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Friedrich300 – Eine perspektivische Bestandsaufnahme Friedrich und die Juden 1 Tobias Schenk Abstract Zu den Widersprüchen der Persönlichkeit Friedrichs des Großen, die seit langem die Historiker beschäftigen, zählt auch seine zeitlebens dokumentierte Aversion gegenüber der jüdischen Minderheit. Dabei ließ es der König jedoch nicht bewenden, sondern formulierte ein komplexes Regelwerk, durch welches der Judenschaft enge demographische und ökonomische Fesseln angelegt wurden. Der exzeptionelle Aufstieg, der einer kleinen Gruppe jüdischer Familien im Großgewerbe sowie im Osteuropahandel gelang, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese über Jahrzehnte hinweg betriebene Politik trotz aller Widersprüche und opportunistischen Ausnahmeregelungen zur sozialen und rechtlichen Deklassierung zahlreicher jüdischer Familien führte. Insbesondere jenseits der wirtschaftlich prosperierenden Großstädte Berlin, Königsberg und Breslau ist diese Entwicklung, die sich mancherorts bis zu demographischen Einbußen steigerte, nicht zu übersehen. Die oft betonte Rationalisierungs- und Verrechtlichungsleistung, die der “Aufgeklärte Absolutismus“ auf dem Feld der Judenpolitik vollbracht habe, erscheint vor diesem Hintergrund in zweifelhaftem Licht. “…den hier muß ein jeder nach seiner Fasson selich werden“? Zur Rolle der Juden im Denken Friedrichs des Großen <1> “Friedrich und die Juden“ – begreift man diese Themenstellung im engeren Sinne, fragt man also nach der Rolle der Juden im Denken des Preußenkönigs, so fällt es nicht leicht, dieser Beziehungsgeschichte neue Facetten abzugewinnen. Stattdessen könnte man es dabei bewenden lassen, sich auf Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) zu berufen. Als dieser 1819, ein Jahr vor seinem Tod, publizistisch auf die vorangegangenen Jahrzehnte zurückblickte, die er in verschiedenen Positionen im preußischen wie im westphälischen Staatsdienst mitgeprägt hatte, resümierte er, Friedrich habe gegenüber den Juden “alle Gesinnungen des Landesvaters verläugnet“. 2 Mehr als 35 Jahre zuvor, als junger Kriegsrat und Freund Moses Mendelssohns (1729–1786), hatte Dohm mit seinen Überlegungen “Über die Bürgerliche Verbesserung der Juden“ 3 (1781) die Programmschrift der einsetzenden Emanzipationsdebatte in Deutschland verfasst. Im Fokus seiner Ausführungen standen dabei vor allem die restriktiven Judenordnungen der Territorien des Alten Reiches, die Dohm als 1 Der im vorliegenden Beitrag thematisierten Wechselwirkung zwischen finanzieller Potenz und dem Rechtsstatus jüdischer Hausväter widmet sich Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" in Preußen (1763-1812) (erscheint 2009 im Verlag Duncker & Humblot). Siehe vorerst: ders.: Der preußische Weg der Judenemanzipation. Zur Judenpolitik des "aufgeklärten Absolutismus", in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008) (im Druck); ders.: Der Preußische Staat und die Juden. Eine ambivalente Geschichte aus ostmitteleuropäischer Perspektive, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts VII (2008) (im Druck); ders.: "…dienen oder fort"? Soziale, rechtliche und demographische Auswirkungen friderizianischer Judenpolitik in Westfalen (1763-1806), in: Westfalen 84 (2006) (im Druck); ders.: Generalfiskal Friedrich Benjamin Loriol de la Grivillière d’Anières (1736-1803). Anmerkungen zu Vita, Amtsführung und Buchbesitz als Beitrag zur Erforschung preußischer Judenpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aschkenas (2008) (im Druck). 2 Christian Wilhelm von Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit oder Beiträge zur Geschichte vom lezten Viertel des achtzehnten und vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts 1778 bis 1806, Bd. 4, Lemgo / Hannover 1819, 487. 3 Christian Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin / Stettin 1781. Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung (CC-BY-NC-ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de

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Friedrich300 – Eine perspektivische Bestandsaufnahme

Friedrich und die Juden1

Tobias Schenk

Abstract

Zu den Widersprüchen der Persönlichkeit Friedrichs des Großen, die seit langem die Historiker beschäftigen, zählt auch seine zeitlebens dokumentierte Aversion gegenüber der jüdischen Minderheit. Dabei ließ es der König jedoch nicht bewenden, sondern formulierte ein komplexes Regelwerk, durch welches der Judenschaft enge demographische und ökonomische Fesseln angelegt wurden. Der exzeptionelle Aufstieg, der einer kleinen Gruppe jüdischer Familien im Großgewerbe sowie im Osteuropahandel gelang, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese über Jahrzehnte hinweg betriebene Politik trotz aller Widersprüche und opportunistischen Ausnahmeregelungen zur sozialen und rechtlichen Deklassierung zahlreicher jüdischer Familien führte. Insbesondere jenseits der wirtschaftlich prosperierenden Großstädte Berlin, Königsberg und Breslau ist diese Entwicklung, die sich mancherorts bis zu demographischen Einbußen steigerte, nicht zu übersehen. Die oft betonte Rationalisierungs- und Verrechtlichungsleistung, die der “Aufgeklärte Absolutismus“ auf dem Feld der Judenpolitik vollbracht habe, erscheint vor diesem Hintergrund in zweifelhaftem Licht.

“…den hier muß ein jeder nach seiner Fasson selich werden“? Zur Rolle der Juden im Denken Friedrichs des Großen

<1>

“Friedrich und die Juden“ – begreift man diese Themenstellung im engeren Sinne, fragt man also nach

der Rolle der Juden im Denken des Preußenkönigs, so fällt es nicht leicht, dieser

Beziehungsgeschichte neue Facetten abzugewinnen. Stattdessen könnte man es dabei bewenden

lassen, sich auf Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) zu berufen. Als dieser 1819, ein Jahr vor

seinem Tod, publizistisch auf die vorangegangenen Jahrzehnte zurückblickte, die er in verschiedenen

Positionen im preußischen wie im westphälischen Staatsdienst mitgeprägt hatte, resümierte er,

Friedrich habe gegenüber den Juden “alle Gesinnungen des Landesvaters verläugnet“.2 Mehr als 35

Jahre zuvor, als junger Kriegsrat und Freund Moses Mendelssohns (1729–1786), hatte Dohm mit

seinen Überlegungen “Über die Bürgerliche Verbesserung der Juden“3 (1781) die Programmschrift der

einsetzenden Emanzipationsdebatte in Deutschland verfasst. Im Fokus seiner Ausführungen standen

dabei vor allem die restriktiven Judenordnungen der Territorien des Alten Reiches, die Dohm als

1 Der im vorliegenden Beitrag thematisierten Wechselwirkung zwischen finanzieller Potenz und dem Rechtsstatus jüdischer Hausväter widmet sich Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des "Aufgeklärten Absolutismus" in Preußen (1763-1812) (erscheint 2009 im Verlag Duncker & Humblot). Siehe vorerst: ders.: Der preußische Weg der Judenemanzipation. Zur Judenpolitik des "aufgeklärten Absolutismus", in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008) (im Druck); ders.: Der Preußische Staat und die Juden. Eine ambivalente Geschichte aus ostmitteleuropäischer Perspektive, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts VII (2008) (im Druck); ders.: "…dienen oder fort"? Soziale, rechtliche und demographische Auswirkungen friderizianischer Judenpolitik in Westfalen (1763-1806), in: Westfalen 84 (2006) (im Druck); ders.: Generalfiskal Friedrich Benjamin Loriol de la Grivillière d’Anières (1736-1803). Anmerkungen zu Vita, Amtsführung und Buchbesitz als Beitrag zur Erforschung preußischer Judenpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aschkenas (2008) (im Druck).

2 Christian Wilhelm von Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit oder Beiträge zur Geschichte vom lezten Viertel des achtzehnten und vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts 1778 bis 1806, Bd. 4, Lemgo / Hannover 1819, 487.

3 Christian Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin / Stettin 1781.

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eigentliche Ursache für die moralische Verdorbenheit der jüdischen Minderheit ausmachte und von

deren schrittweiser Aufhebung er sich eine Integration der bislang ausgegrenzten, jedoch prinzipiell

“verbesserungsfähigen“ Minderheit erhoffte.

<2>

Während über Preußen hinaus eine Debatte über seine Thesen einsetzte, begann Kaiser Joseph II.

seine von Widersprüchen gewiss nicht freie, von zahlreichen aufgeklärten Juden jedoch

enthusiastisch gefeierte Toleranzgesetzgebung ins Werk zu setzen. Doch wenn vor dem Hintergrund

dieser Wandlungsprozesse, die der späteren staatsbürgerlichen Emanzipation den Weg bereiteten,

das Jahr 1781 in den gängigen Handbuchdarstellungen als Zäsur im Rahmen der deutsch-jüdischen

Geschichte der Neuzeit erscheint,4 muss darauf hingewiesen werden, dass all diese Entwicklungen

am König von Preußen nahezu spurlos vorübergingen, obwohl der “roi philosophe“ zweifellos zu den

Adressaten von Dohms Schrift zu rechnen ist.

