Frau Jäggi springt - Gueti Gschichte · 2018. 6. 15. · Juni 1944, bei der Invasion. Die Maschine...

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SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 52 springt Frau Jäggi Zwei eiserne Ladys starten durch. ASTRID JÄGGI, 80, und eine DAKOTA aus dem Zweiten Weltkrieg auf Abenteuerflug. Eine Geschichte über Fallschirmspringen, alte Kriegsfilme und wie Bananen und Ballerinafüsse beim Sturzflug helfen. Alt, aber flugtüchtig Astrid Jäggi, 80, vor der Dakota DC-3, auf dem Flugplatz Montbéliard (F).

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Zwei eiserne Ladys starten durch. ASTRID JÄGGI, 80, und eine DAKOTA aus dem Zweiten Weltkrieg auf Abenteuerflug.

Eine Geschichte über Fallschirmspringen, alte Kriegsfilme und wie Bananen und Ballerinafüsse beim Sturzflug helfen.

Alt, aber flugtüchtig Astrid Jäggi, 80, vor der Dakota DC-3, auf dem Flugplatz Montbéliard (F).

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Grasflecken Tandemmaster Jan Eckmann, 36, erklärt Astrid Jäggi, welche Position sie in der Luft ein-nehmen muss.

50. Geburtstag Die Fallschirm-springer-Schule Swissboogie feiert auf dem Flugplatz Biel-Kappelen BE.

Innereien Eine Stunde vor dem Abflug: Frau Jäggi be-staunt die Tech-nik im Fahrwerk-schacht der Dakota.

Sitzprobe Jäggi und Eck-mann üben in der parkierten Dakota, wie man während des Flugs richtig sitzt.

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nFluggesellschaft Astrid packt dankbar Jans Hand. Rechts: der Höhen messer an seinem Hand-gelenk.

Am Himmel wird Tandemmaster Jan zu ihrem Schirmherrn

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Oben: Jan und Astrid stehen an der offenen Bordtür. Bereit zum Sprung aus 3434 Metern Höhe.Mitte: Kriegssommer 1944. Aus einer Dakota springen Fallschirm-jäger über Feindesland ab.

Unten: Der enorme Luftstrom katapultiert das Tandemteam augenblicklich weg von der Dakota.

Oben: Im freien Fall mit Tempo 230 km/h. Ein kleiner Bremsschirm stabilisiert die Fluglage des Duos.

Mitte: Juni 1944. Alliierte Fall-schirmjäger an Bord einer Dakota sind bereit, über dem besetzten Frankreich abzuspringen.Unten: 20 Passagiere in der Dakota warten auf ihren Sprung. Vorne mit Helm: die Solospringer.

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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH

Der Flugzeugchef könnte schreien, es würde ihn trotzdem keiner hören. Die zwei

alten Propellermotoren dröh-nen infernalisch, zudem steht die Bordtür offen, was in 3400 Me-tern Flughöhe ein Tosen erzeugt, als stünde man unter einem Was-serfall. Also streckt der Flugzeug-chef fünf Finger in die Höhe. Fünf Minuten bis zum Absprung!

Astrid Jäggi zupft Schutzbrille und Lederkappe zurecht. Es ist so weit. Ob sie wohl doch gescheiter aufs Zmittag verzichtet hätte? Ghackets mit Hörnli – das gäb schöne Flecken aufs Gwändli. Jetzt ist es zu spät. Jetzt wird gesprungen. Und gefallen. Zu flie-gen hat sie sich gewünscht. Erst im Freifall rasen, sausen zwischen Wolken, dann am Himmel hängen und beschirmt von Fallschirm-seide zur Erde schweben. Einen Tandemsprung will sie erleben. Aus einem legendären Flugzeug.

Wenige Minuten zuvor stan-den sich die beiden alten Damen erstmals gegenüber.

Auge in Bullauge. Astrid Jäggi, Jahrgang 1937, aus

Solothurn, verheiratet mit Max, zwei Kinder, sechs Enkel – «un-sportlich» sei sie, behauptet sie.

Dakota, Baujahr 1943, Militär-flugzeug, Typ Douglas DC-3/C-47, Dakota genannt. Zäh, kriegserfah-ren. Bei der Invasion 1944 in der Normandie beinahe von den Deutschen abgeschossen.

