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Freiheit und Verantwortung Peter Vollbrecht, Esslingen Die Französische Revolution hat drei Ideen durch die Jahrhunderte gereicht, die unterschiedliche Karrieren gemacht haben: liberté, égalité, fraternité, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es hat großangelegte Experimente mit der Gleichheit gegeben und auch mit der Brüderlichkeit. Alle diese Experimente scheiterten, wenn sie auf Kosten der Freiheit erfolgten, wenn die Freiheit kleingeschrieben wurde, um Gleichheit oder auch Brüderlichkeit durchzusetzen. Von allen drei Ideen kommt also der Freiheit eine besonders prominente Stellung zu. Deshalb wird sie in der Trias auch zu Beginn genannt. Allein, ein zweieinhalb Jahrhunderte währender Dauergebrauch hat in unseren Breiten die Münze der Freiheit doch recht abgegriffen und stumpf werden lassen. Politisch ist sie heute zum Schlagwort verkommen, zum propagandistischen Mantra jeder Partei. Nicht besser steht es um das Echo, das die Freiheitsidee ins Handeln wirft, um die Verantwortung nämlich, der unabtrennlichen Zwillingsschwester der Freiheit. Natürlich gibt es intakte Moralkulturen. Sie finden sich überwiegend dort, wo Menschen sich unbehindert von den Fallstricken der Macht um andere Menschen kümmern und sorgen, auf den elementaren sozialen Ebenen, die überschaubar sind, in der Nachbarschaft etwa, in der Familie, in Berufen, bei denen sich die Individuen gegenseitig ins Gesicht sehen können. Hier macht man verbal nicht viel Aufhebens um Freiheit und Verantwortung. Doch je abstrakter die Verhältnisse, desto stärker dröhnt die rhetorische Trommel. Und das ist bei Lichte besehen verantwortungslos, denn dadurch untergräbt die politische und wirtschaftliche Elite das Gemeinwesen.

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Freiheit und Verantwortung

Peter Vollbrecht, Esslingen

Die Französische Revolution hat drei Ideen durch die Jahrhunderte gereicht, die

unterschiedliche Karrieren gemacht haben: liberté, égalité, fraternité, Freiheit,

Gleichheit, Brüderlichkeit. Es hat großangelegte Experimente mit der Gleichheit

gegeben und auch mit der Brüderlichkeit. Alle diese Experimente scheiterten,

wenn sie auf Kosten der Freiheit erfolgten, wenn die Freiheit kleingeschrieben

wurde, um Gleichheit oder auch Brüderlichkeit durchzusetzen. Von allen drei

Ideen kommt also der Freiheit eine besonders prominente Stellung zu. Deshalb

wird sie in der Trias auch zu Beginn genannt.

Allein, ein zweieinhalb Jahrhunderte währender Dauergebrauch hat in unseren

Breiten die Münze der Freiheit doch recht abgegriffen und stumpf werden

lassen. Politisch ist sie heute zum Schlagwort verkommen, zum

propagandistischen Mantra jeder Partei. Nicht besser steht es um das Echo, das

die Freiheitsidee ins Handeln wirft, um die Verantwortung nämlich, der

unabtrennlichen Zwillingsschwester der Freiheit. Natürlich gibt es intakte

Moralkulturen. Sie finden sich überwiegend dort, wo Menschen sich

unbehindert von den Fallstricken der Macht um andere Menschen kümmern und

sorgen, auf den elementaren sozialen Ebenen, die überschaubar sind, in der

Nachbarschaft etwa, in der Familie, in Berufen, bei denen sich die Individuen

gegenseitig ins Gesicht sehen können. Hier macht man verbal nicht viel

Aufhebens um Freiheit und Verantwortung. Doch je abstrakter die Verhältnisse,

desto stärker dröhnt die rhetorische Trommel. Und das ist bei Lichte besehen

verantwortungslos, denn dadurch untergräbt die politische und wirtschaftliche

Elite das Gemeinwesen.

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Aber das wäre eine andere Rede, zu adressieren an andere Gesichter, und ich

mache diesen Schlenker nur, weil ich persönlich der festen Überzeugung bin,

dass die innere, persönliche Freiheit autonomer Selbstbestimmung nur zu

vollziehen ist in einer freien Gesellschaft, in der eine lebhafte Öffentlichkeit

pulsiert, die den Blick auf Möglichkeiten weitet. Und Möglichkeiten, das sind

Sehnsüchte der Freiheit. In einer solchen freien Öffentlichkeit werden mitunter,

flankiert von den Naturwissenschaften, sogar Zweifel an der Realität eines

freien Willens laut. Nun, selbst diese Skepsis an der Freiheit gehört zu den

Möglichkeiten noch dazu. Seit nunmehr über zweihundert Jahren tobt die

Debatte um Freiheit und Determinismus, zunächst entfacht von den

Newtonianern des späten 18. Jahrhunderts, dann fortgeführt von den

Materialisten der vorletzten Jahrhundertwende, und heute aufgekocht von

manchen Hirnforschern. Der freie Wille, so hört man, sei eine Fiktion, in

Wahrheit zögen synaptische Kausalketten die Strippen. Erleichtert lehnt sich

mancher Zeitgenosse zurück, man habe es ja stets geahnt, schließlich seien wir

doch geprägt durch Elternhaus, Schule, Zeitumstände, Geschlecht und Kultur,

kurzum: wahre Freiheit könne es nicht geben, weil uns unsere Lebensbiographie

an der Angel hält.

Lassen Sie mich deshalb hier, an diesem scheinbar so überzeugenden Punkt

beginnen. Ich werde mich also zunächst mit diesem skeptischen Argument

auseinandersetzen, um uns einen ersten tragfähigen Begriff von Freiheit zu

erarbeiten. Dann gehe ich zurück ins Gestein der Tradition und versuche, Ihnen

eine kürzestmögliche Geschichte der Freiheitsidee zu präsentieren. Danach

kehre ich zu den Gegenwartshorizonten zurück und mache uns Gedanken über

den Ort im Freiheitsdiskurs, an dem die Verantwortung zuhause ist, um den

Begriff der Verantwortung sogleich ins Licht unserer technologischen

Zivilisation zu stellen. Abschließend greife ich den neurowissenschaftlichen

Faden wieder auf und verteidige die Freiheitsidee gegen alle von dort

kommenden Widerfährnisse, um zu einem engagierten Finale zu gelangen.