<3>

Denn Friedrich hegte gegenüber den Juden zeitlebens eine tiefe Aversion, die häufig aktenkundig

geworden ist und darüber hinaus auch in programmatischen Schriften wie den Politischen

Testamenten von 1752 und 1768 ihren Niederschlag fand.5 Danach sollten sich Juden im preußischen

Staat lediglich in dem Maße entfalten können, in dem sie sich (vornehmlich durch ihren

Osteuropahandel mit preußischen Manufakturwaren) in der Lage zeigten, den ambitionierten Zielen

des friderizianischen “Fabrikensystems“6 zu dienen. Dieser Befund müsste angesichts der

Bemühungen Friedrichs um eine Bewahrung der überkommenen, ständisch geprägten Sozialordnung

und den damit einhergehenden utilitaristisch geprägten Rollenzuweisungen noch keine Besonderheit

darstellen, besaß bei näherem Hinsehen aber doch einzigartige Qualität. So entwickelte der König

nicht nur Pläne zu großangelegten Zwangsumsiedlungen von Juden an die polnische Grenze,

sondern sprach einem erheblichen Teil der eingesessenen Judenschaft überhaupt die

Niederlassungsberechtigung ab. Arme oder auch nur gering vermögende Juden galten dem

Monarchen als “gantz unnöthig“ und sollten mitsamt ihren Familien “nach aller Möglichkeit […]

weggeschaffet“7 werden.

<4>

Über die Ursprünge dieser den Postulaten der Aufklärung widersprechenden Gesinnung sind viele

Vermutungen angestellt worden. Neben Prägungen durch den Vater wurde dabei insbesondere dem

4 Vgl. beispielsweise die Periodisierung der Reihe Enzyklopädie deutscher Geschichte: J. Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001; Shulamit Volkov: Die Juden in Deutschland 1780–1918, 2. Aufl., München 2000.

5 Siehe etwa Richard Dietrich (Hg.): Die politischen Testamente der Hohenzollern, Köln / Wien 1986, 301, 315.

6 Zum Fabrikensystem Karl Heinrich Kaufhold: Preußische Staatswirtschaft – Konzept und Realität – 1640–1806, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/2, 33–70, hier: 55–56.

7 So 1753 in einem landesherrlichen Reskript an die Kammern in Königsberg, Küstrin und Stettin. Zitiert nach Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium […], Bd. 1, Sp. 563–564.

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Einfluss Voltaires eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Dem französischen Dichter erschien aus

deistischer Perspektive nicht nur das Christentum als unvereinbar mit den Werten der Aufklärung.

Auch das Judentum figurierte bei ihm “als Religion des Aberglaubens mit grausamen, Gott

zugeschriebenen Geboten, mit einer manipulativen Priesterherrschaft und barbarischen

Verhaltensmaßregeln, die mit Humanismus und Moral nicht in Einklang zu bringen seien“.8 Doch dürfte

die Genese von Friedrichs Aversionen gegenüber den Juden kaum überzeugend zu erklären sein.

Relevanter erscheint ohnehin die Frage nach den Auswirkungen auf die davon Betroffenen. Denn

wenn ein Landesherr wie Friedrich der Große, der die preußische Monarchie beinahe ein halbes

Jahrhundert hindurch autokratisch regierte, den Juden dermaßen ablehnend gegenüberstand, konnte

dies kaum ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Es gilt also, die Perspektive strukturgeschichtlich

von “Friedrich und die Juden“ hin zu “Der preußische Staat und die Juden“ zu erweitern – um den Titel

Selma Sterns Monumentalwerk zu zitieren, das den Forschungsstand bis heute maßgeblich prägt.9

Doch bevor vom preußischen Staat die Rede ist, soll der andere Teil jenes historischen

Beziehungsgeflechts charakterisiert werden: die Juden, die in diesem Staat lebten.

Juden in Preußen – eine Minderheit mit vielen Gesichtern

<5>

In der Mitte der 1740er Jahre, nach der Eroberung Schlesiens, lebten groben Schätzungen zufolge

rund 14.000 Juden unter dem Szepter Friedrichs des Großen. Das waren etwa 0,5 % der rund vier

Millionen zählenden preußischen Untertanen und 20 % aller Juden im Alten Reich. Beim Tode

Friedrichs im Jahre 1786 waren es bereits 32.000, von denen viele erst durch die Annexion

Westpreußens und des Netzedistrikts im Zuge der ersten Teilung Polens (1772) zu “Preußen“

geworden waren.10 Was hatten jene 32.000 Menschen miteinander gemein, deren Siedlungsgebiete

sich vom Niederrhein bis nach Litauen und damit über eine Distanz von rund 1.200 Kilometern

erstreckten? Auf der einen Seite standen vielfältige Kulturkontakte, welche die polnische Judenheit mit

ihren Religionsgenossen im Westen verband. Man denke lediglich an die Migration polnischer

Schulmeister, von denen der spätere Philosoph Salomon Maimon (1753–1800) nur der bekannteste

ist. Auch auf zahlreiche jüdische Kaufleute aus Osteuropa übten die aufstrebende Metropole Berlin

sowie die Handels- und Messestädte Königsberg, Breslau und Frankfurt an der Oder eine starke

Anziehungskraft aus, die durch die restriktive friderizianische Handelspolitik allerdings oft geschwächt

wurde.

8 Shmuel Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim / Zürich / New York 2007, 19.

9 Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden, 8 Bde., Tübingen 1962–1975.

10 Zahlen kombiniert nach Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 1915, 385; Jacob Toury: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, in: Hans Liebeschütz / Arnold Paucker (Hg.): Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850, Tübingen 1977, 139–242, hier: 139; Reinhold Lewin: Die Judengesetzgebung Friedrich Wilhelms II., in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums NF 21 (1913), 74–98, 211–234, 363–372, 461–481, 567–590, hier: 475.

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<6>

Dennoch: Wenn unlängst unter starker Fokussierung auf die Verhältnisse in Berlin die These vertreten

wurde, es seien “die“ preußischen Juden trotz aller durch den König getroffenen Gegenmaßnahmen

aus jener Zeit “auf bemerkenswerte Weise gestärkt“11 hevorgegangen, so wäre zunächst danach zu

fragen, wer mit den preußischen Juden überhaupt gemeint ist. Denn zwischen den Juden der

einzelnen preußischen Landesteile, die sich wie in anderen Territorien in Landjudenschaften

organisiert hatten, bestanden erhebliche ökonomische und kulturelle Unterschiede, die während der

Regierungszeit Friedrichs des Großen eher an Brisanz gewannen, als dass sie abgebaut worden

wären. Nicht nur lagen zwischen der Wirtschaftstätigkeit westfälischer Viehhändler und Berliner

Manufakturunternehmer buchstäblich Welten. Auch kulturell wuchsen die Abstände zwischen der

Provinz und der Hauptstadt, wo sich nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), unterstützt durch

das Mäzenatentum der im Krieg zu großem Reichtum gelangten “Münzjuden“, ein Staunen

erregendes ”Haskala milieu”12 herausbildete. Berlin avancierte in den Folgejahren zum insbesondere

mit dem Namen Mendelssohns verbundenen Zentrum der jüdischen Aufklärung in Europa – während

zu gleicher Zeit aus dem Netzedistrikt rund 6.000 Juden auf Befehl Friedrichs aus ihrer angestammten

Heimat vertrieben wurden; beinahe doppelt soviel, wie Berlin jüdische Einwohner hatte.13

<7>

Innovation und Tradition, Reichtum und nackte Armut, gesellschaftlichen Aufstieg und Vertreibung –

dies alles findet, wer sich mit jüdischer Geschichte im Alten Preußen befasst. Besonders schwer zu

beantworten ist deshalb die Frage, wie sich die beinahe ein halbes Jahrhundert währende

Regentschaft Friedrichs auf diese so heterogene Minderheit auswirkte. Falls der Preußenkönig daran

ging, seine durch ökonomisches Kalkül nur teilweise überlagerte Aversion gegenüber den Juden in

praktische Politik umzusetzen, muss man unter Einbeziehung des wirtschaftshistorischen

Forschungsstandes schwerwiegende Folgen vermuten. Denn von einem “importierten jüdischen

Ersatzbürgertum“,14 das zahlreiche Publikationen noch immer prägt, kann auf Basis der wichtigen

Studien Rolf Straubels “weder für Berlin noch Magdeburg, weder für Frankfurt noch Halberstadt

gesprochen werden“.15 Allein in Frankfurt überstieg das Durchschnittsvermögen christlicher Kaufleute

um 1765 dasjenige ihrer jüdischen Konkurrenten um mehr als das Vierfache und belief sich auf

4.985 Rt. gegenüber 1.191 Rt.16 Noch dazu ist im Falle Frankfurts von einer auf den Fernhandel

11 Albert Bruer: Aufstieg und Untergang. Eine Geschichte der Juden in Deutschland (1750–1918), Köln / Weimar / Wien 2006, 73.

12 Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770–1830, Oxford 1994, 5.

13 Hans-Jürgen Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806), München 1995, 441.

14 Zum Begriff Stefi Jersch-Wenzel: Juden und “Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg, Berlin 1978, 21.

15 Rolf Straubel: Kaufleute und Manufakturunternehmer. Eine empirische Untersuchung über die sozialen Träger von Handel und Großgewerbe in den mittleren preußischen Provinzen (1763 bis 1815), Stuttgart 1995, 476.

16 Ebd., 321.

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orientierten Messestadt die Rede, deren Judenschaft in ihrer finanziellen Potenz deutlich vor

unzähligen anderen Gemeinden rangierte. Sofern der König seine vornehmlich wirtschaftspolitisch

definierten Vorstellungen des Judengeleits in die Praxis umsetzte, musste angesichts solcher

Rahmenbedingungen nahezu zwangsläufig eine wachsende Zahl von Familien in existentielle

Schwierigkeiten geraten.

