die nach nichts so sehrtrachten, als diese heilige Übung zu verhindern. Wenn der Teufel diegöttliche Majestät loben könnte, wäre er nicht der Teufel. Wir spre-chen hier nicht von der großen Spaltung und vom Aufstand, der sichim Himmel ereignete, noch wie es dazu kam. An ihm sieht man, daßder Teufel nur zum Teufel wurde, weil er seinen Schöpfer nicht lobenwollte. Als der große heilige Erzengel Michael das sah, rief er: Wer istwie Gott? Wer ist wie Gott? Das wiederholte er oftmals und alle ande-ren seligen Geister folgten ihm, die chorweise mit dem gleichen Rufantworteten: Wer ist wie Gott? Dadurch schlugen sie Luzifer und sei-ne Anhänger in die Flucht. Diese wurden in den Abgrund gestürzt,weil sie nicht in diesen göttlichen Gesang einstimmen wollten wie dieanderen Engel, die in der Gnade gefestigt wurden. Es gibt gewiß keinbesseres Mittel als dieses, um den Teufel in die Flucht zu schlagen,weil der Elende den Lobpreis Gottes nicht ertragen und nicht sehenkann, daß er angebetet und verherrlicht wird.

Nun können wir sagen, die Seele des hl. Augustinus war diese lie-bende Schulammit, denn vom Augenblick seiner Bekehrung an lobte

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er unaufhörlich Gott Tag und Nacht, wenn er trank und aß, wenn ersprach und schrieb, wenn er die Loblieder seiner Barmherzigkeit undseiner Liebe sang. Er war der göttlichen Gnade so ergeben, daß er niemüde werden konnte, sie nicht nur zu preisen, sondern auch zu ihremLob zu sprechen und zu schreiben. Mit bewundernswerter Beredsam-keit widerlegte er jene Irrlehrer, die die Wirksamkeit der Gnade leug-neten. Durch seine Schriften und Streitreden zeigte er, daß ihre Leh-ren Hirngespinste waren. Kurz, in den Büchern und Abhandlungenüber die Gnade, die er verfaßt hat, spricht er von ihr so wirkungsvoll,in einer so erhabenen Sprache und so beredt, daß er alle anderen Leh-rer übertrifft, so daß man deutlich sieht, wie er sie liebte und schätzte.

Die Schulammit des heiligen Bräutigams wird aber auch verstandenals die Kirche. Was ist denn in der Tat die Kirche anderes als die Chöreund die Heere? Und was sind diese Chöre, wie ich schon gesagt habe,wenn nicht alle Christen, die unablässig in allen Ständen und Berufendas Lob Gottes singen? Der hl. Ludwig (dessen Fest wir in den vergan-genen Tagen gefeiert haben), der größte Heilige unter den Königenund der größte König unter den Heiligen, hatte den Gipfel der christ-lichen Vollkommenheit erreicht. Er ist ein Vorbild für Könige und fürdas ganze gläubige Volk. Er hat große Taten für den Glauben an JesusChristus vollbracht; trotzdem war er kein Ordensmann, sondern einWeltchrist. Indessen müssen wir unter diesen Chören und Heeren imbesonderen die Ordensleute und die Geistlichen verstehen. Sie lobenGott nicht nur durch Psalmen, Hymnen und Lobgesänge (Eph 5,19f;Kol 3,16), sondern bemühen sich auch, durch Predigten wie durch dieihrem Stand eigenen Funktionen die anderen zur Anerkennung derWahrheit zu bewegen, um sie zum Lob Gottes anzuregen.

Die menschliche Klugheit soll hier nicht ihre Einwände erhebenund sagen: O, das ist gut für die Geistlichen, die Prediger und Gelehr-ten, die durch ihren Eifer der Allgemeinheit dienen; wozu aber sindjene nütze, die in den Klöstern eingeschlossen sind? Zu nichts; siesind unnütz für die Kirche Gottes. Das sind Reden der Weltmenschen.Man muß wohl sagen, daß die menschliche Klugheit sich anmaßt, alleszu beurteilen, und das auch bei jenen will, die das beschauliche Lebengewählt haben. Sie tun nichts, sagen sie. Gott, die armen Leute! Siesind blind in ihren Ansichten. Sie wissen nicht, daß Unser Herr Gefal-len hat an diesen Klöstern und Stätten der Zurückgezogenheit. DerGesang der Ordensleute ist nicht so laut wie jener der anderen, aber erist melodischer; sie gleichen den Vögeln, die in Käfigen gehalten wer-den, um ihren Herrn durch ihr Gezwitscher zu erfreuen.

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In den Häusern der Großen gibt es zwei Arten von Vögeln: solche,die nicht singen, und solche, die singen. Die nicht singen, das sind dieSperber, die immer auf die Suche gehen, um ihrem Herrn irgendetwaszum Essen zu bringen. Sie versinnbilden die Bischöfe und Seelsorger,die über ihre Herde wachen. Sie sind unablässig tätig, um irgendeineSeele für Gott zu gewinnen; wie Wachsoldaten vollbringen sie nützli-che Werke in der Kirche. Es gibt auch andere, die nur singen, aber sowohlklingend, daß Unser Herr daran seine Freude hat.

Es wird erzählt, daß ein großer Herr eines Tages einen kleinen Vogelkaufte, der 570 Taler kostete. Das war eine große Summe, und sie hättegereicht, um dafür Pferde zu kaufen. Es fehlte nicht an Unzufriede-nen; die Welt hat ja zu viel Klugheit und weiß nicht, was mit ihr anfan-gen. Was heißt das, sagten die einen: wozu soll dieser Matz nützlichsein? Man hätte so- und soviele Pferde bekommen können, die demHerrn große Dienste geleistet hätten; dieser Vogel aber ist zu nichtsnütze. Ihr Armen, wie plump und irdisch seid ihr doch! Es ist wahr,die Pferde wären nützlich, aber dieser kleine Matz ist es nicht weniger,denn in seinem Käfig hat er keine andere Sorge und kein anderes Be-streben, als seinen Herrn durch seinen melodischen Gesang zu erfreu-en. Er ist sogar sehr einverstanden, seine Freiheit zu verlieren, um seinganzes Leben in dieser Gefangenschaft zu bleiben und seinen Herrnzu erfreuen. Außerdem beliebt es diesem Herrn so; ist er nicht Herrseines Eigentums, um damit zu tun, was ihm beliebt? Hört also auf miteurem Murren; begnügt euch damit, daß er es so will.

Das gleiche kann man von den Seelen sagen, die sich in den Klösterneingeschlossen haben. Wie kleine Vögel ergötzen sie ihren Herrn durchdie Melodie ihres Gesanges. Sie geben ihre Freiheit auf, die das Lebender Seele ist, um in Gefangenschaft zu leben. Sie versagen sich jedeArt von Befriedigung, um ihn zu erfreuen durch ihre Gebete, Seufzerund ständigen Betrachtungen. Und nicht nur das, sondern noch mehr:die für die Kirche arbeiten, werden wunderbar gestärkt, um ihre Auf-gaben zu erfüllen und in ihren Arbeiten auszuharren, die damit ver-bunden sind, durch diese liebliche Harmonie, d. h. durch die Gebete,die die Ordensleute dafür verrichten.

Der hl. Augustinus gehörte zu diesen Chören und Heeren. Wie wirgesagt haben, begnügte er sich nicht damit, Gott zu loben, sondern warbestrebt, viele um sich zu scharen, indem er den einen predigte, ande-ren eine Form sehr vollkommenen Lebens gab. Das tat er als Bischof,indem er eine große Zahl von Priestern sammelte, denen er seine Re-gel gab, durch die er den Ordensstand und den weltlichen Stand auf

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den gleichen Stamm pfropfte, so daß seine Priester Ordensleute warenund seine Ordensleute Priester. Damit nicht zufrieden, vereinigte erauch noch eine große Zahl von Mädchen, denen er ebenfalls eine Re-gel gab.

Seht ihr, mit welch großem Recht dieser glorreiche Heilige sagenkonnte: Ich weihe dir ein Opfer des Lobes? Er hatte in der Tat ein Herzvoll großer Liebe und Dankbarkeit. Es gibt Menschen, die undankbarsind für die Gnaden und Gunsterweise, die sie empfangen haben. Die-ser Undank hat seinen Sitz manchmal im Verstand; er bewirkt, daß siedie Verpflichtung gegen jene nicht sehen, die ihnen Gutes tun. Wenndie Undankbarkeit im Verstand sitzt, ist sie gewiß sehr böse und ge-fährlich und geht gewöhnlich auf den Willen über; sie verdirbt ihnderart, daß man sich niemand gegenüber zum Dank verpflichtet wis-sen will. Solche Leute sind sehr stolz und von einer gefährlichen Krank-heit befallen. Sie meinen, daß nichts sie verpflichten könne, sondernglauben im Gegenteil, sie könnten alle verpflichten. Was man auch fürsie tut, sie glauben, das sei man ihnen schuldig, und sie denken nichtdaran, daß man ihnen nichts umsonst geben kann. Wenn sie irgendeineGnade empfangen, glauben sie diese durch irgendeinen besonderenDienst verdient zu haben.

Gott, welche schreckliche Untugend ist doch diese Undankbarkeit!Der hl. Augustinus war von ihr in keiner Weise befallen; er fühlte sichvielmehr dem vielgeliebten Erlöser unserer Seelen dermaßen zumDank verpflichtet dafür, daß er die Fesseln seiner Sünden und laster-haften Gewohnheiten gebrochen hat, daß er in der Erwägung der Lie-be aufging, die er für seinen erhabenen Wohltäter und Befreier hegte.In seinen Betrachtungen zerfloß seine Seele oft in Liebe zu dem, derihm so großes Erbarmen erwiesen hatte. Er wurde von den Freudenund Wonnen dieser Liebe so stark erfaßt, daß er den Ruhm mit dem hl.Bernhard teilt, was die Liebe betrifft, wie mit dem hl. Thomas in derTheologie.

Ich habe oft gesagt, daß es eine zweifache Liebe gibt: die erste istaffektiv, die zweite effektiv. Wenn man sie nicht kennt und nicht zuunterscheiden weiß, kommt es zu großen Mißgriffen und Täuschun-gen. Die erste, die affektive Liebe streben alle an; und diese Liebe istwahrhaftig gut. Sie bewirkt, daß das Herz beim Gebet ganz honigsüßist und erfüllt von einer sehr angenehmen Milde. Gott, wie groß istdiese Süßigkeit! Man fühlt das Drängen des Herzens, die Empfindun-gen der Liebe, die der Heilige Geist verleiht, wie man kleinen KindernZuckerbohnen gibt, um sie anzulocken. Das ist gut, wenn es von Gott

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kommt, und der hl. Augustinus hat es erfahren, wie er selbst sehrschlicht bekennt, wenn er sagt: O Gott, Jesus, Jesus, du hast mich vonden Banden meiner Sünden befreit, aber gleichzeitig hast du michwieder gefesselt mit diesen Banden, den Ketten der Liebe. Und er fügthinzu: Wo war ich denn? Wo war meine Freiheit, bevor du sie gefesselthast mit den milden Ketten, die mich jetzt in dieser glücklichen Knecht-schaft halten?

Seht, er spricht von der Freiheit. Sie ist ja der kostbarste Teil desMenschen, denn wie ich gesagt habe, ist sie das Leben unseres Her-zens. Sie ist also das Kostbarste, was wir schenken können. Sie istaußerdem das Letzte, was wir aufgeben, und es ist uns schmerzlicher,darauf zu verzichten. Die Freiheit ist so vortrefflich, daß sie der Teufelnicht verletzen kann. Er verdreht, verwirrt und bringt wohl alles ringsum sie durcheinander, aber sie selbst kann er nicht bezwingen. Gottselbst, der sie uns geschenkt hat, will sie nicht mit Gewalt haben, undwenn er verlangt, daß wir sie ihm schenken, will er, daß es freiwilligund gern geschieht. Nie hat er jemand gezwungen, ihm zu dienen, under wird es nie tun. Er spornt uns zwar an, öffnet unser Gewissen, um-gibt unser Herz, regt uns an, uns zu bekehren und ihm alles zu schen-ken, niemals aber nimmt er es mit Gewalt. Wahrhaftig, er könnte estun, denn er hat die Macht, aber er will es nicht.

O Gott, wer könnte den vollkommenen Verzicht beschreiben, mitdem der hl. Augustinus der göttlichen Güte sich selbst und sein Lebenganz überließ, das nichts anderes ist als die Freiheit. Ich bin ganzergriffen, wenn ich in seinen „Bekenntnissen“ lese, was er darübersagt. Er hat sich selbst in solchem Maß geschenkt, daß er nicht mehrwußte, was er war. Man weiß in der Tat nicht, was man mehr bewun-dern soll: die Aufrichtigkeit, mit der er spricht, ohne irgendwelcheBedenken oder Zweifel, oder die bewundernswerte Sprache, mit derer verständlich macht, was er in seinem Innern fühlte. Er war so sehrin heiliger Liebe entbrannt, daß er den Geschmack an allem anderenverloren hatte und in allem Geschmack an seinem Erlöser fand. Ichtrank und aß, sagt er, ohne zu wissen, was ich aß; ich schlief, ohne zuwissen, was ich tat; ich fand in allem den Geschmack der Liebe meinesErlösers.

Ich habe gesagt, daß es eine andere Liebe gibt: die effektive. O, dieist gut in höchstem Grad, und unser glorreicher Heiliger schritt vonder affektiven Liebe zur effektiven fort. Sie wirkt und ist nicht müßig.Sie erträgt Anstrengungen und Mühen, sie erduldet Beleidigungen undVerleumdungen. Das wollte ich in meinem dritten Punkt erklären:Ich will den Kelch meines Heiles trinken. Es ist aber nicht möglich,

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darüber noch zu sprechen, denn die Zeit ist schon vorangeschritten.Ich will nur sagen, daß diese Liebe unablässig leidet; sie drängt immerzum Handeln. Seht ihr Magdalena? Sie war von der affektiven Liebegetroffen; als sie ihren Meister sah und ihm die Füße küssen wollte,rief sie aus: Rabbuni. Aber Unser Herr wies sie zurück und sagte:Fasse mich nicht an, geh zu meinen Brüdern. Seht da die effektive Lie-be, denn sie ging sogleich hin (Joh 20,16-18).

Als der hl. Augustinus die Freuden der affektiven Liebe verkostethatte, ging er zu den Werken der effektiven über. Er gab einer Gemein-schaft von Mädchen eine Regel, und sogleich erhoben sich dieHäretiker gegen ihn. Ihre Verleumdungen gaben ihm Gelegenheit zubekennen, daß er nicht der Erfinder, sondern nur der Verbreiter desklösterlichen Lebens in Afrika war. Was glaubt ihr, wieviel er erduldethat, als er die Irrlehren der Manichäer, der Donatisten und andererAfrikaner widerlegte? O Gott, das ging nicht ohne viel Mühe und An-strengung. Und ihr, ihr habt große Freuden im Gebet empfangen, aberabgesehen davon könnt ihr keine Kränkung ertragen, kein Wort undkeine Handlung, die aus Übereilung geschah. Ihr könnt euch den Men-schen mit einem Charakter, der dem euren entgegengesetzt ist, nichtanpassen. Da gibt es solche, denen die Natur große Vorzüge gegebenhat, und es ist leicht, mit ihnen auszukommen; andere haben dieseEigenschaften nicht, sie haben im Gegenteil, ich weiß nicht was, daseuren Neigungen widerstrebt. Aber sicher, die effektive Liebe über-windet das alles und gibt die eigenen Launen auf, um sich in allemganz denen der anderen anzupassen.

Der hl. Augustinus hat ein Wort gesagt, das wir alle auf der Stirnseiteunserer Zimmer oder vielmehr unserer Herzen eingravieren sollten.O Gott, sagte er, wie wünschenswert wäre es, daß man nur dich liebt,daß man dich in allem liebt und daß man nichts ohne dich liebt. Duwillst also, glorreicher Heiliger, daß man nur Gott liebt; muß mannicht auch seine Freunde lieben? Ja, aber in Gott. Und muß man nichtauch seine Feinde lieben? Ja, aber um Gottes willen. Wie glücklichwären wir, wenn wir das befolgten! Es gibt viele, die ihre Freundelieben, aber sie lieben sie nicht in Gott, denn sie begehen große Unge-rechtigkeiten, um sie zu begünstigen, und lieben sie auf Kosten derEhre und Verherrlichung Gottes. Zudem ist es kein großes Wunder,seine Freunde zu lieben; das ist natürlich, die Heiden tun das gleiche.Aber seine Feinde lieben, das ist gewiß eines wahren Christen würdig.Nun, das ist geeignet, darüber in der Öffentlichkeit zu predigen. Kom-men wir also zurück zu jener Liebe, die uns durch vollständige undausschließliche Selbstverleugnung uns selbst sterben läßt. Zu den

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Worten, die Unser Herr an Magdalena richtete: Geh zu meinen Brü-dern, sagt der hl. Augustinus: Um zu gehen, muß man zwei Schrittetun: allem absterben und entsagen, was außer uns ist, und uns selbstabsterben und entsagen, was schwieriger ist. Man findet genug, die indas Kloster kommen und auf alle Bequemlichkeiten, Güter undFreunde verzichten; aber man findet wenige, die sich selbst vollstän-dig entsagen durch die vollkommene und ausschließliche Selbstver-leugnung. Viele sagen, daß sie die Mühen lieben, ja sogar nach ihnenverlangen, aber wenige ertragen sie mit der erforderlichen Vollkom-menheit.

Zum Schluß (ich muß aufhören): Als der große Heilige sich selbstvollkommen abgestorben war und sich entsagt hatte, beklagte er sichbei Unserem Herrn mit den Worten: Herr, laß mich sterben, damit ichnicht sterbe! Zeige mir dein Angesicht, mein Gott (Ps 80,4.8.20). Da eraber weiß, daß ein sterblicher Mensch Gott nicht sehen kann, bittet erdarum, zu sterben, damit er nicht sterbe. Das ist, als wollte er sagen:Die Liebe zu dir, die du mir gegeben hast, ist so groß, daß ohne dichleben für mich sterben bedeutet; deshalb laß mich sterben, Herr, da-mit ich nicht sterbe, denn dich sehen bedeutet für mich leben. Ja,unser Leben besteht in der Tat darin, das Angesicht Gottes zu schauen.

Aus dieser großen Gottesliebe geht die Liebe zum Nächsten hervor.Der große Heilige wurde sogar von dem Wunsch gedrängt, Wunder fürden Nächsten zu wirken, so sehr wünschte er, ihm Gutes zu tun undihm in seinen Nöten zu helfen. Er war so wohltätig, daß er nichts fürsich behielt. Als ihn eines Tages jemand um etwas bat, was er bestimmtnicht hatte, sagte er offen: Ich habe nicht, um was du mich bittest. Alsaber jener weiter in ihn drang, wandte sich Augustinus an UnserenHerrn und bat ihn, ihm das zu verleihen. Doch, Herr, fügte er hinzu,wenn du es nicht mir geben willst, gib es ihm selbst. Seine Liebe gingso weit, daß er, als man ihn kurz vor seinem Tod drängte, sein Testa-ment zu machen, sagte: Ach, ich bitte euch, drängt mich nicht dazu.Als man ihn nun sehr dazu drängte, fand man nichts.

Bevor wir schließen, sagen wir noch dieses Wort, das der hl.Augustinus an anderer Stelle schreibt: O Gott, ist es möglich, daß manweiß, du bist Gott, und dich nicht liebt? Es ist wahrlich ein Jammer indieser Zeit: wir wissen, daß Gott Gott ist, wir glauben aber nicht anihn und lieben ihn nicht. Das sagt Unser Herr, wenn er sich darüberbeklagt: Wenn jemand mich liebt, folge er mir (Joh 14,13; 12,26). Wennjemand mich liebt; seht, damit zeigt er, daß die Zahl derer, die ihnlieben, klein ist.

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Doch schließen wir mit dem liebevollen Tod des hl. Augustinus. Ichwill wiederholen, was ein Prediger eines Tages seinen Zuhörern sagte:Ich will aufhören, denn ich fürchte, wenn ich über den Tod eines sol-chen (er nannte seinen Namen) Heiligen spreche, könntet ihr sterben,denn ich sehe, mit welcher Aufmerksamkeit ihr angehört habt, was ichvon ihm berichtete. Meine lieben Schwestern, nachdem ich euch eini-ges über den großen hl. Augustinus gesagt habe und am Ende meinerAusführungen über sein Absterben und seine vollkommene Selbstver-leugnung angelangt bin, will ich schließen, nicht weil ich fürchte, daßihr eines ähnlichen Todes sterben könntet, sondern eher aus Furcht,euch durch eine zu lange Ansprache zu langweilen. Denn nachdem ihreinen Teil des Tages andächtig das Offizium gesungen habt, mögt ihrnach dieser Predigt, die ihr aufmerksam angehört habt, irgendetwasvon dem tun, was wir über diesen glorreichen Kirchenvater gesagt ha-ben, den ihr bewundern und nachahmen sollt. Um euch euer Offiziumfortsetzen zu lassen, schließe ich also und sage euch: Möge euch jenersegnen, der diesen glorreichen Heiligen gesegnet hat; möge euch hei-ligen, der ihn geheiligt hat; und möge euch im Himmel verherrlichen,der ihn verherrlicht hat, in alle Ewigkeit. Amen.

Zum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller Heiligen

Nr. 36: 1. November 1620 IX,366-3 79

Dieses Fest enthält Stoff in Fülle, um seine Größe und seine Feier-lichkeit zu zeigen, und die Prediger sind erfreut über die Fülle undVielfalt dessen, worüber man an diesem Tag sprechen kann. Die einensprechen über die Glorie der Heiligen und über ihre Seligkeit, dieanderen behandeln ebenso nutzbringend und lobenswert ihre Tugen-den und die Heiligkeit, durch die sie diese Seligkeit erworben haben.Wieder andere erklären die wunderbare Bergpredigt, in der UnserHerr die acht Seligkeiten verkündete (Mt 5,1-11). Ich will mich mei-nerseits in dieser Predigt so gut wie möglich der Absicht der heiligenKirche anschließen und euch einen unserer Glaubensartikel auslegen,nämlich die Gemeinschaft der Heiligen.

Diese Gemeinschaft kann man in verschiedener Weise auffassen underklären, wie wir in der Heiligen Schrift sehen; wir wollen euch aberzeigen, daß man sie vor allem verstehen muß von der zweifachen Lie-be, die sich viel besser erklären läßt, wenn man von ihr spricht, soweit

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sie Unseren Herrn betrifft, als die Geschöpfe. Es gibt 1. die Liebe desWohlgefallens, 2. die Liebe des Wohlwollens. Durch die Liebe desWohlgefallens haben wir Gefallen am Gut, das einer besitzt, den wirlieben; durch die Liebe des Wohlwollens wünschen wir ihm, daß erdavon mehr habe. Man kann Gott auf diese zweifache Weise lieben.Das Wohlgefallen erfüllt uns mit Freude darüber, daß er unendlich,grenzenlos, von unbegreiflicher Vollkommenheit, mit einem Wort,daß er Gott ist; und wir sagen mit lebhaftem Empfinden die WorteDavids (Ps 16,2; 77,3): Ich habe gesagt: mein Gott bist du; darüberhabe ich mich gefreut. Man kann also diese Liebe gegen Gott üben,aber die Liebe des Wohlwollens scheint unmöglich, da er unendlichund die Unendlichkeit selbst ist; man kann ihm nicht mehr an Heilig-keit und Vollkommenheit wünschen, als er besitzt. Er ist von uner-meßlicher Größe, er überragt unendlich an Herrlichkeit die Kerubimund Serafim, die Mächte und Throne, alle Engel und himmlischenGeister; er besitzt mehr Vollkommenheit als alle Heiligen zusam-men; und ihre ganze Vollkommenheit, selbst die der glorreichen Jung-frau Maria, ist nichts im Vergleich mit der des Gottessohnes. SeineHeiligkeit überragt die aller Heiligen, der Engel und der seligstenJungfrau, und ihr Glück hängt von Gott ab, denn er ist es, der es ihnenschenkt und mitteilt. Sie können daher stets eine Vermehrung ihrerGlorie erfahren, zwar nicht wesentlich, sondern akzidentell. Die Herr-lichkeit und Vollkommenheit Gottes geht von niemand aus und kannvon niemand eine Vermehrung oder Minderung erfahren. Was könnenwir also tun, um ihn mit einer Liebe des Wohlwollens zu lieben? Wirkönnen diese Akte nur durch die Vorstellung von etwas Unmögli-chem üben, als wenn wir zu ihm sagten: wenn wir ihm mehr Herrlich-keit und Vollkommenheit wünschen könnten, als er besitzt, würdenwir sie ihm wünschen und verschaffen, wenn es in unserer Macht stün-de. Auf diese Weise üben wir die Liebe des Wohlwollens UnseremHerrn gegenüber.

Doch kommen wir auf uns selbst zurück und sehen wir, wie man dieGemeinschaft der Heiligen, an die wir glauben, in dieser Liebe desWohlgefallens und des Wohlwollens verstehen kann. Wenn wir sagen:„Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen“, zeigt das, daß uns ihreGüter gemeinsam sind, d. h. daß wir an allen Gütern teilhaben, die sieim Himmel besitzen, und daß die Heiligen teilhaben an den kleinenGütern, die wir Sterblichen hier unten haben. Glaubt nicht, daß dieSeligen im Himmel sind und wir armselige Sterbliche auf Erden, dassei ein Hindernis für diese Gemeinschaft. O nein, der Tod hat nichtdie Macht, diese Trennung zu bewirken. Wir alle haben ja nur ein und

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dasselbe Haupt, das Jesus Christus ist (Eph 1,22; 4,15; Kol 1,18). Nunsind unsere Liebe und Einheit in ihm begründet; wie könnte also derTod die Macht haben, sie je zu zerstören? Der hl. Paulus sagte (Röm8,35.38f): Wer wird mich scheiden von der Liebe Jesu Christi? NichtEngel und Mächte, nicht Himmel und Erde noch Hölle wird uns tren-nen können von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist. Diese Liebeist nichts anderes als die Gemeinschaft der Heiligen, und wenn wirsterben, werden wir mit ihnen enger vereint sein als mit den liebstenFreunden, die wir hier auf Erden haben.

Die Güter, an denen wir auf diese Weise teilhaben, sind unaussprech-lich, sowohl wegen ihrer Großartigkeit als wegen der Unzahl der En-gel und Seligen, die in der Herrlichkeit sind. Denn wie es an so vielenStellen der Heiligen Schrift (vgl. Dan 7,10; Offb 5,11) heißt, gibt es imHimmel so viele Engel, daß ihre Zahl unfaßbar ist; wenn auch derdritte Teil davon mit Luzifer in die Hölle stürzte (es heißt ja Offb 12,4,daß er bei seinem Sturz den dritten Teil der Sterne des Himmels, d. h.der Engelsgeister, mit sich riß), so ist die Zahl jener, die treu blieben,dennoch so groß, daß sie nicht zu fassen ist. Über diese himmlischenGeister hinaus ist die Zahl der Seligen so groß, daß sie nicht gezähltwerden können. Was meint ihr denn, wie viele Heilige es seit der Er-schaffung der Welt bis jetzt gibt? Das kann man nicht sagen. Der hl.Hieronymus spricht von der Zahl der Heiligen, die im Himmel sind,und sagt: wenn die Kirche für alle Märtyrer ein Fest feiern wollte, gäbees jeden Tag des Jahres 700, von denen man sicher weiß, daß sie gemar-tert wurden; doch wie viele gab es, die man nicht kennt! Und wenn esso viele Märtyrer gibt, wie viele Kirchenlehrer, Bekenner und anderemuß es dann geben? Ihre Zahl ist unaussprechlich. Deshalb feiern wirheute das Fest aller im allgemeinen, nicht nur der Heiligen, sondernauch der Serafim, der Kerubim und aller Engel, die sich dieser Herr-lichkeit erfreuen und Gott preisen für die Gnaden, die er den Seligenerwiesen hat, die wir feiern. Die Kirche nimmt an dieser Freude teilund lädt uns ein, uns dieses Festes zu freuen und den Sohn Gottes andiesem Tag ob der Heiligen zu preisen.

Um uns nun in der rechten Weise zu freuen und auf die Absicht derKirche einzugehen, müssen wir gegen die Heiligen im Himmel dieLiebe des Wohlgefallens und des Wohlwollens üben, da wir das leichttun können. Wenn wir das himmlische Jerusalem betrachten und inihm die heiligen Seelen sehen, die sich so großer Glorie und Seligkeiterfreuen, fern den Gefahren dieser Welt, in denen wir Sterblichen nochsind, dann müssen wir Akte des Wohlgefallens hervorbringen, uns überihre Glorie und Seligkeit freuen und daran Wohlgefallen haben, als

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wenn wir selbst uns ihrer erfreuten. Dieses Wohlgefallen bewirkt dieGemeinschaft der Heiligen, denn in dem Maß, in dem wir Wohlgefal-len an den Gütern haben, die sie besitzen, werden wir ihrer teilhaft.Das Wohlgefallen hat ja die Macht, das Geliebte an sich zu ziehen undsich zu eigen zu machen. Wir sehen ja tatsächlich, daß jemand dereinen anderen mit dieser Liebe liebt, das Gute an sich zieht, das sich inihm findet, denn es ist unmöglich, in dieser Weise zu lieben, ohne dieTeilnahme und Gemeinschaft mit den Gütern derjenigen zu haben,die man liebt.

Die Seligen lieben Unseren Herrn; auch der Himmel ist erfüllt vondieser Liebe des Wohlgefallens; sie ist die hauptsächliche Ursacheihrer Seligkeit. Da sie die Hoheit und Vollkommenheit Gottes undalle göttlichen Attribute in ihm klar erkennen, lieben sie ihn überausmit dieser Liebe des Wohlgefallens und eignen sich auf diese Weiseseine Vollkommenheiten an. Ich habe gesagt, die Liebe des Wohlge-fallens ist die hauptsächliche Ursache der Seligkeit der Heiligen, dennbei allem Respekt vor denen, die gegenteiliger Ansicht sind, glaubeich, daß die hauptsächliche Ursache der Glorie der Seligen nicht imVerstand liegt, mit dem sie Gott sehen und erkennen, sondern im Wil-len, durch den sie ihn mit dieser Liebe des Wohlgefallens lieben; undich halte dafür, daß darin ihre Seligkeit besteht. Auf gleiche Weiseverwirklicht sich auch die Liebe des Wohlgefallens gegen die Heili-gen.

Auch die Liebe des Wohlwollens gegen sie kann sich ohne Schwie-rigkeit verwirklichen. Denn obwohl sie alle gesättigt und zufriedensind in der Seligkeit, die sie besitzen, und obwohl wir ihre wesentlicheGlorie nicht vermehren können, die darin besteht, Gott von Angesichtzu Angesicht zu sehen (1 Kor 13,12) und vollkommen zu lieben, kön-nen wir doch eine Vermehrung der akzidentellen Glorie bewirkenund folglich die Liebe des Wohlwollens üben. Wir können für sie dieGüter wünschen und ersehnen, die sie noch nicht besitzen, d. h. dieAuferstehung des Fleisches, die Wiedervereinigung mit ihrem Leib,denn in dieser Wiedervereinigung besteht ein Teil ihrer Glorie; nichtzwar der wesentlichen, die der Seele eigen ist, denn sie wird durch dieAuferstehung des Fleisches nicht vermehrt, wohl aber der akzidentel-len, die dem Leib ebenso zukommt wie der Seele.

Die Seelen der Heiligen genießen im Himmel die wesentliche undakzidentelle Glorie, so daß sie befriedigt sind und nichts wünschenkönnen, was sie nicht schon besitzen, außer mit ihrem Leib wiedervereinigt zu werden. Deshalb sehnen sie sich stets nach dieser Wieder-

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vereinigung, die ihre akzidentelle Glorie abschließen und vollendenwird. Die Heiligen sind Menschen wie wir, bestehend aus Seele undLeib. Um ein ganzer Mensch zu sein, muß man eine Seele und einenLeib haben; und obwohl die Seele den Menschen ausmacht, hat Gottsie dennoch bei der Erschaffung mit einem Leib ausgestattet. Wir sa-gen daher, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht; und obwohl sieder Tod voneinander trennt, der durch die Sünde in die Welt gekommenist (Röm 5,12), hoffen wir doch und glauben „an die Auferstehung desFleisches“, durch die unser armseliger Leib mit unserer Seele verei-nigt und durch diese Wiedervereinigung an ihrer Glorie und Seligkeitoder an ihrer Pein in der ewigen Verdammnis teilhaben wird.

Die Kirche übt also an diesem Tag die Liebe des Wohlgefallens unddes Wohlwollens gegen die Heiligen. Sie freut sich über die Glorie,die sie schon besitzen, beglückwünscht sie und ruft ihre Kinder zumWohlgefallen daran auf und dazu, Gott zu verherrlichen, der sie gehei-ligt hat. Sie macht auch Akte des Wohlwollens, da sie ihnen die Aufer-stehung des Fleisches wünscht; wir sehen ja, daß sie darum in so vielenPsalmen und Liedern bittet, die der Heiligen Schrift entnommen sind.Sie will aber auch, daß alle ihre Kinder sie wünschen und darum bit-ten. Das tun wir jeden Tag im Gebet des Herrn oder Vaterunser; darinwünschen wir den Heiligen diese Auferstehung. Was bedeuten denndie Worte (Mt 6,20): Dein Reich komme zu uns, wenn nicht, daß wirunseren Wunsch nach der Wiedervereinigung der Seelen mit ihremLeib vortragen? So als wollten wir sagen: Herr, dein Reich ist schongekommen, es ist für die Heiligen bereitet, es ist für alle bereitet; undnicht nur für alle jene, die heilig sind, sondern auch für jene, die esnicht sind. (Gott wünscht alle zu retten: 1 Tim 2,4. Es ist an uns, vonder Freiheit Gebrauch zu machen, die uns gegeben wurde, das Para-dies zu wählen oder nicht. Das hängt von uns ab. Gott gibt uns hinrei-chende Gnade, dahin zu gelangen, wenn wir es wünschen.) Dein Reichkomme zu uns. Es ist schon gekommen zu den Heiligen, d. h. zu denglorreichen Seelen, die im Himmel sind. Was uns betrifft, die wir aufErden sind, ist es auch bereits zu uns gekommen. Herr, du hast uns jadie Wahl und Entscheidung darüber gelassen, und die Gerechten be-sitzen es bereits durch das Verlangen und die Hoffnung. Aber deinReich komme zu uns, d. h. jenes Reich, das du geschaffen hast für dieSeelen und die Leiber. Möge die Auferstehung des Fleisches gesche-hen, denn die Heiligen haben ihren Leib noch auf Erden, folglich sindsie noch nicht vollkommen verherrlicht. Deshalb bitten wir um dieallgemeine Auferstehung, nach ihr sehnen sich jene, die im Himmelsind, und wir Sterblichen.

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Außer diesen Akten des Wohlwollens, das wir gegen die Heiligenhegen, gibt es noch zwei andere, die unmittelbar von unserer Mitwir-kung abhängen; durch sie können wir ihren Wünschen entsprechenund ihnen eine akzidentelle Glorie verschaffen, die sie sonst nichthaben. 1. Die Heiligen loben und verherrlichen Gott ohne Rast undUnterbrechung. Sie singen unablässig und unermüdlich einen unun-terbrochenen Lobgesang. Sie preisen Gott mit einer Freude und ei-nem Wohlgefallen voll unvergleichlicher Lieblichkeit; sie eifern undspornen sich gegenseitig an, ihn stets zu verherrlichen, aber mit einemmilden, ruhigen Verlangen, das sie vollkommen befriedigt. Sie lobenGott in sich selbst und weil er Gott ist, wegen der Vorzüge, die er insich und an sich hat, an deren Schau sie ein vollkommenes Wohlgefal-len haben. Sie loben ihn auch dafür, daß er sie zu Heiligen gemachthat; sie anerkennen, daß ihre Heiligkeit von ihm ausgeht als von ihremPrinzip und ihrer tiefsten Ursache, und geben ihm dafür alle Ehre.Dann beglückwünschen sie sich gegenseitig, daß sie selig sind undGott sie geheiligt hat. Sie empfinden eine einmalige Freude, wenn siesehen, wie er sie die Wirkungen seiner großen, grenzenlosen Barm-herzigkeit erfahren ließ.

Nun lieben uns die Heiligen überaus und wünschen, daß wir hier aufErden tun, was sie im Himmel tun, d. h. daß wir unablässig und im-merwährend Gott loben. Doch wenn wir sagen, sie wünschen, daß wirden Herrn wie sie loben, darf man das nicht so verstehen, daß das inallem und ganz geschieht. Sie preisen ihn ja ohne Unterlaß, unermüd-lich und ohne Unterbrechung, und sie wissen wohl, daß wir das infolgeder Schwachheit unserer Natur nicht zu tun vermögen. Obwohl derLobpreis, den wir Gott weihen, stetig und unveränderlich sein muß,wird es doch mit mancher Pause sein. Es gibt ja keinen Menschen, soheilig er sein mag, der zu behaupten wagte, sein Wille sei mit demWillen Gottes so eng verbunden, daß er nicht einen Augenblick vonihm getrennt oder durch irgendeinen Vorfall dieses Lebens abgelenktwerden könnte, noch daß einer sein Herz so aufmerksam auf das LobGottes halten könnte, daß es keinerlei Unterbrechung in der Übungder Liebe und des Lobpreises gäbe, die ihm gebühren.

Es gibt zahlreiche Stellen und Sätze in der Heiligen Schrift, die dasvon uns zu verlangen scheinen. Die einen sagen: Lobt Gott immerwäh-rend (vgl. Ps 34,1; 35,28); an anderen Stellen: Gott werde Tag undNacht gepriesen (vgl. Ps 1,2; 19,3; 42,9); das muß man aber so verste-hen. Die Kirche erwartet ebenso wie die Heiligen nicht, daß wir denHerrn immer ohne Unterbrechung loben, noch weniger, daß wir dieganzen Nächte und den ganzen Tag im Gebet verbringen; „stets“ be-

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deutet vielmehr, daß wir es verrichten, sooft wir können, daß wir unserHerz oft zu ihm erheben, daß wir ihn einige Zeit der Nacht und desTages preisen, wie es in der Kirche geschieht. Zu allen Stunden desTages und der Nacht gibt es Menschen, die Gott loben und verherrli-chen.

Die Heiligen wünschen also, daß wir auf Erden Gott verherrlichen,wie sie es im Himmel tun, allerdings entsprechend unserer Verfassungund der Reichweite unseres Geistes; daß wir singen und wünschen,alle möchten mit ihnen singen: Heilig, Heilig, Heilig (Jes 6,3; Offb 4,8),und alle möchten ihren Wünschen entsprechen. Wenn wir nun solcheWünsche haben, bewirken wir ihnen eine akzidentelle Glorie; die hät-ten sie nicht, wenn wir Gott nicht verherrlichen und wenn wir nichtwünschen, daß alle es tun. Nachdem wir aber diesem Wunsch der Hei-ligen entsprochen haben, uns den Herrn preisen zu sehen, müssen wirauch sie selbst beglückwünschen, daß sie Heilige sind, und Gott inihnen preisen. Die heilige Kirche tut dasselbe, wenn sie ihre Festefeiert: sie preist Gott in ihnen (vgl. Ps 150,1). Wer nämlich das Festaller Heiligen zu ihrer Ehre feiern wollte und nicht zur Ehre Gottes,der täte nichts, was Gott und auch den Heiligen selbst wohlgefällig ist,weil sie keine Ehrung annehmen können, wenn sie nicht den Herrn inihnen und sie in ihm verherrlicht sehen.

Ein weiterer Akt des Wohlwollens, das wir den Heiligen gegenüberüben können, besteht darin, ihrem Verlangen zu entsprechen, daß wirHeilige werden wie sie. Wenn wir diesem Wunsch entsprechen, ver-schaffen wir ihnen eine Vermehrung der Glorie. Wenn wir trachten,uns mehr und mehr zu vervollkommnen, die Heiligung anderer zufördern, indem wir unsererseits alles dazu beitragen, was wir können,wenn wir wünschen, alle möchten Gott loben und preisen, da alle estun können und müssen, daß alle Heilige werden, da alle es sein kön-nen, dann verschaffen wir den Seligen eine akzidentelle Glorie, die siesonst nicht haben. So also verwirklicht sich die Gemeinschaft derHeiligen durch die Liebe des Wohlgefallens und des Wohlwollens.