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1. Unbedingte und bedingte Freiheit

Freiheit könne es nicht geben, da wir alle geprägt sind von außerpersönlichen

Determinanten, das also wäre die These, die ich nun widerlegen möchte. Die

gegnerische These lässt sich auch so formulieren: Absolut frei wäre nur ein

Wille, der unbedingt wäre, der nicht beeinflusst wäre von soziokultureller

Prägung, von Geschlecht und Charakter. Der Berliner Philosoph Peter Bieri hat

heftig Widerspruch eingelegt gegen einen solchen Willen. Er wäre ein

Alptraum, ein Monster, meinte er. Ein solcher Wille wäre nämlich ohne allen

Zusammenhang mit dem, was eine Person ausmacht. Er wäre gar nicht mein

eigener Wille. Zudem hätte ich keine Möglichkeit, ihn zu beeinflussen und zu

lenken, weil ich immer aus der Logik meiner Lebensgeschichte heraus urteile

und handle. Und weil ich nicht der Autor eines solchen unbedingten Willens

sein kann, erschiene er mir wie ein fremdes Wesen, das aus einem kausalen

Vakuum kommt und über mich hereinbricht. Ein unbedingter Wille wäre fremd

und unbeeinflussbar, er hätte demnach all die Merkmale, die einen unfreien

Willen auszeichnen. Nein, es macht nicht wirklich Sinn, Freiheit über

Ungebundenheit zu buchstabieren. Eher wären die Prägungen der Sockel, auf

dem wir stehen und zu denen wir uns dann in einem zweiten Schritt

reflektierend in ein Verhältnis setzen. Unser kommunikatives Umfeld, aber auch

Kulturgüter jedweder Art richten unsere Reflexion auf verborgene

Programmierungen, und in einem umfassenden Prozess beginnen wir, diesen

Sockeln von Prägungen zu bearbeiten, indem wir uns manches in einem zweiten

Schritt bewusst aneignen, anderes hingegen verwerfen oder auch nur

korrigieren.

Dieser Prozess ist ein freiheitliches Geschehen. Ich lege großen Wert darauf,

Freiheit als einen Prozess zu begreifen, als ein Potenzial, das nach Realisierung

drängt. Und dieses Potenzial tritt auf zwei verschiedenen Bühnen auf: als

Innenpolitik der Freiheit und als Außenpolitik der Freiheit. Innenpolitik – das

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wäre der Prozess der individuellen Selbstbestimmung, die zu einem autonomen

Selbst führen kann, innere Freiheit also. Außenpolitik – das wäre die Freiheit

des sozialen Feldes, in das jedes Individuum eingefügt ist. Je freier,

pluralistischer, vitaler die soziale Mitwelt ist, desto optimaler kann das

Individuum sein je eigenes Freiheitspotenzial realisieren. Innenpolitik und

Außenpolitik der Freiheit bedingen sich also wechselseitig. Zur Innen- wie auch

zur Außenpolitik tritt nun noch ein Drittes hinzu, das mal mehr die eine, mal

mehr die andere Seite bedient, und dieses Dritte ist die Reflexion auf die

philosophische Tradition der Freiheitsidee. Die Philosophie kann im

Freiheitsprozess also eine entscheidende Moderation übernehmen ganz einfach

deshalb, weil sich in der Tradition der Reichtum der Erfahrungen sedimentiert.

Und so öffnet sich uns nun der Blick auf die allerkürzeste Geschichte der

Freiheit. Was ist von ihr zu erwarten? Nun, einige wesentliche Schaltstellen der

Kulturgeschichte, eingeschränkt auf die abendländische natürlich, und dabei

werden wir zwischen innerer und äußerer Freiheit hin- und herspringen, damit

auch deutlich werde, dass und wie beide sich jeweils bedingen.

2. Eine kürzeste Geschichte der Freiheit

Die Geschichte der Freiheit als die Geschichte einer philosophischen Idee

beginnt recht eigentlich erst mit der Renaissance im 15. Jahrhundert. Recht

eigentlich – das ist eine Einschränkung, die einzelne Inseln des Freiheitsdenkens

auch den Epochen vor der Renaissance einräumt. Und solche finden wir in der

Antike versprengt vor allem in der Ethik Aristoteles und Epikurs, sodann in der

römischen Stoa und schließlich im Denken Augustinus‘, der sich ausführlich mit

dem Problem herumschlägt, wie sich die menschliche Freiheit, die das Böse

wollen kann, mit der Allmacht Gottes verträgt. Wie kann Gott, der den

Menschen schuf, das Böse durch die menschliche Freiheit zulassen? Ein

philosophisch-theologischer Dauerbrenner, der sich durch das gesamte

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christliche und islamische Mittelalter zog und der noch romantische Denker wie

Friedrich Schelling oder Sören Kierkegaard beschäftigte. Dennoch beginnt die

Geschichte der Freiheit recht eigentlich erst in der Renaissance, denn für das

Denken und Fühlen des Mittelalters galt stets das Gute als der Leitwert des

individuellen und gemeinschaftlichen Lebens, die Freiheit hatte sich dem Guten

unterzuordnen. Das Gute – in der Antike war es die Eudaimonia, das im Großen

und Ganzen gelingende Leben; im Mittelalter war es das gottgefällige Leben,

das sich einer gottgewollten ständischen Ordnung einfügt. Mit der Renaissance

setzt sich die Freiheit an die Spitze der Wertordnung, sie stürzt in einem langen

und zähen Ringen den Primat des Guten vom Sockel. Gestürzt wird damit das

Primat des Normativen, denn wie immer man das Gute näher bestimmen mag,

es hält eine intime Nähe zum Normativen, das dann von gesellschaftlichen

Institutionen verwaltet, implementiert und dann auch überwacht wird. So

geschah es im Mittelalter, Abweichler wurden als Häretiker oder gar Hexen

verfolgt, so geschah es aber auch in den kommunistischen Staaten des

Sowjetimperiums, so geschieht es heute in den autoritären

Gesellschaftsordnungen wie auch, verzeihen Sie den benachbarten Atemzug, in

den terroristischen Regimes islamistischer Provenienz. Überall herrscht das –

vermeintlich – Gute über die Freiheit, und wenn mit der Renaissance eine

Umkehrung der Werteordnung einsetzt, so haben Sie mit der jeweiligen

Gewichtung des Guten und der Freiheit sogar eine allerallerkürzeste Geschichte

der Freiheit vor sich.