Das Revidierte Generalreglement von 1750

<8>

Den ersten grundlegenden legislativen Schritt Friedrichs auf dem Feld der Judenpolitik bildete das

“Revidierte Generalreglement“ von 1750, das an die Stelle jener Judenordnung trat, die sein Vater

1730 erlassen hatte.17 In unzähligen Paragraphen, die das Regelwerk von 1730 allein quantitativ um

ein Mehrfaches übertrafen, formulierte der Monarch den Anspruch, zum Schutze der christlichen

Untertanenschaft die demographische und ökonomische Entwicklung der jüdischen Minderheit in feste

Bahnen zu lenken und einer stetigen Überwachung zu unterwerfen. Eine umfassende Würdigung

dieses Dokuments ist an dieser Stelle weder intendiert noch möglich. Allein jene Flut von Verboten

und Einschränkungen, welche die Handelstätigkeit und den Immobilienbesitz von Juden betrafen,

wären eine eigene Darstellung wert. Stattdessen sei lediglich auf einige grundlegende Neuerungen

auf dem Feld der Geleitvergabe verwiesen. Hierbei ist gewissermaßen vom normenpolitischen Kern

die Rede, von der Vergabe bzw. Vererbung von Schutzbriefen, die ihren Empfängern die

Niederlassung im Lande sicherten und somit direkt mit der demographischen Entwicklung der

jüdischen Minderheit in Verbindung standen – jeder preußische Jude geriet im Laufe seines Lebens

mit diesen Paragraphen in der einen oder anderen Weise in Berührung.

<9>

Eingeführt wurde nun 1750 eine Differenzierung zwischen ordentlichen und außerordentlichen

Schutzjuden. Letztere besaßen keinerlei Recht zur Etablierung ihres Nachwuchses. Und selbst den

ordentlichen Schutzjuden wurde – eine bedeutende Verschärfung gegenüber den bisherigen

Regelungen – lediglich die Vererbung ihres Schutzrechts an ein Kind gestattet, sofern dieses

nachweislich über ein Vermögen von 1.000 Rt. verfügte. Das Etablissement zweiter oder gar dritter

Kinder sollte hingegen “gar nicht mehr gestattet werden“ (§ V, Abs. 2). Bestätigt wurde damit ein

Rechtszustand, den Friedrich bereits durch landesherrliche Reskripte vom Oktober 1747 und Mai

1749 geschaffen hatte.18 Auch bei oberflächlicher Lektüre dieser Paragraphen müsste die Zielsetzung

des Reglements eigentlich jedem Leser deutlich werden. Und für den Fall, dass hier tatsächlich

Missverständnisse entstehen sollten, spricht die Vorrede des Reglements selbst offen aus, was mit

alldem bezweckt wurde: Die “überhand nehmende Vermehrung“ der Juden sollte gestoppt werden.

17 Abgedruckt bei Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preußen, 2 Bde., Berlin 1912, II, 22–60. Hiernach die folgenden Zitate aus dem Reglement.

18 Ebd., I, 17.

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<10>

Unter Berücksichtigung der angedeuteten Vermögensverhältnisse musste das Reglement selbst für

die ältesten Söhne aus jenen Familien eine immense Brisanz entfalten, die ihren Nachwuchs nicht mit

1.000 Rt. ausstatten konnten – wobei von weiten Teilen der gesamten Judenschaft die Rede ist. Den

Betroffenen war all dies vollkommen klar. Mehrere Jahre hindurch kämpften ihre Ältesten verzweifelt

gegen die Publikation des verhängnisvollen Reglements, doch verhindern konnten sie es schließlich

nicht.19 Dem Historiker stellt sich somit zwangsläufig eine klassische Frage der

Absolutismusforschung, nämlich jene nach der Normdurchsetzung. Doch bevor zu erkunden ist, wie

tief die 1750 formulierten Restriktionen in die Lebensläufe der Betroffenen einschnitten, müssen einige

wissenschaftsgeschichtliche Erkundungen erfolgen. Denn trotz ihrer restriktiven Stoßrichtung findet

die Judenpolitik des preußischen Staats im Ancien Régime in der Forschung bislang – einzelner

kritischer Stimmen zum Trotz20 – mehrheitlich eine positive Würdigung

Der preußische Staat – ein lieu de mémoire deutsch-jüdischer Geschichtsforschung?

<11>

Ursächlich für diese im Lichte der bisherigen Ausführungen überaus bemerkenswert erscheinende

Interpretation ist die Art und Weise, in der die Leistungen des abstrakt gedachten preußischen Staates

gewichtet werden. So hätten es die Beamten bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert aus

naturrechtlicher Opposition heraus unternommen, “die Befehle des Königs aufzuschieben oder seine

Verbote abzuschwächen“.21 Derartige Vorstöße seien “eher typisch als singulär“22 gewesen und hätten

dazu beigetragen, dass sich innerhalb der Administration geradezu eine “Tradition der

Solidarisierung“23 habe herausbilden können. Entgegen der Intention Friedrichs des Großen sei es

deshalb zu “einer gewissen Minderung des Drucks“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

gekommen.24

19 Ludwig Geiger: Geschichte der Juden in Berlin. Festschrift zur zweiten Säkularfeier, 2 Bde., Berlin 1871, I, 55.

20 Etwa Stephan Laux: Zwischen Anonymität und amtlicher Erfassung. Herrschaftliche Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den rheinischen Territorialstaaten vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn der “Emanzipationszeit“, in: Monika Grübel / Georg Mölich (Hg.): Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2005, 79–110, hier: 97.

21 Julius H. Schoeps: “Ein jeder soll vor alle und alle vor ein stehn“. Die Judenpolitik in Preußen in der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I., in: Friedrich Beck / Ders. (Hg.): Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm I. in seiner Zeit, Potsdam 2003, 141–160, hier: 143.

22 Peter Baumgart: Die jüdische Minorität im friderizianischen Preußen, in: Oswald Hauser (Hg.): Vorträge und Studien zur preußisch-deutschen Geschichte, Köln 1983, 1–20, hier: 15.

23 Gerda Heinrich: “…man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten.“ Die Debatte um “bürgerliche Verbesserung der Juden“ 1781–1786, in: Ursula Goldenbaum (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin 2004, 813–887, hier: 827.

24 Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Ders. / Michael Graetz: Tradition und Aufklärung, München 1996, 85–247, hier: 147.

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Darüber hinaus habe sich auch auf dem Feld der Judenpolitik die allgemeine Tendenz einer

Verrechtlichung der Herrschaftsstrukturen ausgewirkt – “einheitliche Kodifizierung und

Rationalisierung“ hätten die Reichweite monarchischer Machtsprüche begrenzt: “Die Reduktion der

Judenverfassung auf zentrale, damit vergleichbare Maßstäbe objektivierte die rechtlichen Konditionen,

was für die Betroffenen zu kontrollierbaren, das heißt einforderbaren Ansprüchen bzw. anfechtbaren

Entscheidungen führte.“25 Insofern “öffnete die spätabsolutistische Minderheitenpolitik ein wichtiges Tor

zur bürgerlichen Moderne: Sie löste auch die Juden aus dem Zustand persönlicher Duldung heraus

und forcierte ihre konsequente Einbeziehung in den Untertanenverband. Sie markierte einen weiteren

Schritt zur Verrechtlichung ihrer Existenz und versuchte erstmals, über Politik und Gesetzgebung eine

soziale Einbindung der Juden in den Staat zu erwirken.“26

<13>

Jener Staat, von dem hier die Rede ist, stellt allerdings nicht nur ein Thema dar wie andere auch. Er

bildete während weiter Teile des 19. und 20. Jahrhunderts einen “lieu de mémoire der deutschen

Geschichtsschreibung“,27 dessen Wirkmächtigkeit kaum zu überschätzen sein dürfte. Gerade mit Blick

auf die Literatur zur Geschichte der Juden sollte man sich deshalb in Erinnerung rufen, was Klaus

Neitmann vor geraumer Zeit für die allgemeine Preußenforschung hervorhob. So betonte er, dass “die

heutige Forschung mehr, als sie offen einzugestehen bereit ist, auf den großen Quellenarbeiten des

19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere auf denen der eigentlich klassischen Epoche der

preußischen Historiographie in der Zeit des Kaiserreiches“28 beruhe. Es ist zwar richtig, dass sich die

“offizielle“ Preußenhistoriographie zur Zeit des Kaiserreiches für die israelitische Minderheit kaum

interessiert hat – umso intensiver beeinflussten ihre Wertmaßstäbe jedoch jene jüdisch-akademischen

Außenseiter im Umkreis der “Wissenschaft des Judentums“, denen die Erforschung jüdischer

Geschichte weitestgehend vorbehalten blieb. Wie unlängst treffend bemerkt wurde, waren deren

Werke zumeist “durch eine emanzipatorische Absicht gekennzeichnet, da sie unterschwellig auf den

Nachweis der Integrations- und Modernisierungsfähigkeit der deutschen Juden zielten“.29

<14>

Dass auf diese Weise Traditionslinien entstanden, die vielfach bis heute fortwirken ohne wirklich

25 Heinrich: Bürgerliche Verbesserung (wie Anm. 23), 827.

26 Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 77.

27 Vgl. Nicolas Berg: Preußen – ein lieu de mémoire der deutschen Geschichtsschreibung zwischen Weimar und Bonn, in: Frank Hadler / Mathias Mesenhöller (Hg.): Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa. Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, Leipzig 2007, 171–195.

28 Vorwort zu Rolf Straubel: Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86–1806), Potsdam 1998, 13.

29 Britta L. Behm: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin. Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Münster / New York / München / Berlin 2002, 23.

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problematisiert zu werden, kann hier lediglich mit Blick auf Selma Sterns Studie “Der preußische Staat

und die Juden“ angedeutet werden, die nach dem Ersten Weltkrieg im Umfeld der 1919 in Berlin

gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums entstand. Eine angemessene

wissenschafts- und rezeptionsgeschichtliche Würdigung dieser ersten Gesamtstudie brandenburgisch-

preußischer Judenpolitik zwischen 1671 und 1786, also vom Großen Kurfürsten bis hin zu Friedrich

dem Großen, bleibt eine Aufgabe der Zukunft und ist an dieser Stelle nicht zu leisten. Allerdings ist zu

betonen, dass sich Sterns Anlehnung an die “Acta Borussica“ nicht lediglich auf editionstechnische

Fragen beschränkte. Denn wenn der Autorin angesichts der zunehmenden Verunsicherung durch den

erstarkenden Antisemitismus der preußische Staat als “Folie der Erinnerung und emotionaler

Fluchtpunkt“30 diente, so waren es gerade die Staatsdiener, in denen sich ihr idealisiertes Preußenbild

personifizierte. Als “Anhänger des modernen Naturrechts und des aufgeklärten Wohlfahrtsstaates“,31

so Stern 1938, hätten die Beamten maßgeblich zu einer zunehmenden Verrechtlichung jüdischer

Existenz in der Hohenzollernmonarchie beigetragen.