Es gibt noch eine andere Liebe, das ist die Liebe der Nachahmung.Dazu ist es notwendig, daß man Sympathie mit denen hat, die manliebt. Doch was bedeutet Sympathie? Die Weltleute verstehen das gut,doch ihr, die ihr nicht von der Welt seid, werdet es vielleicht nichtverstehen, wenn ich es euch nicht sage. Die Sympathie ist eine gewisseTeilnahme an den Leidenschaften jener, die wir lieben. Die Liebe derNachahmung bewirkt, daß wir in uns die Tugenden oder Laster anneh-men, die wir an ihnen sehen. Die Sympathie bewirkt, daß der Zornigeeine Zuneigung zum Zornigen hat, der Stolze und Anmaßende zum

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Stolzen und Anmaßenden. Die Leidenschaft der Liebe ist die ersteund stärkste in der Seele; daher kommt es, daß die Liebe uns derma-ßen zu eigen macht, was wir lieben, daß wir allgemein sagen, die Güterder geliebten Sache gehören mehr dem Liebenden als dem, der siebesitzt. Das also ist Sympathie.

Sie ist die Ursache, daß viele Weltleute große Schwierigkeiten ha-ben, bestimmte Laster abzulegen, denen sie unterworfen sind. Sagteinem, es sei ratsam, daß er sich vom Zorn oder vom Stolz bessereoder daß er einen Ehrbegriff aufgebe, in den er so vernarrt ist, daß ersogleich aufbraust, wenn man an sein Ansehen rührt (das ist etwas,worauf die Menschen dermaßen eifersüchtig bedacht sind, daß esscheint, sie seien nur dazu geboren, sich Achtung, Lob und Liebe zuverschaffen; so verwendet man auch seine erste Sorge darauf, Ehrun-gen und Ansehen bei allen zu gewinnen). Sagt also solchen Leuten,man müsse etwas gegen dieses Laster tun; was wird man euch antwor-ten? Das liegt in meiner Art, das ist die Sympathie mit meinem Vater;er war jähzornig und liebte die Ehre wie ich. Eine schöne Begründung!Das ist, als sagte dir einer: Dein Vater war dumm, du mußt es also auchsein, denn daran wird man erkennen, daß du mit ihm verwandt bist.

Wenn wir auch gesagt haben, daß diese Liebe der Nachahmung voneiner gewissen inneren Verwandtschaft miteinander kommt, darf mandennoch nicht meinen, daß sich solche, die nach menschlicher Ehreund nach Ruhm streben, jenen besser angleichen, die jähzornig undstolz sind, als solchen, die es nicht sind. O nein, denn die Ehrgeizigenwetteifern stets, wer von ihnen mehr Ehre und anderes dergleichenhabe, denn jeder möchte seinen Nebenmann übertreffen. Sie sind sichaber ähnlich und man sagt tatsächlich: Die zwei Menschen sind einerso jähzornig wie der andere; und sie begegnen sich gern und ergreifendie Gelegenheit, um ihre Tapferkeit zu zeigen, sich zu übertreffen. Sospricht die Welt.

Daß uns die Liebe denen ähnlich macht, die wir lieben, das ließesich nun an tausend Beispielen zeigen. Die Väter lieben ihre Kinder,ganz besonders aber, wenn sie ihnen gleichen oder irgendeinem ihrerVorfahren. Sie betrachten sich in ihnen wie in einem Spiegel und ge-fallen sich darin, in ihnen ihre Art, ihre Gesichtszüge und ihre Hal-tung verkörpert zu sehen. Die Griechen liebten ihren Kaiser so sehr,daß sie wünschten, ihre Kinder möchten seiner Person gleichen; des-halb trachteten sie, ihr Aussehen, wenn sie zur Welt kamen, soviel alsmöglich dem ihres Kaisers anzugleichen.

Um also das Fest der Heiligen recht zu feiern, muß man sie liebenmit einer Liebe der Nachahmung, des Wohlgefallens und des Wohl-

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wollens. Durch die Liebe der Nachahmung machen wir uns ihnen ähn-lich, indem wir ihr Leben nachahmen, indem wir lieben, was sie ge-liebt haben, tun, was sie taten, und auf dem Weg zum Himmel zugehen trachten, dem sie gefolgt sind, um dahin zu gelangen. Das stelltuns die Kirche heute vor Augen, wenn sie uns im Evangelium derheiligen Messe die Rede vorträgt, die Unser Herr auf dem Berg gehal-ten hat (Mt 5,1-12), in der er von acht Seligkeiten spricht. Darin heißtes, daß er sich setzte, seinen Mund auftat und sprach: Selig sind dieArmen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; selig sind die Sanft-mütigen; selig, die weinen; selig, die verfolgt werden um der Gerechtig-keit willen, denn ihrer ist das Himmelreich, und so die übrigen. Nunbemerkt das Evangelium nicht ohne Grund, daß er seinen heiligenMund auftat, um uns zu zeigen, daß seine göttliche Güte uns etwasGroßes sagen und eine Lehre verkünden wollte, die man noch nichtvernommen hatte. Er wandte sich an die Apostel, um deutlich zu ma-chen, daß er vor allem für sie und ihre Nachfolger die erste und dieletzte Seligkeit verkündete: Selig die Armen im Geiste, selig, die ver-folgt werden um der Gerechtigkeit willen. Sie müssen ja diese Armut inbesonderer Weise üben und viele Verfolgungen erleiden als Menschen,die Unserem Herrn in besonderer Weise angehören. Dann schaute erdas übrige Volk an und sagt: Selig, die weinen, die hungern und dürstennach Gerechtigkeit, die rein und lauter von Herzen sind. Damit zeigt er,daß diese evangelischen Räte nicht nur für die Apostel gelten, sondernfür alle, da alle Buße tun müssen, alle rein und lauter von Herzen seinmüssen. Schließlich: selig die Sanftmütigen.

Von diesen Seligkeiten haben nun die Menschen tausend Auslegun-gen gemacht. Die einen meinten, wenn der Heiland sagt: Selig die Ar-men im Geiste, wollte er von denen sprechen, die einfältig sind undkaum Intelligenz besitzen. Ich leugne nicht, daß solche Leute leichtglücklich sind; trotzdem hat Jesus Christus nicht in diesem Sinn ver-kündet: Selig die Armen im Geiste. Er wollte vielmehr von der Armutsprechen, die er selbst übte und die jene übten, die alles aufgegebenund freiwillig alle Unbequemlichkeiten auf sich genommen haben,die daraus folgen. Davon ist weit entfernt, wer keinen Mangel leidenwill und die Ehre beansprucht, arm zu sein, obwohl ihm nichts man-gelt. Die Armut ist ehrenwert, und es gab sogar heidnische Philoso-phen wie Sokrates und Epiktet, die sich rühmten, arm zu sein. Manchewollen die Armut wählen, weil sie alles haben, was sie brauchen. Dassind aber nicht die Armen im Geiste, von denen Unser Herr spricht,denen er das Himmelreich verspricht.

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Nachdem unser göttlicher Meister diese Seligkeiten verkündete, hatdie Welt andere verkündet und hat gesagt: Glückselig die Reichen,denn der Reichtum bewirkt, daß man nichts nötig hat, daß man geehrtwird, daß man die Prozesse gewinnt. Mit einem Wort, die Reichensind glücklich, denn sie brauchen niemand und jeder ist von ihnenabhängig. Glücklich jene, die keine Barmherzigkeit üben, die hüten,was sie haben, ohne sich darum zu kümmern, den Armen zu dienen,sondern nur darauf bedacht sind, Besitz auf Besitz zu häufen und nie-mand etwas zu geben, aus Furcht, ihn zu vermindern. Glücklich jene,die nicht weinen, sondern sich ergötzen und Kurzweil haben, dennTränen sind langweilig. Selig, die sich rächen. Kurz der Weltgeist stehtganz im Gegensatz zum Geist Gottes. Aber die Apostel und jene, diesie genau nachahmten, haben die Armut im Geiste im Sinn UnseresHerrn geübt, denn sie haben alles verlassen, um ihm nachzufolgen (Mt19,27), und haben viel Ungemach ertragen, das den Armen gewöhn-lich zustößt. Nach der Herabkunft des Heiligen Geistes zogen sie aus,um das Evangelium zu verkünden; doch das geschah nicht, um Geldzu verdienen, Bezüge und Einkünfte, sondern sie lebten von Almosen,die sie von einem Tag zum anderen bettelten. Der hl. Paulinus, Bischofvon Nola, gab nach dem Beispiel des hl. Paulus alles, was er besaß, denArmen, und nicht zufrieden damit, gab er sich selbst hin, um die Ge-fangenen loszukaufen.

Und wie groß war die Armut des großen Apostels! Nachdem er ausLiebe zu seinem Meister alles verlassen hatte, wollte er den Korin-thern und anderen umsonst dienen. Nachdem er gepredigt, für dasEvangelium und, um den Weg zum Heil zu zeigen, Schweiß vergossenund gelitten hatte, wollte er in der Tat nicht von den Almosen derChristen leben, sondern von der Arbeit seiner Hände und im Schweißseines Angesichts; er arbeitete ja, um seinen Lebensunterhalt zu ver-dienen, und sagte: Um zu zeigen, wie sehr ich meinen Meister liebe,dem zuliebe ich euch diene, und daß ich die Mühe nicht auf michnehme, um mich an euren Mitteln zu bereichern, sondern rein ausLiebe zu Ihm, dem ich diene, will ich nicht, nachdem ich euch zueurem Heil verholfen habe, daß ihr mich mit euren Almosen ernährt,wie ihr es bei den anderen Aposteln getan habt; ich will vielmehrmeinen Lebensunterhalt im Schweiß meines Angesichts verdienen undeuch umsonst dienen und euch auf diese Weise alles geben, was ichhabe. Er sagt, alles, was ich habe, denn was er verdiente, gehörte ihm.Trotzdem legte er nichts davon in die Sparbüchse, sondern verwendetees nur für seinen Unterhalt. Er ging noch weiter und wollte selbstgeopfert werden (2 Kor 12,15). Ich will mich nicht nur selbst für euer

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Heil aufopfern, sagte er, sondern was mehr ist, ich will mich durchandere opfern und verkaufen lassen. Ich will mich z. B. nicht nur gei-ßeln, sondern will es leiden, daß andere mich geißeln. Wenn ich michnämlich ganz allein geißelte, läge es in meiner Macht, sobald ich ge-nug davon habe, aufzuhören und nicht weiter zu gehen; wenn ich michaber von anderen nach ihrem Belieben geißeln lasse, werden sie nichtzu schlagen aufhören, wenn ich schon ganz zerschlagen bin. Ich willalso für euer Heil, meine lieben Kinder, geschlagen, gegeißelt, gefes-selt und eingekerkert werden, nicht durch mich selbst, sondern durchdie anderen und nach ihrem Belieben. So gebe ich alles für euch, wasich habe, ohne meinen Leib und meine Haut auszunehmen.

Das ist eine vollendete Armut; sie ist von der Art, von der UnserHerr gesagt hat: Selig die Armen im Geiste. Viele Heilige haben siesehr genau geübt und haben sich ihr so liebevoll gewidmet, daß siefreudig die Beschwerden und Unbilden erlitten, die sie begleiten. Wasmeint ihr denn, was unsere frühen Väter mit solcher Sanftmut dieHärte der Wüste ertragen ließ, daß es ihnen als Kleinigkeit erschien,wenn nicht diese Armut, die sie so zärtlich liebten wie sonst nichts?War nicht der hl. Franziskus in sie so verliebt wie ein junger Mann inseine Braut, die er glühend liebt? So nannte er sie auch seine Frau undwar stets auf sie bedacht, um ihre Unbilden zu erleiden und an ihnenseine Wonne zu haben. Alle Heiligen sind in den Himmel gekommendurch die Armut im Geiste, durch Tränen, durch die Barmherzigkeit,durch Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und andere Seligkeiten.Daher legt uns die Kirche an ihrem Festtag diese Seligkeiten vor undlädt uns ein, ihnen zu folgen und in ihre Fußstapfen zu treten. Bemühteuch also treu in diesem Leben, meine lieben Töchter, und seid be-harrlich bis ans Ende (Mt 10,22; 24,13), damit ihr mit den seligenGeistern in dieser Seligkeit versammelt und vereinigt werden könnt,um Gott zu lieben und euch die ganze Ewigkeit seiner zu erfreuen.Amen.

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Zum 2. Sonntag nach EpiphanieZum 2. Sonntag nach EpiphanieZum 2. Sonntag nach EpiphanieZum 2. Sonntag nach EpiphanieZum 2. Sonntag nach Epiphanie

Nr. 43: 17. Januar 1621 X,1-17

Heute lesen wir in der Messe zwei Evangelien: das eine von denBekennern (Lk 12,35-40), das andere vom ersten Wunder, das UnserHerr bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa wirkte (Joh 2,1-11); überdieses will ich in der kleinen Predigt sprechen. Über den hl. Antoniuszu sprechen, würde sich nämlich nicht gut machen, denn über ihnwurde in der großen Predigt hervorragend gesprochen, in der fast allesgesagt wurde, was man über ihn sagen kann. Ich werde mich also aufdas zweite beschränken, wo des ersten Wunders oder nach dem hl.Johannes des ersten Zeichens gedacht wird, das Unser Herr wirkte,um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Wir werden vor allem die Ursa-che des Wunders sehen, d. h. wie es gewirkt wurde, an zweiter Stelle,durch wen es gewirkt wurde und welche Menschen sich dabei einge-schaltet haben. Der Evangelist erklärt, daß dies das erste Zeichen war,das Jesus wirkte, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Ich weiß indesgar wohl, daß einige Theologen Gründe und Gegengründe vorbrin-gen, um zu zeigen, daß dieses Wunder nicht das erste gewesen sei, dasUnser Herr wirkte. Aber nicht nur der hl. Johannes bestätigt das, son-dern auch der hl. Ambrosius; und die Mehrzahl der alten Kirchenvä-ter hält an dieser Meinung fest. Deshalb halten wir uns an sie undfolgen ihr. Um nun die Auffassung des hl. Ambrosius und der anderenKirchenväter besser einzuführen, wollen wir vor allem zwei Schwie-rigkeiten ausräumen, die ihre Meinung weniger annehmbar machten;hernach werden wir eine Erwägung zur Festigung unseres Glaubensanstellen.

Sagen wir zunächst, daß dieses Wunder das erste Zeichen war, dasder Heiland selbst gab, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Es istwahr, daß einige Wunderwerke vor diesem geschahen, die einen durchUnseren Herrn, andere an Unserem Herrn, die übrigen vor der An-kunft Unseres Herrn, wie jenes der Menschwerdung, die das größtevon allen und das Wunder der Wunder ist. Aber dieses Wunder warunsichtbar, geheim und verborgen; sie war ein so erhabenes Werk, daßes unendlich alles überragt, was die Engel und Erzengel davon begrei-fen können. Folglich war sie kein Zeichen, das die Herrlichkeit Got-tes offenbarte wie jenes, das bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa ge-schah, wie der Evangelist sagt. Das überaus erhabene Geheimnis derMenschwerdung ist so tief, daß es dem Geist der Heiden und alten

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Philosophen nicht einging und nicht eingehen konnte. Ja selbst dieLehrer des mosaischen Gesetzes, die doch mit der Heiligen Schriftvertraut waren, vermochten es nicht zu begreifen, weil es unsichtbarund so erhaben war, daß es jeden Verstand der Menschen und Engelübersteigt. Wir glauben zwar in diesem sterblichen Leben daran, weiles der Glaube uns lehrt, im Himmel aber werden wir es sehen, und daswird ein Teil unserer ewigen Glückseligkeit sein. In der Menschwer-dung ereigneten sich noch andere Wunder; deren größtes ist, daß dasgöttliche Wort von einer Frau empfangen und geboren wurde und daßdiese Frau zugleich Jungfrau und Mutter war. Die Geburt des Erlösersbegleiteten mehrere Wunder, so das Erscheinen des Sterns, der dieMagier des Orients führte (Mt 2,1f). Aber obwohl diese Zeichen ge-schahen, um die Herrlichkeit Unseres Herrn zu offenbaren, war nichter es, der sie wirkte, sondern der Vater und der Heilige Geist wirktensie für ihn. Ich weiß wohl, daß er sie wirkte, insofern er Gott ist; dennwas der Vater tut, bewirken ebenso der Sohn und der Heilige Geist;aber das Wunder von Kana wirkt der Sohn im besonderen.

Zweitens muß erklärt werden, was die alten Väter vorbringen, daßnämlich unser göttlicher Heiland mehrere Wunder wirkte, während erin Ägypten weilte, und selbst im Haus seiner Eltern (das ist glaubwür-dig, denn verschiedene Geschichten sind davon voll). Die waren abersehr geheim und unsichtbar, weil Unser Herr zu der Zeit nicht be-kannt war. Wenn er auch deren eine große Zahl wirkte, war doch dasZeichen von Kana in Galiläa, von dem der Evangelist berichtete, wirk-lich das erste, das geschah, um seine Herrlichkeit zu offenbaren.

Welche Erwägung aber können wir davon ableiten zur Stärkung un-seres Glaubens? Seht, dieses erste Wunder geschah durch die Ver-wandlung des Wassers in Wein, genau wie das letzte Wunder, das JesusChristus in seinem Erdenleben wirkte, die Verwandlung des Weins insein Blut im allerheiligsten Sakrament der Eucharistie war. Wir, diedas Wort Gottes verkünden, sind nun verpflichtet, euch zu jedem Ge-heimnis zu sagen, was zur Festigung unseres Glaubens dienen kann,wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, wie hier über das der Euchari-stie. Dies nicht, um euch zu belehren, denn ihr glaubt daran hinrei-chend; nicht um euren Glauben zu stärken oder zu bestätigen, dennihr würdet sterben, um an dieser Wahrheit festzuhalten, sondern umeuer Herz zu erfreuen und eine gewisse Wonne in ihm zu bewirken,die man empfindet, wenn man von diesem großen Geheimnis spricht.

Unser Herr ist der Erste, das Alpha und Omega, d. h. der Anfang unddas Ende aller Dinge. Wenn deshalb die Ägypter die Gottheit darstel-

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len und irgendwie begreiflich machen wollten, malten sie eine Schlan-ge, die sich in den Schwanz beißt. Dadurch bildete sie einen Kreis undman konnte an ihr keinen Anfang und kein Ende sehen; ihr Kopf, derden Anfang bildet, berührt das Ende, den Schwanz. So ist Unser Herrvon aller Ewigkeit der Anfang aller Dinge und wird in alle Ewigkeitihr Ziel sein. Beachtet, wie er stets sowohl den Anfang als das Endemachte, und die wunderbare Beziehung, die zwischen den beiden be-steht. Als Gott den Adam erschuf, gab er das erste Zeichen dieserSchöpfung, indem er den Lehm der Erde in den Leib des Menschenverwandelte. Als Jesus Christus ihn wiederherstellte, war ebenso daserste Zeichen dieser Neuschöpfung die Verwandlung einer Substanzin eine andere, die Verwandlung des Wassers in Wein. Der Erlöserkam ja, um den Menschen wiederherzustellen, denn er war verloren.Ich bin gekommen, sagt er, um einen neuen Menschen zu schaffen.Der Mensch war ja durch die Sünde so zugerichtet, daß nicht mehr zuerkennen war, was er bei seiner Erschaffung gewesen ist. Als daherUnser Herr kam, um ihn zu erneuern, begann diese Neuschöpfung so,wie er die Erschaffung vollzogen hatte. Beachtet in der Tat die wun-derbare Beziehung. Wie wir bereits angedeutet haben, hat Gott bei derErschaffung des Menschen die Erde in menschliches Fleisch verwan-delt und eine wundervolle Umwandlung bewirkt. Denn nachdem ergesagt hatte: Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild undGleichnis, nahm er Ton und formte daraus einen Leib, der nun nichtsanderes war als ein Erdklumpen. Dann hauchte er diesen Leib an, undda wurde diese Masse in Fleisch und Blut verwandelt, d. h. es wurdeein lebendiger Mensch daraus (Gen 1,26f; 2,7). So begann Unser Herrauch bei der Neuschöpfung mit der Verwandlung des Wassers in Wein,indem er ein Zeichen gab, um seine Herrlichkeit zu offenbaren.

Diese Beziehung zeigte er stets in all seinen Werken. Wenn wir ihnnämlich seit seinem Eintritt in diese Welt beobachten, werden wirsehen, daß er ganz nackt aus dem Schoß seiner Mutter hervorging.Nach den Offenbarungen der hl. Birgitta sah ihn die allerseligste Jung-frau so vor ihren Augen, als sie die hochgebenedeite Frucht ohne Müheund ohne Beeinträchtigung ihrer Jungfräulichkeit geboren hatte. Siewar in einer sanften, liebevollen und süßen Beschauung, als der Erlö-ser, ohne daß sie es wahrnahm, aus ihrem Schoß hervorging. Als sieaber zu sich kam, sah sie ihn ganz nackt, sie nahm ihn und wickelte ihnin Windeln und kleine Tücher. Er wollte die Welt verlassen, wie er insie gekommen war; er starb ganz nackt am Stamm des Kreuzes. Nachseinem Tod wurde er abgenommen, dann ließ er sich in Tücher einhül-len, wie er es bei seiner Geburt getan hatte. Er kam weinend zur Welt

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wie die übrigen Kinder, die alle so ankommen; denn man hat nie einesvon ihnen gesehen, das nicht weinend geboren wäre, außer Zoroaster,ein sehr böser Mensch, „der bei seiner Geburt zu lachen begann“(Plinius). Unser Herr aber wurde nicht lachend geboren, sondern wei-nend und seufzend, wie eine Stelle der Heiligen Schrift bestätigt, dieman gut auf ihn anwenden kann, obwohl diese Stelle Salomo betrifft,der von sich sagt: Obwohl ein großer und bewundernswerter König,bin ich doch weinend und seufzend auf Erden geboren wie die anderenKinder (Weish 7,3). Ebenso wollte unser wahrer Salomo, obwohl erals erhabener König auf Erden geboren wurde, weinend geboren wer-den; folglich ist er auch weinend gestorben.

Er wollte das Evangelium einleiten durch dieses erste Wunder derVerwandlung und Umwandlung des Wassers in Wein; er wollte auchseine Predigten beschließen mit der Verwandlung von Wein in Blut.Er hat das erste Wunder bei einem Festmahl gewirkt; er wirkte dasletzte, das der Eucharistie bei einem anderen Mahl. Er verwandeltedas Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa; beim letztenAbendmahl, das wie die Hochzeit dieses heiligen Bräutigams war, ver-wandelte er das Brot in seinen Leib und den Wein in sein Blut. Aufdiese Weise begann er mit dieser Verwandlung seine Hochzeit zu fei-ern, die er am Stamm des Kreuzes vollendet hat, denn der Tod desErlösers war sein Hochzeitstag (vgl. Hld 3,11).

Mit einem Wort, sein erstes Wunder war die Verwandlung des Was-sers in Wein, das letzte, das er vor seinem Tod wirkte, war die Einset-zung der Eucharistie, in der er wahrhaft und wirklich gegenwärtig ist.Wir glauben an diese Wahrheit und an dieses Geheimnis, das mit demder Menschwerdung das größte und dunkelste ist. Weil es der Glaubeuns lehrt, glauben wir indes, daß Jesus im allerheiligsten Sakramentmit Leib und Seele enthalten ist. Der Apostel sagt (1 Kor 10,16; 11,24-27), daß der Christ genährt wird mit dem lebendigen Fleisch und demBlut des lebendigen Gottes; und das ist wahr. Und obwohl diese Wahr-heit unseren Sinnen widerstreitet, die nichts sehen können, glaubenwir dennoch daran und sogar mit um so mehr innerer Freude, je weni-ger unsere Sinne davon erkennen können. Da die göttliche Vorsehungsah, wie dunkel dieses heilige Geheimnis der Eucharistie ist, hat sieuns abertausend Beweise für diese Wahrheit gegeben an aberhundertStellen sowohl des Evangeliums als des Alten Testamentes. Unser Herrselbst hat davon so viele Erleuchtungen und Einsichten gegeben, daßes bewundernswert ist, was viele über diesen Gegenstand geschriebenhaben, die ihn so klar und verständlich behandeln, daß man ganz hin-

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gerissen ist, wenn man es hört und liest. Gewiß, wir müßten diesesgöttliche Sakrament jeden Tag hunderttausendmal anbeten als Dankfür die Liebe, mit der Gott unter uns weilt. Das ist die Erwägung, diewir zur Stärkung unseres Glaubens machen müssen.

Sehen wir nun, wie dieses Wunder gewirkt wurde. Dazu will ich euchden ganzen Bericht des Evangeliums wiedergeben. Zu Kana in Galiläafand eine Hochzeit statt, sagt der hl. Johannes. Das war ein kleinesStädtchen nahe bei Nazaret, wo die Verwandten der seligsten Jungfrauund folglich auch Unseres Herrn wohnten. Man feierte also eine Hoch-zeit, und der Heiland und seine Mutter waren dazu eingeladen. EinigeTheologen gefallen sich im Disput darüber, ob die Apostel eingeladenwaren oder nicht. Es ist eine köstliche Sache um die verschiedenenMeinungen, die es darüber gibt; aber lassen wir ihnen ihre Gründeund halten wir uns daran, was der Evangelist sagt. Einige frühere Kir-chenväter glauben übrigens, da Unser Herr und seine allerseligsteMutter eingeladen waren, seien auch die Apostel eingeladen gewesen.Der hl. Johannes sagt ganz klar: und seine Jünger; daran müssen wiruns halten. Man diskutiert darüber, ob das die Hochzeit des hl. Johan-nes war oder die eines anderen; aber lassen wir das, es ist unwichtig.Soviel steht fest, daß unser teurer Meister und Unsere liebe Frau ein-geladen waren. Sie gingen hin; aber wie? Es ist gewiß glaubwürdig, daßdie heilige Jungfrau am Vortag hinging, denn wenn eine Hochzeit ge-feiert wird, kommen die Frauen und die Verwandten nicht am Tagselbst, sondern schon am Vortag, und nicht nur, um empfangen zuwerden, sondern auch um die anderen Geladenen empfangen zu hel-fen und auf diese Weise der Braut Ehre zu erweisen. Man kann nunannehmen, daß die heilige Frau, die sehr demütig war, schon am Vor-tag hinging, um dem Bräutigam und der Braut diesen schönen Dienstzu erweisen.

Die Apostel gingen also zur Hochzeit; und da Unser Herr eingela-den war, lehnte er es nicht ab, sich dabei einzufinden; denn seht, er wargekommen, um den Menschen loszukaufen, zu erneuern und neu zuschaffen. Um das zu tun, wollte er nicht eine würdevolle, strenge undsteife Haltung annehmen, sondern vielmehr eine ganz sanfte, umgäng-liche und höfliche Umgangsform. Als er daher eingeladen wurde, ent-schuldigte er sich nicht, sondern ging hin und unterdrückte dadurchwirksam den Leichtsinn und die Ausschweifungen, die sich bei sol-chen Gelegenheiten gewöhnlich ergeben. Gewiß, die Hochzeiten, andenen Unser Herr und Unsere liebe Frau teilnehmen, sind sehr geord-net und man wahrt eine große Bescheidenheit. Aber die Hochzeiten

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dieser Zeit hier sind voller Ausschweifungen und erfüllt von Schwin-deleien, denn wie viele Lügen sagt man, wenn man eine Tochter ver-heiraten will! Sie ist so und so, sie erbt so viel; dieser junge Mann hatalle diese Voraussetzungen und Eigenschaften. Und auf das hin schließtman die Ehe, und wenn es geschehen ist, findet man, daß es nicht so ist,wie man gesagt hat. Dann kommen die Reue und die Vorwürfe von dereinen und der anderen Seite, aber es ist zu spät, denn nun ist es gesche-hen. Bei der Hochzeit von Kana war es nicht so, denn wo Unser Herrist, kann sich keine Lüge finden. Was meint ihr, wie sittsam diese Hoch-zeit war! Ohne Zweifel bewirkte die Anwesenheit des Heilands, daßman sich sehr zurückhielt.

Ich weiß nicht, wie es kam; jedenfalls ging der Wein aus. Die Dienerwaren darüber etwas erschrocken und aufgeregt, und als sie sahen, daßdie Flaschen leer wurden, begannen sie untereinander darüber zu re-den, während sie den Wein eingossen. Vielleicht kam es auf diese Weiseden Frauen zu Ohren; die waren untereinander uneinig, was man tunmüßte. Die allerseligste Jungfrau, ganz weise, klug und erfüllt vongroßer Liebe, fand einen bewundernswerten Ausweg, durch den siedieser Verlegenheit abhalf. Aber was will die heilige Frau tun? Sie hatja kein Geld, um Wein kaufen zu lassen. Ihr Sohn hat ebenso wie siekeines. Worauf beruht also ihre Hoffnung, dieser Not abzuhelfen? Siewußte gewiß, daß sie Ihn mitgebracht hat, der allmächtig ist und des-sen große Liebe und Barmherzigkeit sie kannte; durch sie würde erunfehlbar der Notlage dieser armen Leute abhelfen. Es ist in der Tatglaubwürdig, da es die Hochzeit armer Leute war; deshalb wurde Un-ser Herr dazu eingeladen. Das ist wahr, denn er verkehrte und ging sogern mit den Armen um, daß er sie stets bevorzugte. Er war gewöhn-lich bei ihnen. Er liebte die Armut überaus, selbst in den Palästen derKönige, und fand einmaliges Gefallen daran, sich dort aufzuhalten,wo die Armut herrscht. Wenn der teure Erlöser unserer Seelen Gefal-len daran hat, der Armut in den Häusern der Großen und bei Hochzei-ten zu begegnen, wie groß wird seine Befriedigung sein, sie in denKlöstern zu sehen, wo man das Gelübde macht, sie zu beobachten!Wie wird es ihm gefallen, hier Mangel im Überfluß zu sehen; ich willsagen, nicht Mangel am Notwendigen, daß man hier aber trotzdem desÜberflusses entbehrt. Das sei gesagt als ein kleines Wort der Unter-weisung, die ich euch nebenbei gebe.

Die seligste Jungfrau kam also zu ihrem Sohn, der allein ohne Gelddieser Notlage abhelfen konnte. Achtet ein wenig darauf, was dieallerseligste Jungfrau tut und sagt: Mein Herr, sie haben keinen Wein,

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als wollte sie sagen: Mein Herr und mein Sohn, diese Leute sind arm;und obwohl die Armut sehr liebenswert und dir sehr wohlgefällig ist,so ist sie an sich doch sehr beschämend, denn sie bringt den Armen oftarge Verachtung und Verlegenheit vor der Welt. Diese guten Leute, diedich eingeladen haben, werden in große Schande geraten, wenn duihnen nicht zu Hilfe kommst. Ich weiß aber, du bist allmächtig, duhast ihre Notlage vorausgesehen und wirst verhindern, daß sie in sol-che Schande und Verachtung fallen. Außerdem zweifle ich nicht andeiner Liebe und deinem Erbarmen. Erinnere dich an die Gastfreund-schaft, die sie uns durch die Einladung zu ihrem Fest erwiesen haben,und verschaffe ihnen bitte, was ihnen fehlt.

Die heilige Jungfrau brauchte indes keine so lange Rede zu halten,um ihrem Sohn die Notlage dieser Hochzeit zu schildern. Sehr klugund erfahren in der rechten Weise zu beten, bediente sie sich außer-dem der kürzesten aber erhabensten und vorzüglichsten Form des Ge-betes, die es gibt und geben kann, indem sie nur die paar Worte sagte:Mein Sohn und mein Herr, sie haben keinen Wein. Die heilige Jung-frau wollte damit sagen: Du bist so gütig und so liebevoll, du hast einHerz so mild und voll Erbarmen; bitte, laß dich also herab zu tun, umwas ich dich für die armen Leute bitte. Gewiß, ein ausgezeichnetesGebet, in dem die heilige Frau zu Unserem Herrn mit der größtenEhrfurcht und Demut spricht, die man sich vorstellen kann; sie wen-det sich nämlich an ihren Sohn nicht mit Selbstvertrauen, noch mitWorten voll Anmaßung, wie es viele unbescheidene und anmaßendeMenschen tun; vielmehr stellt sie ihm mit tiefster Demut die Notlagedieser Hochzeit vor und hält es für sicher, daß er ihr abhelfen wird,wie wir gleich sehen werden.

Es ist also ein sehr gutes Gebet, sich damit zu begnügen, UnseremHerrn seine Nöte vorzustellen, sie ihm vor Augen zu halten und ihnmachen zu lassen, in der Überzeugung, daß er uns entsprechend unse-ren Bedürfnissen erhören wird, indem man ihm, wenn man sich trok-ken, trostlos und mutlos fühlt, nach dem Beispiel der seligsten Jung-frau sagt: Herr, sieh mich arme Tochter, wie verzagt, bekümmert, vollTrockenheit und Dürre ich bin. Herr, sieh mich armen Menschen, denärmsten von allen Menschen und voll Sünde. Aber um was bittest du?Ach, um was bitte ich? Du weißt wohl, wessen ich bedarf. Es genügtmir, dir zu zeigen, was ich bin; es ist an dir, meinem Elend und meinenNöten so abzuhelfen, wie es dir gefallen wird.

Ich weiß dennoch gut, daß man Gott nicht nur um Geistliches bittenkann, sondern auch um Zeitliches. Es gibt keinen Zweifel, daß man

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das kann und darf, weil es Unser Herr selbst uns gelehrt hat. Im Gebetdes Herrn, das wir jeden Tag sprechen, bitten wir zuerst, daß das ReichGottes zu uns komme, als Ziel und Ende, nach dem wir ausschauen;dann, daß sein Wille geschehe, als das einzige Mittel, um uns zu dieserSeligkeit zu führen; darüber hinaus aber stellen wir noch eine andereBitte, nämlich, daß er uns unser tägliches Brot gebe (Mt 6,9-13; Lk11,2-4). Die heilige Kirche hat sogar besondere Gebete, um von Gottzeitliche Güter zu erbitten, denn sie hat eigene Gebete, um in Kriegs-zeiten den Frieden zu erbitten, in Zeiten der Trockenheit den Regenund in übermäßig langen Regenzeiten schönes Wetter; ja es gibt sogareigene Messen für Zeiten der Pest. Dadurch werden wir belehrt: esgibt keinen Zweifel und keine Schwierigkeit, daß man in seinen geist-lichen und zeitlichen Nöten bei Gott Hilfe suchen kann und darf.

Es gibt zwei Arten, Gott darum zu bitten: die eine in der Weise, wiees die seligste Jungfrau tat, die andere, ihn zu bitten, daß er uns diesoder jenes gebe oder daß er uns von einem bestimmten Übel befreie,jedesmal unter der Bedingung, daß dabei sein Wille geschehe, nichtder unsere (Lk 22,42). Doch gewöhnlich bitten wir nicht so. Ihr sehteinen Menschen ganz in Andacht versunken, der in all seinen Gebetenum große Wonnen bittet. Was begehrst du, meine liebe Tochter? Ichbitte um Tröstungen. Ja, das ist gut. Aber ich bitte auch um die Demut,denn ich bin nicht demütig, sehe aber trotzdem, daß man ohne dieseTugend nichts zu tun vermag. Ich bitte auch um die Gottesliebe, diealles so mild und leicht macht. Man tut gut, um die Demut zu bitten,denn sie muß unsere teure Tugend sein. Es ist eine gute Sache, um diegöttliche Liebe zu bitten und sich nach ihr zu sehnen. Trotzdem sageich euch, daß eure Bitte um die Demut und die Liebe nicht gut ist. Sehtihr denn nicht, daß ihr nicht die Demut ersehnt, sondern das Gefühlder Demut? Ihr wollt wissen und fühlen, daß ihr demütig seid, ob ihrdie Demut habt. Nun, das darf man nicht tun, denn um diese Tugend zubesitzen, ist es nicht erforderlich, daß man das Gefühl der Demut hat.Im Gegenteil, die sie wirklich besitzen, sehen und wissen nicht, daßsie demütig sind. Ebenso ist es, um Gott zu lieben, nicht notwendig zufühlen, daß man ihn liebt. Die Liebe zu ihm besteht ja nicht darin, daßman seine Güte fühlt. Ihr könnt also demütig sein und Gott lieben,ohne es zu fühlen.

O, ich möchte ihn lieben wie eine hl. Katharina von Siena, wie einehl. Theresia. Ihr täuscht euch; sagt lieber: Ich möchte die Ekstasen,die Gefühle der Liebe und der Demut einer hl. Theresia, einer hl.Katharina von Siena haben; denn es ist nicht die Liebe, die ihr begehrt,

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sondern das Empfinden der Süßigkeit dieser Liebe. Es ist nur dasFehlen des Gefühls, worüber wir uns beklagen, denn wir wollen alleskosten und schmecken. O Gott, wartet ein wenig, meine Lieben;wartet, bis ihr im Himmel seid, dort werdet ihr erkennen, ob ihr dieDemut habt, und werdet euch ihrer Süßigkeit erfreuen. Dann werdetihr sehen, wie ihr Gott liebt, und die Wonne seiner Liebe verkosten.In diesem Leben aber will der Herr, daß wir zwischen Furcht undHoffnung leben, daß wir demütig sind und ihn lieben, ohne es zuwissen.

Wenden wir uns wieder der seligsten Jungfrau zu. Mein Herr, sagtesie, sie haben keinen Wein. Als der Heiland das hörte, sagte er zu ihr:Frau, was hast du mit mir zu tun? Meine Stunde ist noch nicht gekom-men. Diese Antwort erscheint auf den ersten Blick recht schroff. Ei-nen solchen Sohn zu einer solchen Mutter so sprechen zu hören, dashat den Anschein, daß ein so freundlicher und gütiger Sohn eine Bitteabschlägt, die mit solcher Ehrfurcht und Demut ausgesprochen wur-de. Welche Worte sind das zwischen dem Sohn und der Mutter, zwi-schen den zwei am meisten liebenden und liebenswürdigen Herzen,die es je gab! Was hast du mit mir zu schaffen, Frau? Ach, Herr, was hatdas Geschöpf mit dem Schöpfer zu tun, von dem es das Sein und dasLeben erhält? Was hat die Mutter mit ihrem Sohn zu tun, was hat derSohn mit der Mutter zu schaffen, von der er den Leib erhalten hat, d. h.die menschliche Natur, Fleisch und Blut? Diese Worte scheinen rechtbefremdend zu sein, und in der Tat wurden sie von Unwissenden falschverstanden, die sie erklären wollten, und führten zu drei oder vierIrrlehren. Gott, wer wollte aber so kühn sein, hier die Spitze seinesGeistes ansetzen zu wollen, so scharf und spitzfindig er sein mag, umderen wahren Sinn zu erkennen, ohne dafür das Licht von oben emp-fangen zu haben? Diese Antwort war ganz liebevoll, und die heiligeJungfrau, die sie richtig verstand, fühlte sich dadurch als die am meis-ten geehrte Mutter, die es gab. Das wird daraus sichtbar, daß ihr Herznach dieser Antwort ganz von heiligem Vertrauen erfüllt blieb und siezu den Dienern sagte: Ihr habt gehört, was mein Sohn mir geantwortethat. Ihr versteht die Sprache der Liebe nicht, deshalb könnten euchZweifel kommen, daß er mich abgewiesen habe. O nein, habt keineAngst, tut nur, was er euch sagen wird, und macht euch um nichtsSorgen, denn er wird gewiß nach eurem Bedarf Abhilfe schaffen.

Unter den Theologen gibt es sehr verschiedene Meinungen über die-se Worte Unseres Herrn: Frau, was hast du mit mir zu schaffen? Einigesagen, er wollte ausdrücken: was haben wir beide, du und ich, damit zu

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tun, uns da einzumischen? Wir sind nur Gäste, wir brauchen also nichtfür das zu sorgen, was fehlt; und mehrere ähnliche Auslegungen. Aberbleiben wir fest bei dem, woran die Mehrzahl der Kirchenväter fest-hält, daß nämlich der Erlöser seiner heiligen Mutter antwortete: Washabe ich mit dir zu schaffen? Damit habe er jene belehren wollen, diein irgendein kirchliches Benefizium, eine Prälatur oder andere Wür-de dieser Art eingesetzt sind, daß sie sich dieser Ämter nicht bedienendürfen, um die Verwandten dem Fleisch und Blut nach zu beschenkenoder zu ihren Gunsten irgendetwas zu tun, was nur im geringsten demGesetz Gottes widerspricht. Denn sie dürfen sich nie so weit verges-sen, daß sie sich bei solcher Gelegenheit von der Rechtschaffenheitentfernen, mit der sie ihr Amt auszuüben verpflichtet sind. Da nununser göttlicher Meister der Welt diese Lehre geben wollte, bedienteer sich des Herzens der seligsten Jungfrau. Dabei gab er ihr gewißgroße Beweise seiner Liebe, als ob er sagte: Meine liebste Mutter,wenn ich dir antworte: Was hast du mit mir zu schaffen?, will ich kei-neswegs die Bitte abschlagen; denn was könnte ein solcher Sohn die-ser Mutter abschlagen, der am meisten geliebten und am meisten lie-benden, die es je gab? Aber da du mich vollkommen liebst, liebe auchich dich überaus, und diese Liebe, die ich zu dir hege, und die Liebe,von der ich weiß, daß du sie gegen mich hegst, ließ mich auf die Festig-keit deines Herzens setzen, um der Welt diese Lehre zu erteilen. Ichwar ja ganz sicher, daß dieses überaus liebevolle Herz sich darübernicht aufregen wird. Obwohl scheinbar etwas schroff, ist sie es nichtfür dich, die die Sprache der Liebe versteht, die sich nicht nur durchWorte ausdrückt, sondern auch durch die Augen, durch Gebärden undHandlungen. Was die Augen betrifft, sind die Tränen, die aus ihnenquellen, Beweise der Liebe. So gab der Psalmist Zeugnisse seiner Lie-be, als er vor Gott eine Überfülle von Tränen vergoß (Ps 6,7; 39,13;42,4).