Ich aber möchte Ihre Aufmerksamkeit natürlich auf die zweite, die weitaus

kürzere Etappe lenken, die zur Herausbildung auch der modernen

demokratischen Staatswesen geführt hat. Außenpolitik der Freiheit also, aber sie

gründet in einem veränderten Menschenbild, das seit der Renaissance Raum

greift und an dessen Beginn ein junger, dem breiteren Publikum zumeist

unbekannter Philosoph stand, der in einem genialen Gleichnis die neuen

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Anschauungen zum Ausdruck brachte. Sein Name ist Pico della Mirandola, und

Text ist so großartig, dass ich ihn Ihnen im Originalwortlaut zitieren möchte.

Der höchste Vater, der Baumeister Gott, hatte das Haus der Welt, den heiligsten Tempel der Gottheit, nach den Gesetzen einer geheimen Weisheit schon meisterhaft beendet. Den überhimmlischen Bereich hatte er mit den Intelligenzen geschmückt, die Äthersphären mit ewigen Seelen belebt, den schmutzigen Bodensatz der unteren Welten mit vielen verschiedenartigen Tieren bevölkert.

Nach vollendetem Werke sehnte sich der Baumeister nach jemandem, der fähig wäre, den Sinn seines grossen Werkes zu begreifen, dessen Schönheit zu lieben, dessen Erhabenheit zu bewundern. Nachdem nun alles vollbracht war (...), beschloss er somit, als letztes Werk Menschen zu erschaffen. Von den Urbildern war jedoch keines mehr da, um daraus das neue Geschöpf zu formen, und in den Schatzkammern nichts, das er dem neuen Sohn als Erbschaft schenken könnte, noch auf der ganzen Welt ein Ort, der als Sitz für diesen Betrachter des Universums dienen könnte. Alles war besetzt, alles in den höchsten, mittleren und tiefsten Ordnungen schon verteilt. Der väterlichen Macht hätte es nicht entsprochen, beim letzten Werke fast machtlos zu versagen; es entspräche seiner Weisheit nicht, bei einer so notwendigen Tat ratlos zu zögern; noch entspräche es seiner wohltätigen Liebe, dass derjenige, der in anderen Geschöpfen die göttliche Freigebigkeit preisen sollte, sie im Hinblick auf sich selbst verurteilen müsse. Schliesslich beschloss der vortreffliche Baumeister, dass der Mensch, dem er nichts Eigenes mehr geben konnte, an allem teilnehme, was er jedem anderen gegeben hatte.

So nahm er den Menschen als ein Werk unbestimmter Art auf, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm wie folgt: «Dir, Adam, habe ich keinen bestimmten Ort, kein eigenes Aussehen und keinen besonderen Vorzug verliehen, damit du den Ort, das Aussehen und die Vorzüge, die du dir wünschest, nach eigenem Beschluss und Ratschlag dir erwirbst. Die begrenzte Natur der anderen ist in Gesetzen enthalten, die ich vorgeschrieben habe. Von keinen Schranken eingeengt sollst du deine eigene Natur selbst bestimmen nach deinem Willen, dessen Macht ich dir überlassen habe. Ich stellte dich in die Mitte der Welt, damit du von dort aus alles, was ringsum ist, besser überschaust. Ich erschuf dich weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, damit du als dein eigener, gleichsam freier, unumschränkter Baumeister dich selbst in der von dir gewählten Form aufbaust und gestaltest. Du kannst nach unten in

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den Tierwesen entarten; du kannst nach oben, deinem eigenen Willen folgend, im Göttlichen neu erstehen.»

Wegen dieses Textes ist der schon mit 31 Jahren verstorbene Pico della

Mirandola berühmt geworden. Er enthält alles, was ein Text braucht, um große

Karriere zu machen: ein Kernproblem und eine entsprechende Bildlichkeit. Das

Leben kann gelingen oder misslingen, das ist die eine Aussage. Und die zweite:

das Leben kann gelingen oder nicht, weil der Mensch freigestellt ist, seinen

Platz in der Welt zu finden. Zwar trägt Pico das alles noch in einem religiösen

Vokabular vor, doch ein sehr moderner Gedanke ist in ihm schon enthalten, der

Einsichten der modernen Anthropologie vorwegnimmt: der Mensch ist kein

Spezialist, sondern ein Generalist. Das soll besagen: er ist nicht auf eine

spezielle Anlage oder ein spezielles Talent hin programmiert, sondern sein

Trumpf ist es, die scheinbaren Mängel eines fehlenden Spezialistentum durch

seine Fähigkeit auszugleichen, sich in vielen verschiedenen Tätigkeitsfeldern

hervor zu tun. Zwar wird er in jedem dieser Aktivitäten von immer irgendeiner

Spezies übertroffen und mitunter sogar von vielen, aber mit Verstand und

Vernunft - Organe der Freiheit – schwingt er sich auf zum Herren der Natur,

spannt die Tiere vor seinen Karren und macht sich so das Expertentum mancher

Tierspezies zunutze. Seine Freiheit ist sein Trumpf, und im göttlichen Bauplan

hat sie keinen bestimmten Ort, denn die Freiheit ist keine Gabe, sondern

Aufgabe, Herausforderung, Freiheit ist die Musik der Zukunft.

In der Geschichte der Freiheit übernehmen aber in der Renaissance vor allem die

Kunst und die Naturwissenschaften das Ruder. Sie richten sich auf die Innen-

wie auf die Außenpolitik der Freiheit, erkunden innere und äußere Räume des

Menschen, weiten den Blick auf die Natur und lösen damit das mittelalterliche

Weltbild ab, in dem alles um das Verhältnis Mensch und Gott kreiste. Mit dem

Mitspieler Natur im geistigen Kosmos etabliert sich damit ein

Dreikörperproblem, was bekanntlich eines der schwierigsten mathematischen

Probleme darstellt, auf der gesellschaftlich-historischen Ebene hat es zu den

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berühmten Verwerfungen zwischen Naturwissenschaft und Theologie geführt,

das geschlossene Weltbild des Mittelalters wird abgelöst durch das offene

Weltbild der Neuzeit. Folgerichtig kommt es in den darauf folgenden

Jahrhunderten zu einer völligen Neugestaltung des politischen Lebens. Im 16

Jahrhundert schon prägt die Geschichte der Freiheit ihren Stempel auch in die

Legitimation von staatlicher Herrschaft hinein und entwickelt über mehrere

Schübe, die hier nicht einzeln darstellbar sind, die Idee eines Verfassungsstaates,

woraus sich dann im 18. Jahrhundert der Republikanismus eines Jean Jacques

Rousseau und eines Immanuel Kant entwickeln wird. Wir sind in der

Aufklärung angelangt.