<15>

An Sterns leitmotivischem Dreiklang “Rationalisierung – Verrechtlichung – Bürokratisierung“ wären

aus Sicht einer modernen Frühneuzeitforschung zahlreiche Kritikpunkte anzubringen. Hier stellt sich

lediglich die Frage, inwiefern ein solches Interpretationsmuster dazu geeignet ist, die Auswirkungen

preußischer Judenpolitik adäquat zu beschreiben. War für die Juden des ausgehenden

18. Jahrhunderts eine zunehmende Rationalisierung der sie betreffenden Rechtsnormen erkennbar?

Und hatten solche Rationalisierungsmaßnahmen den positiven Nebeneffekt, trotz einzelner

Zwangsmaßnahmen zu einer Integration in den Untertanenverband beizutragen, welche ihrerseits der

staatsbürgerlichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts Vorschub leistete? Eine Möglichkeit, sich

diesem Problemen anzunähern, besteht darin, erneut nach dem Schicksal jener nachgeborenen

Kinder zu fragen, denen durch das Generalreglement von 1750 der Weg zur Niederlassung verbaut

werden sollte – ein existenzielles Problem, das nahezu in jeder jüdischen Familie spürbar werden

musste. In den folgenden Kapiteln soll deshalb beispielhaft die Entwicklung der sie betreffenden

Rechtsnormen von 1750 bis in die Zeit des Emanzipationsediktes von 1812 verfolgt werden.

<16>

Die Untersuchung geht von der Erkenntnis aus, dass entgegen der oben zitierten Thesen von einer

“Kodifizierung“ des Judenrechts durch das Generalreglement von 1750 keine Rede sein kann. Bereits

1814 hob Reichsgraf Henckel von Donnersmarck in seiner judenrechtlichen Normenkompilation

rückblickend hervor, es falle schwer, “die eigentlichen Grundzüge der bürgerlichen Verfassung der

Preuß. Juden aufzustellen, weil sie nirgends unabänderlich und vollständig aufgeschrieben sind. Man

sucht in der That vergebens in den sie betreffenden gesetzlichen Bestimmungen Einheit,

30 Marina Sassenberg: Selma Stern (1890–1981). Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin, Tübingen 2004, 202.

31 Stern: Preußischer Staat (wie Anm. 9), II/1, 10.

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Zusammenhang, feste, folgerechte und folgereiche Grundsätze. Dagegen finden sich häufig genug

darin Widersprüche, Rücksichten ohne Zahl und man möchte sagen so viel Ausnahmen als Regeln.“32

Dies war keine Larmoyanz, sondern ein Faktum, um das auch die Rezensenten der in Halle

erscheinenden “Allgemeinen Litteratur-Zeitung“ wussten. Dort hob man den Fleiß des Verfassers

hervor, war doch das Thema nur “mit großem Fleisse aus zahlreichen Verordnungen und einer Menge

Acten“33 zu erarbeiten gewesen. Wer sich 200 Jahre später für das Schicksal der nachgeborenen

Kinder jüdischer Familien interessiert, wird deshalb um die Lektüre zahlreicher Verordnungen und

einer Menge Akten ebenfalls nicht herumkommen. Wie viel dabei vom Verrechtlichungsparadigma in

den Niederungen des Alltags übrig bleibt, soll nun in einem Längsschnitt über einen Zeitraum von rund

60 Jahren verfolgt werden.

Das Verbot der Niederlassung zweiter Kinder (1747–1763)

<17>

Das 1747 erstmals ausgesprochene und 1750 bestätigte Niederlassungsverbot zweitgeborener Kinder

wird in zahlreichen Studien nicht zur Kenntnis genommen.34 Doch auch wenn sich der Monarch in

§ V, Abs. 4 des Generalreglements das Recht vorbehielt, zweiten und selbst dritten Kindern “reicher

Juden“ ein “besonderes Privilegium“ zu verleihen,35 um deren Vermögen nicht ins Ausland abwandern

zu lassen, änderte dies an der Situation von 99 % der nachgeborenen Kinder nicht das geringste.

Dass sich diese nach 1747 im Zustand einer “perspektivischen Chancenlosigkeit“36 wiederfanden,

stellt keine vage Vermutung dar, sondern lässt sich mühelos für alle Teile der Monarchie (lediglich mit

Ausnahme Schlesiens) statistisch nachweisen. Pars pro toto sei hier auf die Grafschaft Mark

verwiesen, wo die Ansetzung zweiter Kinder mit dem Etablissement von Seligmann Marcus in Hamm

im Juni 1747 zum Erliegen kam.37

<18>

Wer nicht als Gemeindebedienter unterkam oder das Glück hatte, eine Braut zu heiraten, die in

Ermangelung von Brüdern das Schutzrecht ihres Vaters in die Ehe einbrachte, sah sich spätestens

nach dem Tod der Eltern vor die einfache Wahl gestellt, im Haushalt eines anderen Schutzjuden zu

dienen oder aber auszuwandern. Die Auswirkungen dieser obrigkeitlichen Eingriffe auf das

Sozialgefüge jüdischer Gemeinden sind noch weitgehend unerforscht. Dass sich der

Auswanderungsdruck für nachgeborene Söhne in den Jahren nach 1747 jedoch erheblich verstärkte,

32 Leo Felix Victor Henckel von Donnersmarck: Darstellung der bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen Staate unmittelbar vor dem Edikt vom 11ten März 1812, Leipzig 1814, VII–VIII.

33 Allgemeine Litteratur-Zeitung, Nr. 287 (Dezember 1814), Sp. 751–752.

34 Zuletzt beispielsweise Brigitte Meier: Jüdische Seidenunternehmer und die soziale Ordnung zur Zeit Friedrichs II. Moses Mendelssohn und Isaak Bernhard. Interaktion und Kommunikation als Basis einer erfolgreichen Unternehmensentwicklung, Berlin 2007, 89.

35 Freund: Emanzipation (wie Anm. 17), II, 27.

36 So die treffende Formulierung bei Laux: Anonymität (wie Anm. 20), 101.

37 Schenk: Friderizianische Judenpolitik in Westfalen (wie Anm. 1).

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findet einen eindrucksvollen Beleg in der Tatsache, dass die Deputierten der Berliner Gemeinde sowie

Vertreter mehrerer preußischer Landjudenschaften 1762 auf einer Generalversammlung in Spandau

beschlossen, sich an den König zu wenden, um das Recht zur Niederlassung zweiter Kinder zurück

zu erlangen – “es möchte auch kosten, was es wollte“.38 Es sollte die preußische Judenschaft

schließlich 70.000 Rt. und damit eine Summe kosten, die den Schutzgeldern in einem Zeitraum von

beinahe fünf Jahren entsprach, dass Friedrich am 1. November 1763 das 16 Jahre zuvor verhängte

Niederlassungsverbot für zweite Kinder wiederum aufhob.39

Modalitäten der Niederlassung zweiter Kinder (1763–1768)

<19>

Wenn sich der König vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise, welche die Monarchie in

jenen Jahren erschütterte, aus opportunistischen Beweggründen zu einer normativen Abmilderung der

Geleitpolitik bewegen ließ, ist damit jedoch noch nichts darüber ausgesagt, wie viele Juden hiervon

überhaupt zu profitieren vermochten. Auf welche Abwege ein mangelndes strukturgeschichtliches

Instrumentarium führt, wird beispielsweise bei einem Blick auf die jüdische Gemeinde im

ostfriesischen Norden deutlich, wo das Durchschnittsvermögen jüdischer Hausväter in jenen

Jahrzehnten auf 396 Rt. geschätzt wurde.40 Kann hier pauschal von Juden die Rede sein, “die den

Schutz an zwei ihrer Kinder weitergeben konnten“?41 Auch nach 1763 hatte der preußische König

relativ klare Vorstellungen davon, welche jüdischen Familien im Rahmen seiner Wirtschaftspolitik

brauchbar waren und welche nicht. Hausväter mit einem Vermögen von 396 Rt. gehörten gewiss nicht

dazu. Bereits im angeführten landesherrlichen Reskript vom 1. November 1763 war das

Generaldirektorium angewiesen worden, im Rahmen jedes einzelnen Konzessionsverfahrens zu

ermitteln, ob der Antragsteller “nicht nur gehörig bemittelt, sondern auch dem Publico nützlich sey“.42

<20>

Um diese Nützlichkeit nachzuweisen, hatte ein zweites Kind eine ganze Reihe von Anforderungen zu

erfüllen, von denen hier lediglich die wichtigsten genannt seien. Einerseits waren auf dem Rathaus

2.000 Rt. bar vorzuweisen und unter Rückgriff auf den diskriminierenden Judeneid als Eigentum zu

erklären, wie dies beispielsweise für Pincus Joseph aus Frankfurt an der Oder überliefert ist, der sich

diesem Procedere im November 1770 zu unterziehen hatte.43 Des Weiteren flossen vor

38 Zitiert nach Stern: Preußischer Staat (wie Anm. 9), III/1, 52.

39 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (im folgenden GStA PK), II. HA, Kurmark, Materien, Tit. CCXXXII, Generalia Nr. 9, Bd. 5, Bl. 1–2.

40 Vgl. Karl Heinrich Kaufhold / Uwe Wallbaum (Hg.): Historische Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland 1744–1806, Aurich 1998, 87–98.