Zwei angejahrte Ladys, die es gekonnt verstehen, ihre Alters-klasse mit ambitiösem Auftreten und dem Versprühen von Nostal-gie-Charme zu kaschieren. Beide entstammen der gleichen Gene-ration. Zweitweltkriegskinder.

Frau Jäggi stutzt. Als sie die Dakota erblickt – wie sie da breit-

ber Tubakpfeife, löst Sudoku und fährt ab und zu mal gemütlich als Passagier in einem Ballon mit.

Trockentraining am Boden. Bäuchlings liegt Astrid (unter Springern duzt man sich) auf der Graspiste und übt, unter Jans Anleitung, die korrekte Fallposi-tion. Etwas zwischen Ballerina, Banane und Raubüberfall-Opfer. Will heissen: Hohlkreuz, die Bei-ne ausgestreckt, leicht nach oben und aussen gebogen, die Fussspit-zen Ballett-mässig gestreckt. Die Arme in Hände-hoch!-Position.

Warum, Frau Jäggi? Warum diese Lust, sich mit 80 so etwas anzutun? Es geht ihr um die Da-kota. Deren Geschichte. Als junge Frau sah sie den Kriegsfilm «Der längste Tag». Der Streifen handelt vom 6. Juni 1944, dem D-Day, der Landung der Westalliierten in der von Nazi-Deutschland besetzten Normandie im Zweiten Weltkrieg.

Astrid Jäggi, 1937 geboren, erin-nert sich, wie ihr Vater damals als Soldat die Grenze bewachte, wie die Leute kummervolle Gesichter machten, ihre Mutter wichtige Lebensmittel nur mit Lebensmit-telmarken beziehen konnte – und wie es plötzlich hiess, die Alliier-ten seien in Frankreich gelandet.

Frau Jäggi hat den «Längsten Tag» viele Male gesehen. Beson-ders angetan ist sie von der Szene, in der Abertausende Fallschirm-jäger aus den Dakotas über Fein-

spurig auf dem Rollfeld parkt, die Nase fesch himmelwärts ge-reckt, der Blechrumpf in der Sonne gleissend – schüttelt sie ungläubig den Kopf. «Was, die ist schon 75 Jahre alt. Und fliegt noch immer?» Dann denkt sie nach, gibt schliesslich zu: «Nun gut, ich bin ja auch über 80 – und noch immer gut zu Fuss.»

Samstag, 2. Juni, Berner See-land, Biel-Kappelen, ein kleiner Flugplatz mit Graspiste. Eine der geachtetsten Fallschirmspringer-Schulen, Swissboogie, feiert an dem Wochenende ihren 50. Ge-burtstag. Mit einem Leckerbissen: einem Absprung aus der Dakota. Die fliegende Legende gehört der Air France und ist in der zwanzig Flugminuten entfernten franzö-sischen Stadt Montbéliard statio-niert. Die Swissboogie-Gäste wer-den erst mit Pilatus Portern nach Frankreich geflogen, steigen dort in die Dakota um, welche sie in die Schweiz zurückfliegt und im Luft-raum Biel abwirft.

Frau Jäggi ist bereit. Der Flugzeugchef streckt drei Finger in die Höhe. Als schwöre er den Fluggästen ein garantiert grandi-oses Abenteuer. 20 Fallschirm-springer sind im Bauch der Dako-ta. Sitzen, ohne Sitze, angeschnallt auf dem Boden. Man höckelt in Zweierreihen hintereinander, wie Schulkinder im Turnunterricht. Die meisten sind erfahrene Sport-

desland abspringen. Die Soldaten hätten sie immer «soo duured», sagt sie, «aber ich war auch faszi-niert von diesem Flugzeug». Vor ein paar Wochen erfuhr sie, in der Region Biel plane eine Fall-schirmschule den Absprung aus einer Dakota. «Da habe ich mich angemeldet. Und mir überlegt, welche Schuhe ich beim Springen am besten tragen könnte.»