Und hier wollen wir kurz beim unbestritten führenden Kopf jener Epoche kurz

verweilen, bei Immanuel Kant. Die berühmteste Selbstanzeige der Aufklärung

stammt von ihm:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner Leitung ohne die eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Nun, das wäre nur ein Stück philosophischer Propaganda, hätte Kant in seinen

‚Wahlspruch‘ da nicht die tiefere Bedeutung des philosophischen Begriffs

Verstand versenkt. Verstand und Vernunft sind für ihn die Erkenntnisorgane, die

von Freiheit durchwirkt sind. Und damit gehören sie einer anderen Ordnung als

die der Kausalketten der Natur an. Sie ermöglichen es einem mit einem Willen

begabten Wesen, eine neue Weltlinie gleichsam von einem Nullpunkt beginnen

zu lassen. Kraft der Freiheit meines Willens bringe ich durch mein Handeln

neue Tatsachen in die Welt, Tatsachen, die ihre Ursachen nicht in anderen

Tatsachen haben, sondern in der Freiheit meines Willens. Als vernünftiges

Wesen stricke ich an einer Freiheitskausalität, die mir philosophische, aber auch

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naturwissenschaftliche Erkenntnis allererst ermöglicht, die mich zudem

moralisch zu einem Glied einer vernünftigen Welt macht, die zwar in der realen

Wirklichkeit nirgendwo ausgebildet ist, die aber ein Postulat meiner eigenen

Intelligenz ist. Und das erwirkt Pflichten, Pflichten gegen andere wie auch

Pflichten gegen mich selbst. Pflichten, die anders als es unser heutiger

Sprachgebrauch nahelegt, Pflichten, die aus meiner eigenen Freiheit erwachsen

und die deshalb keine Fremdbestimmung, sondern eine Selbstbestimmung

bedeuten. Und darin besteht – Kants Begriff von Verantwortung. Die Pflicht,

andere jederzeit als würdevolle Wesen zu behandeln, die Pflicht, in meinem

individuellen Handeln das Wohl der Gemeinschaft zu fördern, die Pflicht, mich

selbst zu einem selbstbestimmten Wesen zu entwickeln und nicht zum Spielball

meiner Triebe zu degenerieren. Diese und andere Pflichten erlegt mir meine

eigene Freiheit auf, sie sind die Zwillingsschwestern der Freiheit.

Gleichwohl hat man die Kantische Ethik als eine Gesinnungsethik bezeichnet

und ihr eine eigene Verantwortungsethik entgegengestellt. Vor allem war es der

Soziologe Max Weber, ein Mann des frühen 20. Jahrhunderts, der den Begriff

der Verantwortungsethik prägte. Ein Verantwortungsethiker achtet nicht nur auf

die Sittlichkeit der Handlungsmotive, sondern er bewertet die Moralität einer

Handlung auch von deren situativen Erfolg. Philosophisch besehen haben beide

Positionen ihre Stärken wie auch ihre Schwächen. Problematisch an Kants

Auffassung ist, dass er kategorisch zu verstehen gibt, gut sei allein der gute

Wille, und gesetzt, er wäre ohnmächtig, in der Welt seine Ziele durchzusetzen,

so würde das seinen Wert nicht das mindeste schmälern. Kant sah sich zu dieser

Position gedrängt, weil er allergrößte Skepsis davor hatte, Ereignisse in der Welt

moralisch zu bewerten. Hier an dieser Stelle muss ich sehr behutsam

argumentieren. Natürlich hätte Kant in einer Enthauptung einer Geisel ein

moralisches Verbrechen gesehen. Er hätte argumentiert: die in einer solchen

konkreten Handlung dahinterstehende Maxime sei zu beurteilen, und die

Maxime würde lauten: wenn ich meine politischen Ziele durchsetzen möchte,

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dann schrecke ich selbst vor Mord nicht zurück. Eine Welt aber, in der der Mord

als Handlungsstrategie erlaubt ist, wäre eine Welt, die ich nicht wollen kann.

Denn sie wäre eine Welt, in der Menschen zu Funktionen degradiert werden, zu

Druckmitteln, sie wäre eine blutige, unmenschliche Welt von Rache und

Gewalt. Die Vernunft aber will eine friedliche Welt des Gesprächs, das

Ausgleichs, der vernünftigen Beilegung von Konflikten. Sie bemerken, wie in

Kants Argumentation tatsächlich die vernünftige Gesinnung die Strippen zieht.

Und das kann bei konkreten Konflikten durchaus problematisch sein wie z.B.

der Notlüge. Ein Arzt, der seinem Patienten die Wahrheit vorenthält, weil er

etwa meint, der Patient könne mit ihr nicht leben, handelt verantwortungsethisch

richtig, gesinnungsethisch im Geiste Kants aber falsch. Zugegeben, jeder dieser

Fälle hat sein eigenes Problem ganz einfach darin, dass man sich täuschen kann,

dass man die Situation einfach falsch einschätzt, oder dass man gar zu einer

unrichtigen Beurteilung des eigenen Handlungserfolges gelangt. Letzteres führt

uns zum Handeln des Politikers oder des Wirtschaftskapitäns, die Kette der

Weltereignisse ist nicht zu überschauen und das macht eine Beurteilung der

intendierten Folgen problematisch. Darin, genau darin bestand Kants Skepsis, er

wollte seine Ethik nicht in der Empirie verankern, sondern im Regelwerk der

Vernunft, die jeder moralischen Handlung eine innere Rationalität vorschreibt,

den sogenannten kategorischen Imperativ, der in seiner Standardformulierung

lautet: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen

kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Wir gelangen hier, in der Abwägung von Gesinnungs- und

Verantwortungsethik, meiner Meinung nach in ein unlösbares Dilemma. Der

kategorische Imperativ ist schwer anwendbar auf die komplexen Verhältnisse

unseres modernen Lebens. Wie könnten wir ihn auf Risikotechnologien

beziehen, in der es nicht selten um die Abwägung des geringeren Übels geht?