41 Daniel Fraenkel: Norden/Norderney, in: Herbert Obenaus (Hg.): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, 2 Bde., Göttingen 2005–2006, II, 1122–1139, hier: 1125–1126.

42 GStA PK, II. HA, Kurmark, Materien, Tit. CCXXXII, Generalia Nr. 9, Bd. 5, Bl. 1–2.

43 Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (im folgenden BLHA), Rep. 2, Nr. S.4244, Bl. 5.

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Konzessionsvergabe Gebühren in Höhe von 100 Rt. an den Fiskus ab.44 Ferner hatte der Antragsteller

entweder aus dem Stand heraus eine Manufaktur zu gründen, oder sich zu jährlichen

Manufakturwarenexporten im Wert von etwa 1.000 bis 1.500 Rt. zu verpflichten.45 Nicht nur in

Ostfriesland waren diese Hürden für die große Mehrzahl der Familien vollkommen unüberwindbar.

Walter Halama konnte beispielsweise nachweisen, dass sich in der anfangs rund 100 Familien

zählenden Judenschaft Halberstadts zwischen 1763 und 1804 nicht mehr als sieben zweite Kinder zu

etablieren vermochten. Nur jede 14. Familie brachte also die dazu nötigen Mittel auf.46

Kassationen von Schutzbriefen und fiskalisch motivierte Vertreibungen

<21>

Doch selbst bei jenen Kindern, denen der Schutzerwerb gelang, kann kaum von einer sich auch nur

vage am Horizont abzeichnenden rechtlichen Integration in den Untertanenverband die Rede sein.

Wie alle anderen Schutzjuden auch waren sie Privilegienempfänger, und über die

Geschäftsbedingungen einer Privilegienvergabe konnten sich die Zeitgenossen in jeder beliebigen

Enzyklopädie informieren. Bei Johann Georg Krünitz liest man noch 1811: “Es hören aber die

Privilegia auf oder werden aufgehoben, wenn die Ursache der Verleihung aufhört“.47 Im Falle der

zweiten Kinder bildete neben den üblichen Bedingungen (geleitmäßiges Verhalten, Leistung der

ordentlichen Abgaben usw.) die verbindliche Zusage zur Förderung des Exports preußischer

Manufakturwaren die Ursache der Verleihung. Wirtschaftliche Probleme führten deshalb zwangsläufig

auch zu einer Gefährdung des Niederlassungsrechts.

<22>

Beispielsweise sei auf den Pferdehändler Moses Wulff hingewiesen, der 1765 in Königsberg in der

Neumark etabliert wurde, nach einigen Jahren jedoch nicht mehr in der Lage war, die vereinbarten

Exporte zu bewerkstelligen.48 Generalfiskal Friedrich Benjamin d’Anières (1736–1803), welcher der

Forschung seit Selma Stern als Exponent einer naturrechtlich opponierenden Beamtenfraktion gilt49

und von dem es heißt, er habe für die friderizianische Judenpolitik lediglich “wohlgesetzte Ironie“50

erübrigen können, plädierte hier wie in zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen dafür, Wulff “des Privilegii

für verlustig zu erklären und fortzuschaffen“.51 Daraufhin wurde ihm der Schutzbrief in der Tat wieder

44 Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium […], Bd. 3, Sp. 867.

45 GStA PK, II. HA, Kurmark, Materien, Tit. CCXXXII, Generalia Nr. 9, Bd. 5, Bl. 208; GStA PK, II. HA, Pommern, Materien, Judensachen, Nr. 9, Bl. 5; GStA PK, II. HA, Neumark, Materien, Judensachen, Generalia, Nr. 4, Bl. 13.

46 Walter Halama: Autonomie oder staatliche Kontrolle. Ansiedlung, Heirat und Hausbesitz von Juden im Fürstentum Halberstadt und in der Grafschaft Hohenstein (1650–1800), Bochum 2005, 220.

47 Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomisch-technologische Encyklopädie […], Bd. 117, Berlin 1811, 463.

48 GStA PK, II. HA, Neumark, Materien, Judensachen, Generalia, Nr. 4, Bl. 13.

49 Vgl. Schenk: Generalfiskal (wie Anm. 1).

50 Johannes Heil: Bedingte Toleranz: Der preußische Staat und die Juden, in: Michael Drechsler (Hg.): Preußens Toleranz. Zur Integration von Minderheiten in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2002, 75–88, hier: 87.

51 GStA PK, I. HA, Rep. 104, IV A, Nr. 29.

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abgenommen, seinem Sohn jedoch die Erlaubnis gewährt, sich als erstes Kind anzusetzen. Da dieser

Hinweis allerdings einem Dokument von 1804 entstammt, bleibt offen, wie lange auch der Sohn in

Gefahr schwebte, vertrieben zu werden.52 Und Wulff war beileibe kein Einzelfall. So lässt sich

zwischen 1765 und 1768 in den Provinzen Kur- und Neumark, Pommern und (Ost-)Preußen die

Niederlassung von 54 zweiten Kindern nachweisen. In mindestens fünf Fällen (also beinahe zehn

Prozent) wurde der Schutzbrief aufgrund von Verarmung später wieder entzogen.53

<23>

Und bei weitem nicht immer ließen es die Behörden bei drakonischen Ausweisungsanordnungen

bewenden, wie sich unter anderem am Beispiel Manasse Jacobs belegen lässt, der 1766 in der

brandenburgischen Kleinstadt Bernau auf den Schutzbrief seines seit Jahrzehnten in der Stadt

ansässigen Vaters Jacob Salomon angesetzt worden war und im Gegenzug jährlich für 1.000 Rt.

Manufakturwaren ausführen sollte.54 Wirtschaftlich ging es jedoch abwärts mit ihm, sodass er 1771 im

Rathaus beteuern musste, er “habe nichts, und wenn ihm seiner Frauen Familie [aus Berlin] nicht den

Unterhalt gäbe, hätte er gar nichts zu leben, und da er nichts hätte, wüßte er ganz und gar hierin nicht

sich zu helfen“.55 Nach jahrelangem Hin und Her riss den Behörden 1778 der Geduldsfaden, und

Jacob wurde an die Grenze zu Mecklenburg transportiert mit dem deutlichen Hinweis, sich nicht mehr

in Preußen blicken zu lassen. Sein Schutzbrief hat im Bernauer Stadtarchiv die Zeiten überdauert.

Wohin es seinen einstigen Inhaber verschlug, und ob er auf der Straße zugrunde ging, verschwimmt

im Nebel jenseits obrigkeitlicher Überlieferung.

52 BLHA, Rep. 3, Nr. 18560, Bl. 87–89.

53 Ein detaillierter Nachweis erfolgt in der Dissertation des Verfassers (wie Anm. 1).

54 GStA PK, II. HA, Kurmark, Materien, Tit. CCXXXII, Generalia Nr. 9, Bd. 5, Bl. 208.

55 Dies und das Folgende nach StA Bernau, Pertinenzbestand Juden Nr. 49, Nr. 9.

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Abb. 1a und 1b: Schutzbrief für Manasse Jacob, Berlin 1766 Mai 14 (Behändigte Ausfertigung, Stadt- archiv Bernau bei Berlin, Pertinenzbestand Juden Nr. 49, Nr. 11). Der Autor dankt dem Stadt- archiv

Bernau für die Publikationsgenehmigung. Für eine Transkription siehe Anhang.

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Der Zwangsbetrieb der Templiner Manufaktur (1769–1812)

<24>

Doch kehren wir zur weiteren Entwicklung der für das Etablissement zweiter Kinder gültigen

Rechtsnormen zurück, um zu verdeutlichen, wie abwegig die Rede von einer Rationalisierung der

Judenpolitik erscheint. Von welch kasuistischen Erwägungen die Realität stattdessen geprägt war,

sollte sich nur zu bald zeigen. So hatte die Kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer 1765 in der

uckermärkischen Ackerbürgerstadt Templin unter Herbeiziehung thüringischer Kolonisten eine

Strumpfmanufaktur gegründet, die zunächst in staatlicher Direktion arbeitete, jedoch bald vor dem

Bankrott stand.56 Allerdings dachte Kammerpräsident Karl Ludwig von Siegroth und Schlawikau

keineswegs daran, seine Karriere zu gefährden und sann auf Abhilfe. Gegen Widerstände des

Fabrikendepartements gelang es ihm 1768, den König davon zu überzeugen, die sich in Templin seit

Monaten stapelnden Strümpfe, welche anerkanntermaßen zum Teil bereits mottenfräßig geworden

waren, zwangsweise und unter vollkommen überhöhten Preisen auf jene 23 zweite Kinder zu

verteilen, die sich zwischen 1765 und 1768 in Berlin und der Kurmark angesetzt hatten.

<25>

Zum Preis von nahezu 100 Rt. (was rund zwei Dritteln des durchschnittlichen Jahresgehalts eines

Berliner Manufakturarbeiters entsprach57) erwartete die Adressaten eine böse Überraschung. Als

beispielsweise Simon Hirsch aus Stendal sein Paket öffnete, fand er darin Strümpfe, die bereits “von

Motten zerfressen und wieder gestopft“58 worden waren. Diese Aussagen spiegelten nicht nur die in

Suppliken üblicherweise begegnenden übertriebenen Klagemuster, sondern deckten sich vollständig

mit den verwaltungsintern angestellten Untersuchungen. Auf Betreiben der Kammer wurde demnach

nicht nur die bislang geltende Wahlfreiheit der zweiten Kinder hinsichtlich der zu exportierenden

Manufakturwaren annulliert. Darüber hinaus wurde ihnen auch noch verdorbene Ware aufgedrungen,

die nirgends abzusetzen war. Mehr noch: Siegroth legte es darauf an, die Judenschaft förmlich zu

erpressen, um den unliebsamen Betrieb in deren Direktion übergehen zu lassen. So wurde den

Ältesten der Berliner Judenschaft bedeutet, dass mit der Zwangsabnahme der schadhaften Strümpfe

“so lange bis sich ein Entrepreneur der Fabrique gefunden haben wird, continuiret werden solle“. Der

billigend in Kauf genommene Ruin von rund zwei Dutzend jüdischen Familien wäre damit nur eine

Frage der Zeit gewesen.