Die Braut im Hohelied (1,12) sagte: Mein Geliebter ist für mich einMyrrhenstrauß; ich will ihn nehmen und zwischen meine Brüste legen,d. h. mitten in meine Gefühle. Wenn ein Tropfen dieser Myrrhe herab-träufelt, wird er mein Herz stärken und kräftigen. So nahm auch dieGottliebende, die seligste Jungfrau, die Worte Unseres Herrn wie ei-nen Myrrhenstrauß an und legte sie auf ihre Brust, mitten in ihre Liebe.Sie nahm den Tropfen auf, der dieser Myrrhe entquoll, der ihr Herz sokräftigte, daß sie bei seiner Antwort, die anderen als eine Zurückwei-sung erschien, ohne Zweifel glaubte, daß der Heiland ihr gewährt hat,worum sie ihn gebeten hatte. Deshalb sagte sie zu den Dienern: Tutalles, was er euch sagen wird.

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Was die Worte betrifft: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, mein-ten manche, Unser Herr habe gedacht, der Wein sei noch nicht ausge-gangen. Es gibt mehrere andere Erklärungen und Meinungen der hei-ligen Väter über diesen Gegenstand, aber ich will mich dabei nichtaufhalten. Es ist wahr, daß es für die göttliche Vorsehung bestimmteStunden gibt, von denen all unser Gut und unsere Bekehrung abhän-gen. Es ist auch wahr, daß Gott von aller Ewigkeit die Stunde und denAugenblick bestimmt hat, zwei große Wunder zu wirken: das derMenschwerdung und dieses, um der Welt das erste Zeichen zur Offen-barung seiner Herrlichkeit zu geben. Das geschah aber im allgemeinenund nicht in der Weise, daß er diese Stunde nicht früher eintretenlassen könnte, wenn er darum gebeten wurde. Um mich besser ver-ständlich zu machen, will ich ein Beispiel anführen. Seht Rebekkaund Isaak, die beide Kinder wünschten; doch unglücklicherweise warRebekka unfruchtbar und konnte natürlicherweise keine Kinder ha-ben. Gleichwohl hatte Gott von Ewigkeit vorhergesehen, daß Rebek-ka empfangen und Kinder haben werde, aber unter der Bedingung, daßsie diese durch ihre Gebete erlangte. Hätte sie nicht mit ihrem MannIsaak darum gebetet, hätte sie keine bekommen. Da sie sah, daß siewegen ihrer Unfruchtbarkeit keine Kinder bekommen konnte, schloßsie sich mit ihrem Mann in ein Zimmer ein und sie beteten so instän-dig, daß Gott sie hörte und sie erhörte. Rebekka wurde guter Hoff-nung mit den Zwillingen Esau und Jakob (Gen 25,21). Wie die Kir-chenväter sagten, beschleunigten auf diese Weise auch die LiebesseufzerUnserer lieben Frau die Menschwerdung Unseres Herrn. Nicht daß erdeswegen vor der Zeit, die er bestimmt hatte, Mensch wurde; nein,aber er hatte von Ewigkeit vorhergesehen, daß die heilige Jungfrau ihnbeschwören werde, den Augenblick seiner Ankunft in der Welt zubeschleunigen, daß er sie erhöre und früher Mensch werde, als er getanhätte, wenn sie ihn nicht gebeten hätte.

Ebenso ist es mit dem ersten Wunder, das Unser Herr heute bei derHochzeit zu Kana in Galiläa gewirkt hat. Meine Stunde ist noch nichtgekommen, sagte er zu seiner heiligen Mutter, aber weil ich dir nichtsabschlagen kann, werde ich diese Stunde beschleunigen und tun, wor-um du mich bittest. Er hatte also von aller Ewigkeit vorausgesehen,daß er es den Gebeten Unserer lieben Frau zuliebe früher wirkenwerde. Wie glücklich ist die Stunde, zu der Gott uns so viel Gnadeund Gutes mitteilen wollte! Wie glücklich ist die Seele, die in Ge-duld warten und sich vorbereiten wird, ihr treu zu entsprechen, wennsie eintrifft! Es war gewiß die Stunde der göttlichen Vorsehung, inder sich die Samariterin bekehrte. Von dieser Stunde hängt auch

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unsere Bekehrung und Änderung ab, und man muß große Sorgfaltdarauf verwenden, sich gut dafür zur disponieren, damit wir, wennUnser Herr kommt, bereit sein können, seiner Gnade recht zu ent-sprechen.

Der Heiland befahl den Dienern, sechs Steinkrüge zu füllen, die fürdie Reinigung der Juden dienten. Sie wuschen sich ja, sobald sie etwasberührt hatten, was das Gesetz verbot. Sie machten ja viele äußereZeremonien, in denen sie sehr genau waren, aber sie kümmerten sichkaum darum, ihr Inneres zu reinigen (Mt 23,25f; Mk 7,3-6). Ich habein Paris im Haus der Zisterzienser einen dieser Krüge gesehen; siesind sehr groß und tragen eine hebräische Aufschrift, aber ich habe sienicht gelesen, weil ich sie nur von ferne gesehen habe. Die Dienerwaren sehr sorgsam bedacht zu tun, was ihnen die heilige Jungfrauaufgetragen hatte, denn sobald die den Befehl erhielten, füllten sie dieKrüge so voll, daß das Wasser bis ganz oben stand. Da sprach UnserHerr innerlich das Wort, das niemand hörte, und sogleich wurde alldieses Wasser in sehr guten Wein verwandelt. Dieses Wort glich ohneZweifel jenem, durch das er alle Dinge aus nichts erschaffen hat, demMenschen Leben und Sein gab, durch das er auch beim letzten Abend-mahl, das er mit seinen Jüngern hielt, im heiligen Sakrament der Eu-charistie den Wein in sein Blut verwandelte. Ein ganz hervorragenderWein ist das, durch den wir genährt werden, denn durch den Empfangdes Leibes und Blutes des Erlösers werden uns die Verdienste seinesLeidens und Todes zugewendet.

Könige und Fürsten haben gewöhnlich stets ein Pulver aus dem Horndes Einhorns bei sich, das geeignet ist, vor Gift zu schützen; und wennsie irgendein Unwohlsein befällt, nehmen sie von diesem Pulver inWein, um sich davor zu schützen. Der menschliche Geist ist sonder-bar! Einige streiten, ob es Einhörner gibt und ob der Staub dieserHörner diese Kraft besitzt oder nicht. Es ist nicht unsere Sache, denGründen für diesen Streit nachzugehen; aber halten wir uns jetzt anjene, die sagen, daß es Einhörner gibt und daß ihr Pulver die Eigen-schaft hat, das Gift zu entfernen. Von diesem Pulver können alle eben-so haben wie die Fürsten; diese haben den anderen gegenüber denVorteil, daß man ihnen Becher aus diesem Horn macht und sie inihnen das Pulver des Einhorns nehmen. Das kostbare Blut UnseresHerrn gleicht dem Einhorn; es vertreibt das Gift der Sünde, die unsereSeele vergiftet. Durch das Sakrament der Eucharistie wird uns ja dieFrucht der Erlösung zugewendet, wie wir gesagt haben. Dieses Sakra-ment wurde versinnbildet durch die Wunder, die im Alten Bund ge-

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schahen. Mose hatte einen Stab, mit dem er wunderbare und erstaunli-che Dinge vollbrachte; er verwandelte sich in eine Schlange und Nat-ter, und als Mose es dann wollte, wieder in seine ursprüngliche Gestalt(Ex 4,2-4). Mit ihm ließ er Wasser aus dem Felsen entspringen (17,5f);er verwandelte das Wasser in Blut (7,19f); kurz, er wirkte Wunder-zeichen, die Vorbilder derjenigen waren, die im Bund der Gnade sichereignen sollten (vgl. 1 Kor 10,4.11).

Bevor wir schließen, sagen wir: Nachdem Unsere liebe Frau so gro-ßen Einfluß hat, müssen wir uns an sie wenden, damit sie ihrem Sohnunsere Nöte vortrage. Wir müssen sie zu unserem Fest einladen, dennwo der Sohn und die Mutter sind, geht der Wein nicht aus; sie wird jaunfehlbar sagen: Mein Sohn, diese meine Tochter hat keinen Wein.Aber welchen Wein begehrt ihr, meine Lieben? O gewiß keinen ande-ren als den der Tröstungen; der ist es, den wir wollen, keinen anderen.Ich will euch das durch ein einfaches Beispiel begreiflich machen. Daist eine gute Frau, die einen kranken Sohn hat. O Gott, man mußHimmel und Erde bemühen, denn er ist das einzige Kind, er ist dieFrucht meines Schoßes, auf ihn habe ich all meine Hoffnung gesetzt.Wenn die menschlichen Mittel nichts mehr vermögen, nimmt manseine Zuflucht zu Gelübden, die man den Heiligen macht. Das ist gut;es ist recht, die Heiligen anzurufen; aber meine Tochter, warum be-gehrst du die Gesundheit dieses Sohnes so sehr? Was wirst du tun,wenn es ihm gut geht? Ich werde ihn auf den Altar meines Herzensstellen und ihm Weihrauch streuen. Seht nun, wenn die seligste Jung-frau um Wein gebeten hätte, damit jene, die bei der Hochzeit waren,sich betrinken, dann hätte Unser Herr diese Verwandlung des Wassersin Wein ohne Zweifel nicht gewirkt.

Wenn wir wollen, daß Unsere liebe Frau ihren Sohn bittet, das Was-ser der Lauheit in den Wein der Liebe zu ihm zu verwandeln, müssenwir alles tun, was er uns sagen wird; das ist hier sehr wichtig. Die Die-ner waren also sehr beflissen, alles auszuführen, was er ihnen auftrug,wie unsere himmlische Frau ihnen geraten hatte. Machen wir gut, wasder Heiland uns sagen wird; erfüllen wir unser Herz recht mit Buße,und dieses laue Wasser wird in den Wein glühender Liebe verwandeltwerden. Tut sorgsam, was ihr heute zu tun habt, morgen wird man euchetwas anderes auftragen. Wollen wir ein langes und glühendes Gebet?Beschäftigen wir uns während des Tages mit guten Gedanken, machenwir häufig Stoßgebete. Wollt ihr im Gebet gesammelt sein? Verhalteteuch außerhalb des Gebetes, als ob ihr im Gebet seid; vergeudet dieZeit nicht mit unnützen Gedanken, weder über euch noch darüber,

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was um euch geschieht. Gebt euch nicht mit Albernheiten ab. Ihr möch-tet irgendeine Erleuchtung des Glaubens haben, um das Geheimnisder Menschwerdung zu begreifen; befaßt euch tagsüber mit frommenGedanken über die grenzenlose Güte Gottes. Kurz, meine liebenSchwestern, übt das gut, was man euch bisher gelehrt hat, und vertrautauf die Vorsehung Gottes, denn er wird nicht versäumen, euch zu ver-schaffen, was ihr braucht (Ps 55,23; 1 Petr 5,7). Preist ihn in diesemLeben, und ihr werdet ihn mit allen Seligen des Himmels verherrli-chen. Dahin mögen uns führen der Vater, der Sohn und der HeiligeGeist. Amen.

Zum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. AugustinusZum Fest des hl. Augustinus

Nr. 49: 28. August 1621 X, 99-115

Nicht in Schwelgereien ... (Röm 13,13f).

Das sind die Worte, deren sich die göttliche Vorsehung bediente, umden glorreichen hl. Augustinus vollständig zu bekehren. Der bedau-ernswerte junge Mann erlebte harte Kämpfe in seinem Herzen, zumaler alle Gaben der Natur und der Gnade, die ihm der Herr freigebiggeschenkt hatte, elend mißbrauchte. Unter anderem war er mit einemgroßen Geist begabt, mit einem guten Urteil in Verbindung mit einemerfreulichen Gedächtnis. Er gebrauchte sie aber, um sich gegen Gottzu verschließen, wie er selbst berichtet, wenn er sagt: Ich gebrauchtemeinen menschlichen Geist, um dem göttlichen zu widerstehen. Ob-wohl er einen guten Charakter hatte, hat er ihn dennoch ganz verdor-ben durch schlechte Gewohnheiten; er lebte in jeder Art von Freizü-gigkeit, wälzte sich in schamlosen Vergnügungen und war so in seinelasterhaften Gewohnheiten verstrickt, daß er die Bande seiner Sünd-haftigkeit mit einer eisernen Kette verglich. Er glaubte, sie in keinerWeise zerbrechen und sich aus ihnen befreien zu können.

Da er sich nun von der Last seiner Sünden ganz niedergedrückt fühl-te, andererseits eine starke göttliche Einsprechung, die ihm naheging,zog er sich ganz beunruhigt unter einen Feigenbaum zurück. Bedrängtvon dem harten Kampf, der zwischen seinem inneren und äußerenMenschen entbrannt war, begann er hier wie ein zweiter hl. Paulusseinen Schmerz mit den Worten eben dieses Apostels (Röm 7,24)auszudrücken: Wer wird mich von diesem Todesleib befreien und michvon dem unvergleichlichen Kampf erlösen, den ich in den beiden Tei-

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len meiner Seele erfahre? Wer wird mich befreien von diesem Fleisch,das wider den Geist streitet? Ach, Herr, sagte er (denn das sind seineeigenen Worte, die er selbst in seinem Buch der „Bekenntnisse“ be-richtet), wie lange, wie lange noch willst du über mich erzürnt sein?Wie lange willst du meiner Sünden gedenken? Ihr Himmel, wie langewollt ihr mir zürnen? Wie lange wird diese große Trennung zwischeneuch und mir bestehen und wann werdet ihr euch mit meiner Seeleaussöhnen? Auf dem Höhepunkt seiner Klagen hörte er hinter derMauer, an der er sich befand, die Worte singen: „Nimm und lies. Nimmund lies.“ Als er hinhorchte, um besser zu verstehen, vernahm er nocheinmal: „Nimm und lies.“ Er dachte bei sich, ob das nicht eine Grup-pe von Mädchen sei, die diesen Gesang wiederholte, und suchte sichzu erinnern, ob nicht gerade einer im Umlauf sei, in dem sich dieseWorte finden: „Nimm und lies.“ Wie ihr wißt, und wenn ihr es nichtwißt, werdet ihr es erfahren, sind in allen Städten beim gewöhnlichenniederen Volk stets irgendwelche Lieder im Umlauf, die man ehermißachten als anhören sollte. Ein solches glaubte der hl. Augustinuszu hören.

Während er nun diese häufige Wiederholung hörte, griff er nachdem Buch der Briefe des hl. Paulus, das vor ihm lag, öffnete es ohneirgendeinen Gedanken und ohne darauf zu achten, was er tat, und lasdie Worte, die ich zu meinem Thema gewählt habe: Nicht in Schwelge-reien usw. Meine Kinder, sagt der Apostelfürst im Brief an die Römer,erhebt euch, gebt eure Ausschweifungen auf, eure Spiele und Gelage,die Trunksucht und Gefräßigkeit, verlaßt das Lager eurer fleischlichenLüste, legt die Kleider eurer Gewohnheiten ab, und ihr werdet dieKleider und Gewohnheiten Jesu Christi anziehen. Ihr Kinder des Lich-tes (Joh 12,36; Eph 5,8; 1 Thess 5,5), legt eure Kleider der Nacht ab,hütet euch, mit ihnen im Licht zu erscheinen. Über diese Worte werdeich also drei kleine Erwägungen anstellen. Dabei werden wir, aller-dings knapp und recht kurz, das ganze Leben des hl. Augustinus be-trachten, eingeteilt in drei Abschnitte: im ersten seine Ausschweifun-gen und seine Reinigung nach den Worten: Verlaßt das Lager eurerfleischlichen Lüste; im zweiten werden wir sehen, wie er die Kleiderund Gewohnheiten Jesu Christi anzog; im dritten, wie er nicht mehr inKleidern der Nacht im Licht erschien.

Um auf den ersten Punkt einzugehen: ihr wißt sicher alle, daß dieMenschen auf dreierlei Weise zur Heiligkeit gelangt sind, d. h. daß siein verschiedenem Alter und auf verschiedene Art Heilige wurden. Beiden einen gab es nichts als Heiliges, Sanftes und Wohlgefälliges. Siebegannen sehr eifrig, machten Fortschritte und fanden ein kostbares

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Ende. Alles war bei ihnen gut, die Blätter, die Blüten und die Früchte:ihre Kindheit, ihre Jugend und ihr weiteres Leben. Wie viele heiligeMänner und Frauen haben sich seit ihrer Kindheit dem Dienst Gottesgewidmet und geweiht, die standhaft bis ans Ende ausharrten und sehrköstliche Früchte trugen. Unter ihnen ist der hl. Johannes der Täufer,dessen Enthauptung wir morgen feiern werden. Er war überaus be-wundernswert in seinem ganzen Leben; an ihm gab es nichts, was nichthervorragend war. Das gleiche könnt ihr von einer guten Zahl vonHeiligen annehmen.

Wir sehen manche Pflanzen, bei denen alles zu irgendetwas zu ge-brauchen ist: die Blätter, die Blüten und die Früchte. Um mich kurzzu fassen, will ich nur von einer sprechen. Betrachtet den Weinstock.Seine Blüten sind nicht nur schön anzusehen, sie sind auch geeignetals Mittel gegen das Gift der Schlange; seine Frucht dient auch, solan-ge sie noch nicht reif ist, zum Gebrauch des Menschen (denn aus ihrbereitet man einen Saft, der für die Gesundheit sehr nützlich ist). Siewächst aber stets weiter, bis sie ihre Reife erreicht hat; dann liefert sieuns einen sehr bekömmlichen und köstlichen Wein. Es gibt anderePflanzen, die wahrhaft gute und liebliche Früchte tragen, die aber kei-ne Blüten haben. Von dieser Art sind die Feigenbäume. Ihr Stamm istrauh und hat nichts Angenehmes; ihre unreifen Früchte sind gewißsehr herb; sie haben keinen Geschmack, schmecken im Gegenteil fad.Sind sie aber reif, so gibt es nichts so Süßes und Liebliches wie dieFeige, die um so angenehmer im Geschmack ist, als sie am Anfangunschmackhaft war. Von dieser zweiten Art sind die Heiligen, zu de-nen der hl. Augustinus gehörte. So ist es nicht ohne geheimnisvolleBedeutung, daß er sich ausgerechnet im Schatten eines Feigenbaumesbekehrte. Das sollte zeigen, daß die Früchte seines reifen Lebens, ob-wohl sein Anfang roh und schlecht war, doch sehr kostbar wurden.

Da sitzt er unter dem Feigenbaum und liest die Briefe des hl. Paulus.Sie scheinen seinem Herzen zu sagen: Augustinus, du stehst schon im33. Jahr deines Lebens; wie lange willst du noch auf dem Lager deinerSinnlichkeit und Wollust liegenbleiben? Verlaß es, gib diese Spieleauf, die Trinkgelage und Schmausereien, Streit und Mißgunst. Seht ihr,wie der Heilige Geist die Lanzette vor allem in die Eiterbeule seinesHerzens stößt, die Quelle und den Ursprung seiner ganzen Krank-heit? Es ist ja wahr, wie der hl. Augustinus selbst berichtet, daß er derabscheulichen Sünde des Fleisches sehr ergeben war. Es schien ihmunmöglich, sich dieser sinnlichen und unerlaubten Freuden zu enthal-ten, der Hauptursache seines Widerstandes gegen den Geist Gottes,

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daß er sich nicht entschließen konnte, die Wollust aufzugeben undsich aus ihren Banden zu befreien.

Er war auch sehr streitsüchtig. Als er nämlich den heftigen Streitzwischen dem Fleisch und dem Geist fühlte, stritt er gegen den GeistGottes und leistete ihm Widerstand. Er zeigte sich aber nicht nur da-rin streitsüchtig, sondern auch in den Disputationen, die er führte. Ertrat allen Thesen entgegen und widerlegte sie mit soviel Spitzfindig-keit und Beredsamkeit, daß er von allen gefürchtet war. In der Art desHäretikers, der er ja war, legte er es darauf an, jene, die die Wahrheitverteidigten, so zu verblüffen, daß der Schein mehr für die Irrtümerseiner Sekte sprach als für den Sinn der Heiligen Schrift, die eineeinfachere Sprache führt als die der Manichäer. Er stritt auch mit al-len, mit denen er verkehrte, denn da er mit einem großen und schönenGeist begabt war, wollte er keinem nachgeben, sondern immer dieOberhand haben. Obwohl nun sein Geist nicht nur schön war, son-dern auch tüchtig und mit einem ausgezeichneten Charakter verbun-den, hatte er auf ihn ein sehr übles Kraut gepflanzt, nämlich die Eitel-keit und das Streben nach eigenem Ruhm. Das machte ihn hochmütig,unverträglich, mißgünstig, streitsüchtig und so in seine Vorzüge ver-narrt, daß er darin Philipp und Alexander übertraf, von denen dieHumanisten so viel sprechen, die sie als gleich an eitlem Ruhm schil-dern. Sie waren beide stolz, wenn auch mit dem Unterschied, daß Ale-xander Lob nur für Dinge von großem Wert in sich annehmen wollte,während er es nicht anstrebte für geringe Taten, die er vollbrachte,oder für Eigenschaften, die er besaß. Philipp dagegen gewann seinenRuhm nur aus geringen und kleinen Taten, z. B. daß er gut Laute spie-len konnte, und ähnliche Bagatellen.

Der hl. Augustinus besaß wahrhaftig einen edlen Mut wie ein zwei-ter Alexander, der den Ruhm in großen und erhabenen Taten suchte,aber er zog ihn auch aus kleinen wie Philipp; ja er ging noch weiterund gewann ihn auch aus Dingen, die in sich schlecht waren, sogar ausder Lüge, wie er im Buch seiner „Bekenntnisse“ berichtet. Er sagt inder Tat, daß er sich vor seinen Kameraden und den jungen Freigeisternder schlechtesten, niedrigsten und unverschämtesten Taten rühmte,weil er sich schämte, nicht die gleichen Unverschämtheiten und Bös-artigkeiten verübt zu haben, deren die anderen sich rühmten; er schäm-te sich, daß er sich schämte, nicht als so lasterhaft wie sie zu gelten. Erbehauptete, auffallende Schlechtigkeiten begangen zu haben, deren ernicht schuldig war, um sich ihrer zu rühmen, um wegen dieser Aus-schweifungen für einen mutigen, tapferen Mann und für großzügig ge-halten zu werden.

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Beachtet ein wenig das Elend des menschlichen Geistes, zu wel-chen Extremen die schrankenlose Jugend kommt und womit sichGruppen von Schülern befassen, die ohne Furcht und Zucht leben.Das sieht man, wenn diese jungen Narren sich im Winter zusammen-rotten und unter tausend Possen lärmend durch die Straßen ziehen.Bei ihnen gilt der als der Tüchtigste, der am besten den Narren undKauz spielt. Auf solche Taten gründen sie ihren Ruhm. Das gleichetat der hl. Augustinus. Er gewann ihn aber auch aus seinen Dieberei-en. Als er noch klein war, schreibt er, habe er geprahlt und sich ge-rühmt, daß er die Früchte aus dem Garten der Nachbarn gestohlenhabe, und er habe sich um so mehr gefühlt, je listiger und geheimerder Diebstahl geschah, auch wenn er geringfügig war. Wenn er er-zählt, was er getan hatte, ließ er die Schliche und Erfindungen seinesGeistes glänzen.

Ich habe nicht bemerkt, daß man ihn beschuldigte, trunksüchtig undein Schlemmer zu sein; wenigstens erinnere ich mich nicht gut daran.Indessen lassen uns die Worte des hl. Paulus, die er beim Öffnen sei-nes Buches fand, die ihm vom Heiligen Geist geschickt wurden, an-nehmen, daß er auch mit diesem Laster behaftet war. Entfernt euchvon eurer Trunksucht und Schwelgerei, sagt der Apostelfürst. Es gibtnoch zwei weitere Gründe, die uns zur Annahme veranlassen könnten,daß er von ihr befallen war und sich ihrer rühmte. Der erste ist derAnteil seiner Mutter, der hl. Monika. Sie hatte diesen Fehler und hättesich wohl häufig betrunken, wenn nicht eine gute Frau sie geänderthätte, die ihre Erzieherin in der Jugend war. Nun ist es durchaus glaub-haft, daß ihr Sohn diese Anlage und diese Neigung mit seiner Mutterteilte, genauso wie wir alle nur zu sehr teilhaben an dieser uns so nahe-liegenden Natur. Wie viele gibt es doch, die sich dieses Lasters rüh-men! Der zweite Grund aber ist der wahrscheinlichste. Augustinuswar der Fleischeslust ergeben, folglich auch der Trunksucht undSchwelgerei, denn die beiden Sünden kommen kaum je eine ohne dieandere vor. Wer sich der einen ergibt, kann sich schwerlich davor be-wahren, in die andere zu versinken. Deshalb lesen wir in der HeiligenSchrift, daß man alle, die wegen der ersten bestraft wurden, auch derzweiten beschuldigte. Das war also im frühen Lebensabschnitt des hl.Augustinus, der gewiß bedauerlich und bemitleidenswert war; es istzum Erbarmen, was er darüber in seinen „Bekenntnissen“ berichtet.

Der Heilige Geist aber regt ihn zur Reinigung an, um eine vollstän-dige Bekehrung zu bewirken. Nachdem er ihn bewogen hat, sich vonseiner Sünde loszusagen, lädt er ihn nicht nur ein, seine Kleider abzu-legen, sondern sich auch mit den Kleidern und Haltungen Jesu Christi

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zu bekleiden. Was heißt, seine Kleider ablegen, um Jesus Christus an-zuziehen? Legt eure Gewohnheiten ab, sagt der Apostel (Röm 13,12;Eph 4,22-24; Kol 3,9f), mit denen ihr bekleidet seid. Die Kleider be-decken ja den Leib von allen Seiten, der in sie gehüllt ist; die Gewohn-heiten tun dasselbe beim Herzen wie die Kleider beim Leib. Legt dieSchwelgerei ab und zieht die Mäßigkeit an, indem ihr nüchtern wer-det. Gebt die Sinnlichkeit auf, verlaßt das Lager der Lust, bekleideteuch mit der Keuschheit und betet ohne Unterlaß (Eph 6,18; 1 Thess5,17). Legt ab die Streitigkeiten, Neid und Zorn, und bekleidet euchmit Güte und Sanftmut (Kol 3,12). Durch die unseren Lastern entge-gengesetzten Tugenden werden wir die Gewohnheiten des Menschenund die Unseres Herrn erkennen, jene, die wir ablegen müssen, undjene, die wir annehmen, mit denen wir uns umgeben müssen. Wir wer-den über jede ein Wort sagen, wenn auch knapp und kurz, denn ichwerde sie nur streifen und werde es euch überlassen, sie jeder nachMaß für sich zu kauen und zu verdauen.

Seid nüchtern, sagt der Apostel (1 Tim 3,2f.8.11; Tit 1,7f; 1 Petr5,8), indem ihr streng werdet. Er setzt die Strenge als Hüterin derNüchternheit ein, denn es ist sehr schwierig, mitten in Schlemmereiund Überfluß mäßig zu sein. Die Mäßigkeit ist genau genommen ansich die Enthaltsamkeit vom Übermaß im Trinken und Essen; im geist-lichen Sinn aber bedeutet Mäßigkeit Armut; das ist das Wort, das mandafür verwenden muß. Darin hat sich der hl. Augustinus ganz beson-ders geübt und hat es auch seinen Kindern sehr empfohlen. Er hat sichvor allem bemüht, sie ihrem Geist einzuprägen. Es ist bewunderns-wert, wie er darüber mit sehr deutlichen Ausdrücken in seiner Regelspricht. Darin verbietet er, daß einer, unter welchem Vorwand immer,etwas als Eigentum besitzen dürfe. Um also ein wahres Kind des hl.Augustinus zu sein, muß man eine große Liebe zur Armut haben.

Ihr wißt alle, wie er sie liebte, denn er wollte keinerlei Reichtum. Erübte einen edlen Beruf aus, stammte aus vornehmem Haus; mit derGröße seines Geistes und mit seiner einzigartigen Beredsamkeit hätteer viele Ehren und Güter erwerben können, da die Beredsamkeit da-mals sehr geschätzt und begehrt war. Er verzichtete trotzdem auf alldas, gab es auf und zog sich in eine ländliche Wohnung zurück, wo erin äußerster Armut lebte. Hier gründete er seine beiden Orden. Dieeinen schickte er in die Wüste, damit sie dort leichter die Armut übenkonnten. Dann gründete er an der Bischofskirche, die ihm zugefallenwar, eine Gemeinschaft von Priestern oder Regularklerikern, denener seine Regel gab. Unter diese Regel haben sich seither mehrere Or-

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den gestellt, denn sie ist so mild und sanft, daß sie für Menschen jederVerfassung geeignet ist; dafür hat sie der Heilige verfaßt. Er hat aberden einen wie den anderen seiner geistlichen Kinder nachdrücklichdie Armut gepredigt und wollte nicht einmal, daß sie die Bücher, diesie studierten, als Eigentum betrachteten, sondern ordnete an, daß mansie im Gehorsam erbat und sie dem zurückgab, der sie verwaltete.

Für sich liebte er diese Tugend so sehr, daß er es nach seiner Bekeh-rung ablehnte, ein sehr reiches Mädchen zu heiraten, das man für ihnausersehen hatte. Als er Priester und Bischof geworden war, übte erdie Armut in einer Weise, daß er nichts für sich behielt, all seinenWein und sein Korn den Armen gab. Er ging so weit, daß er die Wand-teppiche und den Schmuck der Kirche verkaufte, um ihrer Not abzu-helfen. Das tat er auf eine besondere Eingebung Gottes, denn außer imNotfall ist es nicht erlaubt, den Altar zu entblößen, um die Bedürfti-gen zu ernähren. Als er nichts mehr hatte, um es ihnen zu geben, wand-te er sich an sein Volk und sagte ihm mit ganz bewundernswerterSchlichtheit, Einfalt und Offenherzigkeit: Mein sehr geliebtes Volk,ich habe nichts mehr, um dem Elend der Armen abzuhelfen; ich habealles hergegeben, was ich besaß, ich habe dazu sogar den Schmuck derKirche verkauft. Nun bitte ich euch, ihnen nach eurem Vermögen zuhelfen; teilt ihnen freigebig mit eigenen Händen aus oder bringt mirdie Almosen, die ihr ihnen zuwenden wollt; ich werde sie ihnen aus-teilen. Das taten die guten Leute, denn es schien ihnen, ihre Liebesga-ben wären nicht gut, wenn sie nicht durch die Hände dieses heiligenund würdigen Prälaten gingen. Beachtet doch die Einfalt und Schlicht-heit seiner Worte, das große Vertrauen und den Freimut, mit denen erzu seiner Herde sprach, und die Hochachtung, die diese für ihn hegte.Gewiß, um so vorzugehen, mußte sie zwischen dem Herzen eines Va-ters und dem Herzen von Kindern herrschen: dem Herzen des Vatersim hl. Augustinus und dem Herzen der Kinder in seinen Untergebe-nen. So also wahrte er die Mäßigkeit.

Ich will nicht von der Einfachheit seiner Tafel sprechen noch vonder Armut seiner Kleider, die stets aus gewöhnlichem Stoff waren.Obwohl er sich angemessen kleidete, wie es sein bischöfliches Amterforderte, waren die übrigen Kleidungsstücke sehr ärmlich. Sowohlim Essen wie in der Kleidung begnügte er sich mit dem zur Erhaltungdes menschlichen Lebens Notwendigen. Nach dem Beispiel desApostelfürsten (1 Tim 6,8) verlangte er auch nur Brot und Wasser fürseine Nahrung und ein Gewand, um seine Blöße zu bedecken, undsagte mit dem gleichen Apostel (1 Tim 6,7), alles andere sei Überfluß.

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Er starb in dieser Armut und machte kein Testament, denn er hattenichts als seinen Geist, um in den Himmel zu kommen, und seinenLeib, um ihn auf Erden zu lassen. Seht, wie er sich mit der Armutbekleidete, indem er die Mäßigkeit und Nüchternheit wahrte. Darübersollt ihr nachdenken, denn ich streife diese Erwägungen nur im Vor-beigehen.

Das zweite, wovon der hl. Paulus spricht, ist dies: Zieht die Keusch-heit an und betet. In diesem Punkt hat unser glorreicher Heiligersich ausgezeichnet. Er hat die Keuschheit mit solcher Sorgfalt be-wahrt, er hat sie sosehr geschätzt und gepriesen, daß er darüber Bü-cher verfaßt hat, die die Bewunderung jener verdienen, die sie lesen,die sie zur Liebe dieser schönen Tugend anregen. Da er seine Un-schuld nicht mehr besaß, war er um so eifersüchtiger darauf bedacht,die Keuschheit zu bewahren, so daß er viele jungfräuliche Menschenübertraf, genau wie die hl. Magdalena. So unkeusch sie zuvor war,übertraf sie doch viele Jungfrauen in ihrer Unschuld, und es gibtkeine, die wegen ihrer Jungfräulichkeit so geehrt wurde wie die hl.Magdalena wegen ihrer Keuschheit, abgesehen von der seligsten Jung-frau, die über jeden Vergleich erhaben ist. Unser glorreicher Kir-chenvater erschien also schöner in dieser Tugend, als wenn er sienicht entehrt hätte; er bewahrte sie auch mit unvergleichlicher Sorg-falt und Achtsamkeit, indem er sich sehr gewissenhaft von allem fern-hielt, was ihr widerspricht.

Die Keuschheit ist aber eine Gabe Gottes, die man nicht mit Brachi-algewalt erwirbt und nicht durch Geschicklichkeit und Kunstgriffebewahrt. Die Gaben Gottes reißt man ja nicht mit seinen Händen durchAnstrengung und Gewalt an sich; sie werden umsonst gegeben (Mt10,8) und nach der Disposition des Herzens. Was muß man also tun,um diese Gabe Gottes aus seinen Händen zu gewinnen und an sich zuziehen, da niemand keusch sein kann, wenn nicht der Herr ihm dieGnade schenkt (Weish 8,21)? Betet, sagt der Apostel, d. h. bittet umsie im Geist tiefer Demut, denn durch das Gebet werdet ihr sie erlan-gen und bewahren, wenn ihr sie gewonnen habt. Ich weiß wohl, daßFasten, Bußgewand, Geißeln und Mäßigkeit (die nicht nur darin be-steht, die Eßlust zu bezähmen, sondern auch auf ausgesuchte und sehrnahrhafte Speisen zu verzichten, um sich mit dem Notwendigen zubegnügen und sich einfacher und grober Speisen zu bedienen), ichweiß wohl, sage ich, daß das alles gut ist, um die einer Seele eingeflöß-te Keuschheit zu bewahren. Das wäre aber gewiß wenig, wenn es nichtvon demütigem Gebet begleitet ist, denn die Gaben Gottes sind an dieDemut gebunden. Auch der hl. Augustinus bediente sich des Gebetes,

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um die Keuschheit zu bewahren, durch die er die Unschuld jungfräu-licher Menschen übertraf. Gedrängt vom Geist Gottes, von der Liebeund seiner Kenntnis ihrer Schönheit und Erhabenheit, verfaßte erBücher, wie wir gesagt haben, die für Jungfrauen und Witwen bestimmtwaren; sie reißen zur Bewunderung hin und führen alle, die sie lesen,dazu, diese Tugend zu lieben.

Er war also bewundernswert keusch, weil er äußerst demütig war.Die Demut ist die Tugend der Tugenden, weil sie die anderen Tugen-den nach sich zieht und in der Seele bewahrt. Das machte dieser glor-reiche Heilige deutlich, als er auf die Frage, welche Tugend die erstesei, antwortete: die Demut. Und die zweite? Die Demut. Und die drit-te? Die Demut. So hätte er immer geantwortet, wenn man weitergefragthätte. Damit wollte er sagen: Wenn diese Tugend auch klein ist demAnschein nach, ist sie doch die größte; ohne sie sind die übrigen Tu-genden nichts. Wie Stolz und eitler Ruhm die Pflanzstätte aller Sün-den und die Nährmutter aller Laster sind, so ist die Demut die Ammealler Tugenden.

Der große Heilige gab in mehreren bemerkenswerten Dingen Pro-ben seiner tiefen Demut, die nützlich und förderlich sein können andem Ort, wo ich mich befinde. Deshalb kann ich mir nicht versagen,darüber zu sprechen. Ich will also den übrigen Teil meiner Predigtfallen lassen und mich damit befassen. Jeder weiß, daß der hl.Augustinus einer der größten Geister war, die es je gab, und daß eraußerdem mit einem bewundernswerten Wissen begabt war. Nun, ichwill nicht von den großen Männern sprechen, die im Alten Bund leb-ten; ich spreche von denen im Neuen Bund; bei ihnen kann er zu denersten gezählt werden. Mir ist nicht unbekannt, daß in den Schulen dieeinen sagen, Platon sei der größte Geist gewesen, andere sagen Cicero.Gewiß, beide ragten unter den heidnischen Philosophen hervor, aberdabei will ich mich nicht aufhalten. Außerdem will ich keinen Ver-gleich anstellen, zwischen unserem glorreichen Kirchenvater und demheiligen Apostel Paulus; ihm war das Wissen auf eine ganz außerge-wöhnliche Weise vom Himmel eingegossen. Aber abgesehen davon istallen bekannt, daß man den hl. Augustinus für den größten Geist unterden Kirchenvätern des Altertums hält. Man zögert nicht, ihn Phönixder Kirchenlehrer zu nennen.

Ihr habt gewiß gehört, daß sich die Demut selten zusammen mit demWissen findet, das von selbst aufgeblasen macht (1 Kor 8,1), um soweniger noch mit einem so großen Wissen wie dem des hl. Augustinus.Bei ihm war es indessen mit einer so tiefen Demut verbunden, daß

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man nicht weiß, ob er mehr Gelehrsamkeit als Demut besaß oder mehrDemut als Gelehrsamkeit. Er besaß gewiß mehr Gelehrsamkeit alsjeder andere Kirchenlehrer, denn er war deren Phönix; seine Demutwar dennoch noch größer. Urteilt doch selbst. Sein Wissen hatte einenMangel: er beherrschte die griechische Sprache nicht. Obwohl sie sinn-reicher ist als die lateinische, ist sie im Stil nicht so fein wie diese. Dasich der hl. Augustinus mehr mit dem Stil als mit dem Sinn befaßte,wollte er nicht Griechisch lernen, als er studierte. Nun verheimlichteer das nicht, sondern bekannte es großzügig und freimütig. Er sagte,daß er sich für den Geringsten von allen halte, weil er von der griechi-schen Sprache nichts verstehe, die jedoch die sinnreichste von allensei.

O Gott, welche Demut und Aufrichtigkeit ist das! Er verstand davongewiß ein wenig, aber er hielt das für nichts, und es fiel ihm leicht, daszuzugeben und zu bekennen, um seiner Liebe zur Erniedrigung Raumzu geben. Hätte er nicht gestanden, daß er diese Sprache nicht be-herrschte, wer hätte es vermutet, wenn er seine Disputionen hörte oderseine Schriften voll von so tiefer Gelehrsamkeit las? Niemand, dennjeder hätte geglaubt, daß sie ihm ebenso geläufig sei wie Latein. SeineDemut war aber zu groß, um diesen Mangel zu verbergen; deshalbwollte er ihn laut und freimütig bekennen. Sehen wir nun, ob unsereHeiligkeit der dieses Heiligen gleicht. Gewiß nicht, denn heute wol-len jene, die zwei oder drei Worte Griechisch kennen, keine andereSprache gebrauchen, und wie N. sehr treffend sagt, spucken unserePrediger sozusagen griechisch, so wenig sie davon auch verstehen.