Oder wie sollten wir mit ihm komplizierte medizinethische Fragen meistern wie

die aktive Sterbehilfe etwa oder all die Probleme, die sich auf einer

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Frühgeburtsstation stellen? Und so zeigt sich im Spannungsfeld von Immanuel

Kant und Max Weber, die gute 130 Jahre trennen, auch ein fundamentaler

Unterschied geschichtlicher Epochen. Kant lebte im vortechnologischen

Zeitalter, er war gleichsam beseelt von der Vision, die Weltgeschichte schreite

einer immer größeren Humanisierung entgegen. Das prägte auch seinen

Politikbegriff, wohingegen Max Weber sehr viel nüchterner die Politik als ein

pragmatisches Geschäft angesehen hatte, das allerdings einer ethischen

Grundorientierung bedarf, das sei kritisch gegen die heutige Politikergeneration

gesagt.

Wir kehren zur Verantwortungsethik später noch zurück, lassen Sie uns nun

noch kurz weitere Stationen der Geschichte der Freiheit mustern. Denn die

erlebte um die Wende ins 19. Jahrhundert einen regelrechten Höhenflug. Kein

Wunder, denn historisch war die Französische Revolution das epochale Ereignis

gewesen, das von den jungen Köpfen im Umkreis des Deutschen Idealismus

gefeiert wurde als der endgültige Durchbruch der Freiheit durch die harte Schale

des Absolutismus. Philosophisch aber gebärdete sich die junge Generation

dezenter. Die Außenpolitik der Freiheit – diesmal tatsächlich im wortwörtlichen

Sinne – vertraten bekanntlich Schiller in seinen Dramen, Johann Gottlieb Fichte

in seinem Engagement für einen deutschen Kulturstaat, sodann der

philosophische Titan Hegel, dessen berühmtes Kapitel Herrschaft und

Knechtschaft aus der Phänomenologie des Geistes eine Theorie der

Anerkennung vorbereitete, was dann von Karl Marx und in unseren Tagen von

Axel Honneth fortgeführt wurde. Freiheit, so der leitende Gedanke Hegels,

verwirkliche sich in der Weltgeschichte in Gestalt eines Weltgeistes, der über

die geschichtlichen Epochen vollendeten Selbstbewusstseins in Kunst, Religion

und Philosophie sein Domizil aufschlägt. Es sind also die Kulturgüter, die den

Hort der Freiheit bilden, - wenngleich Hegel staunend den Einzug Napoleons in

Jena bewunderte und allen Ernstes meinte, es zöge in Napoleon der Weltgeist an

ihm, dem jungen Hegel, vorüber. Nun, das ist so eine Anekdote, von der die

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Philosophie voll ist, Karl Marx jedenfalls stellte ein paar Jahrzehnte später

Hegel auf den Kopf, politisierte und ökonomisierte ihn und – voilà, entwarf die

Utopie eines Endes aller Geschichte, die den Erniedrigten und Gedemütigten ein

volles Selbstsein in einer klassenlosen Gesellschaft in Aussicht stellt. Marx‘

Geschichtsphilosophie faszinierte die Intellektuellen auch noch einhundert Jahre

später, selbst nachdem die Stalinistischen Gräuel bekannt wurden. Die

europäische Nachkriegslinke reparierte und restaurierte das Marx’sche Gebäude,

fügte Freud’sche Psychoanalyse ein, pluralisierte die autoritäre Handschrift des

Marxismus, schleuste feministische Elemente ein, ja sogar jüdische

eschatologische Motive fanden Eingang in den Marx’schen Materialismus.

Dabei wurde die Freiheit aus dem starren politökonomischen Prokrustesbett

herausgelöst, die kulturelle Sphäre avancierte erneut zum Freiheitshorizont. Das

zur Außenpolitik der Freiheit, über die man allein einen ganzen Nachmittag

reden könnte.

Nicht weniger beeindruckend die Leistung auf der innenpolitischen Seite der

Freiheit. Hier zeichnen sich deutlich seit der Romantik des frühen 19.

Jahrhunderts zwei Hauptströme ab. Da entdeckten die in der Romantik

verwurzelten Denker eine durchaus problematische Physiognomie der Freiheit,

die einerseits zwar den Prozess der Individuation initiiert habe, wozu aber

andererseits der hohe Preis der Unbehaustheit zu zahlen sei. Der Mensch

entfremdet sich in seiner Individuation dem einstigen Geborgensein in einer

Welt, die ihm eine feste Rolle versprach in der Gesellschaft, gefestigt durch

einen metaphysischen Himmel, der verwaltet wurde durch die institutionalisierte

Kirche. Heimatlos irrt er nun umher und vermag die Kluft zwischen

individuierter Freiheit und Integration in ein größeres Ganzes nicht zu schließen,

und so flirten die Romantiker verdeckt immer wieder mit religiösen Horizonten.

Offener geschieht dies beim dänischen Religionsphilosophen Sören

Kierkegaard, der die menschliche Freiheit im religiösen Glauben gründen lässt.

Ihm ist es um das Geheimnis zu tun, sich selbst in den Reflexionen nicht zu

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verlieren, die der Intellekt tätigt, ihm ist es darum zu tun, sich selbst annehmen

zu können. Und das könne der Mensch nicht durch das Wissen allein, eine

größere Leistung erbringe dabei der Glaube. Das ist eine existenzialistische

Tonlage, und auf verschlungenen Wegen führt die existenzielle Ausrichtung der

Freiheit dann zu den atheistischen französischen Existenzialisten Jean Paul

Sartre und Albert Camus. Das wäre der eine der beiden Hauptströme.

Der andere verlässt emphatisch die Ausrichtung des Freiheitsthemas auf den

Handlungswillen und schreibt Freiheit in ein größeres vitales Geschehen ein.