<26>

Sofern, wie häufig zu lesen ist, die friderizianische Judenpolitik für die Betroffenen zu einer

zunehmenden Verrechtlichung ihrer Existenz führte, wäre nun der Zeitpunkt gekommen, solche

56 GStA PK, II. HA, Fabrikendepartement, Tit. CCXLI, Nr. 48, 4 Bde. Sofern nicht separat nachgewiesen, sind die folgenden Zitate dieser Akte entnommen. Eine genauere Analyse erfolgt in der Dissertation des Verfassers.

57 Vgl. Horst Krüger: Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin (Ost) 1958, 308.

58 GStA PK, II. HA, Fabrikendepartement, Tit. CCXLI, Nr. 48, Bd. 1, Bl. 31.

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Rechtsansprüche geltend zu machen. Ganz gleich ob sich nun die Berliner Ältesten oder die

betroffenen Hausväter an die Behörden wandten59 – sie alle wurden abgewiesen und blieben auf den

mottenzerfressenen Strümpfen sitzen. Einer von ihnen war übrigens Manasse Jacob aus Bernau, bei

dem der Verlust von 100 Rt. (die durch den städtischen Gerichtsdiener gewaltsam eingetrieben

wurden) maßgeblich dazu beitrug, dass sein aktenmäßig rekonstruierbarer Lebenslauf irgendwo auf

der Straße nach Mecklenburg endete.60

<27>

Unter dem Eindruck derartiger Bedrückungen, deren Ende nicht absehbar war, beugten sich die

Berliner Ältesten schließlich den Forderungen der Kammer und erklärten sich in einem am 12. Januar

1769 durch den König unterzeichneten Vertrag bereit, die Manufaktur zu übernehmen, die

angeworbenen Kolonisten zu versorgen und den fortdauernden Betrieb mit 20 Stühlen zu

gewährleisten. Im Gegenzug sicherte der König zu, dass die sich künftig in der gesamten Monarchie

mit Ausnahme Schlesiens etablierenden zweiten Kinder finanziell zum Betrieb der Manufaktur

beitragen und dafür “von aller weitern Abnahme der Einländischen Fabric-Waaren und Debitirung

eines Nahmentlichen Quanti derselben außerhalb Landes frey gelassen werden“ sollten (§ 8, Abs. b).

<28>

Die Judenschaft erfüllte ihren Teil der Verpflichtung. So bestellten die Berliner Ältesten einen

Subunternehmer aus ihren Reihen und bildeten einen Betriebsfonds, zu dem fortan sämtliche zweite

Kinder anlässlich ihres Etablissements beizutragen hatten. Dies geschah entweder auf dem Wege

einer Individualzahlung in Höhe von 200 Rt. oder aber in Form von jährlichen Pauschalbeiträgen

einzelner Landjudenschaften.61 Wider jede ökonomische Vernunft bestanden die Behörden darauf,

den defizitären Betrieb bis in die Zeit des Emanzipationsedikts von 1812 aufrecht zu erhalten, was die

zweiten Kinder zwischen Kleve und Königsberg in mehr als 40 Jahren rund 50.000 Rt. gekostet haben

dürfte. Für die Beibehaltung der Verbindlichkeiten war ausgerechnet jene Kurmärkische Kammer

maßgeblich verantwortlich, von der man nach Lektüre Sterns glauben müsste, sie habe “die

schlechten Vermögensverhältnisse der Juden“ bedauert und sei gegenüber König und

Zentralbehörden für “größere Handelsfreiheit und Minderung der unerschwinglichen Abgaben“62 der

Juden eingetreten. Dies ist nur ein Beispiel für Sterns Tendenz, einzelne Schriftstücke aus ihrem

Zusammenhang zu reißen und soweit zu pauschalisieren, bis die aktenmäßig belegbare Realität

geradezu in ihr Gegenteil verkehrt wird. Über Jahrzehnte hinweg drang die Kammer bei

unterschiedlichsten Anlässen entschieden darauf, die Juden hätten ihre Auflagen “buchstäblich“ zu

erfüllen, sofern sie sich “der ferneren Duldung im Lande auf irgendeine Weise zu erfreuen haben“

59 Ebd., Bl. 28, 45, 82–85; BLHA, Rep. 2, Nr. S.7582.

60 StA Bernau, Pertinenzbestand Juden Nr. 49, Nr. 9; GStA PK, II. HA, Fabrikendepartement, Tit. CCXLI, Nr. 48, Bd. 1, Bl. 102.

61 Vgl. Schenk: Friderizianische Judenpolitik in Westfalen (wie Anm. 1).

62 Stern: Preußischer Staat (wie Anm. 9), III/1, 21–22.

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sollten.63

Der Bruch des Templiner Vertrages durch die Administration (1769)

<29>

Während sich die Juden um die Erfüllung der ihnen gemachten Auflagen bemühten, wurde der zitierte

§ 8 durch die Obrigkeit gebrochen, kaum dass die Tinte der königlichen Unterschrift getrocknet war.

Denn nur zwei Monate später führte der Monarch den “Porcellaineexportationszwang“ ein, der die

Erteilung von Konzessionen zur Niederlassung und zum Hausbesitz an die Ausfuhr von Porzellan der

Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin (KPM) im Wert von meist 300 Rt. band. In krassem

Widerspruch zum Versprechen des Königs dehnte das Generaldirektorium diesen Befehl umgehend

auch auf das Etablissement der zweiten Kinder aus. So wurde beispielsweise Heymann Joseph aus

Goch im Herzogtum Kleve, der sich 1770 auf den Schutzbrief seines Vaters Joseph Moses ansetzte,

zu einem (gemeinhin mit Verlusten von 50 % und mehr einhergehenden) Porzellanexport im Wert von

300 Rt. gezwungen.64 Wiederum ist die Darstellung an einem Punkt angelangt, an dem es den

Vertretern der Judenschaft darum zu tun sein musste, verliehene (und teuer erkaufte) Rechtstitel in

Erinnerung zu rufen.

<30>

Unter Hinweis auf den unzweideutigen Wortlaut des Templiner Vertrages verfassten die Berliner

Ältesten denn auch eine Supplik an die Kurmärkische Kammer, die daraufhin vom Generaldirektorium

instruiert wurde, Härte an den Tag zu legen. Denn man habe, so schrieben die Minister, “sehr misfällig

ersehen, welchergestallt die Ober- und übrige Aeltesten der hiesigen Judenschafft Schwierigkeiten

machen wollen“. Wenig später traten die Ältesten daraufhin erneut mit einer Supplik hervor und

beschworen die Minister, es würde auf diese Weise “die Gültigkeit aller Verabredungen aufhören“. Ein

weiteres Mal wies das Generaldirektorium, in dem sich insbesondere Friedrich Wilhelm von Derschau

(1723–1779) als Chef des Kurmärkischen Departements hervortat, die Kammer an, den Ältesten

“diese abermalige unnütze Vorstellung ernstlich zu verweisen“. Alles, was die Vertreter der

Judenschaft nach monatelangem zähem Ringen zu erreichen vermochten, war das Folgende: Für

zweite Kinder wurden die Exporttarife von 300 Rt. auf 50, 75 und 100 Rt. gesenkt, wobei sich die

Summe nach der Größe der zum Etablissement gewählten Stadt richtete. Mit einem “schlechten

Gewissen“ der Minister hatte dieser Schritt, von dem der König übrigens nichts erfuhr, jedoch nicht

das Geringste zu tun. Die Administration befürchtete lediglich, dass anderenfalls die Niederlassung

zweiter Kinder weitgehend zum Erliegen kommen und folglich auch der von den Ältesten verwaltete

Manufakturfonds versiegen würde, was wiederum die Subsistenz der Templiner Kolonisten gefährdet

hätte.

63 GStA PK, II. HA, Kurmark, Materien, Tit. CCXXXII, Generalia, Nr. 9, Bd. 5, Bl. 207.

64 GStA PK, II. HA, Generaldepartement, Tit. LVII, Nr. 10, Bd. 2, Bl. 19. Nach Bd. 1 dieser Akte auch die folgenden Zitate.

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Die nachträgliche Änderung der Niederlassungsbedingungen und die anschließenden fiskalischen Zwangsmaßnahmen (1779–1786)

<31>

Neun Jahre später, im Frühjahr 1779, wurden auch die in den vorangegangenen Jahren etablierten

zweiten Kinder von der gewaltigen, gleichwohl kaum erforschten fiskalischen Schockwelle erfasst, die

über rund zehn Prozent der gesamten preußischen Judenschaft hinwegging. Das Generaldirektorium

hatte nämlich, aus ähnlichen Erwägungen wie sie hier geschildert wurden, auch bei der Vergabe

anderer Konzessionen zu Niederlassung und Hausbesitz die Exporttarife auf zumeist 50 bis 150 Rt.

abgesenkt, ohne dass der König davon informiert worden wäre. Mit einer Parteinahme zugunsten der

Juden hatte dies wiederum nichts zu tun, sondern illustriert eher die wachsende Distanz zwischen

Generaldirektorium und monarchischem Kabinett.65 Als Friedrich im Zuge des Bayerischen

Erbfolgekrieges, der die KPM in eine kurzfristige Absatzkrise stürzte, eher zufällig von der jahrelangen

Missachtung seiner Befehle erfuhr, war die Folge ein Erdbeben. Nicht nur bei der künftigen

Konzessionsvergabe waren die ursprünglichen Exporttarife nunmehr starr einzuhalten. Auch bei rund

700 Konzessionen, die zwischen 1769 und 1779 zwischen Emden und Memel an Juden verliehen

worden waren, wurde nun (binnen vier Wochen!) ein Porzellanexport in Höhe von zumeist 200 bis

250 Rt. nachträglich von den Empfängern eingefordert und unter Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen

einzutreiben versucht. Insgesamt ging es dabei um eine Summe von mehr als 200.000 Rt., die größte

Einzelforderung, die im Alten Preußen jemals von den Juden erhoben wurde.