Zweitens zeigte der hl. Augustinus große Demut darin, daß er sichder Kritik seiner Schriften und seiner Lehre unterwarf; einer Kritiknicht nur von jenen, die ihm überlegen oder ebenbürtig sein konnten,was ein Kennzeichen sehr tiefer Demut ist, sondern auch von solchen,die ihm an Wissen und Würde nachstanden. Damit zeigte er, daß er siein dieser Tugend weit überragte. Der hl. Hieronymus erteilt ihm eineZurechtweisung, die nicht gering und nicht schmeichelhaft für ihn ist,aber würdig der großmütigen Herzensdemut des hl. Augustinus. Erbehandelt ihn, wie ein Meister und Lehrer seinen Lehrling und Schü-ler behandelt. Er schneuzt ihm nicht mit einem leinenen, sondern miteinem härenen und recht rauhen Schnupftuch. Was macht da unserglorreicher Heiliger? Er nimmt den Tadel mit bewundernswerter Un-terwerfung an. Und was sagt er dem hl. Hieronymus? Ich weiß wohl,schreibt er ihm, daß der Priester geringer ist als der Bischof und daßich als Bischof mehr bin als du, der du nur ein einfacher Priester bist.

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Das betrifft indes nur die Würde, die wir in der Kirche Gottes inneha-ben; im übrigen weiß ich, Hieronymus, daß du mich überragst. Beach-tet doch diese Demut. Deshalb unterwerfe ich mich, fährt er fort, undnehme gern den Tadel und die Zurechtweisung an, die du mir erteilst,und ich bekenne, daß du recht hast, sie mir zu geben.

Meine lieben Schwestern, beachtet die Einfalt, Aufrichtigkeit undDemut der Worte dieses glorreichen Kirchenvaters. O Gott, heutewollen wir keine Zurechtweisung. Es ist schon viel, wenn wir sie vonunseren Vorgesetzten ertragen; aber von Gleichgestellten kann mansie nicht ertragen. Das Herz bläht sich auf und ist empört, denn derGleichgestellte hat keine Vollmacht, mich zurechtzuweisen. Was dieUntergebenen betrifft, davon will ich gar nicht sprechen: Hätte mirdas einer meiner Vorgesetzten gesagt, würden ich es noch hinnehmen,aber von so einem kann ich es nicht ertragen, dem werde ich nicht dieAutorität über mich zugestehen. Dennoch liegt hier einer der wichtig-sten Punkte der Demut und der christlichen Vollkommenheit. Wirwollen wohl zugeben: Ich bin so und so; aber wir können es nichtertragen, daß man uns das sagt. Wir würden es vielleicht noch hinneh-men von einem, der höher steht als wir, von anderen aber bestimmtnicht!

Als Ijob auf seinem Misthaufen saß, ganz bedeckt mit Geschwüren,glich er mehr einer Mißgeburt als einem Menschen. Er saß da wie einHund oder wie ein totes, stinkendes Pferd. Er nahm irgendeine Scher-be und schabte den Eiter von seinen Geschwüren. Es gab ja niemand,der ihm diesen Liebesdienst erweisen wollte, denn er war von allenverlassen. Nicht einmal seine Frau wollte ihm den Dienst erweisen,denn sie verspottete und verabscheute ihn; seine Freunde taten dasgleiche. Wir wären gewiß sehr glücklich, wenn wir die Scherbe derZurechtweisung ergriffen, um den Schmutz von unserem Gewissen zuentfernen. Aber ihr seid noch viel glücklicher, meine lieben Schwes-tern, in einem Haus zu wohnen, wo man die Zurechtweisung so genaunimmt, daß man mit ihrer Hilfe die kleinsten Unvollkommenheitenan euch verbessert. O Gott, wie groß wird euer Glück sein, wenn ihrsie im Geist der Unterwerfung annehmt wie der glorreiche hl.Augustinus.

Drittens zeigte der Heilige seine Demut im Bekenntnis seiner Feh-ler. Darin war er gewiß überaus bewundernswert, wie man aus derAufrichtigkeit und Einfalt sieht, mit der er das Buch seiner „Bekennt-nisse“ schrieb. Das tat er in der Blüte seiner Jahre, und er beschreibtdarin nicht im Großen, sondern im einzelnen seine Fehler und Lau-

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nen, seine lasterhaften Gewohnheiten und Neigungen. Wozu dieseBekenntnisse? Etwa, um sie einem Beichtvater ins Ohr zu sagen? Onein, das hatte er getan, ehe er sein Buch schrieb. Sollte es nicht dazudienen, um es seinen Zeitgenossen zu zeigen, die ihn kannten, dieleicht seine Jugend entschuldigen würden, wenn sie die Schönheitseines Geistes sähen und die Vorzüge, die er von der Natur empfan-gen hatte? Gewiß nicht. Sollte es dazu dienen, um es dem Volk seinesLandes oder seiner Diözese zu zeigen, das wegen der Hochachtungvor seiner Heiligkeit diese Taten seiner jungen Jahre für nichts er-achten würde angesichts der Tugenden, die gegenwärtig an ihm er-strahlten? Oder machte er diese Bekenntnisse vielleicht, um von denGerechten gelobt zu werden, die gewiß seine Haltung seit seiner Be-kehrung jener in seiner Jugend entgegenhalten würden? O nein, sei-ne Bekenntnisse sind nicht an solche Menschen gerichtet. An welchedann? An alle Menschen im allgemeinen: an junge und alte, an ge-lehrte und ungebildete; an solche, die seine Demut bewunderten undsich an ihr erbauten, und an solche, die über ihn spotteten und An-stoß an ihm nahmen; an Männer und Frauen; mit einem Wort, erwollte, daß das elende Leben, das er in seiner Jugend geführt hatte,aller Welt bekannt werde. O Gott, wie weit ist die Heiligkeit unsererZeit davon entfernt; sie besteht ja nur darin, seine Fehler zu verber-gen, selbst vor dem Beichtvater. Gerade da liegt die Heiligkeit unse-rer Zeit, wie darin, die Fehler nicht zu erkennen und die Zurechtwei-sung nicht zu ertragen.

Hier möchte ich schließen, denn die Zeit vergeht. Gern hätte ich ineinem letzten Punkt ein Wort über die Sanftmut dieses großen Heili-gen gesagt, aber dazu fehlt mir die Zeit. Deshalb will ich es unterlassenund mich damit begnügen, als Abschluß dieser Predigt zwei oder dreiSätze über die Worte des hl. Paulus anzufügen: Nehmt die LebensartJesu Christi an. Wir sprechen in dieser Weise von denen, die gekleidetsind, und sagen: Der Mann ist in Seide gekleidet, der in Büffelleder,jener in Kamelhaar. Nun sagt der Apostel: Kleidet euch nicht in Seide,in Büffelleder oder Kamelhaar, sondern zieht die Lebensweise JesuChristi an, die Passion Unseres Herrn, kleidet euch in das Blut desErlösers. Wie die Kleider den Leib umgeben, so umgebt auch euerganzes Herz und eure Affekte mit dem Erlöser, d. h. stützt euch nichtauf eure Verdienste, sondern auf die Verdienste seines Todes und sei-nes Leidens. Das ist eine Mahnung, die der große hl. Augustinus allge-mein jedermann gibt, sich nicht auf die eigenen Verdienste zu stützenund nicht zu meinen, man könnte durch sein eigenes Bemühen in denHimmel kommen, ohne von der göttlichen Gnade unterstützt zu wer-

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den. Damit wies er die Irrlehre der Pelagianer zurück, sowohl in sei-nen Disputationen wie in seinem Buch „Von der Gnade“, in dem erzeigt, daß wir ohne sie nichts vermögen.

Nein, meine lieben Schwestern, erhebt Ansprüche für den Himmelwie für die Erde nur durch die Verdienste des Blutes und des Todesunseres Erlösers. Glaubt nicht, aufgrund eurer guten Werke in denHimmel zu kommen, denn niemand wird dahin gelangen, außer kraftdes Blutes und der Passion Jesu Christi. Tut das, was ihr tut, nicht umviele Verdienste zu haben, und forscht nicht nach, ob ihr welche habt,wenn ihr dies oder jenes tut. Das wurde schon oft gesagt, es kann abernicht oft genug wiederholt werden. Das müssen wir alle unserem Geisteinprägen, weil man von den Leuten nichts anderes hört als: Ihr habtein großes Verdienst, wenn ihr dies tut oder jenes unterlaßt; oder auch:Bei dem oder jenem Werk werde ich verdienstlich oder nicht verdienst-lich handeln. Es sieht so aus, als ob der Himmel uns geschuldet würdeeinzig für die Verdienste, die wir erwerben, wenn wir tun, wozu wirverpflichtet sind, oder unterlassen, was man nicht tun soll. Ich bitteeuch, meine lieben Schwestern, sagt das nicht, wenn ihr echte Töchternicht nur der seligsten Jungfrau sein wollt, denn unter ihrem Namenseid ihr errichtet, sondern auch des hl. Augustinus, weil ihr unter sei-ner Regel steht.

Stützt euch immer auf die Verdienste des Blutes Unseres Herrn, undwenn ihr getreu alles getan habt, dann sagt, daß ihr unnütze Dienerin-nen seid (Lk 17,10). Wenn ihr das bekennt, wird Unser Herr das nichtsagen, denn er wird euch nach eurer Treue belohnen, die ihr in seinemDienst bewiesen habt; und obwohl ihr nicht um der Verdienste willengearbeitet habt, wird es euch am Lohn dafür im Himmel nicht fehlen.Sagt nicht: Der Mensch wird durch seine Werke viele Verdienste ha-ben; sagt lieber: Gott hat dem Menschen große Gnaden erwiesen. Wiegroß war sein Erbarmen gegen ihn! Habt kein anderes Ziel, als dieEhre Gottes zu suchen, denn dazu seid ihr in den Orden eingetreten,nicht nur, um euch aus dem Getümmel der Welt zurückzuziehen. Dieheidnischen Philosophen leisteten wohl diesen Verzicht, um mehr Zeitzu haben, dem Studium der menschlichen Wissenschaften zu oblie-gen. Ihr seid auch nicht gekommen, um reicher zu werden; o nichtsdavon, denn hier wird man arm. Nicht, um mehr zu verdienen; dieseAbsicht wäre zu niedrig. Wozu dann? Um Gott in all eurem Tun zugefallen, um ihm besser zu gefallen; um euch mit den Verdiensten desLeidens und des kostbaren Blutes Jesu Christi zu bekleiden. Wie kost-bar sind die Kleider, die aus dem Blut des Erlösers gemacht sind, ohnedas unsere Werke nicht verdienstlich sind! Es ist wahr, wenn man ein

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Glas Wasser aus Liebe zu Gott gibt, verdient man das ewige Leben (Mt10,42); aber woher gewinnt es seinen Wert, wenn nicht vom Leidendes Erlösers, das diese Tat der Liebe verdienstvoll macht? Erhebt alsoeure Herzen und eure Affekte, glaubt nicht, daß das Verlangen desFleisches verdienstlich sei, d. h. die Wünsche, die in diesem Fleischleben (Röm 8,8; Eph 2,3); gründet vielmehr eure Hoffnung auf dieVerdienste des Gottessohnes, der in Ewigkeit mit dem Vater und demHeiligen Geist lebt und regiert. Amen.

Zum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller HeiligenZum Fest aller Heiligen

Nr. 51: 1. November 1621 X,133-146

Das erste Fest, das je gefeiert wurde, war ein Fest des Wohlgefallens.In der Genesis (1,4.10.12) heißt es: Als Gott Himmel und Erde er-schaffen hatte, betrachtete er sie, fand sie gut und fand daran Gefallen;denn als er das Licht betrachtete, sagte er, daß es gut sei; als er danndas Land sah wie eine Pflanzstätte von Bäumen, Kräutern und Pflan-zen, und das Meer mit allen Fischen, sagte er von neuem, daß es gutsei. Als aber die göttliche Majestät, wie die alten Väter bemerken,Mesopotamien abgesondert und das irdische Paradies geschaffen hat-te, erschuf er den Menschen (Gen 1,27), dann nahm er eine seiner Rip-pen und machte daraus die Frau (2,21f). Als er darauf sein ganzesWerk betrachtete, fand er es nicht nur gut, sondern mehr als sehr gut(1,31). Das ist das Wohlgefallen.

Die heilige Kirche nun, die nicht nur die Braut Unseres Herrn ist,sondern ihn auch nachahmt, will sich in allem und durch alles ihmangleichen; so feiert sie die Feste der Heiligen mit wunderbarer Freu-de. Wenn sie diese einzeln betrachtet und ehrt, indem sie auf die Glutder Märtyrer schaut, auf die Liebe der Apostel, die Reinheit der Jung-frauen, sagt sie nach dem Vorbild des Schöpfers, daß dies gut ist; wennsie aber alles zusammenfaßt und ein Fest für alle miteinander feiert,die Kronen, die Siegespalmen und Triumphe aller Heiligen betrach-tet, empfindet sie darüber unvergleichliches Wohlgefallen und ruftaus: Wie gut ist das, aber mehr als sehr gut! Das ist das Fest, das wirheute feiern.

Es gibt mehrere Gründe für seine Einsetzung; ich will mich aberdamit begnügen, nur über einen zu sprechen, der grundlegend ist. Es

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wurde eingeführt, um viele heilige Männer und Frauen zu ehren, dieim Himmel sind, deren Namen aber hier auf Erden nicht bekanntsind, so daß die Kirche ihr Fest nicht gesondert feiern kann. Glaubtnicht, daß es die Wunder und die außergewöhnlichen Berufungen sind,die alle heilig werden ließen, die im Himmel sind. O nein, denn es istwahr, daß es dort eine unendliche Zahl gibt, die in diesem Leben unbe-kannt waren, die keine Wunder gewirkt haben, deren man auf Erdenkeinerlei Erwähnung tut, die dennoch jene überragen, die viele Wun-der gewirkt haben und in der Kirche Gottes verehrt wurden und wer-den. Es war in der Tat ein Werk der göttlichen Vorsehung, die Heilig-keit des hl. Paulus, des ersten Eremiten, offenkundig und bekannt zumachen, der so verborgen und wenig beachtet in der Wüste lebte. OGott, was meint ihr, wie viele Heilige es gab in Höhlen, in Geschäften,in frommen Häusern und Klöstern, die unbekannt gestorben und jetztin der Herrlichkeit über jene erhöht sind, die auf Erden sehr bekanntwaren und verehrt wurden?

Deshalb blickt die Kirche auf das Fest, das im Himmel gefeiert wird,und begeht ein solches auf Erden, in dem sie jene preist, die sie kennt,ebenso aber jene, von denen sie weder den Namen noch das Lebenkennt.

Man bewundert die wunderbare Beziehung und Wechselwirkung zwi-schen Himmel und Erde, die so eng ist, daß man sagen kann, der Him-mel ist der Gatte der Erde, die nichts hervorbringen kann, außer durchdie Einwirkung, die sie von ihm erfährt. Ich will hier nicht von denEinflüssen sprechen, die die Astrologen behandeln; das ist hier nichtam Platz. Ich spreche von denen, die nach den Platonikern der Him-mel auf die Erde ergießt, die sie Früchte, Bäume und Pflanzen her-vorbringen lassen. Und was gibt die Erde dem Himmel als Entgelt?Sie breitet vor ihm die Pflanzen, Blumen und Früchte aus und schicktDüfte zu ihm empor, die wie Weihrauch aufsteigen, und der Himmelnimmt sie auf. Mit einem Wort, es ist herrlich, die Wechselwirkungzwischen Himmel und Erde zu sehen.

O Gott, wieviel wunderbarer ist es noch, die Beziehung zwischendem himmlischen und dem irdischen Jerusalem zu erwägen, zwischender triumphierenden und der streitenden Kirche (Hebr 8,5). Die strei-tende Kirche tut hier auf Erden, wovon sie glaubt, daß es in der trium-phierenden oben geschieht. Und wie eine gute Mutter entnimmt siedem himmlischen Jerusalem, was sie kann, um damit ihre Kinder zuernähren. Sie bemüht sich, sie zu erziehen und soviel als möglich denBewohnern des Himmels gleichförmig zu machen. Wenn sie daher

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sieht, wie dort das Martyrium und der Triumph jedes einzelnen Heili-gen gefeiert wird, tut sie hier unten das gleiche. Wie besingt sie dieGlut und Standhaftigkeit des hl. Laurentius, wie bewundert sie einenhl. Bartholomäus und so die anderen! Da sie aber sieht, welche Freudedarüber hinaus im Himmel über alle im allgemeinen herrscht, hatauch sie eine Festfeier mit diesem Ziel eingesetzt; das ist jene, die wirheute begehen. Das will sie uns am Beginn der heiligen Messe diesesTages zu verstehen geben, wenn sie sagt: „Freuen wir uns über das Festaller Heiligen“, besingen wir ihren Triumph und Sieg, und andere Worteder Freude und des Jubels. Ich will also so kurz als möglich einigesdarüber sagen, was man tun muß, um dieses Fest recht zu feiern, unddas auf drei Punkte zurückführen: einen ersten, den ich ausführenwill, und zwei weitere, die ich davon ableiten werde.

Gott hat von aller Ewigkeit gewünscht, uns seine Gnade zu schen-ken und uns die Wirkungen seiner Barmherzigkeit erfahren zu las-sen, folglich auch die seiner Gerechtigkeit, durch die er uns seineGlorie verleihen will. Dazu wünscht er, daß wir uns der Anrufungder Heiligen bedienen; sie sollen unsere Fürsprecher sein und „wirsollen durch ihre Vermittlung empfangen, was wir nicht zu erlangenverdienen“ ohne sie (Miss.). Nun lieben uns die seligen Geister, dieKerubim, die Serafim und alle übrigen Engel überaus und wünschenuns nicht nur die himmlischen Gunsterweise, sondern erwirken sieuns auch, gedrängt durch das Motiv der Liebe. Die Liebe zum Nächs-ten entspringt ja aus der Liebe zu Gott als ihrer Wurzel und Quelle.So geht auch aus der großen Liebe der Seligen zu unserem Erlöserund Meister der überaus lebhafte Wunsch hervor, er möge uns seineGnade in dieser Welt und seine Glorie in der anderen schenken undverleihen. In Wahrheit empfangen wir die Gnade von seiner Barm-herzigkeit und die Glorie von seiner Gerechtigkeit. Indessen ist sei-ne Barmherzigkeit so groß, daß sie über allem steht (Ps 145, 9; Jak2,13); folglich erhalten wir die Glorie von der einen und der ande-ren. Der Gerechtigkeit ist es eigen, jene zu belohnen, die sich bemü-hen, das Reich Gottes zu gewinnen, denn die göttliche Majestät hatuns auf die Erde gestellt, wo wir Verdienst oder Schuld erwerbenkönnen. Der Lohn, den er uns für unsere Anstrengung und Mühegibt, ist indessen unendlich größer als unsere Verdienste, und darinerstrahlt seine große Barmherzigkeit.

Die Heiligen haben aber noch ein anderes Motiv, das sie veranlaßt,Gott zu bitten und zu wünschen, daß er uns seine Gnade schenkt: siesehen in ihm das lebhafte Verlangen, sie uns mitzuteilen. Das be-

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wirkt, daß sie uns diese wünschen und erwirken mit einer um sogrößeren Liebe, je größer sie den Wunsch in Gott sehen. Das ist ihrhauptsächliches und vorzügliches Motiv. Sie wissen, daß wir für dieewige Glorie geschaffen sind, daß Unser Herr uns deshalb erlöst hatund nichts sehnlicher wünscht, als daß wir uns der Früchte der Erlö-sung erfreuen; deshalb gleichen sie ihren Wunsch und ihre Liebe dergöttlichen Majestät an in dem, was unser Heil betrifft, wie in allem.O Gott, diese Liebe bringt die zum Nächsten hervor und bewirkt,daß man sich bemüht, ihm zu helfen, daß man sich selbst vergißt, umihm zu dienen.

Man muß also die Heiligen bitten und anrufen. Das ist die Art, wieman ihre Feste feiern muß, indem man ihren Beistand erbittet undsich seiner bedient, um die Gnaden und Gunsterweise zu erlangen, diewir nötig haben. Unserem Herrn hat es so gefallen, daß man sich derAnrufung der Heiligen bedient, daß er uns, wenn er uns eine Gnadegewähren will, oft dazu anregt, zu ihrer Vermittlung Zuflucht zu neh-men, damit er uns gewährt, was wir erbitten. Er selbst fordert sie auf zubitten, indem er ihnen sein Verlangen bezeugt, daß sie die Gnadenerwirken, deren wir bedürfen. So beschwört auch die Kirche UnserenHerrn, die Heiligen anzuregen, daß sie für uns bitten (Miss.). Wirmüssen uns also mit vollem Vertrauen an sie wenden, vor allem anihrem Festtag, denn ohne Zweifel erhören sie uns und tun gern, umwas wir sie anflehen.

Da wir vom Gebet sprechen, müssen wir sagen, daß daran drei Per-sonen beteiligt sind: die erste ist jene, die man bittet; die zweite jene,durch die man bittet; die dritte jene, die bittet. Die erste, die manbittet, kann stets nur Gott sein, denn er besitzt in sich alle Schätze derGnade und der Glorie. Wenn wir also die Heiligen bitten, so bitten wirsie nicht, daß sie uns eine bestimmte Tugend oder Gnade gewährenoder zuteilwerden lassen, obwohl sie uns das erwirken; denn es stehtnur Gott allein zu, seine Gnaden zu schenken, wie es ihm gefällt undwem er will.

Nun kann man Gott auf zweierlei Weise bitten, nämlich unmittelbarund mittelbar. Unmittelbar heißt, direkt mit Gott sprechen, ohne Ver-mittlung eines Geschöpfes. Das tat der Hauptmann (Mt 8,6.8), derZöllner (Lk 18,13), die Samariterin (Joh 4,15), die Kanaanäerin (Mt15,22-27) und mehrere andere, von denen wir in der Heiligen Schriftlesen, daß sie Unseren Herrn direkt gebeten und von ihm große Gna-den empfangen haben wegen der Demut, mit der sie ihre Bitten vor-brachten. Seht den guten Abraham; was sagt er? Ich will zu meinem

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Herrn sprechen, obwohl ich nur Staub und Asche bin (Gen 18,27), soals wollte er sagen: Ach, es ist wahr, dieser Gott, zu dem ich sprechenwill, ist sehr erhaben und ich bin nichts als Staub, Asche und Unratund ohne Wert. Trotzdem will ich mit meinem Herrn sprechen, weil ermein Schöpfer ist und ich sein Geschöpf. Der Zöllner empfing dieVergebung seiner Sünden, ebenso die Samariterin und viele andere,denn Gott kann schenken, was ihm beliebt, ohne daß er der Hilfe undUnterstützung irgendeines Geschöpfes bedürfte.

Gott mittelbar bitten heißt, sich an ihn wenden durch Vermittlungder Heiligen und der seligsten Jungfrau, wie es der Hauptmann (Lk7,3-7) gemacht hat, der seine Freunde schickte, um Unseren Herrn zubeschwören, er möge kommen und seinen Diener heilen. Nachdemdie Kanaanäerin den Heiland unmittelbar gebeten hatte und sich vonihm zurückgewiesen sah, sprach sie zu ihm mittelbar durch Vermitt-lung der Apostel, die sie bat, ihre Fürsprecher zu sein (Mt 15,23).Diese Art zu bitten ist gut und sehr verdienstvoll, denn sie ist demütig.Sie geht von der Erkenntnis unserer Unwürdigkeit und Nichtigkeitaus. Da wir uns Gott nicht zu nahen wagen, um von ihm zu erbitten,was wir nötig haben, läßt uns die Demut uns an die Heiligen wenden.So werden unsere Gebete, die in sich schwach und von geringem Wertsind, mit denen dieser Heiligen vereinigt und werden große Kraft undWirkung haben.

Das unmittelbare Gebet ist ganz kindlich, voll Liebe und Vertrauen;es richtet sich an Gott als unseren Vater und unseren höchsten Herrn.Unser Herr selbst hat uns diese Art gelehrt im Gebet des Herrn (Mt 6,9-13; Lk 11,2-4), das mit dem Wort Unser Vater beginnt. O Gott, wieerfüllt von Liebe ist dieses Wort und wie erfüllt es das Herz mit Süßig-keit und kindlichem Vertrauen! Das könnt ihr erkennen an den Bitten,die in diesem Gebet ausgesprochen werden. Nachdem man Gott mitdem Namen Vater angeredet hat, bittet man ihn um sein Reich unddaß sein Wille geschehe hier auf Erden, wie er im Himmel oben ge-schieht. Wie groß sind diese Bitten, wie erfüllt von Liebe und Vertrau-en!

Die zweite Person, die am Gebet beteiligt ist, ist jener, der ver-langt. Beachtet, ich sage nicht, „der bittet“, sondern „der verlangt“,denn es ist ein Unterschied zwischen bitten und verlangen. Der Herrverlangt wohl von seinem Diener, aber er bittet ihn nicht; im Gegen-teil, wenn er etwas von ihm verlangt, befiehlt er ihm gewissermaßen,es ihm zu geben. Ein anderer wird verlangen, was man ihm schuldet;der bittet nicht wie beim Gebet, sondern fordert, was ihm von Rechts

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wegen zusteht. In der scholastischen Theologie wurde die Frage er-örtert, ob Unser Herr als Mensch jetzt für uns bittet, denn er ist unserAnwalt (1 Joh 2,1) und Mittler (1 Tim 2,5; Hebr 9,15; 12,24). Auchdie Anwälte müssen ebenso bitten wie die Mittler. Das wurde unterden Theologen heftig diskutiert. Mir scheint aber, man muß sichdabei darauf berufen, was unser göttlicher Meister erklärt hat: Ichsage nicht, daß ich für euch bitten werde (Joh 16,26). Es ist ja einUnterschied zwischen bitten und verlangen, wie wir eben gesagt ha-ben. Es gibt keinen Zweifel, daß unser Herr Jesus Christus nicht umdas Himmelreich für uns bittet, das ihm gehört und das er für uns umden Preis seines Blutes und seines Lebens erkauft hat; deshalb ver-langt er es als etwas, das ihm von Rechts wegen zusteht. Ebenso ist esmit den anderen Forderungen, die er an seinen Vater richtet. Manmag entgegnen, daß er diese Forderungen in der Form des Flehensund der Bitte ausspricht, indem er sich zu unserem Mittler macht.Ich bin kein streitlustiger Mensch; soviel steht fest: was er für unsverlangt, gehört ihm von Rechts wegen.

Die dritte Person, die am Gebet beteiligt ist, ist das vernunftbegabteGeschöpf. Doch lassen wir alles beiseite, was man dazu sagen könnte,und sagen wir nur, daß wir diese dritte Person sind. Wir Christen, diewir in diesem Tal des Elends leben, bitten und schicken unser Flehenund unsere Seufzer zum Himmel; wir erflehen die Hilfe Gottes undbitten um seine Gnade. Dazu bedienen wir uns der Anrufung der Hei-ligen. Wir flehen sie an, für unsere Anliegen einzutreten, da wir Fremd-linge und Pilger auf dieser Erde sind (Ps 39,13; Hebr 1,13; 1 Petr 2,11);wir bitten, daß sie uns helfen, zur Glückseligkeit zu gelangen, derensie sich erfreuen.

Aber ach, wir sind armselige Menschen! Unsere Gebete sind so kaltund schwach, nachlässig und lau. Zwischen den Gebeten der Seligenund den unseren besteht wahrhaftig ein Unterschied und ein Mißver-hältnis. O Gott, die glorreichen Heiligen beten ständig und unabläs-sig, ihre Glückseligkeit ist es, immerwährend das Lob Gottes zu sin-gen, aber mit solcher Glut, tiefer Demut, Liebe und Festigkeit, daß esvon unvergleichlichem Wert ist. Wenn unser armseliges, geringes undunreines Gotteslob sich mit dem ihren verbindet, gewinnt es eine wun-derbare Kraft und Wirksamkeit. Damit ist es so wie mit einem Trop-fen Wasser, der in ein Faß Wein fällt: er hört auf zu sein, was er war,und verwandelt sich in Wein. Wenn unsere Gebete in Verbindung mitdenen der glorreichen Heiligen vor die göttliche Majestät gelangen,

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verlieren sie ebenso ihre Schwäche und nehmen die Kraft, Stärke undWirksamkeit der ihren an. Durch diese himmlische Verbindung wer-den sie kostbar vor Gott und verdienstvoll für uns und unseren Näch-sten; denn die göttliche Güte und Liebe will nicht, daß man sich nurfür sich bemüht, sondern auch für den Nächsten.

Wie wir sagten, wünschen und bitten die Heiligen im Himmel unab-lässig, daß wir die Früchte der Erlösung genießen und auf diese Weisezur Glückseligkeit gelangen, die sie besitzen. Dazu werden sie gedrängtdurch jene Liebe, die nicht eifersüchtig ist (1 Kor 13,4), die kein ande-res Ziel hat als die Ehre Gottes; deshalb wünschen sie, daß wir siebesitzen. Das war der zweite Punkt, daß die Seligen um so glühenderund inniger für uns bitten, als sie im Wesen Gottes klarer sehen, wiesehr seine Güte unser Heil und unser Glück wünscht. Das gleichemüssen wir für unseren Nächsten tun, indem wir uns seinem Dienstwidmen und ihm helfen, sich zu retten, mit einer Liebe, die nicht eifer-süchtig oder neidisch ist, sondern auf Gott allein schaut und kein an-deres Streben kennt, als ihn zu verherrlichen.

Wenn wir doch ein wenig begreifen könnten, wie groß diese Liebeder Heiligen ist und mit welcher Glut und Demut sie ihre Gebetebegleiten! Wir hätten gewiß allen Grund, uns zu demütigen, wenn wirdie geringe Demut, die sich in unseren Gebeten findet, mit jener ver-gleichen wollten, die sie mit den ihren verbinden. Wir würden sehen,wie groß auch die Demut sein mag, die unsere Gebete begleitet, siewäre nichts im Vergleich mit jener, die sie im Himmel üben. Die De-mut der Seligen entspringt ihrer überaus klaren Erkenntnis ohne Schat-ten und Gleichnis (1 Kor 13,4; 1 Joh 3,2) von der Erhabenheit undWesenheit Gottes, vom unendlichen Abstand zwischen Gott und demMenschen, zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf; und je höherder Grad ihrer Glorie ist, um so mehr erkennen sie diesen unendli-chen Abstand, um so tiefer ist folglich ihre Demut. Wenn ein Menschin diesem Leben durch die häufige Übung der Erwägung und Betrach-tung der Erhabenheit Gottes und seiner eigenen Niedrigkeit zur Fest-stellung eines so großen Mißverhältnisses und Abstands voneinanderkommt, daß er sich bis in den tiefsten Abgrund seines Nichts ernied-rigt und demütigt, daß er keinen Ort findet, um sich tief genug in ihnzu versenken, wie groß muß dann erst die Demut der glorreichen Hei-ligen sein, die die Majestät Gottes so klar schauen!

Die Demut der heiligen Jungfrau war gewiß die größte in diesemLeben, denn sie besaß eine größere Erkenntnis Gottes als jedes Ge-

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schöpf. Wenn sie (Lk 1,48) sagt, daß er auf die Niedrigkeit seiner Magdgeschaut hat, zeigt sie, daß sie den unendlichen Abstand zwischenGott und ihr erkannte und bekannte. Die Demut, mit der sie die Worte(Lk 1,3 8) sagte: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, war so außerge-wöhnlich, daß sie selbst die Engel erstaunte. Aber die Demut Unsererlieben Frau jetzt im Himmel ist abertausendmal größer, als jene hierunten war, weil sie eine tausendmal größere Erkenntnis der Erhaben-heit Gottes hat, als sie damals war. Diese Erkenntnis der göttlichenMajestät, ihrer Erhabenheit und Vollkommenheit ist der vorzüglich-ste und stärkste Beweggrund, uns zu demütigen und uns in unser eige-nes Nichts zu erniedrigen. So wird die Demut in der Glorie geübt. Esgibt also keinen Zweifel, daß die Gebete der Heiligen, die aus solcherDemut verrichtet und von ihr begleitet werden, sehr verdienstvoll sindund uns viel helfen können.

Bevor wir jedoch ihre Wirkungen erfahren, müssen wir sie uns zusichern verstehen; denn wenn wir nicht unsererseits mitwirken, wer-den wir nicht mit ihrer Unterstützung rechnen können. Es wäre lä-cherlich, die Heiligen zu bitten, daß sie für uns eintreten und uns eineGnade erwirken, wenn wir unsererseits uns nicht für sie aufnahmefä-hig machen wollten. Wir bitten sie, uns Tugenden zu erwirken, undwollen uns nicht mit ihrer Übung befassen, noch einen Akt dieserTugenden machen. Trotzdem erwarten wir, daß die Heiligen sie unserwirken, obwohl wir tun, was den Tugenden entgegengesetzt ist, umdie wir bitten. Welch ein Mißbrauch ist das! Die Barmherzigkeit Got-tes will gewiß, daß wir mit seinen Gnaden und seinen Gaben mitwir-ken. Wenn wir von ihm durch die Fürbitte der Heiligen irgendwelcheTugenden erbitten, so gewährt er sie uns auch, wenn wir sie zuerst zuüben beginnen. Denn seht, unser teurer Erlöser und Herr hat uns er-schaffen ohne uns, d. h. er hat uns das Sein gegeben, als wir nichtswaren; aber er will uns nicht retten ohne uns, er will unserer Freiheitnicht Gewalt antun und keinen mit Gewalt retten; er braucht unsereZustimmung und unsere Mitwirkung mit seiner Gnade.

Nur dann wird sich unsere Erlösung erfüllen, ohne die wir nicht inden Himmel kommen können. Es gibt keine andere Pforte, um in dasParadies einzutreten, als die Erlösung des Heilands. Deshalb schließtdie Kirche alle ihre Gebete mit dem Namen unseres Herrn Jesus Chris-tus, um zu zeigen, daß die Gebete der Engel und der Menschen vomewigen Vater nur im Namen seines Sohnes erhört werden können (Joh14,13; 16,23). Folglich kann kein Geschöpf, selbst nicht die seligsteJungfrau, welche Gebete es auch verrichten mag, zur Glorie gelangen,

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außer durch den Tod und die Passion Unseres Herrn, der sie uns er-kauft und verdient hat. Die Heiligen bitten also, daß uns das Verdienstdieses Leidens zugewendet werde. In dem Maß nun, wie wir den Ga-ben Gottes entsprechen, teilt er uns neue zu, und dann vermehren wirsein Wohlgefallen, uns immer neue zu schenken. Auch die Seligenbitten seine Güte inständig, sich über uns zu ergießen. Wie wir sagten,werden sie dazu angespornt, weil sie das Verlangen und die Freudesehen, die Gott daran hat, sich zu ergießen und mitzuteilen.

Seht, wenn wir uns recht empfänglich machen wollen für die Unter-stützung durch die Heiligen und wenn wir sie bewegen wollen, für unszu bitten, müssen wir treu die Tugenden üben, die wir durch ihre Ver-mittlung erbitten, und uns recht aufnahmebereit machen für die Ga-ben des Herrn. Das ist der dritte Punkt. Um das zu tun, müssen wir esmachen wie sie, nämlich die Lehren annehmen die unser Heiland aufdem Berg verkündete, auf den er sich zurückzog (Mt 6,1-12), als ersich von einer großen Volksmenge umgeben sah. Da sprach er dieheiligen Worte, in denen die ganze christliche Vollkommenheit ent-halten ist: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich;selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen; selig dieWeinenden, denn sie werden getröstet werden; selig schließlich, die Ver-folgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmel-reich.

Das ist eine ungewöhnliche Lehre, die dem Geist der Welt direktentgegengesetzt ist. Ihr werdet sie aber besser verstehen durch dasGleichnis jener Statue, die Nebukadnezzar im Traum sah. Sie hatteeinen Kopf aus Gold, Hände aus Silber, einen Rumpf aus Erz undFüße aus Ton, und alles übrige, wie ihr oft gehört habt. WährendNebukadnezzar ihre Schönheit bewunderte, sah er, wie sich ein klei-ner Stein von der Höhe löste, der die Füße der Statue traf, sie zu Bodenwarf und sie zu Staub machte, so daß nichts von ihr übrigblieb (Dan2,31-35). Meine lieben Schwestern, das sage ich euch, denn obwohlihr noch nicht außerhalb der Welt seid, lebt ihr doch wie die Nasiräer(Num 6) von der Welt und ihrer Eitelkeit entfernt und zurückgezogen.Was ist denn diese Statue anderes, ich bitte euch, als die Welt odervielmehr ihre Eitelkeit und ihr Stolz, die einen Kopf aus Gold hat,usw.? Und der Berg, von dem ein kleiner Stein herabfiel, ist nichtsanderes als Unser Herr, aus dessen Mund dieser Stein der achtSeligkeiten kam, der die Statue der Eitelkeit zerstört; er bewirkte, daßimmer mehr Menschen die Welt, ihre Reichtümer, Ehren und Wür-den aufgaben und arm, gering und verächtlich wurden.

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Es ist wahr, daß diese Lehre des Evangeliums über die ganze Erdeverbreitet und von vielen ergriffen wurde. Seht, wie das geschehen ist.Unser Herr sagt: Selig die Armen im Geiste; die Welt sagt: Glücklich,die reich sind, Gold und Silber haben; glücklich sind jene, die jede Artvon Bequemlichkeit in diesem Leben haben. Wie unglücklich sinddagegen die Armen, die nichts von all dem haben. Sie gelten nichts,man hält sie für bemitleidenswert. Doch Unser Herr, der die Torheitund das Elend der Weltmenschen sieht, und worauf sie ihr Glück grün-den, wirft diesen Stein auf die Füße dieser Statue und sagt als erstes:Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; wehedagegen über die Reichen (Lk 6,24); denn abgesehen davon, daß siedieses Reich nicht besitzen werden, werden sie unglücklich sein, weilsie als Lohn nur die Hölle und die Gesellschaft der Teufel haben wer-den.

Ich könnte darüber noch viel hinzufügen, wenn ich anderswo wäre;ich will es aber übergehen, weil ich nur für euch spreche. Unser göttli-cher Meister fährt fort: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werdendas Land besitzen. Diese Sanftmut will nun, daß man die Regungendes Zornes unterdrückt, daß man mild, herzlich und voll Güte gegenalle ist, daß man dem Feind verzeiht, daß man Verachtung erträgt; dieEitelkeit der Welt dagegen, die einen Geist hat, der dazu in direktemWiderspruch steht, sagt: Glücklich, wer sich an seinem Feind rächt,wer allen Furcht und Angst einjagt, dem man kein Wort der Erwide-rung und der Geringschätzung zu sagen wagt; der ist glücklich! Dage-gen erachtet die Welt den für unglücklich, der in Verachtung und An-feindung mild und gütig ist. Unser Herr wirft von neuem diesen Steinund erklärt: Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besit-zen. Mit diesen Worten macht er den Stolz und die Arroganz zunichte,auf denen die Welt ihr Glück begründet.

Er fügt noch hinzu: Selig, die weinen, denn sie werden getröstet wer-den. Die Welt sagt: Glücklich jene, die lachen und es sich gut gehenlassen, die auf Bällen tanzen, die maskiert gehen, den Vergnügungenund Eitelkeiten nachjagen; wehe denen, die weinen! Wie sind solcheLeute zu bedauern! Schließlich fügt der Erlöser hinzu: Selig, die Hun-ger und Durst nach Gerechtigkeit haben. Selig nicht nur jene, die Ge-rechtigkeit üben, sondern auch jene, die um der Gerechtigkeit willenverfolgt werden. Sagt die Welt nicht genau das Gegenteil? Gründet sieihr Glück nicht gerade auf dem, was den Lehren des Evangeliumsentgegengesetzt ist? Unser Herr schaute diese Staute nicht im Traumwie Nebukadnezzar, sondern in Wirklichkeit, und sah, daß sie nur

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Füße aus Ton hat, d. h. daß alles, was diese Welt schätzt, nur auf nich-tigen und vergänglichen Dingen beruht; deshalb warf er, wie wir gesagthaben, diesen Stein von der Höhe der Seligkeiten, in denen die ganzechristliche Vollkommenheit enthalten ist.

Als aber die Welt sah, daß ihr Ruhm zerstört ist und daß man ihnaufgibt für die Armut, die Verachtung, Tränen und Verfolgung, daschlich sich die menschliche Klugheit ein und erfand abertausendAuslegungen dieser Seligkeiten; und sie hat alles verniedlicht. O Gott,sagt sie, die Armen im Geiste sind wirklich glücklich. Aber heißt armim Geiste sein nicht, den Gebrauch des Reichtums haben, Güter undWürden besitzen, wenn man nur sein Herz nicht zu sehr daran hängt?Andere werden sagen: Um arm im Geiste zu sein, genügt es, Religiosezu sein, auf die Welt und dergleichen verzichtet zu haben. Es ist wahr,daß man es durch diesen Verzicht schon in gewissem Maß ist; aberach, nicht das meint Unser Herr. Gerade darüber beklagt sich der hl.Augustinus, denn es ist sehr schwer, viele Güter und Ehren zu besitzenund nicht daran zu hängen. Das genügt nicht, sagt er, um Religiose zuwerden. Alles aufgeben, um alles nach Wunsch zu haben, arm werden,indem man ins Kloster geht, und wollen, daß uns nichts abgeht, dieArmut geloben und keinerlei Unbequemlichkeit spüren, und was dasSchlimmste ist, im Orden suchen, was wir in der Welt nicht findenkonnten, trotz des Gelübdes danach trachten, mehr Bequemlichkeitund Behaglichkeit zu haben, als ehe wir arm wurden, o Gott, was füreine weichliche, fade und sträfliche Armut! Es ist trotzdem wahr undes ist ein Unglück, daß jene im Kloster schwerer zufriedenzustellensind, die vor ihrem Eintritt am wenigsten Besitz hatten.