Arthur Schopenhauer hat diese Bühne eröffnet mit dem erregenden Gedanken,

dass der Mensch auf das Rad des Willens gespannt sei und seiner Allmacht

folgen müsse wie ein Sklave. Freiheit könne es nur außerhalb des mächtigen

Weltwillens geben, der alles Leben, ja der sogar die materielle Welt vor seinen

Karren spanne. Friedrich Nietzsche hat Schopenhauers Faden aufgegriffen und

ihn weitergesponnen. Auch er experimentiert mit dem Weltwillen, aber er gibt

ihm eine positive Wende. Mit dem Ende der Religion, so frohlockt er, seien

neue Kontinente des Geistes zu entdecken, und das hieß für ihn vor allem: ein

neues Menschenbild sei am Entstehen. Der Mensch gestaltet nunmehr frei seine

Daseinsmöglichkeiten, er sei der große Entwurf, den die Evolution kühn

veranstalte, er sei ein Weg und kein Ziel, Nietzsche phantasiert über neue und

ungeahnte Möglichkeitshorizonte, er rückt den Menschen an die Stelle, die

vormals Gott innehatte. Darin steckt eine gute Portion Größenwahn, allein, man

darf Nietzsche nie wörtlich nehmen, er verstand sich eher als Künstler denn als

nüchternen Philosophen, ja er hat aller Nüchternheit den Kampf angesagt, sah er

doch in der Nüchternheit die Zensurbehörde der Vernunft. Mit Nietzsche hat die

Geschichte der Freiheit ihre größte Entfernung von der sozialen Realität

gefunden, nur wer groß denke, könne groß irren, hat er einmal gesagt, und wir

wollen ihm durchaus beides zugestehen.

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Groß denken und das Irren vermeiden, das zeichnet dagegen den französischen

Denker Henri Bergson aus, der das Freiheitsgeschehen ebenfalls dem konkreten

Handlungswillen vorausgehen lässt. Freiheit müsse aus der ganzen Person

hervorgehen. Und die ganze Person, das sind nicht nur die Willensakte samt den

bewussten Motivationsströmen, die die Willensakte leiten, sondern die ganze

Person umgreift auch die vorbewussten Zonen unseres Daseins. Bergson denkt

dabei weniger an die Psychologie Freuds. Ihm geht es eher um ein schwer

beschreibbares Fundament, auf dem das bewusste Leben steht. Vielleicht

gelangen Sie dorthin, wenn Sie sich einer Entscheidungssituation erinnern.

Gesetzt, Sie beraten sich mit Kollegen oder Freunden über ein Problem, sagen

wir: Sie überlegen, ob Sie ein interessantes Angebot einer renommierten Klinik

in Hamburg annehmen sollen. Sie hören deren gute Argumente, doch am Ende

sind Sie nicht wirklich überzeugt. Aber Sie haben für Ihre mangelnde

Überzeugung kein weiteres Gegenargument mehr bereit, es ist einfach so, dass

Sie spüren, Sie stehen nur halb hinter der erzielten Lösung. Wo aber steht Ihre

andere Hälfte? Bergson meint: das Gefühl der Stimmigkeit ist nur zum Teil

rational auflösbar. Denn die Ratio ist ein lineares Geschehen, hier schreiten wir

von Argument zu Argument, wir bewegen uns auf der Linie eines Diskurses.

Das Gefühl der Stimmigkeit hingegen ähnelt eher einem musikalischen Klang.

Hier finden sich neben den Argumenten die Gefühle ein, die Ahnungen und

andere präreflexive Qualitäten Ihres Bewusstseins. Doch eher sollte ich sagen:

die gehörten Argumente rufen diese präreflexiven Qualitäten in Ihren seelischen

Haushalt, und vieles davon ist weit entfernt, benannt und erkannt zu werden.

Dennoch sind sie da und bewirken, dass sie die guten Argumente Ihrer Freunde

nicht tragen. Sie kommen sich selbst einfach nicht ‚ganz‘ darin vor. Gesetzt der

Fall, Sie könnten eine Entscheidung treffen, bei der jener innere Klang mit den

Argumenten harmoniert, dann hätten Sie eine freie Entscheidung aus ganzer

Person getroffen. Zugegeben, das ist manchmal schwierig, aber wenn so etwas

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geschieht, dann können Sie erleben, wie die Freiheit aus Ihrer ganzen Person

aufsteigt. Ich persönlich denke, das sind die schönsten Momente des Lebens.

3. Freiheit und neuronaler Determinismus

Ein heftiger Einspruch erfolgt an dieser Stelle von Seiten der Hirnforschung,

und deshalb beenden wir die kürzeste Geschichte der Freiheit mit einem kleinen

Exkurs zur gegenwärtig aktuellsten Station der Freiheitsdebatte. Alles das, was

ich im Zustand der Sprachnot vom inneren Klang fabulierte, jener so schwer

beschreibbaren Zone eines nichtlinearen Bewusstseins, hat eine Parallele im

limbischen System. Eine Parallele, nicht mehr. Das limbische System regelt die

vegetativen Körperfunktionen, in ihm finden sich die affektiven Zustände wie

Lust, Wut und Aggressivität. Sodann die Gefühle im eigentlichen Sinn, die als

Produkte einer emotionalen Konditionierung erlernbar sind, was bedeutet, dass

das emotionale Lernen das limbische System verlassen muss, um das

sogenannte deklarative Gedächtnis anzuzapfen, dort sitzt unser

autobiografisches Gedächtnis. Kurzum: es gibt eine Reihe von Übergängen

zwischen dem limbischen und dem corticalen System des orbito-frontalen

Cortex. Trotz aller Differenzierungen, die hier noch nötig wären, hat das

limbische System eine starke Stellung im gesamten Gehirn inne. „Das limbische

System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und letzte

Wort“, schreibt Gerhard Roth in seinem Buch Aus Sicht des Gehirns, und er

fährt fort: „Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen,

das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand

ausgedacht haben, jetzt so und nicht anders getan werden soll.“1

In diesem Kreise kann es ich mir sparen, ins Detail zu gehen darüber, wie die

Basalganglien einen Handlungsablauf freischalten. Jedenfalls ist dieser Moment

philosophisch interessant, weil er in neurobiologischer Sprache den Moment der 1 Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt 2003, S. 162

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Ausführung eines Willensentschlusses, also einer Willenshandlung bedeutet. In

einem berühmten, wenngleich vielfach in seinem Ablauf kritisierten Experiment

war Benjamin Libet auf den Befund gestoßen, dass der Willensentschluss auf

der neuronalen Ebene dem der bewussten Entscheidung vorhergeht. Die

Entscheidung, so eine mögliche Interpretation des Experiments, ist neuronal

schon gefallen, das Bewusstsein nickt nur ab und rechnet sich nachträglich die

Entscheidungsbefugnis zu. Eigentlich sind wir also neuronal determiniert,

Freiheit wäre nichts als eine Einbildung.