<32>

Die Folgen dieser Maßnahmen, die über mehrere Jahre hinweg eskalierten, die Zwangsversteigerung

von Häusern umfassten und sich mitunter bis zur Vertreibung ganzer Familien steigerten,66 können an

dieser Stelle nicht annähernd angemessen dargestellt werden. Festzuhalten bleibt lediglich, dass in

jenen Jahren auch zahlreiche zweite Kinder erneut für eine Konzession zur Kasse gebeten wurden,

die sie bereits mit Brief und Siegel erhalten hatten. Um lediglich ein Beispiel für viele zu nennen:

Nachdem Elias Levi aus Frankfurt an der Oder 1771 anlässlich seines Etablissements für 75 Rt.

Porzellan exportiert hatte, wurde er 1779 gezwungen, noch einmal für 225 Rt. Waren der KPM

auszuführen.67 Widerspruch war in allen dergleichen Fällen zwecklos. Generalfiskal d’Anières ließ

keinen Zweifel daran, dass er nicht wünschte, mit den “unnützen Einwendungen der Juden“ behelligt

zu werden.68

65 Wolfgang Neugebauer: Das preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fürstlichen Zentralsphäre in der Zeit des Absolutismus, in: Ders. (Hg.): Potsdam – Brandenburg – Preußen. Beiträge der landesgeschichtlichen Vereinigung zur Tausendjahrfeier der Stadt Potsdam, Berlin 1993, 69–115.

66 Siehe Schenk: Friderizianische Judenpolitik in Westfalen (wie Anm. 1).

67 GStA PK, II. HA, Generaldepartement, Tit. LVII, Nr. 10, Bd. 2, Bl. 20, 24.

68 So 1783 gegenüber den Magistraten: BLHA, Rep. 8, Drossen, Nr. 1062, Bl. 1.

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Eine “Reform des Judenwesens“? Zur Entwicklung zwischen 1786 und 1812

<33>

Als Friedrich Wilhelm II. (reg. 1786–1797) den Porzellanexportzwang 1788 gegen eine

Abschlagszahlung in Höhe von 40.000 Rt. aufhob, hatten auch die zweiten Kinder ihren Beitrag zu

leisten. Die dazu notwendigen Kredite sollten zahlreiche Gemeinden noch bis ins frühe

19. Jahrhundert belasten, sodass vielerorts von den Ältesten sogenannte “Porcellainegelder“ bei der

Niederlassung junger Juden erhoben wurden, die das Judenporzellan nicht in Vergessenheit gerieten

ließen.69 Doch machte sich wenigstens die vom neuen König gegen den Widerstand des

Generaldirektoriums initiierte “Reform des Judenwesens“ positiv bemerkbar?

<34>

1795 schränkte das Generaldirektorium zunächst die sozialen und ökonomischen

Entfaltungsmöglichkeiten zweiter Kinder erheblich ein, indem es ihnen den Erwerb von Häusern

schlichtweg untersagte. Lediglich die Bebauung wüster Stellen blieb davon unberührt.70 Und noch zu

Beginn des 19. Jahrhunderts gerieten die zweiten Kinder in den Fokus von Otto Karl Friedrich Freiherr

von Voß (1755–1823) als Chef des Kurmärkischen Provinzialdepartements sowie Friedrich Leopold

Freiherr von Schroetter (1743–1815) als Staatsminister für Ost- und Westpreußen. Beide Minister

machten sich in jenen Jahren zu Wortführern einer nicht unbedeutenden Fraktion hoher Beamter, die

das Wachstum der jüdischen Gemeinden möglichst einzuschränken gedachten und denen dabei

Friedrich der Große als leuchtendes Vorbild vor Augen stand. Schroetter beklagte im April 1804,

Königsberg erscheine mittlerweile als “neues Jerusalem“ und betonte, er würde es begrüßen, wenn

“fest und unabänderlich bestimmt würde, daß ohne die Königliche allerhöchste besondere Concession

nie ein zweytes Kind als ordinairer Schutz Jude eingesetzt werden könnte“.71

<35>

Einer der prominentesten Vertreter der preußischen Administration, der wenige Jahre später in die

Vorarbeiten zum Emanzipationsedikt eingebunden sein sollte, forderte also nichts anderes als die

Kassation mit Brief und Siegel verliehener und teuer bezahlter jüdischer Rechtstitel. Und in einer Zeit,

in der Friedrich Wilhelm III. gegenüber dem Generaldirektorium verlauten ließ, “die Idee einer

bürgerlichen Verbesserung der Juden im Allgemeinen längst aufgegeben“72 zu haben, fand dieser

Vorstoß offenbar ausreichend Resonanz, um in die Tat umgesetzt zu werden. Mindestens bis 1809

verfolgte Schroetter eine Politik, wonach “verschiedene 2te Kinder der wirklichen ordinären

69 Schenk: Friderizianische Judenpolitik in Westfalen (wie Anm. 1).

70 Reinhard Friedrich Terlinden: Grundsätze des Juden-Rechts nach den Gesetzen für die Preußischen Staaten, Halle 1804, 148–149.

71 Zitiert nach Freund: Emanzipation (wie Anm. 17), II, 175–177.

72 Zuletzt thematisiert wurde dies in propagandistischer Absicht durch den NS-Judenforscher Josef Sommerfeldt: Die Judenfrage als Verwaltungsproblem in Südpreussen, Diss. (Masch), Berlin 1942, 168.

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Schutzjuden sich mit der Ansetzung gedulden müssen, bis das Schutz-Stellen durch Aussterben,

Wegziehen oder Cassation des Schutzes […] vacant werden“.73

<36>

Damit ist der Überblick über die Reskripte und Verordnungen, die zwischen 1747 und 1812 die

Niederlassung zweiter Kinder verboten, erlaubten, einschränkten, beschwerten und an manchen

Orten wiederum verboten, abgeschlossen. Welche strukturgeschichtlichen Schlussfolgerungen sind

daraus zu ziehen?

Rationalisierung – Verrechtlichung – Bürokratisierung? Ein Fazit

<37>

Was bleibt nach einer Betrachtung der Entwicklung der Niederlassungsbedingungen zweiter Kinder

zwischen 1747 und 1812 vom Verrechtlichungsparadigma noch übrig? Von einer Kodifikation der sie

betreffenden Normen dürften die nachgeborenen Söhne jüdischer Familien kaum etwas bemerkt

haben. Stattdessen bildeten autokratische Eingriffe in ihre Entfaltungsmöglichkeiten eine stets

präsente Gefahr, denn auch bereits verliehene und zumeist teuer erkaufte Privilegien waren im

Zweifelsfall keineswegs gesichert, wie anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht werden konnte.

Ähnliche Entwicklungen ließen sich mühelos auch für andere Bereiche des Judenrechts

nachzeichnen. Die Aussage, dass auch der preußische Absolutismus “keine umfassende,

systematische Zusammenfassung der die Juden betreffenden Normen“74 zustande brachte, hätte

deshalb wohl die ungeteilte Zustimmung der Betroffenen gefunden. Sie wären denn auch schwerlich

in jene “Andacht zum Staate“75 verfallen, die Selma Stern mehr als 100 Jahre später (unter tragischen

äußeren Bedingungen, was hier nicht geleugnet werden soll) dazu brachte, einen Stapel von sich

nicht selten widersprechenden Edikten, Deklarationen von Edikten, Kabinettsordren und Reskripten zu

einem “wissenschaftlich rationalen System“ umzudeuten.76

<38>

Dass Juden im friderizianischen Preußen eine “Grundüberzeugung in die Rechtsstaatlichkeit“77 hätten

an den Tag legen können, muss deshalb für zahlreiche Regelungsbereiche des Judenrechts in Abrede

gestellt werden. Die im vorliegenden Beitrag angestellten Beobachtungen weisen in Umkehrung des

73 Freund: Emanzipation der Juden (wie Anm. 17), II, 201; Vgl. GStA PK, II. HA, Fabrikendepartement, Tit. CCXLI, Nr. 48, Bd. 4 (nicht paginiert).

74 So mit Blick auf die Territorien des Alten Reiches Karl Härter: Zur Stellung der Juden im frühneuzeitlichen Strafrecht. Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Justizpraxis, in: Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hg.): Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Berlin 2007, 347–379, hier: 352.

75 Gerhard Oestreich: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 179–197, hier: 195.

76 Stern: Preußischer Staat (wie Anm. 9), III/1, 73.

77 Meier: Seidenunternehmer (wie Anm. 34), 120.

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bekannten Diktums Gerhard Oestreichs78 gewissermaßen auf das Absolutistische im Absolutismus

und dürfen nicht länger durch eine perspektivische Ausrichtung auf den Emanzipationsprozess

unterbewertet oder gar ignoriert werden. Als Privilegienempfänger hatten auch in Preußen die Juden

damit zu rechnen, “daß es gegen Verfügungen des Landesherrn, die dieser in Ausübung seiner

höchsten Gewalt getroffen hatte, einen Rechtsschutz nicht gab“.79 Dies verdient umso mehr

Beachtung, als jene in der Selbstdarstellung Friedrichs des Großen eine so prominente Rolle

spielende Selbstbindung an das Recht de facto nur eine höchst brüchige war. Die bis heute in den

Studien zu jüdischer Geschichte im Alten Preußen weit verbreitete und auf Stern zurückgehende Rede

von einem abstrakt gedachten “Staatsrecht“ hat diese verfassungsgeschichtlichen Realitäten lange

Zeit verdeckt.