Gewiß will unser Herr und Meister nicht nur von solcher Armutsprechen; so haben er und die Heiligen sie nicht geübt. Er ist ganznackt gestorben und seine Heiligen sind ihm in dieser Armut nachge-folgt; sie haben alles aufgegeben und sich mutig allem Ungemach aus-gesetzt, das sie mit sich bringt. Seht den heiligen Abt Serapion, vondem im „Leben der Väter“ berichtet wird, daß er alles verließ und sichganz nackt auszog. Hätte man ihn gefragt: Guter Heiliger, was hat dichdazu bewogen?, so hätte er gesagt: O Gott, dieser liebenswerten Ar-mut ist das Himmelreich verheißen; das hat mich dazu bewogen undläßt mich in dieser Weise leiden. Seht, wie uns die Armut dazu bringt,die Unbequemlichkeiten anzunehmen, die aus ihr folgen.

Was nun die menschliche Klugheit gegen die Armut vorzubringenweiß, das erfindet sie ebenso gegen die Sanftmut, die Tränen und alle

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anderen Seligkeiten zusammen. Man braucht aber nicht so viele Deu-tungen, man muß einfach vorgehen und sich an den Wortlaut halten.Wenn wir uns zur Aufgabe machen wollen, die Armut anzunehmen,dann nehmen wir gern die Beschwerden und Unbequemlichkeiten an,die sie von selbst mit sich bringt. Seien wir gütig und herzlich gegenalle; weinen wir, wenn wir getröstet werden wollen; ich will sagen,vergießen wir geistliche Tränen. Ich weiß wohl, daß die Worte: Selig,die weinen, von jenen zu verstehen sind, die ihre Sünden und die desNächsten beweinen, weil sie Gott widersprechen, oder vielmehr we-gen der Entfernung vom höchsten Gut, wie David getan hat (Ps 42,4),der sein Brot mit Tränen netzte und sagte: Wo ist dein Gott? Dochnicht alle haben diese Tränen; sie sind auch nicht zum Heil notwendig.Dennoch können alle das Verlangen nach ihnen haben und vor dergöttlichen Majestät stehen mit einem zerknirschten und demütigenHerzen (Ps 59,19). Laßt uns gerecht sein, Verfolgungen aller Art umder Gerechtigkeit willen erleiden und ertragen, auf diese Weise Durstund Hunger nach ihr haben, und laßt uns dadurch den Vater und denSohn und den Heiligen Geist verherrlichen. Amen.

Zum Fest der BeschneidungZum Fest der BeschneidungZum Fest der BeschneidungZum Fest der BeschneidungZum Fest der Beschneidung

Nr. 52: 1. Januar 1622 X,147-163

Als acht Tage vorüber waren und der Knabe be-schnitten werden mußte, erhielt er den Namen Je-sus (Lk 2,21).

Die Tage, die Monate und die Jahre gehören alle Gott, der sie ge-macht und geschaffen hat. Ich weiß, das Altertum teilte die Tage undJahre so ein, daß man sie nach dem Lauf des Mondes benannte undunterschied und ihnen eigene Namen gab, die ihren falschen Gotthei-ten eigen waren, wie Merkur, Mars, Jupiter und ähnliche. Dieser Aber-glaube war bei den Menschen so verbreitet, daß man ihn nur schwerausrotten konnte. Als ihn daher die heilige Kirche ausmerzen wollte,hat sie die Tage den Heiligen geweiht und wollte lieber jene, auf diekein Fest trifft, von dem sie den Gottesdienst feiert, als Ferie bezeich-nen, als sich jener Namen zu bedienen, die das heidnische Altertumgebrauchte. Obwohl man aber die Tage des Jahres den Heiligen weih-te, bleiben sie dennoch alle Unserem Herrn geweiht als demjenigen,

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der sie geschaffen und dem sie alle gehören. Deshalb weiht ihm dieKirche den heutigen Tag als den ersten und mit ihm das ganze Jahr.

An diesem Tag nun begehen wir das Fest der Beschneidung unseresgöttlichen Heilands, wobei er nach der Beschneidung den heiligenNamen Jesus erhielt. Die Geschichte der Beschneidung ist sehr schönund bewundernswert; sie ist gleichsam ein Bild oder eine Darstellungder geistigen Beschneidung, die wir alle vornehmen müssen. Das Evan-gelium (Lk 2,21), das heute gelesen wird, ist zwar das kürzeste desganzen Jahres, trotzdem aber sehr erhaben und sehr tiefgründig. Inihm wird ja des Blutes und des Namens Jesu gedacht, und in diesenzwei Worten ist die ganze Bedeutung der Beschneidung enthalten. Ichwerde also dem Evangelium folgen und die Predigt in zwei Punkteeinteilen: im ersten werden wir sagen, was die Beschneidung ist undwie man die geistige Beschneidung vornehmen muß; im zweiten, wieman den heiligen Namen Jesus recht aussprechen muß.

Zum ersten Punkt: Die Beschneidung war eine Art Sakrament imAlten Bund (Gen 17,10-14; Lev 12,3), das die Reinigung von derErbschuld versinnbildete. Sie war gleichsam ein Bekenntnis des Glau-bens und der Erwartung der Ankunft Unseres Herrn, und die Beschnit-tenen wurden aus Feinden Gottes, die sie vorher waren, zu seinen Kin-dern und Freunden. Unser göttlicher Heiland hatte es nicht nötig,beschnitten zu werden, denn er war nicht nur der Gesetzgeber, son-dern war ohne jeden Rostfleck der Sünde. Er war der Sohn Gottes,folglich ganz heilig und ohne Makel (1 Petr 1,19). Vom Augenblickseiner Menschwerdung an war er infolge der engen Verbindung dermenschlichen Natur mit der göttlichen dem Leib wie der Seele nacherfüllt von allen Gnaden und Segnungen. Dadurch war er nicht nurmit der Fülle der Gnaden überhäuft, sondern seine Seele war auchganz verklärt, da er sich der klaren Anschauung Gottes erfreute. Sohatte er in keiner Weise nötig, dem Gesetz der Beschneidung zu ge-horchen; er wollte aber trotzdem nicht unterlassen, sich ihm zu unter-werfen. Die Beschneidung war zweitens ein Kennzeichen, an dem dasVolk Gottes unter den anderen zu erkennen war. Unser Herr hatteaber nicht nötig, mit diesem Merkmal gekennzeichnet zu werden, daer selbst das Siegel oder Abbild des ewigen Vaters war (Hebr 1,3). Esgibt eine endlose Zahl von Erklärungen und Begründungen, die zeigensollen, daß der Heiland diesem Gesetz nicht unterworfen war; es wür-de aber zuviel Zeit beanspruchen, sie wiederzugeben. Es soll also ge-nügen zu sagen, daß er dazu in keiner Weise verpflichtet war. Wenn ersich der Beschneidung unterziehen wollte, dann deswegen, um uns ein

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vorzügliches Beispiel der geistigen Beschneidung zu geben, die wirvollziehen müssen.

Die Beschneidung geschah an einem Teil des Leibes, der von derSünde Adams am meisten betroffen und geschädigt wurde. Das ist dererste Hinweis, den die alten Väter geben, wenn ich mich nicht täusche,auch der hl. Johannes Chrysostomus. Sie wollen uns zeigen: wenn wirdie geistige Beschneidung vollziehen wollen, müssen wir sie an demTeil vornehmen, der am meisten von allen krank ist. Es ist gewiß eingroßes Mißgeschick, daß viele und fast alle Christen, wenn sie diegeistige Beschneidung an sich vollziehen wollen, um am heutigen Festteilzuhaben, sie an dem Teil vornehmen, der am wenigsten betroffenist. Da sind jene, die sinnlichen Lüsten verfallen sind (ich nehme die-ses etwas derbe Beispiel, bis mir ein anderes einfällt) und diesen tieri-schen Freuden nachjagen. Sie wollen die geistige Beschneidung voll-ziehen, entnehmen ihrer Börse Geld und gefallen sich in einigen Al-mosen. Es ist recht, die Börse zu beschneiden und Almosen zu geben.Das Almosen ist etwas Gutes, sagt der Apostel (1 Tim 6,18; Hebr13,16), es ist gut zu jeder Zeit und Gelegenheit; aber seht ihr nicht,obwohl ihr die geistige Beschneidung vornehmt, vollzieht ihr sie nichtin der rechten Weise. Beschneidet nicht eure Börse, denn nicht das istder Teil, ihr Wollüstigen, wo ihr am meisten krank seid, sondern be-schneidet das Herz. Beschneidet diese Reden, diese Gesellschaft, die-se Unterhaltungen und Freundschaften, diese Liebeleien und ähnlicheTorheiten, denn da müßt ihr beginnen, wenn ihr eine gute Beschnei-dung vornehmen wollt. Aber das tun sie nicht, sie folgen vielmehrihren tierischen Neigungen und glauben viel zu tun und allem Genügegetan zu haben, wenn sie irgendein Almosen geben.

Andere sind geizig und begierig, Reichtum, Güter und Bequemlich-keiten zu erwerben und zu besitzen. Sie wollen sich gleichwohl be-schneiden; deshalb machen sie Nachtwachen, strenges Fasten undAbstinenz; sie besorgen sich Bußhemd, Bußgürtel und was weiß ich;und wenn sie das tun, glauben sie schon halbe Heilige zu sein. O Gott,was macht ihr? Diese Nachtwachen, dieses Fasten sind gut, aber ihrmacht die geistige Beschneidung nicht gut, denn ihr beginnt nicht beidem am meisten betroffenen Teil. Das Übel sitzt im Herzen, und ihrtötet den Leib ab. Ihr müßt eure Börse beschneiden, indem ihr eurenBesitz den Armen austeilt. Schneidet alles aus eurem Herzen, was sichin ihm findet an ungeordneter Anhänglichkeit an Reichtum, Ehrenund Bequemlichkeit. Setzt das Messer der Beschneidung sicher undkühn an dieses Herz, an diese Neigungen an und beginnt da also an derStelle, die in euch am schwersten krank ist.

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Andere machen große Bußübungen und Strengheiten, kasteien ih-ren Leib durch Mühen und Anstrengungen jeder Art, sie zögern abernicht, ihre Zunge in das Blut des Nächsten zu tauchen, indem sie ihnverleumden und herabsetzen. Ihr Bedauernswerten, ihr glaubt rechtbeschnitten zu sein, wenn ihr ein Bußhemd tragt, euch geißelt undähnliches. Seht ihr denn nicht, daß die Zunge der Teil ist, der beschnit-ten werden muß; sie badet sich im Blut des Unschuldigen (Ps 64,4).

Man findet auch solche, die ihre Zunge recht beschneiden und sichentschließen, ein ganz strenges, tiefes Schweigen zu beobachten, abersie knurren und murren stets in ihrem Herzen und sind ständig vollvon Murren und Widerspruch. Ach, meine Lieben, was macht ihr?Das Übel ist versteckt in eurem Herzen; es ist also nicht damit getan,die Zunge zu beschneiden. Man muß die Beschneidung an dem betrof-fenen Teil vornehmen, in dem das Knurren und Murren und die Emp-findungen entstehen, denn die Beschneidung muß an der Stelle ge-schehen, die am schwersten krank ist.

Darin also besteht die geistige Beschneidung, die Leidenschaften,Strebungen, Launen und Neigungen zu untersuchen, um ihre Auswüch-se zu beschneiden und abzutrennen. Dazu ist eine sorgfältige und ge-diegene Prüfung erforderlich, welcher Teil am meisten betroffen, wel-che Leidenschaft, Neigung und Laune in uns ist, um hier mit der inne-ren Beschneidung zu beginnen.

Der zweite Hinweis, den ich gebe, ist der, daß es eine Beschneidungwar, nicht ein Einschnitt. Zwischen Beschneidung und Einschnitt istein großer Unterschied. Der Einschnitt ist erforderlich bei Kranken,die irgendeine Wunde oder ein Geschwür haben, an die man das Mes-ser oder das Eisen anlegt, um sie zu öffnen und den Schmutz aus ihnenzu entfernen. Die Beschneidung dagegen ist nicht das gleiche. Diemeisten Christen machen einen Einschnitt statt der Beschneidung: siemachen wohl irgendeinen Schnitt am betroffenen Glied, aber sie set-zen nicht das Messer an, um vom Herzen abzuschneiden und zu tren-nen, was ein Auswuchs ist. Nun, das mußte ich euch gleichsam alsVorwort sagen: Alle sind verpflichtet, die Beschneidung vorzuneh-men, aber auf verschiedene, nicht in gleicher Weise. Denn die Geistli-chen, die Priester und Bischöfe, die Ordensmänner und Ordensfrauenhaben eine besondere Verpflichtung, es zu tun, und auf andere Art alsjene, die in der Welt leben, da sie in besonderer Weise Unserem Herrngeweiht sind.

Es gibt Christen, die alles abschneiden, was sie daran hindert, dasGesetz Gottes zu beobachten. Sie sind sehr glücklich, denn sie werden

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schließlich das Paradies besitzen; denn um es zu besitzen, muß mannur die Gebote Gottes gut beobachten und befolgen (Mt 19,17). Esgibt andere, die sich damit begnügen, eine sündhafte Leidenschaft oderGewohnheit zu beschneiden und gegen sie zu kämpfen; sie hören abernicht auf, in tausend anderen Sünden gegen das Gesetz des Herrn zuverkommen und sich darin zu wälzen. Nun, die machen keine Be-schneidung, sondern nur einen Einschnitt, denn sie gehen nicht an denschadhaften Teil heran, um zu entfernen, was wirklich beschnittenwerden muß. Sie begnügen sich vielmehr damit, irgendeinem betroffe-nen Glied einen Schnitt beizubringen, obwohl es gewöhnlich nichtdas am schwersten erkrankte ist. Trotzdem glauben sie, auf diese Wei-se eine richtige Beschneidung vorzunehmen. Daher kommt es, daß ihrin der Welt Leute seht, die sich im Schlamm und Morast unzähligerSünden wälzen, die mit vielen verderbten Leidenschaften und Neigun-gen behaftet sind. Wenn ihr sie fragt, was sie tun oder getan haben,werden sie antworten, daß sie nichts Schlechtes getan haben. O, wirhaben nicht getötet, nicht gestohlen, werden sie sagen; ich bin keinRäuber, kein Mörder. Das stimmt, aber das ist nicht alles. Es gibt vieleandere Sünden als diese, die ihr vielleicht begangen habt, die ebensogefährlich sind wie jene, von denen ihr sagt, daß ihr sie nicht begangenhabt. Gott hat in seinem Gesetz nicht nur zwei Gebote, sondern es gibtnoch andere, die man notwendigerweise beobachten muß, um gerettetzu werden; denn gegen ein Gebot Gottes fehlen heißt, sich selbst zuden Peinen der Hölle verurteilen und verdammen. Als der Herr Mosesein Gesetz gab, sagte er nicht nur: Wer tötet, muß sterben, noch: Werstiehlt, muß sterben, sondern er spricht die gleiche Drohung aus, ver-hängt die gleiche Qual und dieselbe Strafe bezüglich der anderen Ge-bote.

Es ist eine unbestreitbare Wahrheit, daß keiner je in den Himmelkommt, der nicht das ganze Gesetz des Herrn befolgt hat (Mt 5,19;Jak 2,10); ich sage, das ganze und nicht nur einen Teil davon. Werdaher nur einen Einschnitt macht, wer sich darauf beschränkt hat, einoder zwei Gebote zu beobachten, indem er die schlechte Gewohnheitablegt, dagegen zu verstoßen, ohne sich zu bemühen, die sündhaftenGewohnheiten zu beschneiden, die ihn zum Übertreter der übrigenGebote werden lassen, der wird verdammt. Seht also, wie notwendiges ist, daß jeder die geistige Beschneidung vollzieht, nicht alle aufgleiche Weise; aber alle insgesamt müssen schneiden und das Messernicht nur an einer Stelle ansetzen, wie jene, die einen Einschnitt ma-chen, sondern ringsherum, indem sie das ganze Gesetz beobachtenund befolgen, ohne etwas davon auszunehmen. Wenn sie das tun, wer-

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den sie sehr glücklich sein, denn mit diesem Kennzeichen versehenwerden sie als Kinder Gottes erkannt und schließlich in seine Herr-lichkeit versetzt werden.

Was jene betrifft, die dem göttlichen Dienst hingegeben und geweihtsind, uns Geistliche und Ordensleute, so sind wir mehr als die anderenzu dieser geistigen Beschneidung verpflichtet. Wir müssen sie nichtnur in der Weise vornehmen wie die Weltleute, sondern noch auf eineandere Art, zu der sie nicht verpflichtet sind, weil sie nicht die dazugeeigneten Mittel haben wie wir und weil sie außerdem nicht so aus-schließlich Unserem Herrn geweiht sind. Es genügt nicht, daß Ordens-leute sich damit zufriedengeben, ein Laster oder eine schlechte Nei-gung zu beschneiden und zu bekämpfen; sie müssen vielmehr ringsum das ganze Herz vorgehen. Darauf verwenden sie besondere Sorg-falt, damit sie ihre Leidenschaften und Launen, ihre Zu- und Abnei-gungen und Gewohnheiten beobachten und feststellen, um sie zu be-schneiden. Dazu nehmen sie eine besondere Prüfung vor. Es gibt auchheute Ordensleute, die diese Prüfung zweimal am Tag vornehmen, umzu sehen und zu erkennen, in welchem Zustand sich ihr Herz befindet,um dann mit dem Messer der Beschneidung alles abzuschaben, wasüberflüssig und gefährlich ist; uzw. nicht nur, was krank ist, sondernauch, was das geringste Hemmnis und Hindernis im geistlichen Lebenverursachen könnte. Dieses Messer ist nichts anderes als ein guter,fester Entschluß, der sie alle Schwierigkeiten überwinden läßt, umdiese innere Beschneidung großmütig vorzunehmen. Deshalb wird dasOrdensleben ein Krankenhaus oder Hospital genannt, in dem mannicht nur die gefährlichen und tödlichen Krankheiten behandelt, son-dern auch die leichten und ungefährlichen. Ja, man geht noch weiterund gelangt dahin, sich hier von den kleinsten Fehlern zu reinigen,von leichten Dingen, die aber das geistliche Leben hemmen, und sei esnur ein wenig, und die Vollkommenheit verzögern. Man entfernt sogardie Ursachen des Übels und führt das Messer rings um das Herz; es istein Teil, den man stets mit dieser inneren Beschneidung reinigen muß.Auf dieses Herz muß man achten und darüber wachen, um seine Ge-danken und Wünsche zu sehen, seine Leidenschaften und Neigungen,seine Gefühle, Zu- und Abneigungen, um sie zu stutzen. Wer das tut,ist wirklich sehr glücklich.

Mancher wird mir aber sagen: Das ist wahr, doch ich habe schonöfter das Messer angesetzt, um solche Leidenschaften und Neigungenzu stutzen, solche Widerstände und Abneigungen, die ich in meinemHerzen unbeschnitten entdecke, die mir einen erbitterten Kampf lie-

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fern. Obwohl ich bisher alles getan zu haben glaube, was ich konnte,obwohl ich darauf viel Zeit mit aller möglichen Sorgfalt verwendethabe, fühle ich trotzdem noch ständig starke und mächtige Leiden-schaften, Abneigungen, Unlust, Widerstände und viele andere Regun-gen, die mir zu schaffen machen und mich befehden. Gemach, meineLieben, antwortet man ihnen, wir sind nicht hergekommen, um zugenießen, sondern um zu leiden. Wartet ein wenig; eines Tages werdetihr im Himmel sein, wo es nur Frieden und Freude gibt. Dort werdetihr keine Leidenschaften fühlen, keine Regung des Neides, der Abnei-gung und des Widerstrebens, sondern ihr werdet Frieden und dauern-de Ruhe besitzen. Dort also wird man genießen, nicht in diesem Le-ben, wo man leiden und sich beschneiden muß. Wer hier auf Erdenohne Leidenschaft wäre, der litte nicht, sondern genösse bereits. Nun,das kann und darf nicht sein, denn solange wir leben, werden wir Lei-denschaften haben und werden sie bis zum Tod nicht loswerden, dennunser Sieg und unser Triumph beruht auf dem Kampf gegen diese Lei-denschaften und Regungen. Das ist die allgemeine Auffassung derKirchenlehrer, die von der ganzen Kirche übernommen wurde.

Ich weiß wohl, daß es einige Einsiedler und Anachoreten in Palästi-na gab, die behaupten wollten, der Mensch könne durch sorgsame undhäufige Abtötung so weit kommen, daß er frei von Leidenschaften undRegungen des Zornes ist, daß er eine Ohrfeige hinnehmen könne, ohnezu erröten, beleidigt, verspottet, geschlagen werden, ohne es zu fühlen.Ihre Meinung wurde aber von der Kirche als falsch verurteilt und zu-rückgewiesen. Sie hat als wahr erklärt: solange der Mensch lebt, überdiese Erde kriecht und sich hinschleppt, wird er Leidenschaften ha-ben, Regungen des Zornes empfinden, Aufruhr des Herzens, Regun-gen und Neigungen, Widerwillen, Abneigungen und alle anderen Din-ge, denen wir alle unterworfen sind.

Wir dürfen also nicht erstaunt sein, wenn man uns auf unsere Fehleraufmerksam macht oder uns tadelt, daß wir sogleich oder sogar sehrlange diese Erregung fühlen, daß wir Widerwillen gegen etwas emp-finden, was uns widerfährt, oder was uns gegen unsere Neigungen ge-schieht; noch weniger, daß wir mehr Vorliebe für das eine als für etwasanderes haben. Gewiß nicht, denn das sind natürliche Leidenschaften,die an sich keine Sünde sind. Ihr dürft nicht meinen, daß ihr sündigtund Gott im geringsten beleidigt, wenn ihr Regungen und Widerstre-ben fühlt; keineswegs, denn das geschieht unabhängig von uns. Dieseverschiedenen Regungen sind keineswegs sündhaft; nicht da muß mandas Messer der Beschneidung ansetzen. Viele täuschen sich, wenn sie

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sich einbilden, alles beruhe darauf, nichts zu fühlen. Wenn sie irgend-einen Aufruhr der Leidenschaften empfinden, halten sie alles für ver-loren. Ihr Armen, seht ihr nicht, daß nicht das der Teil ist, der ammeisten krank ist, und nicht der, den man beschneiden muß, da ihrkeine Gewalt über seine Regungen habt?

Was soll ich also beschneiden? Seht, beschneidet das, was infolgedieser Regungen geschieht, legt das Messer an den Ausdruck des Ge-fühls. Ihr Weltleute, beschneidet die Gotteslästerungen, die Flüche,die ungerechten und verleumderischen Worte, die aus dem Zorn ent-stehen; sie sind wirklich eine Sünde und eine tödliche Krankheit. IhrLieben, beschneidet die Gedanken des Grolls, die ihr Tage, Wochenund Monate lang im Herzen bewahrt, erwägt und aufrechthaltet, denfreiwillig genährten Widerstand gegen den Gehorsam, der eurem Ge-schmack und eurer Vorstellung widerspricht. Ihr übrigen, sucht euerHerz ab, betrachtet sorgsam eure Leidenschaften, Neigungen und Af-fekte, dann schabt und stutzt alles sauber und vollständig. Begnügteuch nicht damit, einen Einschnitt zu machen, wie jene, die in derWelt leben, sondern macht eine gute geistige, innerliche Beschnei-dung. Das ist die zweite Bemerkung, die ich zum Evangelium mache.

Die dritte ist, daß im Alten Bund jener, der beschnitten werden muß-te, sich nicht selbst beschnitt, sondern durch die Hand eines anderenbeschnitten wurde. Unser Herr nun, der sich in allem und ganz denanderen angleichen und ohne Ausnahme dem Gesetz unterwerfenwollte, wollte auch nicht durch sich selbst beschnitten werden, son-dern durch die Hand eines anderen, wer es auch sei. Ich weiß wohl,daß es darüber verschiedene Meinungen der Kirchenlehrer und deralten Väter gibt, aber ich will sie jetzt nicht wiedergeben; ich will nurvon einer sprechen. Sie besagt, Unser Herr wollte von der Hand einesanderen beschnitten werden als Vorbild für uns, um uns zu zeigen, daßes zwar eine gute Sache ist, sich selbst zu beschneiden, noch besseraber, durch andere beschnitten zu werden. Gewiß, ich weiß zur Genü-ge, wie empfehlenswert die alten Einsiedler und Anachoreten sind,die in der Wüste lebten, und wie hoch man sie schätzen muß wegen derbewundernswerten Siege und Triumphe, die sie errungen haben, in-dem sie selbst ihr Herz und ihre inneren Leidenschaften abgetötetoder beschnitten haben, dabei unterstützt von der Gnade Gottes, an-geregt und gedrängt durch die Einsprechung des Heiligen Geistes, derHeiligen und ihrer Schutzengel. Ich weiß aber ebensogut, daß die Be-schneidung, die wir von der Hand anderer erdulden, die ihre über-trifft, weil sie schmerzlicher und deshalb verdienstvoller ist.

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Alle Christen sind verpflichtet, sich gegenseitig zu beschneiden.Trotzdem gibt es in den Ordensfamilien und Ordenshäusern stets Per-sonen, die sich darüber hinaus bereithalten und ständig über ihr eige-nes Herz wachen, um zu erkennen, was unterdrückt und abgetötetwerden muß. Folglich haben sie das Messer zur Hand, um sich selbstzu beschneiden. Das hindert sie aber nicht daran, daß sie von anderenbeschnitten werden wollen, und ohne Zweifel ist diese Beschneidungschmerzlicher und fühlbarer als die andere. Es gibt stolze, aufgeblase-ne, hochmütige und ungeschliffene Leute; sie erkennen wohl, daß esunbedingt notwendig ist, diese Leidenschaften zu beschneiden, dennsie sind ein großes Hindernis für die Gnade Gottes. Sie sind beimGebet und dabei entflammt sich ihr Herz im Verlangen nach dieserBeschneidung. Sie befassen sich tatsächlich mit sich selbst, sie begin-nen damit und mit solchem Eifer, daß es ihnen nicht schwerfällt, mitsoviel Freude und Trost, daß sie dabei eine Fülle von Tränen vergie-ßen, die mit unvergleichlicher Freude ihren Augen entströmen. Miteinem Wort: was wir selbst ausdenken oder nach unserer eigenen Wahlund aus eigenem Entschluß tun, kostet uns sozusagen nichts; so großsind die Schliche unserer Eigenliebe. Wenn aber zur gleichen Zeitirgendwer zu ihnen sagt: Du bist ein Tölpel, ein Lümmel oder etwasähnliches, würde gewiß das Blut in Wallung geraten, man wäre ganzverwirrt und würde sogleich Regungen des Zornes fühlen. Das kannman nicht ertragen und man findet schöne Ausreden, um seine Grün-de verständlich und geltend zu machen. Ihr seht also, wie notwendig esist, daß ein anderer das Messer ergreift, um uns zu beschneiden, denner weiß viel besser als wir, wo man es ansetzen muß.

Der erste unter den Aposteln, der hl. Petrus, sah im Ölgarten dieSoldaten kommen, um seinen guten Meister gefangenzunehmen. Dawurde er plötzlich von einer Wallung des Zornes befallen, wandte sichan Unseren Herrn und fragte ihn, ob er mit dem Schwert zuschlagensollte, als wollte er sagen: Ich habe zwar nur ein kleines Messer, wenndu aber willst, daß ich dieses Gesindel niederschlage, werde ich einBlutbad anrichten. Er konnte die Antwort nicht abwarten, denn er warleidenschaftlich und aufbrausend, schlug auf einen der Soldaten einund hieb ihm das rechte Ohr ab. Unser göttlicher Heiland billigte aberdiese Tat nicht; er tadelte und schalt ihn, nahm das Ohr des Malchusund setzte es wieder an seine Stelle; dann sagte er zu Petrus (Mt 26,51f;Lk 22,49-51; Joh 18,10f): Stecke dein Schwert in die Scheide, als woll-te er sagen: Du hast das Messer nicht da angesetzt, wo es notwendig ist.Diese Beschneidung ist nicht gut gemacht, denn das ist nicht der Teil,den man abschneiden muß. Du hast ihm das rechte Ohr abgeschnitten;

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mit dem empfängt und hört man die geistlichen Dinge, dieEinsprechungen und guten Regungen. Du hast ihm das linke gelassen,mit dem man die weltlichen und eitlen Dinge vernimmt. Man hätteihm besser dieses abschlagen sollen als das andere, damit er mehrimstande und bereit wäre, die Einsprechungen, die göttlichen undhimmlischen Worte zu vernehmen. Weil du genau das Gegenteil getanhast, ist die Beschneidung nicht gut vollzogen. Seht also, wie wichtiges ist, gut zu treffen und das Messer richtig an der Stelle anzusetzen,die am meisten anfällig und krank ist.

Ich schließe, denn der Tag vergeht, und ich will die Predigt mit einerGeschichte beenden und euch dennoch ein Wort zum zweiten Teil desEvangeliums sagen. Der Prediger, der heute die große Predigt gehal-ten hat, begann seine Predigt mit einer wundervollen Begebenheit, dieich euch nicht vorenthalten will; sie ist ein Gericht, das auch für zweiMahlzeiten sehr geeignet ist, ebenso dazu, meine Ansprache zu be-schließen. In der Genesis (33,18-20; 34) heißt es: Jakob schlug einesTages mit seinen Kindern und seinem ganzen Gesinde, das sehr großwar, seine Zelte nahe der Stadt Sichem auf. Jakob hatte nun eine sehrschöne Tochter namens Dina. Da sich diese Tochter in der Nähe derköniglichen Stadt befand, war sie neugierig, sie zu besichtigen. Siebeschloß also, ganz allein fortzugehen, um in ihr einen Rundgang zumachen. Seht, das ist der menschliche Geist: sie ging nicht nur hin, umsie anzuschauen, sondern wie ich glaube, gewiß auch, um von anderengesehen zu werden, denn sie war sehr schön und wußte das sehr wohl.Da ging sie nun ganz allein durch die große Stadt Sichem und besich-tigte überall ihre wundervollen Sehenswürdigkeiten. Es geschah aber,daß der Königssohn sie vom Fenster aus erblickte, und da er sie mit soseltener Schönheit begabt sah, erkundigte er sich, wer sie sei. (Derjunge Prinz hieß selbst Sichem, sein Vater Hamor.) Da wurde er vonsolcher Leidenschaft nach ihr erfaßt, daß er sie entführen ließ. Das warfür ihn nicht schwierig, denn die Großen finden immer viele Leute,die ihnen helfen und ihre bösen Vorhaben fördern. Das Mädchen wur-de also entführt und vom Prinzen Sichem geschändet. Darüber ent-stand große Aufregung, denn König Hamor und sein Sohn waren voneinem anderen Volk als Dina.

Als der Vater erfuhr, was geschehen war, wollte er Abhilfe schaffen,denn er erkannte, daß sein Sohn in Dina leidenschaftlich verliebt war.Die Heilige Schrift sagt (34,3) tatsächlich, daß Sichems Seele an derDinas klebte. Das war aber eine Bindung, die nicht sehr stark war, einStrohfeuer, wie die Liebschaften der Welt sind, die nur drei Tage an-

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halten. Die Gottesliebe ist anders, denn sie bleibt in der Seele, in diesie einmal eingekehrt ist, verläßt sie nie mehr, vereinigt und verbindetsie mit der göttlichen Majestät, nicht für zwei oder drei Tage wie dieirdische Liebe, sondern auf ewig. Die andere Liebe dagegen ist töricht,gefährlich und verwerflich, denn sie wird nur von Gefallsucht, Al-bernheit und Possen geweckt und genährt. Als nun Hamor sah, daßman zur Befriedigung seines Sohnes so weit gehen müsse, ihn mit Dinazu vermählen, beschloß er, mit Jakob darüber zu verhandeln, und ließihn zu diesem Zweck rufen. Da er König war, versammelten sich vieleLeute und man brachte viele Gründe vor, daß die Heirat sozusagenbeschlossen war.

Die Erfindungen des menschlichen Geistes sind aber sonderbar. AlsDinas Brüder Simeon und Levi erfuhren, daß ihr Vater Jakob über dieVermählung ihrer Schwester mit Sichem verhandelte, waren sie sehrempört über die Schande, die ihr widerfahren war, und beschlossen,dem König etwas vorzuschlagen, ohne das sie nicht zustimmen woll-ten. Sie verlangten also, wenn er eine Verbindung mit ihrem Volk ein-gehen wollte, müßten alle beschnitten werden. Wegen dieses Vorschlagsgab es zunächst große Schwierigkeiten, aber nach vielen Vorstellun-gen von der einen und der anderen Seite beschloß man schließlich,dem Volk des Landes Sichem die Beschneidung vorzuschlagen. Alsalle am Platz der Beratungen versammelt waren, schlug man ihnen dieBeschneidung vor und führte viele Gründe an, um sie zu bewegen,dem zuzustimmen, was der König zur Befriedigung seines Sohneswünschte. Man sagte ihnen, Jakob stamme von einem guten Volk, erverbinde sich samt seinem Volk mit ihnen, so daß sie einander stärk-ten, denn er habe große Herden. Kurz, man legte ihnen so viele Dingevor, daß alle zustimmten, sich der Beschneidung zu unterziehen. Dasie aber sehr schmerzhaft war, wurde die Mehrzahl der Männer sogeschwächt, daß sie halbtot waren. Als Simeon und Levi das erfuhren,gingen sie in die Stadt und richteten ein dermaßen grausames Gemet-zel an, daß sie alles in Feuer und Blut tauchten, um sich für das Un-recht zu rächen, das Hamors Sohn ihrer Schwester angetan hatte.

In dieser ganzen Begebenheit fällt mir vor allem die Bereitschaftdieses Volkes auf, sich dem Willen des Königs anzuschließen, die be-wundernswerte Unterwerfung, die in der Zustimmung zu seinem Wil-len sichtbar wird, indem man sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, umnur seinem Sohn Freude zu machen. O Gott, werden wir so feige undzaghaft sein, daß wir unserer geistigen Beschneidung ausweichen, wennwir heute unseren teuren Heiland sich dem Gesetz dieser Beschnei-

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dung unterwerfen sehen, um uns ein Beispiel zu geben? Indem er seinBlut vergießt, fordert er uns nicht dazu auf, das unsere zu vergießen,sondern nur dazu, unser Herz und unseren Geist vor ihm auszugießen(1 Sam 1,15; Ps 62,9; Klgl 1,19). Wie lassen wir es zu, daß er uns zudieser inneren Beschneidung einlädt, nicht zu seinem Vorteil oderVergnügen, sondern zu unserem Wohl, Heil und Nutzen, und wollenwir uns dann weigern zu tun, was er von uns verlangt? Werden wirwohl den Mut haben, das Volk von Sichem sich einem so harten Königunterwerfen zu sehen, einzig um dem Königssohn Befriedigung zuverschaffen, und selbst so furchtsam und feige sein, daß wir unserenGeist nicht so leichten und bequemen Dingen unterwerfen?

Schließen wir mit einem Wort über den Namen, der Unserem Herrngegeben wurde. Wir werden das mit einer anderen Geschichte been-den. Das heutige Evangelium gibt zu verstehen, daß das Vergießen desBlutes Jesu der Grund für seinen Namen war. Es ist sehr passend, daßman ihm diesen Namen am Tag seiner Beschneidung gab, denn er konn-te nicht Erlöser sein, ohne Blut zu vergießen, noch Blut vergießen,ohne Erlöser zu sein. Er hätte wahrhaftig die Welt erlösen können,ohne sein Blut zu vergießen, aber das hätte seiner Liebe zu uns nichtgenügt. Gewiß hätte er der göttlichen Gerechtigkeit für alle unsereSünden durch einen einzigen Seufzer seines Herzens Genugtuung lei-sten können; das hätte aber seine Liebe nicht zufriedengestellt. Siewollte, daß er mit der Annahme des Namens Erlöser sein Blut als An-geld dessen gebe, das er zu unserer Rettung vergießen wollte. Der Namedes Erlösers wurde ihm an diesem Tag mit Recht gegeben, denn es gibtkeine Erlösung ohne Blutvergießen (Hebr 9,22) und kein Heil ohneErlösung, denn niemand kann in den Himmel kommen außer durchdiese Pforte. So begann Unser Herr, als er Erlöser und Retter wurde,indem er diesen Namen annahm, unsere Schulden in keiner anderenWährung als mit seinem kostbaren Blut zu begleichen. Er wurde alsoJesus genannt, das bedeutet Erlöser.

Die alten Väter sagen, Unser Herr hatte unter anderen Namen undTiteln deren drei, die ihm wesenseigen waren. Der erste ist der deshöchsten Seienden, der ihm so sehr vorbehalten ist, daß er keinemanderen zugelegt werden kann (Ex 3,14f; Jes 42,8); in diesem Namenerkennt er sich selbst durch sich selbst. Der zweite ist der des Schöp-fers, der ebenfalls nur ihm gegeben werden kann, denn keiner ist Schöp-fer außer ihm; in dem Namen erkennt er sich durch sich selbst, aber ererkennt sich auch in seinen Geschöpfen. Der dritte Name ist Jesus, dergleichfalls nur ihm zusteht, weil kein anderer außer ihm Erlöser sein

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konnte (Apg 4,12). Darüber hinaus hat er noch einen, nämlich Chris-tus (Mt 1,16); er bedeutet Hohepriester, Gesalbter Gottes. Seht nun,wir Christen haben an den beiden letzten Namen Anteil (1 Petr 2,9;Apg 4,12). Jetzt tragen wir den Namen Christi, nämlich als Christen,und wir alle sind Gesalbte durch die Sakramente, die wir empfangen.Im Himmel werden wir den Namen des Erlösers tragen, denn dortwerden wir uns alle des Heiles erfreuen und wir werden alle Erlöstesein. Seht, wie wir nach dem anderen Namen Unseres Herrn genanntwerden, denn wir werden Erlöste genannt werden.

Wie aber muß man den heiligen Namen Jesus aussprechen, damit erfür uns nützlich und gewinnbringend ist? Das will ich euch sagen undzeigen durch eine Geschichte, mit der ich schließe. Dieser Name darfnicht irgendwie ausgesprochen werden. Es genügt nicht zu wissen, daßer aus zwei Silben besteht, noch weniger, ihn nur mit dem Mund aus-zusprechen. Die Papageien tun das wohl auch, und sie werden dadurchnicht gerettet. Unser Herr zeigt uns, wie man ihn nachahmen muß,indem er bei seiner Annahme sein Blut vergießt; denn dadurch zeigter, daß er zu tun bereit ist, was dieser heilige Name bedeutet, nämlichdie Menschen zu erlösen. Es genügt nicht, ihn mit dem Mund wieder-zugeben, man muß ihn vielmehr dem Herzen eingeprägt haben. Wieglücklich werden wir sein, wenn wir in uns alles haben, was unsereNamen bedeuten! Es ist nicht alles, sich Priester, Bischof, Ordens-mann oder Ordensfrau zu nennen, man muß vielmehr bedenken, obdas Leben, das man führt, mit dem Namen übereinstimmt, den manträgt. Man muß auf das Amt schauen, das man ausübt, auf die Beru-fung, in der man lebt, was unser Beruf ist; mit einem Wort, wie geord-net unsere Leidenschaften und Neigungen, wie unterworfen unser Ur-teil ist, ob unsere Handlungen mit unserem Stand übereinstimmen.