Nun, was im ersten Moment wie ein empfindlicher Schlag gegen die

menschliche Freiheit aussieht, zeigt beim zweiten Blick etwas weniger Biss.

Philosophen haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Hirnforscher ihre

neurologischen Beobachtungen nur allzu schnell und unreflektiert mit einem

Vokabular interpretiert haben, das der menschlichen Selbstverständigung

angehört. Den Ausdruck Freiheit verwende ich, um meine Position, mein

Handeln in einer erlebten Welt zu interpretieren. Es ist eine sogenannte Erste-

Person-Perspektive. Die Neurowissenschaften hingegen erklären die

Funktionsweise des Gehirns samt der Willensentscheidung aus einer

Beobachtungsdistanz, aus der Dritten-Person-Perspektive. Nun, auf den ersten

Blick sieht dieses Argument wie eine philosophische Defensivstrategie aus, mit

der gerettet werden soll, was wissenschaftlich doch preisgegeben werden muss.

Aber dahinter steht eine grundlegende Kritik an der Neurowissenschaft, die sich

in manchen ihrer Vertreter zu einer Leitwissenschaft aufzuschwingen versucht.

Aus philosophischer Sicht ist es bedenklich, wenn eine Wissenschaft ihre

Erkenntnisse nicht nur in ihrer eigenen Sprache interpretiert, sondern wenn sie

ohne großes Zögern andere Sprachen usurpiert. Aber hinter der philosophischen

Verteidigung der Freiheit steckt noch mehr. Denn die Freiheit ist, davon sollte

mein kurzer Husarenritt über die Geschichte des Freiheitsdenkens ins Bild

setzen, die Freiheit ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern ein Prozess, der

sich ergibt, wenn sich das freiheitliche Potenzial entfaltet. Falsch wäre es

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strenggenommen wenn man sagte: „Ich bin frei“, weil in solcher Rede die

Freiheit auf einen Zustand, mithin auf etwas Statisches reduziert wird. Das

neurophysiologische Experiments Benjamin Libets suggeriert in ihren

Ergebnissen, Freiheit müsse eine messbare Größe sein können, sie müsse

empirische Fakten organisieren können. Kurzum: Freiheit hat ihren Ort nicht im

physikalischen System Mensch, sondern im kulturellen System.

4. Verantwortung

Nach diesem Parforceritt durch die kürzeste Geschichte der Freiheit ankern wir

in der Mitte unserer Zeit und werfen das Problem der Verantwortung in der

technologischen Gesellschaft auf. Der Deutsch-Amerikaner Hans Jonas, ein

jüdischer Emigrant, hat in den 70er Jahren sein Hauptwerk geschrieben, das

Prinzip Verantwortung. Alle bisherige Ethik, so meint er, sei anthropozentrisch

ausgerichtet gewesen, zudem halte sie sich stets im Nahbereich menschlichen

Handelns auf. Die menschliche Macht hatte in früheren Zeiten nur einen kurzen

Arm, doch im technologischen Zeitalter greife menschliches Handeln weit in die

Zukunft aus. Die Nächsten-Ethik sei durch eine Ethik der Fernwirkung zu

ergänzen. Und das verändere notwendigerweise das anthropozentrische Gesicht

der Ethik. Denn gerade weil die Biosphäre der Macht des Menschen

unterworfen sei, müsse der Mensch eine neue Verantwortung für die Natur

schultern.

Es ist zumindest nicht mehr sinnlos, zu fragen, ob der Zustand der außermenschlichen Natur, die Biosphäre als Ganzes und in ihren Teilen, die jetzt unserer Macht unterworfen ist, eben damit ein menschliches Treugut geworden ist und so etwas, wie einen moralischen Anspruch an uns hat - nicht nur um unsretwillen, sondern auch um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht. Wenn solches der Fall wäre, so würde es kein geringes Umdenken in den Grundlagen der Ethik erfordern. Es würde bedeuten, nicht nur das menschliche Gut, sondern auch das Gut außermenschlicher Dinge zu suchen […] Für eine solche Treuhänderrolle hat keine frühere Ethik uns

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vorbereitet - und die herrschende wissenschaftliche Ansicht der Natur noch viel weniger. (Hans Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 29)

Hans Jonas erwägt ein sittliches Eigenrecht der Natur. Das klang damals, als

Hans Jonas sein Buch publizierte, utopisch oder gar illusorisch, denn das Recht,

das gilt seit den antiken Tagen als eine rein menschliche Sphäre. Wie sollte der

Natur, der physis, ein Ort im Recht, der nomos, eingeräumt werden können?

Doch vor 12 Jahren wurde der Tierschutz in das Grundgesetz aufgenommen.

Auch wenn man die dortigen Formulierungen als recht vage empfindet, es ist ein

Anfang für die von Hans Jonas geforderte Treuhänderrolle. Die

verhaltensbiologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte haben ohnehin das

Bewusstsein dafür geschärft, dass der einst so akkurat gezogene Unterschied

zwischen Mensch und Tier nun unscharfe Ränder bekommt. Zwar kommt es für

eine treuhänderische Verantwortung des Menschen für die Natur nicht darauf

an, dass sie sich auf Verwandtschaften und Ähnlichkeiten von Mensch und

anderen Naturspezies abstützen muss. Aber die Tendenz geht doch eindeutig in

Richtung Sensibilisierung für ein mögliches sittliches Eigenrecht der Natur.

Konträr zu diesem Trend, der sich in Vegetarismus und Veganismus ein noch

radikaleres Gesicht gibt, konträr dazu aber verläuft die Entwicklung in der

Biotechnologie. Dass einmal getätigte Innovationen zu späteren Korrekturen

drängen, die ihrerseits nur mithilfe neuer Innovationen zu leisten sind, woraus

sich eine Korrekturspirale entwickelt, die möglicherweise nur noch schwer zu

beherrschen ist, das macht den Fortschritt zum Verhängnis. ”Das einmal

Begonnene nimmt uns das Gesetz des Handelns aus der Hand, und die

vollendeten Tatsachen, die das Beginnen schuf, werden kumulativ zum Gesetz

seiner Fortsetzung”, schreibt Jonas.