Noch eine Minute. 3434 Meter über Grund. Es ist eiskalt. Die Sicht gut, der Himmel blau, die paar Blumenkohlwolken verzie-ren die Szenerie perfekt. Eck-mann weiss, unter welchem Ner-venstress Tandempassagiere in solchen Momenten stehen. Be-sonders schlimm sei es für die Geburtstagskinder, die, nichts ahnend, von ihren Liebsten auf den Flugplatz geschleppt werden, dort ihr Überraschungsgeschenk erhalten – und Minuten später leichenblass im Flugzeug sitzen. Jan hat schon alles erlebt: weinen, schreien, erbrechen und in die Hose pinkeln. «Doch am Schluss sind immer alle happy.»

ler, springen seit Jahren, springen solo. Astrid Jäggi und fünf wei tere Laien wagen heute einen Tandem-sprung. Jeder hat sich, Huckepack, einen Sprungprofi an den Rücken geschnallt. Einen wahren Schirm-herrn. Der sie lotst, mit ihnen aus dem Flugzeug stürzt, mit ihnen fällt, für sie den Schirm zieht, mit ihnen schwebt, landet. Der seinen Gast geniessen und über-leben lässt. Klingt nach göttli-chem Wesen – heisst offiziell Tan-demmaster. Astrid Jäggi nennt den ihren «mein Jan».

Jan Eckmann, 36, Banker von Beruf, Fallschirmaufklärer der Armee, Sprunglehrer, Tan-demmaster mit 4500 Absprüngen auf seinem Konto («und ich musste noch nie den Notschirm ziehen»). Wer Eckmann bucht, darf einen Höhenflug im Freifall erwarten. Er kann seine ner- vöse Kundschaft beruhigen und gleichzeitig begeistern. Versprüht den Spirit eines Wellenreiters, hat den Charme eines Skilehrers und die Seriosität eines Bergführers. Oder wie Frau Jäggi es zusam-menfasst: «Mit Jan ist alles gut.»

Frau Jäggi trainiert. Im Han-gar von Swissboogie begrüsst Eckmann seine 80-jährige Kun-din. Sie kommt in Begleitung ih-res Ehemanns Max (sie nennt ihn Ätti). Das Fallschirmspringen überlasse er seiner Frau: «Astrid mag es, zu fräsen.» Er raucht lie-

Null. Jetzt! Die Solospringer mit ihren farbigen Kombis und Star-Wars-Helmen marschieren zur offenen Bordtür und jumpen ohne Zögern über die Schwelle. So beiläufig, en passant und un-prätentiös, wie unsereins am Morgen ins Badezimmer schlurft.

Unsere Dakota. Hat Weltge-schichte erlebt. Mehrfach. Etwa am D-Day, am 6. Juni 1944, bei der Invasion. Die Maschine schlepp-te einen Lastensegler hinter die feindlichen Linien, setzte Fall-schirmjäger der 82. US-Luft-landedivision ab. Und wurde prompt beschossen. Noch heute sieht man die Einschüsse der deutschen Flugabwehr. Mit hand-tellergrossen Metallflicken sind die Löcher am Bug zugenietet.

Auch als «Rosinenbomber», 1948/49, flog unsere Dakota 51 Einsätze. Versorgte das von der sowjetischen Blockade abge-schnittene Berlin via Luftbrücke.

Später war sie die Maschine des französischen Präsidenten Giscard d’Estaing. Danach flog sie Bokassa, den Diktator der Zen-tralafrikanischen Republik.

Frau Jäggi springt. Und wird vom kolossalen Luftzug wegkata-pultiert. Ein Geräusch, wie wenn der letzte Gutsch Badewannen-wasser in den Ablauf gesaugt wird.

50 Sekunden freier Fall. Tempo 230 km/h. Jäggi und Eckmann, aneinandergegurtet, ein Bund fürs (Über)leben – eine ausgefal-lene Fluggesellschaft. Dann zieht Jan den Schirm. Zehn Minuten später erfolgt die Landung.

Frau Jäggi sucht nach Wor-ten. Wählt schliesslich «unbe-schreiblich schön». Sie erhält ein Diplom. Wird sie irgendwann wieder springen? «Wenns Gsund-heit zueloht …» Dann möchte sie noch ein Autogramm von Jan. Dieser schreibt seinen Namen auf das Diplom. Und noch etwas dazu. «Bis im nächsten Jahr.»

Frau Jäggi lächelt.

«Meine Astrid fräst halt gern» Ehemann Max hilft seiner Frau beim Ausziehen des Sprungkombis. Er fährt lieber Ballon.

Dankbar Viel erlebt – und überlebt! Nach der Landung in Biel-Kappelen herzt Astrid ihren Tandem-master Jan.

Der freie Fall wird für Astrid

zum Höhenflug