Im Buch der Richter (Kap. 11.12) wird berichtet, daß der großeHeerführer Jiftach über die Amoniter siegte durch das Gelöbnis, daser dem Herrn machte. Als er aber seine Tochter geopfert und allesgetan hatte, wovon die Geschichte berichtet, glaubte er Frieden undRuhe zu haben; doch da erhob sich ein Aufstand. Die Kinder Efraimswarfen ihm vor, daß er sie nicht eingeladen und nicht in den Kriegmitgenommen habe, obwohl sie tapfere Krieger waren, und daß er dasohne Zweifel getan habe, um sie zu verachten. Der gute Jiftach warüber diesen Aufruhr erstaunt und sagte ihnen: Aber meine liebenFreunde, ihr wißt recht gut, daß ich euch eingeladen habe, als ich inden Krieg ziehen wollte, aber ihr habt euch entschuldigt, daß ihr nichtgekommen seid. Als daher der Augenblick gekommen war, daß ich

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den Kampf eröffnen mußte, habe ich es getan. Aber die Leute vonEfraim wollten seine Gründe nicht einsehen und erklärten ihm denKrieg. Doch Gott stand auf der Seite Jiftachs, weil seine Sache gerechtwar, und half ihm dermaßen, daß er 42 000 von ihnen tötete, so daßEfraim und das übrige Volk sehr bestürzt waren, als sie so in die Fluchtgeschlagen wurden. Nun stellte Jiftach am Ufer des Jordan Wachenauf, gab ihnen ein Losungswort und sagte: Fragt jene, die übersetzenwollen, wer sie sind. Wenn sie sagen, daß sie von Efraim sind, danntötet sie; wenn sie es verneinen, dann laßt sie das LosungswortSchibbolet sagen. Sagen sie Sibbolet, dann überliefert sie dem Tod;sagen sie aber Schibbolet, dann gebt ihnen freien Durchgang. Beach-tet, daß Schibbolet und Sibbolet fast gleichlautende Worte sind(Schibbolet bedeutet Ähre, Sibbolet Bürde), aber Schibbolet wirdschnarrend ausgesprochen, Sibbolet dagegen feiner und zierlicher.

Wie glücklich werden wir sein, wenn wir in der Todesstunde undnoch zu Lebzeiten den heiligen Namen des Erlösers gut aussprechen,denn er wird gleichsam das Losungswort sein, durch das wir freienZugang zum Himmel erhalten werden, denn er ist der Name unsererErlösung. Wenn Gott uns soviel Gnade schenkt, daß wir nicht einesplötzlichen Todes sterben, wird in unserer letzten Stunde ein Priesterbei uns sein, der eine geweihte Kerze in Händen hält und uns zuruft:Denkt an euren Erlöser, sagt Jesus, sagt Jesus. Glücklich werden jenesein, die den Namen fromm aussprechen und mit einem Gefühl tieferDankbarkeit dafür, daß der Erlöser uns losgekauft hat durch sein Blutund sein Leiden; denn jene, die ihn zu diesem Zeitpunkt recht ausspre-chen, werden gerettet sein. Dagegen werden jene, die ihn nicht gutaussprechen, die ihn nachlässig und leichthin aussprechen, verdammtund gepeinigt werden. Wir müssen also große Sorgfalt darauf verwen-den, ihn während unseres Lebens oft zu wiederholen, denn er wurdevom ewigen Vater seinem Sohn gegeben. Es ist ein Name über alleNamen, ganz göttlich, ganz mild und gütig. Er ist ausgegossener Bal-sam (Hld 1,2), geeignet, alle Wunden unserer Seele zu heilen. Vordiesem Namen beugen sich alle Knie (Phil 2,9f); er erfreut die Engel,rettet die Menschen und läßt die Teufel erzittern, damit wir ihn indiesem Leben preisen und ehren und dadurch würdig werden, mit denSeligen zu singen: Es lebe Jesus!

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Zum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. FZum Donnerstag der 1. Fastenwocheastenwocheastenwocheastenwocheastenwoche

Nr. 56: 17. Februar 1622 X,215-232

Frau, dein Glaube ist groß: dir geschehe, wie duwillst (Mt 15,28).

An diesem Tag schlagen die Prediger verschiedene Umwege ein, umdie Tugenden der Kanaanäerin zu loben; ich will dagegen den Glau-ben zum Gegenstand nehmen und euch zeigen, was er ist. Wenn ichdabei auf das stoße, was im Evangelium sich zwischen Unserem Herrnund der Kanaanäerin abspielt (Mt 15,21-28), werden wir es mit demverbinden, was ich euch sagen will. Auf diese Weise werdet ihr erken-nen, welche Eigenschaften der Glaube haben muß.

Zunächst: Wenn der Heiland sagt: Frau, dein Glaube ist groß, heißtdas, daß der Glaube dieser Frau größer war als der unsere? Soweit esden Gegenstand betrifft, nein. Der Glaube hat ja zum Gegenstand diegeoffenbarten Wahrheiten von Gott oder von der Kirche und er istnichts anderes als eine Zustimmung unseres Verstandes zu diesenWahrheiten, die er gut und schön findet. Dadurch kommt er dazu, siezu glauben, und der Wille, sie zu lieben. Denn wie die Güte das Objektdes Willens ist, so ist die Schönheit das des Verstandes. Dem äußerenMenschen nach wird das Gute durch die Begierde angestrebt und dieSchönheit von unseren Augen geliebt. Ebenso verhält es sich dem in-neren Menschen nach bezüglich der Wahrheiten des Glaubens. Da siegut, lieblich und echt sind, werden sie nicht nur vom Willen geliebtund erstrebt, sondern auch vom Verstand wegen der Schönheit ge-schätzt, die er in ihnen findet. Sie sind schön, weil sie wahr sind; dennes gibt keine Schönheit ohne Wahrheit und keine Wahrheit ohne Schön-heit. Ebenso ist eine Schönheit, die nicht wahrhaftig ist, nicht mehrschön, da sie falsch und trügerisch ist.

Da nun die Wahrheiten des Glaubens sehr wahrhaftig sind, werdensie wegen der Schönheit dieser Wahrheit geliebt, die das Objekt desVerstandes ist. Geliebt sage ich, denn obwohl der unmittelbare Ge-genstand der Liebe des Willens die Güte ist, kommt er dadurch, daßihm der Verstand die Schönheit der geoffenbarten Wahrheiten zeigt,dahin, auch die Güte zu entdecken, und liebt indessen die Güte unddie Schönheit der Geheimnisse unseres Glaubens. Um einen großenGlauben zu haben, ist es also notwendig, daß der Verstand dessen Schön-heit erkennt, so daß Unser Herr, wenn er ein Geschöpf zur Erkenntnisder Wahrheit (1 Tim 2,4) führen will, ihm stets dessen Schönheit ent-

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hüllt. Wenn sich auf diese Weise der Verstand angezogen und einge-nommen fühlt, teilt er diese Wahrheit dem Willen mit, der sie wegender Güte und Schönheit ebenfalls liebt, die er darin erkennt. Dannbewirkt die Liebe, die diese beiden Seelenkräfte für die erkanntenWahrheiten hegen, daß der Mensch alles aufgibt, um an sie zu glaubenund sie anzunehmen. Das geschieht durch Abstraktion. Ihr seht also,daß der Glaube nichts anderes ist als eine Zustimmung des Verstandesund des Willens zu den Wahrheiten der göttlichen Geheimnisse.

Was aber den Gegenstand des Glaubens betrifft, kann er für die ei-nen nicht größer sein als für andere, ebensowenig bezüglich der Zahlder Dinge, die man glauben muß, denn wir müssen alle das gleicheglauben, sowohl dem Gegenstand als dem Umfang nach. Darin sindalle gleich, denn alle müssen alle Wahrheiten des Glaubens anneh-men, sowohl jene, die Gott selbst geoffenbart hat, als jene, die er durchseine Kirche geoffenbart hat, so daß einer, der nicht alle diese Ge-heimnisse glaubt, nicht katholisch ist und folglich niemals in das Pa-radies eingehen wird. Wenn also Unser Herr sagt: Frau, dein Glaubeist groß, dann heißt das nicht, daß sie an mehr glaubt als wir, sondern,daß verschiedene Dinge ihren Glauben vortrefflicher machen. Es istwahr, daß es nur einen Glauben (Eph 4,5) gibt, den alle Christen habenmüssen; trotzdem besitzt ihn nicht jeder im gleichen Grad der Voll-kommenheit. Um verständlich zu machen, ob er groß oder klein ist,spricht man deshalb von Bedingungen, die seine Größe ausmachen,und von Tugenden, die ihn begleiten. Aber um das recht zu begreifen,muß man es nach und nach entwickeln.

Der Glaube ist die Basis und das Fundament aller anderen Tugen-den, besonders aber der Hoffnung und der Liebe. Wenn ich aber vonder Liebe spreche, muß man das auch auf die große Zahl der Tugendenanwenden, die ihr folgen und sie begleiten. Wenn diese Liebe mit demGlauben vereinigt und verbunden ist, belebt sie ihn. Daraus folgt, daßes einen toten und einen sterbenden Glauben gibt. Der tote Glaube istjener, der von der Liebe getrennt ist. Diese Trennung bewirkt, daß mannicht die Werke tut, die mit dem Glauben übereinstimmen, den manbekennt. Das ist der Glaube vieler Christen in der Welt; sie glaubenwohl an alle Geheimnisse unserer heiligen Religion, da aber ihr Glau-be nicht von der Liebe begleitet wird, tun sie nichts Gutes, das mitihrem Glauben übereinstimmte. Der sterbende Glaube ist jener, dernicht völlig von der Liebe getrennt ist. Er bewirkt zwar einige guteWerke, wenn auch selten und schwach, denn die Liebe kann nicht ineiner Seele sein, die den Glauben hat, ohne mehr oder weniger zu

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wirken; sie muß wirken oder vergehen, denn sie kann nicht sein, ohnezu wirken.

So wie die Seele nicht im Leib sein kann, ohne Lebensäußerungen zubewirken, so kann auch die Liebe nicht mit unserem Glauben verbun-den sein, ohne Werke hervorzubringen, die ihm entsprechen (Gal 5,6;Jak 2,14-26); das kann nicht anders sein. Wenn ihr deshalb erkennenwollt, ob euer Glaube tot oder sterbend ist, dann schaut auf eure Wer-ke und Handlungen. Mit ihm verhält es sich wie mit einem sterbendenMenschen: wenn ihn eine Schwäche befällt oder wenn er die Seeleausgehaucht zu haben scheint, dann hält man ihm eine Feder vor dieLippen und die Hand auf das Herz; wenn die Seele noch da ist, dannfühlt man, daß das Herz schlägt, man sieht an der Feder vor seinemMund, daß er noch atmet, und man schließt daraus mit Sicherheit, daßdieser Mensch wohl im Sterben liegt, aber doch noch nicht ganz tot ist.Da er Lebenszeichen gibt, muß notwendigerweise die Seele mit sei-nem Leib vereinigt sein. Wenn er kein Lebenszeichen mehr gibt, sagtman, daß die Seele von ihm getrennt, folglich dieser Mensch gestorbenist.

Der tote Glaube gleicht einem dürren Baum, der keinen Lebenssafthat. Wenn deshalb die anderen Bäume im Frühling Blätter und Blütentreiben, bringt er keine hervor, weil er nicht den Saft hat wie die ande-ren, die nicht tot sind, sondern nur abgestorben. Das ist ja etwas ande-res; wenn sie auch im Winter dem äußeren Anschein nach den totenBäumen gleichen, tragen sie doch zu ihrer Zeit Blätter, Blüten undFrüchte, was ein toter Baum nie tut. Dieser ist gewiß ein Baum gleichden anderen, das ist wahr; er ist dennoch tot, denn er trägt nie Blütenund Früchte. So hat der tote Glaube wohl das gleiche Aussehen wieder lebendige, aber mit dem Unterschied, daß der erste keine Blütenund nicht die Früchte der guten Werke bringt, der zweite aber solchezu jeder Jahreszeit hervorbringt.

Mit dem Glauben und der Liebe verhält es sich ebenso. An den Wer-ken, die die Liebe hervorbringt, erkennt man, ob der Glaube tot oderim Sterben ist. Bringt sie keine guten Werke hervor, dann sagen wir,daß er tot ist; sind sie klein und schwerfällig, dann sagen wir, daß er imSterben ist. Wenn es aber einen toten Glauben gibt, dann muß es alsGegenstück einen lebendigen Glauben geben. Der ist vorzüglich, dennda er mit der Liebe verbunden und vereinigt ist und von ihr beseeltwird, ist er stark, fest und beständig, er tut viele große und gute Werke,die verdienen, daß man ihn preist mit den Worten: Dein Glaube istgroß; dir geschehe, wie du willst.

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Wenn man nun sagt, daß dieser Glaube groß ist, will man damitnicht ausdrücken, daß er 14 oder 15 Ellen lang sei; o nein, so darf mandas nicht verstehen. Er ist groß wegen der guten Werke, die er bewirkt,ebenso wegen der großen Zahl von Tugenden, die ihn begleiten, die erwie ein König regiert, der sich für die Verteidigung und Bewahrungder göttlichen Wahrheiten einsetzt. Daß diese Tugenden ihm gehor-chen, darin zeigt sich seine Erhabenheit und Größe, genau so wie dieKönige nicht nur groß sind, wenn sie viele Provinzen und zahlreicheUntertanen haben, sondern wenn sie dabei Untertanen haben, die sielieben und ihnen ergeben sind. Wenn aber bei all ihrem Reichtum dieVasallen ihre Erlässe und ihre Gesetze nicht beachten, würde mannicht sagen, daß sie große Könige sind, sondern recht kleine. So folgender mit dem Glauben vereinigten Liebe nicht nur alle Tugenden, son-dern sie befiehlt ihnen wie eine Königin; und alle gehorchen ihr undkämpfen für sie nach ihrem Belieben. Von daher kommt die großeZahl von guten Werken des lebendigen Glaubens.

Drittens gibt es einen wachen Glauben, der ebenfalls abhängig istvon seiner Verbindung mit der Liebe; es gibt aber auch einen, dereingeschlafen ist, schwerfällig und lethargisch, und das ist das Gegen-teil vom wachen Glauben. Er ist träge, sich mit der Erwägung derGeheimnisse unserer Religion zu befassen; er ist recht schläfrig, da-her dringt er nicht in die geoffenbarten Wahrheiten ein; er sieht siewohl und nimmt sie wahr, weil er die Augen nicht ganz geschlossenhat, da er nicht schläft, aber er ist benommen und schlaftrunken. Ergleicht sehr schläfrigen Leuten, die wohl die Augen offen haben, abertrotzdem fast nichts sehen, und obwohl sie reden hören, nicht verste-hen und begreifen, was man sagt. Warum? Ach, deswegen, weil sieganz vom Schlaf befangen sind. Ebenso hat dieser schläfrige Glaubewohl die Augen offen, denn er glaubt an die Geheimnisse, er verstehtgenügend, was man davon erklärt, aber ich weiß nicht, mit welcherSchwerfälligkeit und Schläfrigkeit, die ihn hindert zu begreifen, wases bedeutet. Dieser Glaube gleicht auch noch Menschen, die einenschwerfälligen und verträumten Geist haben. Wirklich, sie öffnen dieAugen, ihr seht sie nachdenklich und scheinbar aufmerksam auf irgend-etwas, aber sie wissen nicht, was es ist. Ebenso ist es bei denen, dieeinen schläfrigen Glauben haben: Sie glauben an alle Geheimnisse imallgemeinen, aber fragt sie, was sie davon verstehen, sie wissen nichts.Wenn der Glaube so eingeschläfert ist, ist er in großer Gefahr, vonverschiedenen Feinden überfallen und verführt zu werden, ja in ge-fährliche Abgründe zu stürzen.

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Der wache Glaube dagegen tut nicht nur gute Werke wie der leben-dige, sondern durchdringt und begreift die geoffenbarten Wahrheitenmit lebhaftem Scharfsinn. Er ist eifrig tätig, zu erforschen und zu er-fassen, was ihn vermehren und festigen kann. Er wacht und nimmt alleseine Feinde in großer Ferne wahr. Er ist stets auf der Hut, um dasGute zu entdecken und das Böse zu meiden. Er hütet sich vor dem,was ihm zum Untergang gereichen könnte, und da er wach ist, geht ersicher voran und vermeidet leicht, in Abgründe zu stürzen.

Dieser wache Glaube wird von den vier Kardinaltugenden begleitet.Er besitzt die Stärke, die Klugheit, die Gerechtigkeit und die Mäßi-gung. Er bedient sich ihrer als Waffenrüstung, um seine Feinde in dieFlucht zu schlagen, und bleibt mit ihnen fest, unüberwindlich undunerschütterlich. Seine Stärke ist so groß, daß er nichts fürchtet, weiler nicht nur stark ist, sondern diese Stärke kennt und sich auf sie stützt,die die Wahrheit selbst ist. Nun gibt es nichts so Starkes wie die Wahr-heit (3. Esra 4,36). Die Menschen besitzen wohl diese Stärke, sie ha-ben Macht und Gewalt über alle Tiere; weil wir aber nicht erkennen,daß wir sie haben, folgt daraus, daß wir uns fürchten wie Schwache undFeiglinge und wie Tölpel vor den wilden Tieren fliehen. Die Stärkedes Glaubens dagegen besteht zum Teil darin, daß er sie kennt. Dahergebraucht er sie bei Gelegenheit und schlägt alle seine Feinde in dieFlucht.

Er gebraucht die Klugheit, um sich anzueignen, was ihn stärken undvermehren kann. Er begnügt sich nicht damit, alle Wahrheiten zu glau-ben, die von Gott geoffenbart sind und von der Kirche verkündet wer-den, was zum Heil notwendig ist; er ist vielmehr wach, um immermehr neue zu entdecken; und nicht nur das, er vertieft sich in sie, umaus ihnen den Saft und das Mark zu gewinnen, mit denen er sich nährtund labt, stärkt und vermehrt. Diese Klugheit ist nun nicht wie dievieler Weltmenschen, die sehr darauf aus sind, Reichtümer anzuhäu-fen, Ehren und ähnlichen Plunder, die sie reich und in den Augen derMenschen angesehen machen, die ihnen aber für das ewige Leben nichtsnützen. Das ist eine falsche Klugheit! Obwohl sie mich Städte,Fürstentümer und Königreiche gewinnen läßt, was nützt sie mir, wennich dabei verdammt werde (Mt 16,26)? Was nützt mir mein Wachsein,wenn ich es nur dazu gebrauche, um vergängliche Dinge dieses sterbli-chen Lebens zu erwerben? Wäre ich auch der stärkste und klügsteMensch der Welt, wenn ich mich dieser wachen Klugheit nicht für dasewige Leben bediene, ist es gewiß nichts.

Trotzdem gibt es so viel menschliche Klugheit! Man gewahrt sie inabertausend Gestalten und wir sehen bestimmt, daß der Großteil un-

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serer Übel von dieser falschen Klugheit kommt. Doch sprechen wir indieser Stunde nur von der Klugheit des Glaubens. Die Mehrzahl derChristen, die den Glauben haben (den muß man ja haben, um einer zusein), glaubt alles, was man glauben muß, um das Heil zu erlangen.Nun gut, sagt der hl. Bernhard, ihr werdet es erlangen, wenn ihr glaubtund tut, wovon euch der Glaube lehrt, daß es notwendig ist, um dasewige Leben zu gewinnen. Es braucht wenig, um das Heil zu erlangen:alle Geheimnisse unserer Religion glauben und die Gebote Gotteshalten (Mt 19,16f). Die Klugheit dieser Menschen begnügt sich damitund will nicht mehr tun, als notwendig ist, um das ewige Leben zubesitzen, und fliehen, was ihnen die Verdammnis bringen kann. Ihrbemüht euch also nicht für Gott, sondern einzig für euch selbst, weileure Klugheit nicht weiter reicht, als das zu tun, wovon ihr wißt, daß eseuch vor dem Verderben bewahren kann. Ihr gehört nicht zu den wach-samen Dienern, die stets das Auge auf die Hände ihres Herrn gerichtethaben (Ps 123,2), die sehr sorgsam darauf bedacht sind, alles zu tun,wovon sie wissen, daß es ihm ihre Dienste wohlgefällig machen kann.Sie zeigen damit, daß sie nicht für sich arbeiten, sondern aus Liebe zuihrem Herrn. Sie wenden ja ihre ganze Klugheit an, um nicht nur ihrePflicht gegen ihn zu erfüllen, sondern um auch alles zu tun, was sie alsihm wohlgefällig entdecken. Sie sind treue Knechte (Mt 25,21.23), siewerden daher das ewige Leben besitzen und darüber hinaus eine großeHerrlichkeit und Seligkeit in der Freude der Gegenwart der göttli-chen Majestät.

Es gibt aber auch manche, schreibt der hl. Bernhard, die sagen: Ichhalte die Gebote Gottes. Nun gut, du wirst das Heil erlangen, das istdein Lohn. Ich bin kein Dieb. Du wirst nicht gehängt, das ist deinLohn. Ich habe niemand um seine Ehre gebracht. Du wirst nicht ent-ehrt, das ist dein Lohn. Ich habe getan, wovon ich weiß, daß man es tunmuß, um das Heil zu erlangen. Nun denn, du wirst das ewige Lebenbesitzen, das ist dein Lohn. Nun, der wache Glaube handelt nicht so;er dient Gott nicht als Mietling, sondern treu, denn er setzt all seineKraft und Klugheit ein, seine Gerechtigkeit und Mäßigung, um alleszu tun, was er vermag und als unserem Herrn und Meister wohlgefälligerkennt. Er beobachtet nicht nur, was zum Heil notwendig ist, son-dern sucht, ergreift und übt getreu alles, was er vermag, um Gott näherzu kommen.

Es gibt eine fünfte Eigenschaft des Glaubens, nämlich wachsam zusein. Der wachsame Glaube ist sehr groß und vorzüglich, denn darü-ber hinaus, daß er lebendig und wach ist, gelangt er durch diese Wach-

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samkeit zum Gipfel der Vollkommenheit. Diesen Glauben hatte dieKanaanäerin. Sehen wir also ein wenig, wie groß der Glaube dieserFrau ist wegen dieser Wachsamkeit. Da Unser Herr die Gegend vonTyrus und Sidon durchzog und sich verbergen wollte, um nicht seineHerrlichkeit zu offenbaren, gedachte er sich in ein Haus zurückzuzie-hen, um nicht gesehen und erkannt zu werden. Da nämlich sein Ruhmvon Tag zu Tag zunahm, folgte ihm eine große Volksmenge, die ange-lockt wurde von den Wundern und großartigen Taten, die er wirkte. Daer sich also verbergen wollte, trat er in eines der nahegelegenen Häu-ser. Doch da war eine heidnische Frau, die in Bereitschaft stand, diewartete und sorgsam darauf achtete, wann der Heiland vorüberkäme,von dem sie so viel Wunderbares gehört hatte. Sie war wachsam wieein Hund, der auf der Lauer oder auf der Spur ist, um die Beute zuerspähen, die auf diesem Weg fliehen müßte. So kann man nämlich dieWorte des hl. Markus auslegen, der einer seiner Evangelisten ist.

Unser Herr kam vorüber, betrat das Haus oder hatte es betretenoder hatte es verlassen (das ist eine Streitfrage, aber darüber will ichhier nicht sprechen; ich meinerseits glaube, daß es sich zutrug, als erin diesem Haus war); da trug ihm die Kanaanäerin, die auf der Hutwar, um ihre Beute zu erhaschen, ihre Bitte vor und rief: Herr, SohnDavids, hab Erbarmen mit mir, denn meine Tochter wird vom Teufelgrausam gequält. Seht doch den großen Glauben dieser Frau: sie bittetunseren göttlichen Meister nur, er möge Erbarmen mit ihr haben, undglaubt, dieses Erbarmen werde genügen, um ihre Tochter zu heilenund von dem bösen Geist zu befreien, der sie quälte. Ihr Glaube wärenicht so groß gewesen, hätte sie nicht darauf geachtet, was sie überUnseren Herrn sagen hörte und was sie davon verstand. Die ihm folg-ten oder in den Häusern wohnten, die dem benachbart waren, wo ersich zurückgezogen hatte, hatten wohl die Wundertaten gesehen, dieer wirkte, durch die er die Lehre bekräftigte, die er verkündete, oderhatten davon reden gehört. Sie hatten ebensoviel Glauben wie dieKanaanäerin, denn ein Großteil glaubte, was von ihm gesagt wurde,aber ihr Glaube war nicht so groß wie jener dieser Frau, weil er nichtso wachsam war wie der ihre.

Wir sehen das im allgemeinen bei den gewöhnlichen Weltleuten. Dagibt es Leute, die sich in guter Gesellschaft befinden, in der man eingutes Gespräch führt und von guten und heiligen Dingen spricht. Eingeiziger Mensch wird wohl hören, was man sagt, aber fragt ihn, wenner die Gesellschaft verlassen hat, was in diesem Gespräch gesagt wur-de, dann wird er davon kein Wort wiederholen können. Und warum?

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Deshalb, weil er nicht aufmerksam hörte, was gesagt wurde; seineAufmerksamkeit galt seinem Reichtum. Ebenso ein Vergnügungssüch-tiger; denn obwohl er scheinbar hört, worüber man spricht, wird ersich trotzdem an nichts erinnern, weil seine Aufmerksamkeit mehrseinem Vergnügen gilt als dem, worüber gesprochen wird. Wenn esaber einen gibt, der seine ganze Aufmerksamkeit darauf richtet, wasgesprochen wird, der wird sehr genau wiedergeben, was er gehört hat.Warum erleben wir, daß man so wenig Nutzen zieht aus den Predigtenoder aus den Geheimnissen, die man uns erklärt und lehrt, oder ausjenen, die wir betrachten? Deswegen, weil der Glaube nicht wachsamist, mit dem wir sie hören oder betrachten. Daher kommt es, daß wirwohl glauben, aber nicht mit großer Gewißheit. Der Glaube derKanaanäerin war nicht so geartet. Frau, dein Glaube ist groß, nicht nurwegen deiner Aufmerksamkeit, mit der du hörst und glaubst, was manvon Unserem Herrn sagt, sondern auch wegen der Wachsamkeit, mitder du ihn bittest und ihm dein Anliegen vorträgst. Ohne Zweifel machtdie Aufmerksamkeit, die wir aufbringen, um die Geheimnisse unsererReligion zu begreifen, mit der wir sie erwägen und betrachten, unse-ren Glauben noch größer.

Doch was ist das, Gebet und Betrachtung? Diese Worte scheinen auseiner anderen Welt zu stammen; wenige Menschen wollen sie hören.Wißt ihr, was Betrachtung und Beschauung ist? Das ist kurz gesagt dasGebet. Beten heißt bitten; und mit Aufmerksamkeit bitten heißt, ei-nen lebendigen, wachsamen und wachen Glauben haben wie dieKanaanäerin. Diesem wachen Glauben oder dem aufmerksamen Ge-bet folgt eine große Vielfalt weiterer Tugenden und begleitet es, die inder Heiligen Schrift genannt werden; da ihre Zahl aber unermeßlichist, will ich mich darauf beschränken, euch jene aufzuzählen, die sichfür euch eignen und die im Gebet der Kanaanäerin besonders auf-scheinen. Der vorzüglichen Tugenden, von denen die Bitte dieser Fraubegleitet war, sind vier: das Vertrauen und die Beharrlichkeit, dieGeduld und die Demut. Über jede will ich euch ein Wort sagen, dennich will nicht lang sprechen.

Sie hatte Vertrauen; das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen,die unserem Gebet vor Gott Gewicht geben. Herr, sagte diese Frau,hab Erbarmen mit mir, denn meine Tochter wird vom Teufel arg gequält(tourmenté ist ein französisches Wort, das uns das lateinische malevexatur wiedergibt). Das ist also, als wollte sie sagen: Dieser böse Geistbehandelt sie äußerst grausam, deshalb hab Erbarmen mit mir. Welchgroßes Vertrauen! Sie glaubt, wenn der Herr Erbarmen mit ihr hat,

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wird ihre Tochter geheilt. Sie zweifelt weder an seiner Macht noch anseinem Willen, denn sie ruft nur: Hab Erbarmen mit mir. Ich weiß,wollte sie sagen, daß du so gütig und gnädig zu allen bist, so daß ichnicht daran zweifle, daß du dich meiner erbarmen wirst, wenn ich dichdarum bitte, und daß meine Tochter sogleich geheilt wird, wenn dudich erbarmst.

Der größte Mangel in unseren Gebeten und bei allem, was uns be-gegnet, vor allem, was unsere Prüfungen betrifft, ist gewiß unser schwa-ches Vertrauen. Daher kommt es, daß wir die Hilfe nicht zu erlangenverdienen, die wir ersehnen und erbitten. Dieses Vertrauen nun be-gleitet stets den wachen Glauben. Als der hl. Petrus und die übrigenApostel sich mit ihrem Herrn im Boot befanden und den Sturm los-brechen sahen, bekamen sie Angst und riefen seinen Beistand an. Dar-an taten sie gut, denn bei ihm müssen wir Zuflucht suchen und vonihm müssen wir alle Hilfe erwarten. Als sie aber den See immer aufge-wühlter und ihren Meister schlafend sahen, erregten sie sich sehr undriefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde. Der Heiland rügte sie undsagte ihnen: Ihr Menschen von geringem Glauben (Mt 8,24-26), alswollte er sagen: Wie schwach ist euer Glaube, da euch das Vertrauenbei der Gelegenheit fehlt, wo ihr es mehr hättet zeigen müssen. Da nundas Vertrauen klein ist, das euch noch bleibt, ist es auch euer Glaube.

Die Kanaanäerin dagegen hatte großes Vertrauen, als sie ihre Bitteaussprach, selbst in Sturm und Unwetter, die dieses Vertrauen nichtim geringsten zu erschüttern vermochten. Es war ja begleitet von derBeharrlichkeit, mit der sie mutig zu rufen fortfuhr: Herr, Sohn Davids,hab Erbarmen mit mir. Sagte sie denn sonst nichts? Nein, sie brachtekein anderes Wort über die Lippen als dieses und gebrauchte es dau-ernd die ganze Zeit, die sie hinter Unserem Herrn her rief. Welchgroße Tugend ist diese Beharrlichkeit! Hättet ihr den guten Ordens-mann des hl. Pachomius, der Gärtner war, gefragt, ob er nichts anderesmache als den Garten besorgen und Matten flechten, er hätte geant-wortet: Nichts anderes. Das war seine Beschäftigung seit seinem Ein-tritt ins Kloster und er strebte den ganzen Rest seines Lebens nichtdanach, eine andere Aufgabe zu bekommen. Welche Beharrlichkeit!

Wenn ich jedoch von der Beharrlichkeit spreche, will ich nicht vonder Beharrlichkeit bis ans Ende sprechen, die wir haben müssen, umgerettet zu werden, sondern von jener, die unser Gebet begleiten muß.Wie wenige verstehen recht, worin sie besteht! Ihr könnt junge Mäd-chen finden, die erst am Beginn der Frömmigkeit stehen, auch Männer(aber sprechen wir jetzt nicht von ihnen; sprechen wir nur von den

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Mädchen, da ich mich an Mädchen wende); da gibt es also solche, diemit dem Gebet und der Nachfolge Unseres Herrn erst beginnen: diebitten um Freuden und Tröstungen und wollen sie auch schon haben;sie können nicht beharrlich beten, außer kraft süßer Empfindungen.Ach, wenn man irgendwie Unlust am Gebet empfindet, wenn Gott unsdie gewohnte Freude und Leichtigkeit entzieht oder vorenthält, be-klagt man sich, ist man bekümmert und sagt: Weil ich nicht demütigbin, läßt Gott mich nichts empfinden; er beachtet mich nicht, denn erschaut nur auf die Heiligen, und was weiß ich, welche Albernheitenund tausend Gedanken, die man unterhält, um sich der Verdrossen-heit und Mutlosigkeit zu überlassen. Man wird bei dieser Trockenheitund Niedergeschlagenheit des Gebetes überdrüssig; und was will man?Ekstasen, Verzückungen, süße Gefühle und Tröstungen. Wenn Gottnicht unverzüglich gibt, worum man ihn bittet, oder wenn er uns nichtzeigt, daß er uns erhört, verliert man den Mut; man kann nicht beharr-lich beten, gibt alles auf.

Nicht so die Kanaanäerin; denn obwohl sie sieht, daß der Herr ihreBitte nicht beachtet, da er ihr keine Antwort gibt, und damit scheinbarein Unrecht begeht, fährt diese Frau dennoch fort, hinter ihm her zurufen, so daß die Apostel sich veranlaßt sahen, ihm zu sagen, er mögesie wegschicken, weil sie dauernd ihm nachrufe. Dazu meinen die ei-nen, sie habe sich an die Apostel gewandt, als sie sah, daß der Heilandihr keine Antwort gab, und sie um Fürsprache gebeten; deshalb hättensie gesagt: Sie hört nicht auf, hinter uns her zu rufen. Andere glauben,sie habe die Apostel nicht gebeten, sondern immer lauter nach Unse-rem Herrn gerufen. Ich will mich aber dabei nicht aufhalten; ich haltemich meinerseits an die letzte Ansicht und glaube, als die Apostelsagten: Herr, entlasse sie, oder vielmehr: schicke die Frau weg, dennsie hört nicht auf, hinter uns her zu rufen, wollten sie damit sagen,hinter dir her, denn hinter ihnen her rufen hieß, hinter ihrem Meisterher rufen.

Obwohl Unser Herr taube Ohren für all das hatte, hörte sie nichtauf, das gewohnte Gebet fortzusetzen. Damit bewies sie ihre Beharr-lichkeit, denn es ist keine geringe Tugend, stets im gleichen Gebet undin den gleichen Übungen zu beharren. Und welches Gebet sollen wirimmer verrichten? Unser Herr hat es mit seinem eigenen Mund ge-sagt: Sprecht: Vater unser im Himmel (Mt 6,9-13; Lk 11,2-4). Das sol-len wir jeden Tag tun. Sollen wir kein anderes Gebet verrichten? Dassage ich nicht; aber Gott gebietet euch kein anderes. Ich weiß wohl,daß es nicht schlecht ist, in den Gebeten und Betrachtungen abzu-wechseln, denn das lehrt uns die Kirche selbst in der Vielfalt ihrer

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Stundengebete. Aber außer diesen Gebeten werdet ihr eines jeden Tagverrichten, das man nicht nur nach der Laudes, der Prim und Vespersprechen muß, sondern oftmals am Tag. Und welches soll das sein?Vater unser im Himmel. Wie glücklich wird man sein, wenn man dasGebet mit dieser Beharrlichkeit verbindet; wenn man, sobald manUnlust und Trockenheit dabei empfindet, sobald uns die Süßigkeit desGebetes entzogen wird, zu beten fortfährt, ohne dessen überdrüssig zuwerden, sich zu beklagen und sich davon zu befreien zu versuchen,sondern wenn man sich damit begnügt, bei all dem unablässig auszu-rufen: Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir.

Cicero sagt an einer Stelle seiner Schriften, ich weiß aber nicht, wo,in der Form eines Sprichworts, daß nichts den Wanderer so sehr ermü-det wie ein langer Weg, wenn er eben ist, oder ein kurzer, wenn er rechtuneben und bergig ist (ich entsinne mich nicht seiner eigenen Worte).Er fügt einige andere Dinge hinzu, aber er will doch ausdrücken, daßdie Beharrlichkeit etwas sehr Schwieriges ist. Obwohl der Wandererauf einem schönen, ebenen Weg geht, ist es dessen Länge, die ihn er-müdet; und wenn er die Nacht anbrechen sieht, wird er unmutig undunruhig. Schließlich hätte er gewiß mehr Freude, wenn dieser Wegabwechslungsreich wäre durch einige Täler und Hügel. Ebenso ermü-det und langweilt der unebene und bergige Weg den Pilger, obwohl erkurz ist, zumal man immer das gleiche tun muß. Aber er ist doch kurz.Trotzdem möchte er lieber, daß er länger wäre und es manche Ebenenund Täler gäbe.

Was ist das anderes als Launenhaftigkeit des menschlichen Geistes,der keine Ausdauer hat in dem, was er unternimmt? Deshalb verste-hen es die Weltmenschen, die nach ihren Launen leben, so gut, durchZeitvertreib und Veranstaltungen Abwechslung in die Jahreszeiten zubringen. Sie erfreuen sich nicht immer am gleichen Vergnügen, son-dern an verschiedenen, denn sonst würden sie dessen müde. Bald hal-ten sie Tanzfeste und Maskenbälle in der Karnevalszeit, kurz sie ver-bringen die Zeit in einer Vielfalt von Vergnügungen, die nichts ande-res sind als Launen und Unbeständigkeit des menschlichen Geistes.Deshalb ist die Ausdauer, im Ordensleben stets das gleiche zu tun, einMartyrium für den, der recht darauf bedacht ist. Es ist wahr, daß esauch ein Paradies genannt wird von denen, die es recht verstehen; aberauch das kann man ein Martyrium nennen, denn dabei tötet man stän-dig die Einbildungen des menschlichen Geistes und jeden Eigenwillenab. Ist es denn kein Martyrium, immer auf die gleiche Art gekleidet zusein, ohne die Freiheit zu haben, seine Kleider zu verbrämen oder

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abzuschneiden, wie es die Weltleute tun? Ist es kein Martyrium, im-mer zur gleichen Zeit zu essen und fast die gleichen Speisen, wie esauch bei den Bauern eine große Ausdauer ist, als Nahrung gewöhnlichnur Brot und Käse zu haben? Trotzdem sterben sie davon nicht früher,sondern halten sich besser als die Feinschmecker, bei denen man nichtweiß, welches Fleisch recht ist. Man braucht so viele Köche, so vieleArten der Zubereitung! Und wenn ihr ihnen die Speisen vorsetzt, sa-gen sie: O, tragen Sie das ab, das ist nicht gut; oder: Das macht michkrank; oder ähnliche Launen. Im Kloster dagegen macht man nicht soviele Umstände; man ißt, was man bekommt. Das ist ebenso ein Mar-tyrium wie immer die gleichen Übungen zu machen.

Bleiben wir allzeit beharrlich im Gebet; denn wenn Unser Herr unsnicht zu hören scheint, dann nicht deswegen, weil er uns zurückweisenwollte, sondern um uns zu verpflichten, unseren Ruf lauter zu erhebenund uns die Größe seines Erbarmens mehr fühlen zu lassen. Die etwasvon der Jagd verstehen, wissen wohl, daß die Hunde im Winter dieBeute nicht wittern können, weil die Luft kalt ist und der Frost siehindert, die Spur zu verfolgen wie in den übrigen Jahreszeiten. Ebensonimmt ihnen im Frühling die Vielfalt des Duftes der Blumen die Fä-higkeit, die Witterung des Wildes aufzunehmen. Um dem abzuhelfen,nimmt der Jäger Essig in den Mund, hält den Kopf des Hundes festund gießt ihm den Essig ins Maul. Das tut er nun nicht, um ihn zuentmutigen, sich auf die Spur der Beute zu setzen, sondern vielmehr,um ihn dazu zu drängen und anzuspornen, zu tun, was seine Aufgabeist. Genau so ist es, wenn Unser Herr uns die süßen Gefühle und Trö-stungen entzieht; das geschieht nicht, um uns zurückzuweisen oderden Mut verlieren zu lassen; er gibt uns vielmehr den Essig in denMund, um uns anzuspornen, uns seiner göttlichen Güte um so mehr zunahen, und uns zur Beharrlichkeit anzuregen.

Es geschieht außerdem noch, um unsere Geduld auf die Probe zustellen. Sie ist die dritte Tugend, die das Gebet der Kanaanäerin be-gleitete. Als der Heiland ihre Beharrlichkeit sah, wollte er auch ihreGeduld prüfen, die Tugend, durch die wir soviel als möglich denGleichmut in allen Wechselfällen dieses Lebens bewahren. Deshalberwiderte er seinen Aposteln, die ihn baten, sie fortzuschicken, einWort, das sie sehr schmerzlich berühren und sie offenbar aus der Fas-sung bringen mußte. Es ist nicht recht, sagte er, daß ich den Kinderndas Brot nehme, um es den Hunden zu geben. Ich bin nicht gekommen,um alle verirrten Schafe, sondern um die verlorenen Schafe aus dem

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Hause meines Vaters zu finden. Nun denn, Herr, gehört dieses Schäf-lein hier nicht zum Haus deines Vaters? Soll es zugrundegehen? Bistdu nicht für alle gekommen, für das jüdische Volk und für die Heiden?Es ist ganz klar, daß Unser Herr für die ganze Welt gekommen ist; daswird in der Heiligen Schrift ganz offenkundig. Wenn er aber sagt: Ichbin nicht für die verirrten Schafe gekommen, sondern nur für die verlo-renen Schafe aus dem Hause meines Vaters, dann will er damit zuverstehen geben, daß er nur den Juden verheißen war, die Kinder Got-tes genannt werden. Das heißt, es war (Jes 11,1f.10f; 61,1; Lk 4,18-21)vorhergesagt, er werde kommen und auf seinen eigenen Füßen unterdiesem Volk wandeln; er werde es mit seinem Mund lehren, seineKranken heilen mit seinen eigenen Händen; er werde selbst in IsraelWunder wirken. Folglich durfte er den Kindern Gottes, d. h. dem jüdi-schen Volk nicht das Brot wegnehmen, um es den Hunden vorzuwer-fen, dem heidnischen Volk, einer Nation, die ihn nicht kannte. Das ist,als wollte Jesus Christus sagen: Die Gnaden, die ich den Heiden er-weise, zu denen ich nicht gesandt bin, sind so klein und ihre Zahl sogering im Vergleich zu jenen, die ich unter den Israeliten austeile, daßsie keinen Grund haben, deswegen eifersüchtig zu sein.