Hans Jonas‘ Konzeption einer Verantwortungsethik ist ein im Großen und

Ganzen konservativer Entwurf, der in dem Aufruf gipfelt, der Mensch müsse

vor seiner eigenen Machtfülle geschützt werden.

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Wenn denn also die neuartige Natur unseres Handelns eine neue Ethik weittragender Verantwortlichkeit verlangt, verträglich mit der Tragweite unserer Macht, dann verlangt sie im Namen eben jener Verantwortlichkeit auch eine neue Art von Demut - eine Demut nicht wie frühere wegen der Kleinheit, sondern wegen der exzessiven Größe unserer Macht, die ein Exzeß unserer Macht zu tun über unsere Macht vorherzusehen und über unsere Macht zu werten und zu urteilen ist.

Und als einen konkreten Imperativ gibt er die These vom Vorrang der

schlechten über die gute Prognose aus. Ist das nun ein Pessimismus? Hans Jonas

jedenfalls kontert mit dem Argument, der größere Pessimismus stehe auf Seiten

derer, „die das Gegebene für schlecht und unwert genug halten, um jedes

Wagnis möglicher Verbesserung auf sich zu nehmen.” (S. 75)

Nun, mit diesen Wendungen stehen wir inmitten eines ideologischen

Kampfgebietes, in dem ich nicht weiter herumdilettieren möchte. Ich möchte es

verlassen und schaue mich um nach einem halbwegs verlässlichen Geländer.

5. Schlussplädoyer

Und da kann und möchte ich mich nicht um die Einsicht drücken, dass die

Technik unser aller Schicksal ist. Entmythologisierend gesagt: die Technik ist

notwendig. Sie ist notwendig, so meint der Anthropologe Arnold Gehlen, ein

Kopf des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts, weil der Mensch ein biologisches

Mängelwesen ist. Es fehlt ihm an Schärfe der Sinne, an natürlichen Angriffs-

und Verteidigungswaffen, an einem natürlichen Witterungskleid. Er muss sich

das, was die Natur ihm verwehrte, künstlich erschaffen. Anders wäre er nicht

überlebensfähig. Er muss sich seine Welt ins Lebensdienliche umschaffen, er

muss Techniken der Naturbeherrschung entwickeln. Die Kultur, so bringt es

Arnold Gehlen auf den Punkt, die Natur des Menschen sei es, ein Kulturwesen

zu sein, - ein handelndes, auf Naturbewältigung programmiertes Wesen, das

dazu der kommunikativen Verständigung bedarf. Und hier finde ich den Punkt,

auf den die Geschichte von Freiheit und Verantwortung zulaufen kann.

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Denn wenn man Wissenschaft und Technik als Kulturprodukte betrachtet,

ebenso wie Kunst oder Religion oder Philosophie, dann kann man sie über ihre

physikalisch-funktionale Seite hinaus auch als Kulturprodukte interpretieren.

Was heißt das? Ich schlage vor, die Wissenschaft und Technik hinsichtlich einer

bestimmten Leistung zu interpretieren, nämlich entlang der Frage, in welcher

Art sie unsere Möglichkeiten vergrößern. Und da Freiheit immer auch eine

Expansion von Möglichkeiten bedeutet, muss die Technik sich daran bewerten

lassen. Dabei können individuelle Interessen mit gemeinschaftlichen, ja

kulturellen Interessen in Konflikt geraten. Nicht alles, was technisch möglich

ist, ist auch geboten. Dank fortgeschrittener Fertilisationstechniken mag zwar

ein individueller Kinderwunsch realisiert werden, aber die dazu nötigen

Techniken wie Leihmutterschaft und anderes mehr können ethisch und damit

kulturell bedenklich sein. Man kann sich ja selbst mit der blühendsten Phantasie

nicht ausmalen, zu welchen Wünschen die Technik den Menschen inspirieren

kann.

Dass individuelle kulturelle Freiheit in Konflikt geraten können, ist ein alter

Dauerbrenner in der Geschichte der Freiheit. Der Ausgleich ist schwierig und

muss immer wieder neu gefunden werden, und dabei kann der Freiheits- und

Verantwortungsdiskurs von den Naturwissenschaften lernen. Gerade die vorhin

so relativierte Dritte-Person-Perspektive der Naturwissenschaften erschließt der

menschlichen Selbstverständigung das, was Konrad Lorenz die „Rückseite des

Spiegels“ genannt hat: die biologischen Grundlagen des menschlichen

Erkenntnisapparates, unsere, wie er sagt, vorrationalen Lehrmeister.

Biologisches Leben ist seit Anbeginn der Evolution ein Lernprozess. Die

Lernkette in der biologischen Evolution hat jedoch einen anderen Gang als die

der kulturellen Evolution. Sie ist langsamer und entwickelt sich entlang anderer

intelligenter Linien als wie sie der Mensch im Laufe seines Erdendaseins

ausgesponnen hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine der aufregendsten

Herausforderungen an unsere Intelligenz darin besteht, bei unseren kulturellen

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und technischen Innovationen die biologische Lernkette als mögliches Korrektiv

nicht aus den Augen zu verlieren. Die Natur verdankt ihre Weisheit dem großen

Luxus Zeit. Sie kann endlos experimentieren, sie kann dabei eine Spezies

opfern, um Entwicklungen zu forcieren, wenn so zu reden erlaubt ist. Die

hominide Kultur ist im Vergleich dazu äußerst hastig und sie beschleunigt ihren

Gang mit jeder Generation. Die Kultur verdankt ihre Weisheit dem

freiheitlichen Gespräch zwischen den Wissenschaften, den Künsten und all den

anderen Kulturtechniken. Die Natur ist vielstimmig in ihren Arten, die Kultur in

ihren Erkenntnissen. Wir allein sind verantwortlich für unser Überleben, und zu

dieser Verantwortung befähigt uns das atemberaubende Experiment Freiheit,

dass die Natur in uns begonnen hat.