<39>

Dazu trug maßgeblich ein idealisiertes Bild der preußischen Beamtenschaft bei, die seit dem frühen

18. Jahrhundert die Judenpolitik entscheidend “humanisiert“80 haben soll. Von alldem ist jedoch im

administrativen Schriftgut selbst um 1780 oder 1790 kaum etwas zu finden. Mehr noch: Seit Reinhold

Lewin müsste bekannt sein, dass die nach 1786 von Friedrich Wilhelm II. in die Wege geleitete

“Reform des Judenwesens“ vor allem am entschiedenen Widerstand von einflussreichen Kreisen der

Beamtenschaft scheiterte. So führte Lewin 1913 aus: “Dem Generaldirektorium im ganzen war eine

tolerante Lösung der Judenfrage nicht genehm. Es betrachtete sich als den Hort der Überlieferungen

Friedrichs des Großen und setzte den Reformen des neuen Königs eine grundsätzliche Opposition

entgegen.“81 Auf die Frage, wie dieser Befund mit den chronologisch vorgelagerten, jedoch

vollkommen entgegengesetzten Thesen Sterns zu vereinbaren sein soll, bleiben bislang sämtliche

Studien, die sich weiterhin auf sie berufen, eine Antwort schuldig. An Sterns höchst selektiver

Quellenauswahl und einer Fülle unzulässiger Pauschalisierungen kann jedoch kein Zweifel bestehen.

Ungeachtet einzelner kritischer Stimmen war die Communis opinio innerhalb der Beamtenschaft noch

vor dem Hintergrund der 1781 durch Dohm initiierten Debatte um “Bürgerliche Verbesserung der

Juden“ eine ganz andere.

<40>

Die bei aller vornehmlich ökonomisch motivierten Detailkritik nicht in Zweifel gezogene Grundlage der

Judenpolitik fasste beispielsweise der Potsdamer Steuerrat Richter im Jahre 1777 in die Formel, dass

es dem Monarchen zustehe, Privilegien jederzeit “nach dem Nuzzen und Erfordernis des Staats

abzuändern, auch wol gar aufzuheben“.82 Vielfach wird sogar deutlich, dass das Vorbild Friedrichs des

78 Vgl. dessen Plädoyer für die Erforschung des “Nichtabsolutistischen im Absolutismus“ in Oestreich: Strukturprobleme (wie Anm. 75).

79 Wolfgang Rüfner: Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749–1842, Bonn 1962, 62.

80 Baumgart: Minorität (wie Anm. 22), 15.

81 Lewin: Judengesetzgebung (wie Anm. 10), 93.

82 BLHA, Rep. 19, Steuerrat Potsdam, Nr. 2303.

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Großen noch Jahre nach seinem Tod zumindest in den konservativ gesinnten Kreisen der

Administration stilbildend wirkte. So begründete der oben erwähnte Minister von Voß sein Festhalten

am ökonomisch längst als widersinnig erkannten Zwangsbetrieb der Templiner Manufaktur im Jahre

1802 damit, das Etablissement zweiter Kinder sei auch zukünftig finanziell möglichst zu erschweren –

“wie dies die unverkennbare Absicht des Königs Friedrich des II. Majestät wirklich gewesen ist“.83

<41>

Die (ohnehin nur von einer Minderheit getragene) Emanzipationsdebatte setzte nach 1780 eben nicht

deshalb ein, weil die Judenpolitik beim friderizianischen Staat in guten Händen war, sondern weil eine

jedes Maß verlierende Abgabenpolitik immer mehr jüdische Familien einer Verelendung aussetzte, die

– über kurz oder lang – auf das engste mit einer Minderung des geleitrechtlichen Status verknüpft war.

Dass einer schmalen Schicht jüdischer Großkaufleute und Manufakturunternehmer in jenen Jahren

ein exzeptioneller Aufstieg gelang, soll damit in keiner Weise bestritten werden. Doch der generelle

Trend wies in eine ganz andere Richtung, was spätestens deutlich werden muss, wenn man die

jüdische Geschichte im Alten Preußen als Regionalgeschichte begreift. So ging allein in den Jahren

zwischen 1779 und 1786, während derer die fiskalische Belastung von Niederlassungen ihren

Höhepunkt erreichte, die Anzahl der an Juden verliehenen Privilegien in der gesamten Monarchie (mit

Ausnahme Schlesiens) um rund ein Drittel zurück.84

<42>

Besonders dramatisch gestalteten sich die Einbrüche jenseits der prosperierenden Metropolen Berlin,

Königsberg und Breslau mit ihren am obrigkeitlich geförderten Osteuropahandel partizipierenden

Gemeinden. Während selbst in Berlin die demographische Entwicklung der jüdischen Gemeinde um

1780 in eine Phase des Stockens geriet, konnten mehrere Studien für die preußischen

Westprovinzen, aber auch für Halberstadt einen teilweise dramatischen Rückgang der

Gemeindemitglieder im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts nachweisen.85 Derartige Entwicklungen,

hinter denen sich die existentiellen Nöte hunderter Familien verbergen, sorgten vor dem Hintergrund

der einsetzenden Emanzipationsdebatte nicht nur für ein stetig wachsendes soziales Gefälle innerhalb

der jüdischen Gemeinden. Sie lassen mit Blick auf den Gang der Judenemanzipation vor allen Dingen

Zweifel daran aufkommen, dass das auf Selma Stern zurückgehende Verrechtlichungsparadigma

weiterhin als geeigneter Analyserahmen zur Interpretation der “Sattelzeit“ zwischen dem “Aufgeklärten

Absolutismus“ und der preußischen Reformperiode gelten kann.

83 GStA PK, II. HA, Manufaktur- und Kommerzkollegium, Tit. CCXLI, Nr. 48, Bd. 3, Bl. 180–181.

84 Eine genaue Analyse der zugrundeliegenden Statistiken erfolgt in der Dissertation des Verfassers. Die Veröffentlichung der Tabellenwerke im Internet ist geplant.

85 Hugo Rachel: Die Juden im Berliner Wirtschaftsleben zur Zeit des Merkantilismus, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 2 (1930), 175–196, hier: 194; Kaufhold / Wallbaum: Statistik (wie Anm. 40), 87–98; Bernd-Wilhelm Linnemeier: Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürstentum Minden in der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2002, 765; Halama: Autonomie (wie Anm. 46), 227.

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<43>

Der Ansicht, es handele sich bei der preußischen Judenpolitik des 18. Jahrhunderts um ein “gründlich

bearbeitetes Thema der historischen Fachwissenschaft“,86 wird man demnach mit guten Gründen

entgegentreten können. Im Vorfeld des Jahres 2012, in dem sich nicht nur der Geburtstag Friedrichs

des Großen, sondern auch die Publikation des Emanzipationsedikts von 1812 mit einem runden

Geburtstag ins Gedächtnis rufen wird, gilt hier vielmehr, was Heinz Duchhardt unlängst mit Blick auf

die friderizianische Epoche im allgemeinen konstatierte: Dieses Forschungsfeld ist “noch lange nicht

erschöpft“.87

Quellenanhang: Schutzbrief für Manasse Jacob, Berlin 1766 Mai 14

Nachdem bey Seiner Königlichen Majestät in Preußen,

Unserm allergnädigsten Herrn, des Schutz-Juden

Jacob Salomon aus Bernau Sohn, Manasse Jacob,

um eine Concession, daselbst sich als 2tes Kind ansetzen

zu dürfen, gebethen hat: So haben Höchstgedachte

Seine Königliche Majestät sothanem Gesuch in Be-

tracht derselbe sich erbothen hat, jährlich für Ein Tau-

send Thaler einländische Fabriquen-Waaren außer-

halb Landes zu debitiren und der hiesigen Juden-

Ältesten Attest beygebracht worden, in Gnaden

deferiret und wird ihm zu sothanem seinem Eta-

blissement die erbethene Concession hiermit er-

theilet. Wornach die Chur-

märcksche Krieges- und Domainen-Cam-

mer nebst dem Commissario loci88 und dem dasigen

Magistrat sich allerunterthänigst zu achten und den

Impetranten, wenn er obiges Engagement erfüllet und

sich sonst dem Reglement89 gemäß geleitlich verhält, dabey

zu schützen haben. Signatum. Berlin, den 14ten May 1766.

Friedrich

Concession

86 Heil: Toleranz (wie Anm. 50), 75.

87 Heinz Duchhardt: Barock und Aufklärung, 4. Aufl., München 2007, 209.

88 Der Commissarius loci oder Steuerrat stand im preußischen Verwaltungsaufbau zwischen Kriegs- und Domänenkammern und Magistraten und nahm gegenüber letzteren die Rolle eines „reisenden Kontrollbeamten“ (Gustav Schmoller) ein. Für Bernau war in den für Manasse Jacob entscheidenden 1770er Jahren Johann Samuel Adler (ca. 1740–1799) zuständig. Er bearbeitete bei der Kurmärkischen Kammer das Städteressort und war hierdurch auch mit den Judensachen befasst.

89 Gemeint ist das Revidierte Generalreglement von 1750.

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für des Schutz-Juden Jacob Salomon

aus Bernau Sohn Manasse Jacob

Ansetzung als 2tes Kind unter der Be-

dingung, daß er jährlich für 1/m Taler einländische

Fabriquen-Waaren außerhalb Landes debitiren

müsse.

Valentin von Massow90 [Joachim Christian] Blumenthal91

Autor

Dr. des. Tobias Schenk

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Staats- und Personenstandsarchiv Detmold,

Zur Zeit Archivschule Marburg

Neue Kasseler Str. 15a

35039 Marburg

[email protected]

90 Valentin von Massow (1712–1775), seit 1763 Minister des Generaldirektoriums und Chef des kurmärkischen und magdeburgischen Departements.

91 Joachim Christian von Blumenthal (1720–1800), seit 1763 Minister des Generaldirektoriums und Chef des pommerschen und neumärkischen Departements, 1786 in den Grafenstand erhoben.

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