Wie aber ist das zu verstehen, daß Unser Herr ebenso für die Heidengekommen ist wie für die Juden? Seht, wie er gekommen ist, um aufseinen eigenen Füßen unter den Kindern Israels zu wandeln, so mußer auf den Füßen der Apostel unter den Heiden wandeln; er muß ihreKranken heilen, nicht mit seinen eigenen Händen, sondern durch dieder Apostel, ihnen seine Lehre predigen, aber durch den Mund derApostel, das verlorene Schaf wiederfinden, aber durch den Fleiß derApostel. Deshalb sagt er zur Kanaanäerin die scheinbar so harten undverletzenden Worte, die so sehr nach Verachtung und Geringschät-zung dieser armen heidnischen Frau klingen. Gewiß verletzt im allge-meinen nichts so sehr wie kränkende Worte, die man sagt, um jene zumißachten, denen man sie sagt, besonders dann, wenn sie Personenvon Ansehen und Autorität aussprechen. Man hat schon Menschensterben gesehen vor Schmerz und Kummer über ein Wort der Verach-tung, das ihr Fürst ihnen sagte, wenn auch in Erregung oder von Lei-denschaft überrascht. Als diese Frau Unseren Herrn hörte, wurde sienicht ungeduldig, war nicht traurig und beleidigt, sondern warf sichihm zu Füßen und antwortete: Es ist wahr, ich bin ein Hündlein, dasgebe ich zu; aber ich nehme dich beim Wort, denn die Hunde folgenihrem Herrn und nähren sich von den Brocken, die unter den Tischfallen.

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Diese Demut ist die vierte Tugend, die den Glauben und die Bitteder Kanaanäerin begleitete; eine Demut, die dem Heiland so wohlge-fällig war, daß er ihr alles gewährte, worum sie bat, und sagte: Frau,dein Glaube ist groß! Dir geschehe, wie du willst. Gewiß, alle Tugendensind Gott teuer, aber die Demut gefällt ihm über alles und er kann ihranscheinend nichts verweigern. Diese Frau nun machte die Größe ih-rer Demut deutlich durch das Bekenntnis, daß sie ein Hündlein sei,und als Hündlein bat sie nicht um Gnaden, die den Juden als denKindern Gottes vorbehalten waren, sondern nur darum, die Brockensammeln zu dürfen, die unter den Tisch fallen. Manche sagen wohl, sieseien nichts, seien nur Niedrigkeit, Elend und ähnliches (von dieserDemut ist die Welt erfüllt); sie könnten es aber nicht ertragen, wennein anderer ihnen sagte, sie seien nichts wert, sie seien dumm, oderähnliche Ausdrücke der Verachtung. Sie bekennen es, soviel man will,aber hütet euch wohl, es ihnen zu sagen, denn dann sind sie beleidigt.Ich will nebenbei noch dieses Wort hinzufügen, weil es mir einfällt:Die Beichtväter wären recht glücklich, wenn sie ihre Pönitenten im-mer dazu bringen könnten, zu bekennen, daß sie Sünder sind. Dochnein, obwohl man ihnen ihre Fehler zeigt und sie zu bewegen versucht,ihr Unrecht zuzugeben, wollen und können sie es oft nicht glauben.Was unsere Kanaanäerin betrifft, war sie nicht nur nicht gekränkt, daßsie ein Hündlein genannt wurde, sondern sie glaubte es, bekannte esund bat nur um das, was den Hunden zukommt. Darin zeigte sie einebewundernswerte Demut, die durch den Mund Unseres Herrn gelobtzu werden verdiente; das tat er mit den Worten: Frau, dein Glaube istgroß; dir geschehe, wie du willst. Indem er ihren Glauben lobte, lobteer alle übrigen Tugenden, die ihn begleiteten.

Nun denn, vermehren wir also unseren Glauben, beseelen wir ihndurch die Liebe und die Übung der guten Werke, die in Liebe getanwerden. Wachen wir sorgsam darüber, ihn zu bewahren und zu ver-mehren, sowohl durch die aufmerksame Erwägung der Geheimnisse,die man uns lehrt, als auch durch die Übung der Tugenden, über diewir gesprochen haben, besonders der Demut; durch sie hat dieKanaanäerin alles erlangt, was sie wünschte. Ahmen wir diese Fraudarin nach, daß wir unserem Erlöser und Meister immer nachrufen:Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir. Dann wird er uns am Endeunserer Tage sagen: Es geschehe, wie du willst. Komm, um dich dafür,was du getan hast, der Ewigkeit zu erfreuen. Im Namen des Vaters, desSohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

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Zum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. FZum 3. Fastensonntagastensonntagastensonntagastensonntagastensonntag

Nr. 59: 27. Februar 1622 X,265-280

Jedes Reich, das in sich selbst uneins ist, wird ver-wüstet werden (Lk 11,17).

Jedes Reich, das geteilt und in sich selbst nicht einig ist, wird verödetsein, sagt Unser Herr im heutigen Evangelium (Lk 11,14-28); oderumgekehrt werden alle Reiche, die in sich selbst eins sind durch Ein-tracht, die keine Uneinigkeit zulassen, ohne Zweifel von Tröstungenerfüllt sein. Wenn nämlich die Voraussetzungen gegensätzlich sind,müssen es die Folgen ebenso sein. Diese Worte sind um so bedeuten-der und beachtenswerter, haben um so mehr Gewicht, als unser göttli-cher Meister sie gesprochen hat. Deshalb haben sich die frühen Kir-chenväter oft damit befaßt, davon Auslegungen abzuleiten. Sie sagen,daß es drei Arten von Einheit gibt, von denen der Heiland sprechenwollte, deren Auflösung schließlich die Trostlosigkeit folgt. Die ersteist die Eintracht, die zwischen den Untertanen und ihrem König herr-schen muß, die seinen Gesetzen unterworfen und gehorsam sind. Diezweite ist die Einheit, die wir in uns selbst haben müssen, im König-reich, das wir in unserem Inneren haben; seine Königin muß die Ver-nunft sein; ihr müssen alle Fähigkeiten unseres Geistes, ja selbst alleSinne und unser Leib unbedingt unterworfen bleiben; denn ohne die-sen Gehorsam und diese Unterwerfung können wir nicht vor Betrüb-nis und Verwirrung bewahrt werden, ebenso wie ein Königreich, wodie Untergebenen den Gesetzen des Königs nicht gehorchen.

Da es aber zu viel Zeit in Anspruch nähme, über alle Formen derEinheit zu sprechen, werde ich mich nur bei der dritten aufhalten; dasist jene, die wir untereinander haben müssen. Diese Einheit und Ein-tracht hat Unser Herr uns in Wort und Tat gepredigt, empfohlen undgelehrt, aber mit unvergleichlichem Nachdruck und bewundernswer-ten Worten, so daß es scheint, als habe er vergessen, uns die Liebe zuempfehlen, die wir zu ihm haben müssen, zu seinem himmlischenVater, um uns besser die Liebe und die Einheit einzuprägen, von der erwollte, daß wir sie untereinander haben. Er hat sogar das Gebot derNächstenliebe sein Gebot genannt (Joh 15,12), gleichsam sein lieb-stes. Er ist in diese Welt gekommen, um uns als ganz göttlicher Mei-ster zu belehren, und dennoch dringt er auf nichts so sehr und mit soklaren Worten wie auf die Befolgung dieses Gebotes der Nächstenlie-

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be. Und das nicht ohne triftigen Grund, denn der Lieblingsjünger desVielgeliebten, der große heilige Apostel Johannes versichert (1 Joh4,20f): Wenn einer sagt, er liebe Gott, und seinen Nächsten nicht liebt,ist er ein Lügner. Wer umgekehrt sagt, er liebe den Nächsten, liebeaber Gott nicht, verstößt gegen die Wahrheit, denn das kann nichtsein. Gott lieben, ohne den Nächsten zu lieben, der nach seinem Bildund Gleichnis geschaffen ist (Gen 1,26f), das ist unmöglich.

Wie aber muß diese Einheit und Eintracht beschaffen sein, die wiruntereinander haben sollen? O, wie muß sie sein? Wenn es nicht Un-ser Herr selbst erklärt hätte, besäße niemand die Kühnheit, es mit dengleichen Ausdrücken wie er zu tun. Als er beim letzten Abendmahldas unvergleichliche Zeugnis seiner Liebe zu den Menschen durch dieEinsetzung des allerheiligsten Sakramentes der Eucharistie gegebenhatte, sagte er: Mein teuerster Vater, ich bitte dich, daß alle eins seien,die du mir anvertraut hast, wie du, Vater, und ich eins sind (Joh17,11f.21f). Um zu zeigen, daß er nicht nur von den Aposteln sprach,sondern von allen, hat er vorher gesagt: Ich bitte nicht nur für diese hier,sondern für alle, die auf ihr Wort hin an mich glauben (17,20). Werhätte es gewagt, sage ich noch einmal, einen solchen Vergleich zu ma-chen und zu bitten, daß wir eins seien, wie es der Vater, der Sohn undder Heilige Geist untereinander sind?

Dieser Vergleich scheint sehr sonderbar zu sein, denn die Einheitder drei göttlichen Personen ist unbegreiflich und niemand, wer esauch sei, vermag sich diese einfache Einheit und diese unaussprech-lich einfache Einigkeit vorzustellen. So dürfen wir auch nicht zur glei-chen Einheit zu gelangen verlangen, denn das kann nicht sein, wie diefrühen Väter bemerken. Wir müssen uns damit begnügen, ihr entspre-chend unserer Fähigkeit so nahe als möglich zu kommen. Unser Herrberuft uns nicht zur gleichen, sondern zur gleichartigen Einheit, d. h.wir müssen einander lieben und untereinander einig sein, so rein undvollkommen als möglich.

Ich habe es mit um so größerer Freude unternommen, heute überdiesen Gegenstand zu sprechen, als ich gefunden habe, daß uns der hl.Paulus diese Liebe mit bewundernswerten Ausdrücken in der Epistelempfiehlt, die wir in der heiligen Messe gelesen haben; da sagt er imBrief an die Epheser (5,1f): Geliebte, wandelt auf dem Weg gegensei-tiger Liebe als vielgeliebte Kinder Gottes; wandelt auf ihm, wie JesusChristus gewandelt ist, der sein eigenes Leben für uns hingegeben hat,als er sich Gott, seinem Vater als Brandopfer und als duftende, wohl-gefällige Opfergabe dargebracht hat. Wie liebenswert und wie erwä-

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genswert sind diese Worte! Das sind ganz goldene Worte, durch dieuns der große Heilige begreiflich machen will, wie unsere Eintrachtund unsere gegenseitige Liebe beschaffen sein muß. Eintracht und ge-genseitige Liebe sind ein und dasselbe; denn das Wort Eintracht be-zeichnet die Einheit der Herzen; und Liebe, Zuneigung aus Wahl, istEinheit der Neigungen. Er wollte uns anscheinend erklären, was derHeiland beabsichtigte, als er seinen himmlischen Vater bat, daß wiralle eins seien, d. h. einig, wie er und sein Vater eins sind. Unser Herrdrückte sich etwas kurz aus, als er uns mit Worten belehrte, wie sehrer wünschte, daß wir diese heilige und ganz geheiligte Einheit ver-wirklichen. Deshalb drückte es sein glorreicher Apostel etwas aus-führlicher aus, indem er uns auffordert, auf dem Weg der Liebe zuwandeln als vielgeliebte Kinder Gottes. Er wollte gleichsam sagen:wie Gott, unser allgütiger Vater, uns so innig liebte, daß er alle alsseine Kinder angenommen hat (Eph 1,5; 1 Joh 3,2f), so zeigt auchihr, daß ihr wirklich seine Kinder seid, indem ihr einander von gan-zem Herzen innig liebt.

Damit wir aber nicht mit Kinderschritten auf diesem Weg der Liebewandeln, den Gott, unser Vater, uns zu gehen so sehr empfohlen hat,fügt der hl. Paulus hinzu: Wandelt auf ihm, wie Unser Herr auf ihmgewandelt ist, der sein Leben für uns hingegeben hat, usw. Damit zeigter uns, daß wir mit Schritten eines Riesen gehen sollen, nicht mitdenen eines Kindes. Liebt einander, wie Jesus Christus uns geliebt hat(Joh 13,34; 15,12), nicht eines Verdienstes wegen, das wir hätten, son-dern einzig weil er uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.Dieses Bild und Gleichnis müssen wir in allen Menschen ehren undlieben, nicht etwas anderes in ihnen; denn nichts ist an uns liebens-wert, was von uns stammt, weil es dieses göttliche Abbild nicht nurnicht schöner macht, sondern es entstellt, befleckt und besudelt, sodaß wir fast nicht mehr wiederzuerkennen sind. Das nun darf man imNächsten in keiner Weise lieben, denn Gott will es nicht.

Warum hat nun Unser Herr gewollt, daß wir einander so lieben, undwarum, fragt die Mehrzahl der heiligen Väter, war er so darauf be-dacht, uns dieses Gebot als dem Gebot der Gottesliebe gleichwertig(Mt 22,39) einzuschärfen? Das ist doch sehr erstaunlich, wenn mansagt, daß diese zwei Gebote gleichwertig sind, weil das eine daraufabzielt, Gott zu lieben, das andere das Geschöpf. Gott ist unendlich,das Geschöpf begrenzt. Gott ist die Güte selbst und von ihm kommtuns alles Gute zu; der Mensch ist voll Bosheit und von ihm geschieht

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uns soviel Böses; das Gebot der Nächstenliebe enthält ja auch dieLiebe der Feinde (Mt 5,34f). Mein Gott, welches Mißverhältnis imGegenstand der einen und der anderen Liebe! Und doch sind die bei-den Gebote in der Weise gleichartig, als das eine nicht ohne das ande-re bestehen kann. Die eine muß notwendig untergehen oder zuneh-men, sobald die andere abnimmt oder wächst, wie der hl. Johannes(3,30) sagt.

Marc Anton kaufte eines Tages zwei Knaben, die ihm ein Händleranbot; denn damals verkaufte man Kinder, wie es in einigen Gegendennoch geschieht. Es gab Leute, die daraus ein Geschäft machten unddamit Handel trieben, wie man bei uns mit Pferden handelt. Die zweiKnaben glichen einander so vollkommen, daß ihm der Händler weis-machte, sie seien Zwillinge; denn es war nicht zu glauben, daß sie sichansonsten so vollkommen gleichen könnten. Wenn man sie nämlichvoneinander trennte, konnte man nicht feststellen, wer von ihnen wel-cher war. Diese Seltenheit begeisterte Marc Anton so, daß er sie sehrteuer bezahlte. Als er sie jedoch vorführen ließ, fand er, daß die zweiKnaben ganz verschiedene Sprachen redeten, zumal Plinius berichtet,daß der eine aus der Dauphiné stammte, der andere aus Asien, zweivoneinander so weit entfernte Gegenden, daß man es fast nicht sagenkann. Als Marc Anton das erfuhr, daß sie nicht nur keine Zwillingewaren, sondern nicht einmal aus dem gleichen Land stammten undnicht unter dem gleichen König geboren waren, da wurde er sehr auf-gebracht gegen jenen, der sie ihm verkauft hatte. Als ihm aber einjunger Schelm ausmalte, daß diese Ähnlichkeit um so bewunderns-werter sei, als sie aus verschiedenen Ländern stammten und miteinan-der nicht verwandt waren, wurde er vollkommen besänftigt und mach-te dann viel Wesens daraus, so daß er lieber seinen ganzen Besitz ver-loren hätte als die zwei Knaben wegen ihrer seltenen Ähnlichkeit.

Was will ich damit anderes sagen, als daß das Gebot der Gottesliebeund das der Nächstenliebe sich so gleichen wie die zwei Knaben, vondenen Plinius erzählt, obwohl sie aus den entferntesten Gegendenstammten. Ich bitte euch, welcher Abstand besteht doch zwischen derUnendlichkeit und dem Endlichen, zwischen der Gottesliebe, die ei-nem unsterblichen Gott gilt, und der Nächstenliebe, die einem sterb-lichen Menschen gilt, zwischen der einen, die dem Himmel gilt, undder anderen, die der Erde gilt? Diese göttliche Ähnlichkeit ist also umso bewundernswerter. Deshalb müssen wir es machen wie Marc An-ton: wir müssen die eine und die andere Liebe erwerben wie Zwillin-ge, die beide gleichzeitig aus dem Schoß der Barmherzigkeit unseres

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gütigen Gottes entsprungen sind; denn als Gott den Menschen nachseinem Bild und Gleichnis schuf, da gebot er gleichzeitig, daß er Gottund ebenso seinen Nächsten liebe.

Das Naturgesetz hat das Herz aller Menschen stets diese zwei Gebo-te gelehrt. Auch wenn Gott sie nicht ausgesprochen hätte, wüßten dochalle, daß sie verpflichtet sind, sie zu erfüllen. Das sehen wir daran, daßder Herr die Antwort des unglückseligen Kain äußerst schlecht fand.Als er ihn fragte, was er mit seinem Bruder Abel getan habe, besaß erdie große Frechheit, zu sagen, daß er nicht verpflichtet sei, ihn zuhüten (Gen 4,9). Keiner kann sich entschuldigen, er habe nicht ge-wußt, daß wir den Nächsten lieben müssen wie uns selbst, denn Gotthat diese Wahrheit auf dem Grund unseres Herzens eingeprägt, als eruns alle einander ähnlich geschaffen hat. Da wir alle in uns das Bilddes Schöpfers tragen, sind wir folglich einer das Abbild des anderenund stellen alle nur das gleiche Bild dar, das Gott ist.

Da dem so ist, betrachten wir doch ein wenig, mit welchen WortenUnser Herr uns die Nächstenliebe geboten hat; auf diese stütze ichdiese Erwägung. Er sagte zu seinen Aposteln (Joh 13,14): Ich gebeeuch ein neues Gebot; es besteht darin, daß ihr einander liebt. Vorallem, warum nennt er dieses Gebot neu? Es war ja schon im mosai-schen Gesetz (Lev 19,18) gegeben, und wie wir schon gesehen haben,war es selbst dem Naturgesetz nicht unbekannt, sondern bekannt undseit der Erschaffung des Menschen sogar von manchen befolgt wor-den. Unser göttlicher Meister nennt dieses Gebot neu, weil er es er-neuern wollte. Wenn man viel neuen Wein in ein Faß gießt, in demnoch ein wenig alter Wein ist, dann sagt man nicht, das Faß enthaltealten Wein, sondern neuen, weil er an Menge den anderen unvergleich-lich übertrifft. Ebenso nennt Unser Herr dieses Gebot neu, denn ob-wohl es vorher gegeben war, wurde es nur von einer sehr kleinen Zahlvon Menschen befolgt, so daß man es ganz neu nennen konnte, weil eres in der Weise erneuern wollte, daß alle einander lieben.

Das taten die ersten Christen, die alle nur ein Herz und eine Seelewaren (Apg 4,32). Sie wahrten so große Einheit miteinander, daß manbei ihnen nie eine Uneinigkeit untereinander sah; durch ihre Ein-tracht erfreuten sie sich auch des größten Trostes. Aus vielen Getreide-körnern, die gemahlen und miteinander geknetet werden, macht manein einziges Brot, das aus all diesen Getreidekörnern zuammengesetztist, die vorher getrennt waren, die man aber jetzt nicht mehr trennenkann, so daß man sie jetzt nicht mehr einzeln feststellen und erkennenkann. Ebenso hatten diese Christen eine so glühende Liebe füreinan-

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der, daß alle ihren Willen und ihre Herzen auf heilige Weise miteinan-der verbunden und vereint hatten. Diese heilige Verbindung und Ver-einigung brachte aber keinerlei Nachteil, denn es konnte dabei wederUneinigkeit noch Trennung geben, so daß das aus all diesen Herzengeknetete Brot dem Geschmack der göttlichen Majestät überaus ange-nehm war.

Wir sehen auch, daß aus vielen Trauben, die miteinander gepreßtwerden, nur ein Wein wird, und daß man nicht mehr feststellen kann,welcher Wein von diesem Rebstock oder von dieser Beere stammt,sondern daß alles miteinander vermengt nur einen Wein ergibt, dervon vielen Rebstöcken und Trauben gewonnen wird. Ebenso bildetendie Herzen der ersten Christen, in denen die heilige Liebe und Zunei-gung herrschte, nur einen Wein, der aus vielen Herzen wie aus vielenTrauben zusammengesetzt war. Was aber eine so große Einheit unterihnen bewirkte, meine Lieben, das war nichts anderes als die heiligeKommunion (Apg 2,42; 1 Kor 10,17). Als sie aufhörte oder seltenerwurde, begann die Liebe bei den Christen im gleichen Maß zu erkaltenund sie verlor sehr an Kraft und Anmut.

Das Gebot der Nächstenliebe ist also neu aus dem Grund, den wireben genannt haben, d. h. weil Unser Herr gekommen ist, es zu erneu-ern, und weil er bestätigt hat, daß er es besser als früher befolgt wissenwollte. Es ist auch deswegen neu, weil Unser Herr es gleichsam wie-dererweckt hat, wie man einen Menschen neu nennen kann, der gestor-ben und auferstanden ist. Dieses Gebot war von den Menschen so sehrvernachlässigt worden, daß es schien, als sei es nie gegeben worden, sowenige erinnerten sich daran oder befolgten es gar. Unser Herr hat esalso von neuem gegeben; also will er, daß es als etwas Neues, als einneues Gebot treu und eifrig befolgt wird.

Es ist auch neu wegen unserer neuen Verpflichtungen, es zu befol-gen. Was sind nun diese neuen Verpflichtungen, die Jesus Christus derWelt gebracht hat, um uns fügsam in der Befolgung dieses göttlichenGebotes zu machen? Sie sind gewiß groß, da er selbst gekommen ist,um es uns zu lehren, nicht nur durch Worte, sondern viel mehr durchdas Beispiel. Der überaus liebenswürdige göttliche Meister wollte unsnicht etwas malen lassen, ohne es vorher vor unseren Augen zu malen.Er hat uns kein Gebot gegeben, ohne es zuerst zu befolgen, ehe er esgab. Bevor er das Gebot der Nächstenliebe erneuerte, hat er uns ge-liebt und durch sein Beispiel gezeigt, wie wir es befolgen müssen, da-mit wir keine Entschuldigung haben, es sei etwas Unmögliches. Er hatsich im allerheiligsten Sakrament geschenkt und dann gesagt: Liebt

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einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12). Die Menschen desAlten Bundes sind verdammt, wenn sie den Nächsten nicht geliebthaben, denn dazu verpflichtete sie entweder das Naturgesetz oder nochmehr das mosaische Gesetz. Aber die Christen, die nach dem Bei-spiel, das Unser Herr uns gegeben hat, einander nicht lieben und die-ses göttliche Gebot der gegenseitigen Liebe nicht befolgen, werden zueiner ungleich größeren Strafe verdammt werden.

Die Menschen früher, ich will sagen, die vor der glorreichen Mensch-werdung unseres teuren Erlösers und Meisters lebten, konnten einegewisse Entschuldigung haben; denn wenn man auch damals schonwußte, daß Unser Herr kommen werde, indem er unsere menschlicheNatur mit der göttlichen Natur vereinigt, um durch seinen Tod undseine Passion das Bild und Gleichnis Gottes wiederherzustellen, dasuns eingeprägt ist, waren es doch nur einige der Größten, wie die Pa-triarchen und Propheten, die diese Erkenntnis besaßen, während dieübrigen Menschen fast alle nichts davon wußten. Da wir aber jetztwissen, nicht daß er kommen wird, sondern daß er gekommen ist unddaß er uns von neuem diese heilige Liebe zueinander geboten hat,welche Strafe verdienen wir dann, wenn wir unseren Nächsten nichtlieben!

Dürfen wir uns also wundern, wenn der Vielgeliebte unserer Seelenwill, daß wir einander lieben, wie er uns geliebt hat, da er uns so voll-kommen in der Ähnlichkeit mit ihm wiederhergestellt hat, daß keinUnterschied mehr zu bestehen scheint? Gewiß, niemand kann daranzweifeln, daß das Abbild Gottes in uns vor der Menschwerdung desErlösers nicht grundlegend verschieden war vom Abbild dessen, denwir darstellen und dessen Bild wir sein sollen. Ich frage euch, in wel-chem Verhältnis stehen denn Gott und das Geschöpf? Die Farben die-ses Bildes waren unendlich matt und blaß; es hatte nur einige Züge,einige kleine Linien, wie man bei einem Porträt oder einem Gemäldesieht, das nur entworfen ist, wo die Farben noch nicht aufgetragensind. Man erkennt nur einen ganz kleinen Schein und recht wenig vondem, was es darstellt. Als aber Unser Herr in die Welt kam, hat erunsere Natur dermaßen über alle Engel erhöht, über die Kerubim undalles, was nicht Gott ist. Er hat uns dermaßen ihm ähnlich gemacht,daß wir mit Gewißheit sagen können, wir gleichen Gott vollkommen,der Mensch wurde gleich uns, und uns die Ähnlichkeit mit ihm schenk-te. Wie müssen wir daher unseren Mut aufrichten, um dem gemäß zuleben, was wir sind, und so vollkommen als möglich Den nachzuah-men, der gekommen ist, um uns zu lehren, was wir tun müssen, um in

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uns diese Schönheit der Gottähnlichkeit zu bewahren, die er in uns sovollständig wiederhergestellt und noch schöner gemacht hat.

Sagt mir also, wie muß die herzliche Liebe beschaffen sein, die wirzueinander haben müssen, nachdem Unser Herr uns alle in gleicherWeise wiederhergestellt und ihm ähnlich gemacht hat, ohne jemandauszuschließen? Man muß sich indessen stets vor Augen halten, daßman am Nächsten nicht lieben darf, was dieser Gottähnlichkeit wider-spricht oder dieses heilige Bild trüben kann. Doch davon abgesehen,meine Lieben: müssen wir nicht den herzlich lieben, der uns so leben-dig die heilige Person unseres Meisters vor Augen stellt? Ist das nichteiner der vordringlichsten Beweggründe, die wir haben können, umeinander mit überaus glühender Liebe zu lieben? Ach, wenn wir unse-ren Nächsten sehen, müssen wir es da nicht machen wie der gute Raguel,als er den jungen Tobias sah? Als dieser im Auftrag seines Vaters nachRages kam, begegnete er Raguel; als der ihn anschaute, sagte er zuseiner Frau: Mein Gott, dieser junge Mann erinnert mich sehr an unse-ren Vetter Tobit! Deshalb fragte er ihn, woher er sei und ob er nicht denTobit kenne. Darauf antwortete der Engel, der ihn begleitete: Der mitdir spricht, ist sein Sohn; du kannst dir denken, daß wir ihn kennen!Da umarmte ihn der gute Raguel, von Freude ganz hingerissen, herzteund küßte ihn sehr zärtlich. Mein Kind, rief er, wie bist du doch derSohn eines guten Vaters und wie gleichst du einem großen Mann! Dannnahm er ihn in sein Haus auf und bewirtete ihn überaus gut, entspre-chend seiner Liebe zu seinem Vetter Tobit.

Nun denn, müssen wir es nicht ebenso machen, wenn wir einanderbegegnen? Wir müssen zu unserem Bruder sagen: Wie gleichst dudoch einem großen guten Mann, denn du bist das Abbild meinesErlösers und Meisters! Und welch zärtliche Liebkosungen müssen wireinander geben auf die Versicherung hin, die er uns gibt oder die wiruns gegenseitig geben, daß wir das Abbild des Schöpfers recht guterkennen und daß wir seine Kinder sind. Doch besser gesagt, wie lie-bevoll müssen wir den Nächsten aufnehmen, indem wir in ihm dieseGottähnlichkeit ehren und stets von neuem die zwei Bande der Liebe(Kol 3,14) knüpfen, die uns miteinander verbunden, zusammengefügtund vereinigt halten. Wandeln wir also auf dem Weg der Liebe alsvielgeliebte Kinder Gottes, wie uns der heilige Apostel in der heutigenEpistel auffordert.

Wandelt aber auf ihm, sagt er weiter, wie Jesus Christus auf ihmwandelte, der sein Leben für uns hingegeben, d. h. es seinem Vater alsBrandopfer und Opfergabe von süßem Wohlgeruch dargebracht hat. In

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diesen Worten erkennen wir den Grad, den unsere gegenseitige Liebeerreichen, und die Vollkommenheit, zu der sie gelangen muß, nämlichfüreinander die Seele hinzugeben, das Leben, mit einem Wort alles,was wir sind, und alles, was wir haben, außer das Heil; Gott will ja, daßdies allein ausgenommen sei. Unser Herr hat sein Leben für jeden vonuns hingegeben; er hat seine Seele hingegeben, seinen Leib und sichschließlich nichts vorbehalten; folglich will er nicht, daß wir unsirgendetwas vorbehalten, ausgenommen das ewige Heil.

Unser göttlicher Meister hat sein Leben nicht nur für uns hingege-ben, indem er es damit verbrachte, die Kranken zu heilen, Wunder zuwirken und uns zu belehren, was wir tun müssen, um das Heil zu erlan-gen und ihm wohlgefällig zu sein. Er hat es vielmehr auch hingegeben,indem er während dessen ganzer Dauer das Kreuz zimmerte, da erabertausend Verfolgungen sogar von denen erduldete, denen er so vielGutes tat, für die er sein Leben hingab. Wir müssen es ebenso machen,sagt der Apostel, d. h. wir müssen unser Kreuz zimmern, einanderertragen, wie es uns der Heiland gelehrt hat, müssen unser Leben hin-geben selbst für jene, die es uns nehmen möchten, wie er es so liebevollgetan hat. Wir müssen es für den Nächsten einsetzen nicht nur in ange-nehmen Dingen, sondern in den beschwerlichsten und unangenehm-sten, wie liebevoll die Verfolgungen zu ertragen, die unsere Liebe zuunseren Brüdern irgendwie erkalten lassen könnten.

Manche sagen: Ich liebe meinen Nächsten sehr und möchte ihmgern irgendeinen Dienst erweisen. Das ist recht gut, sagt der hl. Bern-hard, aber es ist nicht genug; man muß noch weiter gehen. O, ich liebeihn doch! Ich liebe ihn so sehr, daß ich gern all meinen Besitz für ihnverwenden möchte. Das ist mehr und schon besser, aber es ist nochnicht genug. Ich versichere Ihnen, ich liebe ihn so sehr, daß ich gernselbst meine Person für ihn einsetzen würde zu allem, was er von mirwünschen mag. Das ist gewiß ein sehr gutes Zeichen deiner Liebe, aberman muß noch weiter gehen, denn es gibt in dieser Liebe noch einehöhere Stufe, wie uns der hl. Paulus lehrt, wenn er (1 Kor 11,1) sagt:Ahmt mich nach, wie ich Jesus Christus nachahme. Und in einem an-deren seiner Briefe (2 Kor 12,14f.19), wenn er zu seinen teuerstenKindern spricht und schreibt: Ich bin bereit, mein Leben für euch hin-zugeben und mich so vollständig einzusetzen, daß ich keinerlei Vorbe-halte mache, um euch zu beweisen, wie zärtlich und herzlich ich euchliebe. Ja, ich bin sogar bereit, durch euch oder für euch alles gesche-hen zu lassen, was man von mir will. Damit belehrt er uns, daß es nichtso viel ist, sich für den Nächsten einzusetzen, ja bis zur Hingabe seines

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Lebens, als sich nach dem Belieben der anderen verwenden zu lassen,sei es für sie oder durch sie.

Das hatte Paulus von unserem göttlichen Erlöser gelernt; der hattesich selbst für unser Heil und unsere Erlösung eingesetzt und ließ sichdann verwenden, um diese Erlösung zu vollenden und uns das ewigeLeben zu erwerben, indem er sich sogar von denen ans Kreuz schlagenließ, für die er starb. Er hatte sich selbst sein Leben lang eingesetzt,aber bei seinem Tod ließ er sich einsetzen und alles geschehen, wasman wollte, nicht durch seine Freunde, sondern durch seine Feinde,die ihn in unerträglicher Wut töteten. Er leistete trotzdem keinenWiderstand und weigerte sich nicht, sich von jedem führen und behan-deln zu lassen, wie es die Grausamkeit diesen Unglücklichen eingab(Jes 1,5). Er sah darin den Willen seines himmlischen Vaters, derbestimmte, daß er für die Menschen starb. Diesem Willen unterwarfer sich mit unvergleichlich großer Liebe, die viel mehr angebetet zuwerden verdient, als man sich vorstellen und begreifen kann.

Zu dieser höchsten Stufe der Vollkommenheit sind die Ordensleuteund wir alle, die wir dem Dienst Gottes geweiht sind, zu dieser höch-sten Stufe der Nächstenliebe, sage ich, sind wir berufen und nach ihrmüssen wir mit allen Kräften streben. Wir müssen uns nicht nur fürsein Wohl und zu seinem Trost einsetzen, sondern müssen uns für ihnverwenden lassen durch den hochheiligen Gehorsam, ganz wie manwill, ohne uns je zu widersetzen. Wenn wir uns selbst einsetzen, bringtdas, was wir nach der Entscheidung unseres Willens oder nach eigenerWahl tun, unserer Eigenliebe stets große Genugtuung. Uns aber zuDingen verwenden zu lassen, die man will, die nicht wir wollen, d. h.die wir nicht wählen, darin liegt die höchste Stufe der Selbstverleug-nung, die unser Herr und Meister uns durch seinen Tod gelehrt hat.Wir möchten predigen, und man schickt uns zum Krankendienst; wirmöchten für den Nächsten beten, und man schickt uns, dem Nächstenzu dienen. Was man uns tun heißt, ist stets unvergleichlich mehr wert(ich meine, was nicht im Widerspruch zu Gott steht und ihn nichtbeleidigt) als das, was wir selbst tun oder wählen.

Liebt also einander, sagt der hl. Paulus, wie Unser Herr uns geliebthat. Er hat sich als Sühnopfer dargebracht; das geschah, als er amKreuz sein Blut bis zum letzten Tropfen über die Erde ergoß, damit esgleichsam ein heiliges Bindemittel bilde (Kol 1,20), durch das er alleBausteine seiner Kirche, nämlich die Gläubigen, miteinander vereini-gen, verbinden und zusammenhalten wollte, damit sie so vereinigt sei-

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en, daß es unter ihnen nie irgendeine Trennung gebe; so sehr fürchteteer, daß diese für sie die Ursache ewiger Trauer werde. Wie dringlichist doch dieser Beweggrund, um uns zur Liebe dieses Gebotes und zuseiner genauen Befolgung anzuspornen. Wir wurden in gleicher Weisemit diesem kostbaren Blut getränkt als mit einem heiligen Bindemit-tel, um unsere Herzen miteinander zu verbinden und zu vereinigen.Wie groß ist doch die Güte Gottes!

Unser Herr wurde seinem göttlichen Vater auch für uns dargebrachtoder hat sich geopfert als wohlduftende Opfergabe. Welch göttlichenDuft verbreitete er doch, als er das allerheiligste Sakrament des Alta-res einsetzte, in dem er uns die Größe seiner Liebe so wunderbar be-zeugt! Diese Tat der Vollendung verbreitete einen unvergleichlichenWohlgeruch; durch sie gab er sich uns hin, die wir seine Feinde warenund seinen Tod verschuldet haben; und damals gab er uns das Mittel,das zu erreichen, was er uns wünschte, nämlich eins mit ihm zu wer-den, wie er und sein Vater eins sind, d. h. das Gleiche. Darum hat erseinen himmlischen Vater gebeten oder wollte ihn bitten, und glei-cherweise und gleichzeitig fand er, wie das geschehen kann. O unver-gleichliche Güte, wie verdienst du geliebt und angebetet zu werden!

Wie weit hat die Größe Gottes sich erniedrigt für jeden von uns undwie weit will er uns erhöhen! Uns so vollkommen mit sich zu vereini-gen, daß er uns zu ein und demselben mit ihm macht. Das hat UnserHerr gewollt, um uns zu belehren, daß wir, wie wir alle mit der glei-chen Liebe geliebt werden, mit der er uns alle im heiligsten Sakramentumfängt, nach seinem Willen uns lieben sollen mit der gleichen Liebe,die nach Einigung strebt, aber nach der denkbar größten und vollkom-mensten Einheit. Wir alle werden mit dem gleichen Brot genährt (1 Kor10,17), nämlich mit dem himmlischen Brot der göttlichen Euchari-stie, mit der Speise, die Kommunion heißt und, wie wir gesagt haben,die allgemeine Einheit darstellt, die wir miteinander haben müssen.Ohne diese Einheit verdienen wir nicht, den Namen von Kindern Got-tes zu tragen, weil wir ihm nicht entsprechen.

Kinder, die einen guten Vater haben, müssen ihn nachahmen undseinen Geboten in allem folgen. Wir haben nun einen Vater, der besserist als jeder andere, von dem alle Güte kommt (Jak 1,17). Seine Gebo-te können nur sehr vollkommen und heilsam sein; deshalb müssen wirihn möglichst vollkommen nachahmen und ebenso seinen göttlichenAnordnungen gehorchen. Aber unter all seinen Geboten ist keines,auf das er solchen Nachdruck gelegt und von dem er sein Verlangennach einer genauen Befolgung so klar bezeugt hat, wie das der Näch-

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stenliebe. Das bedeutet nicht, daß das Gebot der Gottesliebe nicht denVorrang hätte; da aber für die Befolgung des Gebotes der Nächstenlie-be die Natur weniger hilfreich ist als für das andere, war es notwendig,daß wir dazu in besonderer Weise angespornt werden.

Lieben wir also einander mit der ganzen Fülle des Herzens, um un-serem himmlischen Vater zu gefallen, doch lieben wir einander aufvernünftige Weise. Das bedeutet, daß unsere Liebe von der Vernunftgeleitet werden soll; sie will, daß wir die Seele des Nächsten mehrlieben als seinen Leib; daß wir dann auch den Leib lieben und hernachin rechter Ordnung alles, was dem Nächsten gehört, alles nach Ge-bühr, zur Erhaltung dieser Liebe.

Wenn wir das tun, mit wieviel Recht und gewiß nicht ohne großenTrost können wir dann den Psalm (133) singen, dessen Betrachtungdem großen hl. Augustinus so lieblich war: Ecce quam bonum! Wiegut ist es, die Brüder beisammen wohnen zu sehen in heiliger Einheit, inEintracht und Frieden, denn sie sind wie kostbares Öl, das ausgegossenwird über das Haupt des Hohepriesters Aaron, das dann herabfließtüber seinen Bart und seine Kleider. Unser göttlicher Meister ist derHohepriester, über den das unvergleichlich kostbare und duftende Ölder heiligen Liebe, sowohl zu Gott als zum Nächsten, ausgegossenwurde. Wir sind gleichsam die Haare seines Hauptes sowie seinesBartes. Oder wir können vielmehr in den Aposteln den Bart UnseresHerrn sehen; er ist unser Haupt, wir seine Glieder (1 Kor 12,12-17;Eph 4,15; Kol 1,18). Sie waren gleichsam mit seinem Gesicht ver-wachsen, da sie sein Beispiel und seine Wunder sahen, seine Lehrenunmittelbar aus seinem heiligen Mund vernahmen. Was uns betrifft,hatten wir nicht diese Ehre, sondern haben von den Aposteln gelernt,was wir wissen. Wir sind also gleichsam die Kleider unseres Hohe-priesters, unseres Erlösers; auf sie fließt gleichwohl auch dieses kost-bare Salböl der überaus heiligen Liebe herab, die er uns so sehr emp-fohlen und befohlen hat. Das hat uns auch sein heiliger Apostel indeutlicheren Ausdrücken gesagt, da er nicht wollte, daß wir uns damitbefassen, in dieser so notwendigen Übung die Engel und die Kerubimnachzuahmen, sondern Unseren Herrn selbst, der sie uns viel mehrdurch Werke als durch Worte gelehrt hat, vor allem, als er ans Kreuzgeheftet war.

Am Fuß dieses Kreuzes müssen wir uns ständig aufhalten als an demOrt, an dem die Nachahmer unseres erhabenen Meisters und Erlösershauptsächlich ihren Aufenthalt nehmen. Hier empfangen sie ja dieseshimmlische Öl der heiligen Liebe, das wie eine heilige Quelle mitaller Macht dem Herzen des göttlichen Erbarmens unseres gütigen

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Gottes entströmt. Er hat uns geliebt mit einer so starken, beständigen,so glühenden und beharrlichen Liebe, daß selbst der Tod sie nichterkalten lassen konnte, sondern sie im Gegenteil angefacht und gren-zenlos vermehrt hat. Die Wasser der bittersten Trübsal vermochten dasFeuer seiner Liebe zu uns nicht auszulöschen (Hld 8,6f), so glühendwar sie; und die schlimmsten Verfolgungen seiner Feinde waren nichtstark genug, um die unvergleichliche Gediegenheit und Festigkeit derLiebe zu überwinden, mit der er uns geliebt hat. So muß unsere Liebezum Nächsten sein: stark, glühend, gediegen und beständig. – – –

Zum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten EmpfängnisZum Fest der Unbefleckten Empfängnis

Nr. 67: Lyon, 8. Dezember 1622 X,399-405

Die geringe Zeit und Muße, die uns das Getümmel der Welt läßt,wird die Ursache sein, daß ich sehr einfach und zwanglos (denn mirscheint, daß die Dinge dafür besser geeignet sind) zu euch über zweiPunkte sprechen werde, die ich euch am letzten Donnerstag nicht er-klären konnte, d. h. darüber, wie man die Feste feiern muß und wel-cher Art die Feste und Geheimnisse sind, die wir feiern. Ich bin ge-wohnt, stets den Gegenstand zu erklären, ehe ich darüber spreche.

Vor allem muß man wissen, daß es dreierlei Feste gibt: jene, die unsdie Kirche gebietet, solche, die sie uns empfiehlt, und die staatlichenFeste, wie jenes, das heute wegen des Einzugs des Königs in diese Stadtveranstaltet wird. Es wurde von den Herren der Stadt angeordnet undist auf diese Weise zu einem staatlichen geworden. Die Feste wurdenuns empfohlen, um Gott Ehre zu erweisen, den Kult und die Anbe-tung, die wir ihm schulden als unserem höchsten Meister und Herrn.Das Fest der Empfängnis der seligsten Jungfrau ist uns nicht geboten,wohl aber empfohlen. Um uns zur frommen Feier dieses Festes einzu-laden, gewährt uns die Kirche als liebenswürdige Mutter Ablässe, undes gibt sogar Bruderschaften mit dieser Absicht. Der hl. Hieronymusund der hl. Bernhard empfehlen uns die Feier im Brevier und in denHomilien dieses Tages. Bevor wir aber auf unsere Ausführungen nähereingehen, sagen wir ein Wort über den Inbegriff unseres Glaubens zurUnterweisung der Christen. Man muß vor allem wissen, daß es darinvier Teile gibt: 1. was wir glauben müssen, 2. was wir erhoffen müssen,3. was wir lieben müssen, 4. was wir tun und üben müssen.

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Das erste ist enthalten im Apostolischen Glaubensbekenntnis, dasso genannt wird, weil es die Apostel verfaßt haben. Alles, was wirglauben müssen, ist in ihm enthalten; und obwohl darin nicht alles imeinzelnen steht, ist es doch im großen enthalten. Im Credo ist z. B.nicht gesagt, daß es Engel gibt; trotzdem ist das eine Wahrheit, die wirglauben und in der Heiligen Schrift finden, sogar, daß sie mit Aufträ-gen in diese Welt hier unten gesandt wurden. Ebenso wollten die tük-kischen Häretiker behaupten, das heilige Meßopfer sei nicht in unse-rem Glaubensbekenntnis enthalten. Das benützten diese Elenden, umzu sehen, ob es jemand gebe, der so schwachen Glauben hat, an ihreIrrtümer zu glauben. O meine Lieben, ich sage euch, es gibt hundertArtikel in unserem Glauben, die nicht ausdrücklich im Glaubensbe-kenntnis stehen, die dennoch alle Christen glauben müssen. Man darfnicht sagen: Ich begnüge mich damit, zu glauben, was die Kircheglaubt, und auf diese Weise in dieser krassen Unwissenheit zu verhar-ren.

Was wir erhoffen und von Gott erbitten müssen, ist alles in den sie-ben Bitten des Vaterunser enthalten, das wir gewöhnlich das Gebet desHerrn nennen, das Unser Herr (Mt 6,9-13) hinterlassen hat.

Zum dritten haben wir die göttlichen Gebote, durch die wir belehrtwerden, Gott und den Nächsten zu lieben; denn von diesen zwei Gebo-ten hängt das ganze Gesetz und die Propheten ab (Mt 22,37-40). Ihrkennt auch die anderen, die im Dekalog folgen, und die Gebote derKirche; sie gleicht einem schönen Baum oder vielmehr dem Orangen-baum, der zu jeder Jahreszeit immer grün ist. Tatsächlich sieht manihn in Italien in der Gegend von Genua und auch in Gegenden Frank-reichs, wie in der Provence entlang der Küste, zu jeder Jahreszeit Blät-ter, Blüten und Früchte tragen. (Gewiß ist der Orangenbaum immerim gleichen Zustand, ohne zu welken; gleichwohl hat er das, weil ernicht nährt.) So hat die Kirche ihre Blätter, das sind ihre Zeremonien,ihre Blüten, das sind ihre Handlungen, und ihre Früchte, das sind ihreguten Werke und das gute Beispiel, das sie bei jeder Gelegenheit demNächsten gibt.

Außerdem gibt es in ihr sieben Sakramente, die wir indessen nichtalle zu empfangen verpflichtet sind, sondern nur jeder nach seinerBerufung, wie das der Weihen für die Priester und das Sakrament derEhe für jene, die Gott dazu berufen hat. Der anderen müssen wir unsnach Zeit und Ort bedienen und sie empfangen, wie es die Kirche unsbefiehlt, denn dazu sind wir verpflichtet.

Kommen wir zu unserem zweiten Punkt, d. h. welcher Art die Festesind, die wir feiern. Erwägen wir zunächst: Gott als reiner und freier

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Geist wollte etwas außer sich schaffen; da schuf er die Engel unddann Adam und Eva im Stand der ursprünglichen Unschuld undGerechtigkeit. Außerdem ließ er ihnen die Willensfreiheit, beglei-tet von allen Vorzügen und Privilegien der Gnade, die sie nur wün-schen konnten. Aber was tat Luzifer, dieser Geist des Aufruhrs, dersich mit einer so vorzüglichen Natur ausgestattet sah? Er wolltesich in keiner Weise unterordnen. Nun wißt ihr, daß alle Engel inder Gnade geschaffen wurden, aber sie waren nicht sogleich in ihrgefestigt. Gott hatte ihnen den freien Willen und volle Freiheit ge-lassen. Da nun der oberste Engel, der Luzifer war, sich so schönund so hervorragend seiner Natur nach sah, denn er war vollkom-mener als alle, da sagte er bei sich: Ich werde mich dem Höchstengleich machen und werde mich auf die Flanken des Nordwinds set-zen (Jes 14,13f); sie sind die höchsten, und alle werden mir Ehreerweisen. Als der hl. Michael das sah, begann er zu rufen: Wer istwie Gott? Auf diese Weise stürzte er ihn in den Abgrund der Hölle(Jes 14,11-15; Offb 12,7-9), da sich, wie der hl. Bernhard schreibt,niemand erhöhen kann, der sich nicht zuvor gedemütigt hat.

Da sich Luzifer in dieser Weise gegen seinen Schöpfer aufgelehnthatte und folglich gegen sein Ebenbild, das der Mensch ist, wandteer sich an unsere Stammeltern, vor allem an Eva, und sprach so zuihr: Wenn du von dieser Frucht ißt, wirst du Gut und Böse kennenund Gott gleich sein. Sie öffnete ihr Ohr diesem Vorschlag (dennwenn man uns davon spricht, uns zu erhöhen, scheint uns davon allunser Glück abzuhängen); sie gab ihre Zustimmung und aß von derverbotenen Frucht, ja sie ging noch weiter und gab ihrem Mann zuessen, so daß beide nachgaben und ungehorsam gegen Gott wurden.Im selben Augenblick empfanden sie Scham und Verwirrung insich selbst, denn das bringt die Sünde mit sich, und sie verstecktensich, so gut es ihnen möglich war (Gen 3,1-7). Wären sie in derGnade geblieben, wären wir dieses unvergleichlichen Glückes teil-haft geworden, denn von ihrem Fall nahm die Erbschuld ihren Aus-gang. Das ist das Erbe, das sie uns hinterlassen haben, wie wir eben-so die Gnade und ursprüngliche Gerechtigkeit geerbt hätten, in dersie erschaffen wurden, wenn sie in ihr verharrt wären. Aber ach, sieblieben es nur sehr kurz, es war nur ein Augenblick, und da wir allevom gleichen Stamm und Geschlecht Adams sind, sind wir alle mitder Erbschuld behaftet; das läßt den großen königlichen Propheten(Ps 51,7) ausrufen: Ecce enim in iniquitatibus ...; das heißt: wir allesind in Sünde empfangen und alle Empfängnis vom Anfang der Weltbis zum Ende geschieht in Sünde.

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Wenn es auch wahr ist, daß unsere Stammeltern, auch Eva, erschaf-fen wurden und nicht empfangen, so geschieht doch jede Empfängnisder Menschen in Sünde. Nur Unsere liebe Frau und heilige Herrin warvon diesem Übel ausgenommen, sie, die Gott zuerst in ihrem Herzenund in ihrem Geist empfing, bevor sie ihn in ihrem keuschen Schoßempfangen hat. Alle Menschen werden als Kinder des Zornes (Ps 51,7;Eph 2,3) geboren infolge der Erbschuld, die sie zu Feinden Gottesmacht. Aber durch die Taufe sind sie wiederhergestellt und seine Kin-der geworden, fähig seiner Gnade und der Erbschaft des ewigen Le-bens. Alle waren mit der Erbschuld behaftet, aber einige wurden durchein besonderes Wunder vor ihrer Geburt gereinigt, wie der hl. Johan-nes der Täufer und auch der Prophet Jeremia (1,5). Der hl. Johanneswurde gereinigt bei den Worten der heiligen Jungfrau Maria durch dieGegenwart dessen, der in ihrem heiligen Schoß eingeschlossen war.Unser Herr und der hl. Johannes der Täufer besuchten sich im Leibihrer Mütter (der Schoß unserer Mütter ist ja eine kleine Welt), undman glaubt, daß der glorreiche Vorläufer auf die Knie fiel, um seinenErlöser anzubeten, und daß ihm im selben Augenblick der Gebrauchder Vernunft verliehen wurde. Aber die Welt will nur glauben, was siesieht. Das sei nur nebenbei gesagt.

Indessen wurden der hl. Johannes und Jeremia auf dem gewöhnli-chen Weg der Zeugung in Sünde empfangen. Aber bei Unserem Herrnwar es nicht so, denn er war empfangen durch den Heiligen Geist (Mt1,18.20; Lk 1,35) von seiner heiligen Mutter ohne Vater; deshalb gabes keinen Grund, daß er die Erbschuld erbte. Man könnte mir erwi-dern: Da er unsere Natur angenommen hat, ist er ein Mensch. Das istwahr, aber er ist auch Gott, und auf diese Weise ist er vollkommenGott und Mensch, ohne irgendeine Trennung oder Unterscheidung.Er ist nicht aus dem Geschlecht Adams, d. h. nicht auf dem Weg derZeugung, sondern er wurde von seiner Mutter empfangen ohne Vater;er war wohl aus dem Stoff Adams, nicht aber aus seinem Geschlecht.

Was Unsere liebe Frau betrifft, die seligste Jungfrau, wurde sie aufdem gewöhnlichen Weg der Zeugung empfangen. Da Gott sie aber inseinem Plan von aller Ewigkeit zu seiner Mutter vorherbestimmt hat,bewahrte er sie rein und frei von aller Befleckung, obwohl sie ihrerNatur nach sündigen konnte. Darüber gibt es keinen Zweifel, was diepersönliche Sünde betrifft. Ich muß mich eines Vergleichs bedienen,um euch das verständlich zu machen. Wißt ihr, wie die Perlen entste-hen? (Viele Frauen wünschen sich Perlen, aber um mehr kümmern siesich nicht.) Die Perlmütter machen es wie die Bienen. Sie haben eine

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Königin, wählen dazu die größte unter ihnen und folgen ihr alle. Siekommen an die Oberfläche der Meereswellen zur Zeit der größtenKühle, d. h. am Beginn des Tages, vor allem im Monat Mai. Wenn sieda sind, öffnen sie ihre Schalen gegen den Himmel, und wenn dieTautropfen in sie fallen, schließen sie die Schalen wieder derart, daßsie diesen Tau im Meer umschließen und in Perlen verwandeln, mitdenen man solchen Staat macht. Beachtet aber, daß sie ihre Schalen sofest schließen, daß kein Salzwasser eindringen kann (Plinius).

Dieser Vergleich dient meinem Vorhaben gut. Der Herr hat dassel-be für die heilige Jungfrau, Unsere liebe Frau, getan, denn im Augen-blick ihrer Empfängnis griff er ein oder fing sie vielmehr gewisserma-ßen auf, um zu verhindern, daß sie der Erbschuld verfiel. Wenn derTautropfen keine Schale fände, die ihn auffängt, fiele er ins Meer undwürde in bitteres Salzwasser verwandelt. Wenn ihn aber die Schale derPerlmutter aufnimmt, wird er in eine Perle verwandelt. Ebenso wurdedie heilige Jungfrau in das Meer dieser Welt geschickt auf dem ge-wöhnlichen Weg der Zeugung, wurde aber vor dem Salzwasser derVerderbnis der Sünde bewahrt. Sie mußte diesen einzigartigen Vorzughaben, weil es untragbar wäre, daß der Teufel Unserem Herrn vorhal-ten könnte, ihm sei jene dienstbar gewesen, die ihn in ihrem Schoßgetragen hat. Aus diesem Grund erwähnt das Evangelium weder Vaternoch Mutter der seligsten Jungfrau, sondern nur Josef, den Bräutigameiner Jungfrau namens Maria, von der Jesus geboren ist (Mt 1,16). Sohatte ihre Seele durch eine besondere Gnade nichts von ihren Elternan sich, wie es bei den anderen Geschöpfen gewöhnlich ist.

Sagen wir nun etwas über die Verehrung, die wir für die heilige Jung-frau haben müssen. Die Weltleute stellen sich gewöhnlich vor, dieVerehrung Unserer lieben Frau bestehe darin, einen Rosenkranz amGürtel zu tragen, und es scheint ihnen zu genügen, davon einen Teil zubeten, ohne sonst etwas zu tun. Darin täuschen sie sich sehr. Unsereteure Herrin will ja, daß man tut, was ihr Sohn befiehlt (Joh 2,5), undsie betrachtet als ihr selbst erwiesen die Ehre, die man ihrem Sohnerweist, wenn man seine Gebote beobachtet.

Dafür gibt es Beispiele. Ich will mich damit begnügen, davon einesoder zwei zu nennen. Als die Mutter des Kaisers Nero, dieses Unmen-schen, der die Kirche Gottes so schwer verfolgt hat, mit ihm schwan-ger war, ließ sie die Zauberer und Wahrsager kommen, um zu erfah-ren, was aus ihrem Kind werde. Als sie befragt wurden, wahrsagte ei-ner von ihnen, dieses Kind werde Kaiser sein, herrschen und groß sein.

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Ein anderer jedoch, der bemerkte, daß ihr das schmeichelte, sagte ihr,er werde wirklich Kaiser sein, doch sobald er es sei, werde er sie tötenlassen. Da antwortete diese bedauernswerte Mutter: Das macht nichts,„wenn er nur herrscht“ (Tacitus). Seht, wie die stolzen Herzen nachEhren und Vergnügungen verlangen, die ihnen oft schädlich sind. Wirhaben ein anderes Beispiel im 1. Kapitel des 1. Buches der Könige.Dort wird berichtet, daß die Königin Batseba David aufsuchte und vorihm mehrere Kniefälle und Ehrenbezeugungen machte. Als der Königdas sah, erkannte er, daß sie etwas begehrte, und fragte sie, was siewünsche. Batseba antwortete: Herr, daß mein Sohn nach dir Königsei. Wenn nun die Mütter natürlicherweise so sehr wünschen, daß ihreKinder herrschen und geehrt werden, mit wieviel mehr Recht dannUnsere liebe Frau, die weiß, daß ihr Sohn Gott ist. Die Ehre des Soh-nes ist auch die der Mutter.

Doch sagen wir zu unserem Trost noch dieses Wort. Ihr, meine lie-ben Schwestern, habt die Welt verlassen und euch unter die Schirm-herrschaft der seligsten Jungfrau gestellt. Wenn ihr sie fragt: HoheFrau, was ist dein Wunsch, daß wir für dich tun sollen?, wird sie euchohne Zweifel antworten, sie wünsche und wolle, daß ihr tut, was sie beider bekannten Hochzeit zu Kana in Galiläa, wo der Wein ausging, zutun empfohlen hat. Dort sagte sie zu denen, die dafür zu sorgen hatten:Tut alles, was euch mein Sohn sagen wird (Joh 2,5). Wenn ihr also treuauf sie hört, werdet ihr in eurem Herzen vernehmen, daß sie euch dasgleiche Wort sagt: Tut alles, was euch mein Sohn sagen wird. Gottschenke euch diese Gnade, das zu vernehmen in diesem und im ande-ren Leben. Amen.

Zum Fest des hl. ThomasZum Fest des hl. ThomasZum Fest des hl. ThomasZum Fest des hl. ThomasZum Fest des hl. Thomas

Nr. 68: 21. Dezember 1622 X,406-411

Wenn ich den Bericht des heutigen Evangeliums (Joh 20,24-29) be-trachte, fällt mir dabei Protogenes aus dem Altertum ein, der gleich-zeitig den Beruf des Malers und des Höflings ausübte. Als er daher dengroßen Antigones malen wollte, der auf einem Auge blind war, fand ereinen Ausweg, der seines Geistes würdig war, um die Unvollkommen-heit seines Fürsten schmeichelhaft zu verheimlichen: er stellte ihn imProfil dar und zeigte nur die eine Hälfte seines Gesichtes, die schönund ohne Gebrechen war. In unserer Zeit machen es die Geschichts-schreiber ebenso bei den Taten der Großen dieser Erde, denn sie ver-

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heimlichen und verschleiern die Wahrheit bei allem, was den Anscheindes Bösen hat, so daß man nichts von ihnen lernen kann. Der GeistGottes dagegen sagt die Wahrheit ohne jede Schmeichelei. Gewöhn-lich sehen wir, daß die Heilige Schrift die schlimmsten Fehltritte vie-ler großer Heiliger offen darlegt, so wenn sie uns die Buße einer hl.Magdalena zeigen will, die Tränen eines hl. Petrus, die Bekehrungeines hl. Paulus; dann läßt sie uns zuerst ihre Fehler lesen, bevor sievon ihrer Reue spricht. So ist es auch beim hl. Matthäus und anderen,besonders beim hl. Thomas.

Das Evangelium, das heute gelesen wird, zeigt klar die Treulosig-keit, die dieser Apostel begeht, als er nicht glauben will. Er fällt wirk-lich in einen sehr großen Fehler, der fast unbeschreiblich ist; das kön-nen wir bei den heiligen Vätern feststellen. Aber ich bitte euch, wa-rum tun sie das, wenn nicht deshalb, um uns die grenzenlose Barmher-zigkeit Gottes zu zeigen im Vergleich mit dem Elend der Sünder? Wiewir sehen, heißt es in der Heiligen Schrift (Ps 113,5-7; 138,7; Röm9,13; 1 Tim 1,15f), daß Gott seinen Thron auf unserer Armseligkeiterrichtet. Sehen wir also 1. wie der Evangelist berichtet, daß der hl.Thomas am Tag der Auferstehung nicht bei den anderen war; wie er 2.nicht glauben wollte und damit eine große Unklugheit beging; undwie er 3. übertrieb mit den Worten: Ich werde nicht glauben, wenn ichihn nicht berühre und ihn nicht sehe.

Der erste Fehler, nämlich sich nicht einzufügen und bei den anderenzu sein, war der Anfang des Bösen, das von hier seinen Ausgang nahm.Man muß nämlich etwas sehr Wichtiges feststellen: daß der Menschnicht mit einem Schlag zur Vollkommenheit gelangt, sondern allmäh-lich von Stufe zu Stufe (Ps 84,6). Ebenso verhält es sich, wenn man inihr nachläßt und in eine Sünde oder Unvollkommenheit fällt; manfällt nicht auf einen Schlag, sondern kommt von kleinen Fehlern zugrößeren. Man darf nicht sagen: Es ist unbedeutend, wenn man nichtbei der Gemeinschaft ist, sowohl beim Gebet wie bei irgendeiner an-deren Übung. Wäre der hl. Thomas bei den übrigen Aposteln gewe-sen, dann wäre er acht Tage früher heilig und treu gewesen. Wir dürfennicht glauben, es habe wenig zu bedeuten, wenn wir acht Tage in derUntreue verharren und unsere Vollkommenheit auch nur ein wenigverzögern; es ist im Gegenteil ein großes Übel, da jeder Augenblicksehr kostbar für uns ist und uns sehr wertvoll sein muß.

Den zweiten Schritt seines Fehltritts machte der hl. Thomas, als erbei seiner Rückkehr seine Mitbrüder und Mitjünger sagen hörte: Wirhaben den Herrn gesehen. Da antwortete er: Ich glaube nicht; und da ersich der Gnade beraubt sah, die die anderen bei diesem Besuch emp-

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fangen hatten, ließ er sich zu Eigensinn und Verdruß verleiten. Gewißhätte er die Apostel fragen müssen, wie ihnen der Heiland erschienenist, und sich mit ihnen über dieses Glück freuen; leider tat er aber dasGegenteil und wollte seinen Fehler auf keinen Fall zugeben. So geht esuns allen, daß wir es nicht zugeben wollen, wenn wir gefehlt haben.Hätte der hl. Thomas seine Brüder zum Glück und zum Trost be-glückwünscht, den sie alle empfangen hatten, und sich schuldig be-kannt, dann hätte er diese großen Unvollkommenheiten vermieden.Wer sich entschuldigt, klagt sich an. Man darf sich also nie entschuldi-gen, denn wir haben allen Grund zu glauben, daß wir immer unrechthaben.

Der dritte Fehler des hl. Thomas und sein eigentlicher Fehltritt be-stand darin, daß er sich zur Leidenschaft bis zum Eigensinn hinreißenließ und dann zur Übertreibung mit den Worten: Nein, ich werde nichtglauben, daß er auferstanden ist, wenn ich nicht meinen Finger in dieWundmale seiner Hände und Füße lege und meine Hand in seine durch-bohrte Seite. Darauf erwidert der hl. Bernhard und sagt: Armer Tho-mas, warum willst du nicht glauben, ohne zu berühren, da unser Glau-be nicht zu greifen ist und nicht von den Sinnen abhängt? Dieser großeHeilige hat wirklich recht, denn der Glaube ist ein Geschenk Gottes;er flößt ihn einer demütigen Seele ein, denn er wohnt nicht in einerSeele, die von Stolz erfüllt ist. Man muß Demut haben, um den Strahldes göttlichen Lichtes zu empfangen, das ein ganz unverdientes Ge-schenk ist. Hört, was Unser Herr zu den Pharisäern (Joh 5,33) sagt:Wie könntet ihr glauben, die ihr ganz aufgeblasen seid von eitlem Ruhmund Selbstüberschätzung?

Kommen wir zu unserem Thema zurück, nämlich daß der hl. Tho-mas sich zur Leidenschaft hinreißen ließ. Es ist ein großes Übel, sichin dieser Weise hinreißen zu lassen, denn die Theologen lehren, wennwir unseren Leidenschaften nachgeben, führen sie uns bis zur Todsün-de. Der große hl. Paulus oder vielmehr Unser Herr im hl. Paulus sagtnach dem Propheten (Ps 4,5; Eph 4,26): Zürnt, aber sündigt nicht. Esist ja keine Sünde, wenn die Leidenschaften erregt sind; aber es istetwas ganz anderes, auf den Zorn einzugehen und seinen Empfindun-gen zu folgen, wie sich zu erbittern und sich dann darauf zu versteifen:das macht die Sünde aus. Die dem Geiz unterworfen sind, gehen z. B.gewöhnlich nicht bis zur Todsünde, aber sie hüten ihren Besitz etwaszu genau; das ist die erste Frucht der Leidenschaft, und das ist je nachder Wichtigkeit der Sache eine läßliche Sünde.

Der hl. Thomas ging bis zur dritten Stufe und beging die Sünde desUnglaubens, die sehr schwer war. Als die anderen Apostel das sahen,

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waren sie davon sehr betroffen. Gewiß, ohne Zweifel belasten jene, diein einer Gemeinschaft sind und ihrer Lebensweise nicht folgen, ihreBrüder sehr schwer, besonders jene, die das Heil der Seelen wünschen.Aber auch die Apostel haben den Schuldigen nicht aus ihrer Gemein-schaft ausgestoßen, sondern für ihn gebetet, und Unser Herr kam inseiner unaussprechlichen Barmherzigkeit ein zweites Mal einzig deshl. Thomas wegen. Damit gibt er uns eine Probe der Milde, mit der erdie Sünder behandelt; er hat ja zwei Arme: der eine ist seine allmäch-tige, unparteiische Gerechtigkeit, der andere seine Barmherzigkeit,den er über den der Gerechtigkeit erhebt (Jak 2,13).

Bei dieser Gelegenheit fällt mir der hl. Dionysius Areopagita ein,dem man mit vollem Recht den Beinamen des Apostels Frankreichsgegeben hat. In einem seiner Briefe erzählt er folgende Geschichte,die ihr alle gut kennt. Als Demophilus einen armen sündigen Mann inder Nähe des Altares zu Füßen seines Beichtvaters sah, jagte er ihn mitgroben Fußtritten aus der Kirche, denn er hielt ihn nicht für würdig,hier zu sein. Das tat er aus glühendem Eifer, der allerdings falsch undmaßlos war, obwohl er ihn für gut hielt. Im gleichen Brief berichtetder hl. Dionysius, der hl. Carpus habe Unseren Herrn geschaut, derganz bereit war, noch einmal für jeden Sünder zu sterben, wenn seinLeiden für ihn nicht überreich genügen sollte.

Erwägen wir doch, wie gütig der Heiland ist. Er kam in denAbendmahlssaal einmal für alle Apostel (Joh 20,19-23) und ein zwei-tes Mal für den hl. Thomas allein, acht Tage nach seiner Auferstehung,als sie alle beisammen waren; er wendet sich an Thomas allein undsagt zu ihm: Du willst nicht glauben; wohlan, berühre, betaste, dennein Geist hat nicht Fleisch und Bein (Lk 24,39). Er legte also seineFinger auf die heiligen Wundmale seines Erlösers. Doch, was glaubtihr, tat der gute Heilige? Gewiß, als er ihn berührte, fühlte er einegroße göttliche Glut, vor allem als er seine Hand an die kostbare Schatz-kammer der Gottheit legte, als er das heilige Herz berührte, das ganzglühend vor Liebe war. Da rief er voll Staunen aus: Mein Herr und meinGott! Im gleichen Augenblick wurde er verwandelt und gläubig, sodaß er ein Verkünder des Glaubens war wie die anderen Apostel; undnachdem er Großes für ihn gewirkt hatte, starb er schließlich für die-sen Glauben.

Unser gütiger Heiland antwortete ihm: Thomas, du hast geglaubt,weil du gesehen hast; aber selig werden jene sein, die glauben und nichtsehen. Seine göttliche Güte hatte uns ja alle vor Augen, die wir zuseiner Kirche gehören, denn sie hat ihren Anfang in der kleinen Schar

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der Apostel genommen. Wir wissen von den Geheimnissen des Glau-bens nur das, was sie uns gelehrt haben, obwohl ihr Glaube damalsunvollkommen war, da sie, wie die Theologen lehren, in der Gnadenicht soweit gefestigt waren. Hier auf Erden haben wir den Glaubenohne den Genuß des Besitzes, aber im Himmel werden wir den Genußhaben ohne den Glauben, weil wir im Himmel seiner nicht mehr be-dürfen (1 Kor 13,8.12f; Hebr 12,1). Der Glaube ist ein großes Ge-schenk Gottes; er trennt uns von den bedauernswerten Häretikern, dienicht an das heilige Sakrament des Altares glauben wollen, weil manhier nichts sieht und nichts greifen kann, wie sie sagen. Als ob das, wasGott gesagt hat, nicht recht gesagt und getan wäre (Jes 55,11; 1 Petr1,25) und als ob man sehen und berühren müßte, um zu glauben.

Meine lieben Schwestern, es ist ein großer Vorteil, in einer Gemein-schaft zu sein. Hätte der hl. Thomas nicht seine Brüder gehabt, dannwäre er nicht so bald von seinem Unglauben losgekommen. Sie bete-ten für ihn und so wurde er gerettet. Ebenso ist es bei euch in denOrdensgemeinschaften; wenn eine fällt, helfen ihr die anderen, sichwieder zu erheben, durch die schwesterliche Zurechtweisung, durchGebet und gutes Beispiel. So gehen in den Orden die Seelen seltenverloren, außer sie wollen es, indem sie sich verhärten und eigensinnigim Bösen verharren. Darüber bringt der hl. Bernhard einen schönenVergleich: Von 200 Schiffen und Ruderbooten, die im Hafen vonMarseille vor Anker gehen, geht keines verloren, sagt er,* die sichaber anderswo einschiffen, laufen große Gefahr, zugrundezugehen.Ebenso geht es den Seelen, die mitten im Getriebe der Welt stehenund alle Liebe auf sie verwenden; denn von zweihundert werden zurNot zwei gerettet, weil sie nicht an die ewigen Dinge denken und stetsauf Ehren, Vergnügungen und Reichtum bedacht sind. Deshalb sindwir verpflichtet, für sie zu beten, damit Gott ihnen einen vollkomme-nen Glauben schenke, der sie allen irdischen Dingen entsagen läßt.

Das heutige Fest scheint uns einzuladen, für die Ungläubigen undIrrgläubigen zu beten, vor allem für jene, die in diesem Königreichleben, damit alle sich dem Gehorsam gegenüber dem König unterwer-fen. Bitten wir Unseren Herrn auch mit aller Inbrunst, uns die Gnadeder Beharrlichkeit im Glauben zu schenken, den wir ihm gelobt ha-ben. Denken wir daran: die Ursache für den Fall des hl. Thomas war,

* Dieser Vergleich findet sich nicht in den authentischen Schriften des hl. Bern-hard.

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daß er sich gegen den Glauben verschloß und in seinem schlimmenZustand verhärtete. Gott schenke uns die Gnade, daß wir niemals zudieser dritten Stufe kommen; und sollten wir so weit kommen, mögeer uns in seiner Güte und Barmherzigkeit davon zurückführen, bis esihm gefällt, uns zum ewigen Leben zu führen, wo wir den Vater, denSohn und den Heiligen Geist immer preisen werden. Amen.

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In der Mitternachtsmesse

Nr. 69: Lyon, 25. Dezember 1622 X,412-416

Unter allen Festen, die wir in der heiligen Kirche feiern, gibt es drei,die zu allen Zeiten gefeiert wurden, die ihren Ursprung und Ausgangvom großen Paschafest nehmen, das im Alten Bund gefeiert wurde.Diese drei Feste werden Pascha genannt, eine Bezeichnung, die nichtsanderes bedeuten will als Übergang (Ex 12,11). In der Tat ist das heu-tige Fest nur eingesetzt zum Gedächtnis des Übergangs Unseres Herrnvon seiner Gottheit zu unserer Menschheit. Der zweite Übergang istder von seinem Tod und Leiden zur Auferstehung; das ist der Über-gang von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit, den wir jedesmal inder Heiligen Woche und an Ostern feiern. Den dritten feiern wir zuPfingsten als dem Tag, an dem Gott die Heiden annahm und sie über-gehen ließ vom Unglauben zum Glück, seine vielgeliebten Kinder zusein, das größte Glück, das die Kirche erfahren kann. Alle diese Festenehmen gleichwohl ihren Ausgang vom heutigen Geheimnis.

Man könnte mir aber sagen, es sei nicht üblich, bei der Mitternachts-messe zu predigen. Ich antworte, daß dies sehr wohl in der Urkircheüblich war, als sie in ihrer Blüte und in ihrer Kraft stand. Der hl.Gregor bestätigt das durch die Homilie dieses Tages. Die frühen Chris-ten verrichteten sogar die drei Nokturnen der Matutin getrennt underhoben sich auf diese Weise dreimal in der Nacht; mehr noch, manging siebenmal am Tag das Chorgebet verrichten, um zu erfüllen, wasder Psalmist (Ps 119,164) sagt. Außerdem predigte man dreimal andiesem Fest: einmal in der Mitternachtsmesse, das zweite Mal in derMesse bei Tagesanbruch und das dritte Mal bei der Messe am Tag, wieuns der hl. Augustinus versichert. Der Eifer der ersten Christen war ja

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so groß, daß ihnen nichts zu viel war; der Geringste unter ihnen warnoch mehr wert als die besten Ordensleute unserer Zeit. Seither hatsich aber der Eifer so abgekühlt, daß man die Messe, das Chorgebet,die Predigten einschränken und vermindern mußte. Nun, dies alles istnicht das, worüber ich in der kurzen Zeit, die uns bleibt, zu euch spre-chen will. Ich habe vielmehr vor, euch zu sagen, was wir von diesemGeheimnis glauben müssen, das uns die Kirche an diesem Tag vor-stellt, dann darüber zu sprechen, was wir erhoffen und üben müssen.Wenn ich nicht damit zu Ende komme, euch jetzt alles zu erklären,wird das übrige für den Rest des Tages sein, wenn Gott uns die Zeitdazu schenkt.

Bevor ich meine Predigt fortsetze, will ich euch sagen, daß ich michirgendeines Bildes zu bedienen pflege. Bei all unseren Werken, die wirschaffen oder beginnen, haben wir, falls wir gut beraten sind, das Zielvor Augen, weil wir es haben müssen. Wenn z. B. jemand ein Hausoder einen Palast bauen will, überlegt er zuerst, ob es als Wohnung füreinen Winzer oder irgendeinen Bauern bestimmt ist oder vielmehr füreinen Herrn. Er muß ja eine ganz andere Bauweise anwenden je nachdem Stand der Person, die er hier wohnen lassen will. Der ewige Vaterhat dasselbe getan, als er die Welt schuf; er plante ja, sie für die Mensch-werdung seines Sohnes zu schaffen, der das ewige Wort ist. Das Zielseines Werkes war also dessen Anfang, denn seine göttliche Weisheithat ja von aller Ewigkeit vorhergesehen, daß das Wort unsere Naturannehmen und auf diese Erde kommen soll. Das alles hatte er be-schlossen, ehe Luzifer und die Welt geschaffen wurden und ehe unsereStammeltern sündigten, und wir halten nach der Überlieferung fürsicher, daß Unser Herr vor 1622 Jahren in diese Welt gekommen ist,unsere Natur angenommen hat und Mensch wurde.

Wir feiern also die Geburt des Heilands auf Erden. Doch bevor wirdarüber sprechen, laßt uns etwas sagen über die göttliche und ewigeGeburt des Wortes. Von aller Ewigkeit hat der Vater seinen Sohn ge-zeugt, der ihm gleich und ewig wie er ist, denn er hat nie begonnen undist in allem seinem Vater gleich, der ihn gleichsam aus seinem Schoß,aus seinem eigenen Wesen aussprach. Das ist so, wie wir z. B. sagen,daß die Strahlen der Sonne aus ihrem Schoß hervorgehen, da die Son-ne und ihre Strahlen ein und dasselbe sind. Wir sind gezwungen, dieseAusdrücke zu gebrauchen, weil wir keine anderen haben. Wenn wirEngel wären, würden wir von Gott ganz anders sprechen, auf viel vor-züglichere Weise. Aber ach, wir sind nur ein wenig Staub und Kinder,die nicht wissen, was sie sagen. Der Sohn ist also vom Vater gezeugt, er

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geht vom Vater aus, ohne einen anderen Platz einzunehmen. Er ist imHimmel geboren ohne Mutter, aus seinem Vater, der zugleich derUrsprung der allerheiligsten Dreifaltigkeit ist und dennoch jungfräu-lich unter allen Jungfrauen bleibt. Auf Erden ist er ohne Vater gebo-ren von seiner Mutter, Unserer lieben Frau. Wir wollen nun ein Wortsagen über diese zweifache Geburt, für die wir sichere Zeugnisse ha-ben, wie wir gleich erklären werden.

Das Evangelium (Lk 1,35) versichert uns, daß das göttliche WortFleisch angenommen hat im Schoß der allerseligsten Jungfrau, mitden Worten des Engels: Der Heilige Geist ... Er verkündete ihr, daß derHeilige Geist über sie kommen und die Kraft von oben sie überschat-ten werde. Damit ist dennoch nicht gesagt, daß in Jesus Christus zweiPersonen seien, denn da sich die Gottheit mit unserer Menschheitvereinigte, war er vom ersten Augenblick seiner Empfängnis an voll-kommen Gott und Mensch ohne irgendeine Trennung. Doch bringenwir einige Beispiele. Die Naturforscher bemerken, daß der Honig ent-steht aus einem Harz, das wir Manna nennen, das vom Himmel fälltund sich mit der Blume vereinigt oder verbindet, die ihrerseits ihreSubstanz aus der Erde gewinnt. Wenn sich nun diese beiden Substan-zen miteinander vereinigen, bilden sie nur den einen Honig. So hat inunserem Herrn und Meister die Gottheit unsere Natur gleichsam mitder ihren vereinigt und uns in gewisser Weise seiner Gottheit teilhaftgemacht (1 Petr 1,4), denn sie ist Mensch wie wir geworden (Phil 2,7;Hebr 4,15).

Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Honig, der aus dem Thy-mian gewonnen wird, weil er viel vorzüglicher ist als der, den manHonig von Heraklea nennt, der aus dem Eisenhut und anderen Blu-men entsteht. Wenn man ihn verkostet, erkennt man sogleich denHonig, der vom Thymian gesammelt ist, denn er ist stark und süßzugleich, während der Honig von Heraklea tödlich ist. So ist es auchmit der heiligen Menschheit Unseres Herrn; denn hervorgegangen ausdem jungfräulichen Boden Marias unterscheidet er sich sehr von unse-rer Natur, die ganz befleckt ist von Verderbnis und Sünde. In der Tat,da der ewige Vater wollte, daß sein Sohn das Haupt und der unum-schränkte Herr aller Geschöpfe (Kol 1,15-18) wurde, wollte er zu-gleich, daß die allerseligste Jungfrau das vorzüglichste unter allenwurde, denn er hat sie von aller Ewigkeit erwählt, die Mutter seinesgöttlichen Sohnes zu sein. Der heilige Leib Marias ist wahrhaftig einmystischer Bienenstock, in dem der Heilige Geist diese Honigwabemit ihrem allerreinsten Blut gebildet hat. Ferner hat das Wort Mariaerschaffen und ist aus ihr geboren, so wie die Biene den Honig erzeugt

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und der Honig die Biene, so daß man nie Bienen sieht ohne Honig,noch Honig ohne Bienen.

Bei der Geburt Unseres Herrn haben wir Zeugnisse seiner Gottheit,uzw. sehr einleuchtende. Man sieht die Engel vom Himmel herab-kommen, um den Hirten zu verkünden, daß ihnen ein Retter geborenist (Lk 2,8-14), und sieht die königlichen Magier kommen, um ihnanzubeten (Mt 2,1-11). Das alles zeigt uns, daß er mehr ist als einMensch, wie wir andererseits an seinem Wimmern, das er zitternd vorKälte in der Krippe hören läßt, sehen, daß er wahrer Mensch ist.

Erwägen wir doch die Güte des ewigen Vaters. Es wäre in seinerMacht gelegen, wenn er die Menschheit seines Sohnes erschaffen woll-te, wie er unsere Stammeltern erschaffen hat, oder wenn er ihm dieNatur der Engel geben wollte. Wäre dem so gewesen, nun, dann wäreUnser Herr nicht von unserer Natur gewesen, dann hätten wir keineVerbindung mit ihm. Seine Güte hat ihn aber so weit geführt, sich zuunserem Bruder zu machen, um uns ein Beispiel zu geben (Röm 8,29;Hebr 2,11-17) und uns auf diese Weise seiner Glorie teilhaftig zumachen. Deshalb wollte er aus der Nachkommenschaft Abrahams sein,denn die seligste Jungfrau war von seinem Stamm, und aus diesemGrund heißt es von ihr (Lk 1,55; Röm 1,3; Gal 3,16): Abraham undseinem Nachkommen.

Ich lasse euch zu Füßen dieser glückseligen Wöchnerin, damit ihrwie weise Bienen den Honig und die Milch sammelt, die aus diesenheiligen Geheimnissen und von ihren keuschen Brüsten träufeln, inErwartung dessen, was ich euch des weiteren erklären will, wenn Gottuns dazu die Gnade und die Zeit gibt. Ihn bitte ich, euch mit seinemSegen zu überhäufen. Amen.

Das ist die letzte Predigt vor seinem Tod, die wir besitzen. Am Abend desfolgenden Tages hielt er noch eine Ansprache bei der Noviziatsaufnahme zweierPostulantinnen, die nicht überliefert ist. Es ist nicht klar, ob er bei der zweitenWeihnachtsmesse für den Prinzen von Piemont und bei der dritten Messe in derHeimsuchung, die erst mittags begann, gepredigt hat.