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Arnd G. Heyer

Frosttoleranz bei Pflanzen – Fliehen, vermeiden oder einfach durchhalten!

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Darum haben Pflanzen Strategien ent-wickelt, die ihnen das Überleben bei niedrigen Temperaturen ermöglichen.Diese Strategien scheinen ebenso vielfäl-tig zu sein wie die Temperaturbereiche,auf die sie zugeschnitten sind. Genau wissen wir es nicht, denn es ist bis heutenicht ganz klar, wie Pflanzen mit Kälteumgehen. Wir wissen immerhin, dass esdrei Klassen von Pflanzen mit grundsätz-lich verschiedenen Ansprüchen an dieWachstumstemperatur gibt: die Pflanzender tropischen Regenwälder, aber auchTomaten, Gurken oder Usambaraveilchensind kühleempfindlich, das heißt sie wer-den bei Temperaturen weit oberhalb desGefrierpunkts von Wasser geschädigt. Beieinigen Bananen-Varietäten liegt die kriti-sche Temperatur bei etwa 25 Grad, fürGurken und Tomaten beträgt sie fünf biszehn Grad. Pflanzen wie die Kartoffel, dieaus dem kühleren Andengebiet von Perubis Nordwest-Argentinien stammt, sindkühletolerant, können aber Temperaturenunterhalb des Gefrierpunkts nicht über-stehen, sind also frostempfindlich. Zumin-dest gilt das für die Kultursorten, die bei

uns angebaut werden. Einige Wildformender Kartoffel können Temperaturen bisminus elf Grad überstehen. Sie gehörendamit in die dritte Klasse, die Klasse derwinterharten Spezies, die auch bei Tem-peraturen unterhalb des Gefrierpunkts fürlange Zeit überleben können.

Neben dem Wasserangebot stellt dieTemperatur die entscheidende Ausbrei-tungsgrenze für Pflanzen dar. Sie wirktdabei in mehrfacher Weise: die Jahres-höchst- und –mindesttemperaturenschließen diejenigen Organismen aus, de-ren Toleranzgrenzen darunter bezie-hungsweise darüber liegen. Indirekt hän-gen sie aber auch noch mit einer ande-ren Größe zusammen: je tiefer die Tem-peraturen im Winter, desto kürzer ist diefür Pflanzen nutzbare Vegetationszeit,denn sie kann erst beginnen, wenn diedurchschnittliche Tagestemperatur überetwa zehn Grad liegt. So ist die durch-schnittliche Januar-Temperatur ein guterIndikator für die maximale Dauer der Ve-getationsperiode, das heißt derjenigenJahreszeit, in der Pflanzen wachsen, alsoeine positive Biomasse-Bilanz hervorbrin-gen können.

Nur etwa ein Drittel der Fläche des Planeten Erde ist dauerhaft frostfrei: in den tropi-

schen Regenwaldgebieten des Amazonasbeckens, in Kongo, an der afrikanischen

Westküste, auf dem Indomalayischen Archipel, in einem kleinen Teil Australiens und

auf den pazifischen Inseln in Äquatornähe fällt die Temperatur nie unter etwa 15 Grad

(Abb. 1). Der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht ist hier größer als der

zwischen Sommer und Winter. Fast die Hälfte aller Pflanzenarten – 115.000 von

250.000 bekannten Blütenpflanzen – kommen nur hier vor. Daraus lässt sich bereits

ablesen, dass der Umgang mit niedrigen Temperaturen eine Herausforderung für le-

bende Organismen ist, der sich nicht jeder stellen mag. Andererseits locken die kälte-

ren Gegenden mit einem großen Flächen- und Mineralstoffangebot – einer Ressource,

die für Pflanzen äußerst attraktiv ist.

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temperaturen um 16 Grad unterschei-den. In Nakuru in Kenia ist es umgekehrt:der Tag-/Nacht-Rhythmus bringt einenUnterschied von 20 Grad, während derSommer nur um vier Grad wärmer ist alsder Winter (Abb. 2).

Weglaufen kommt nicht in Frage

Saisonalität erlaubt den Pflanzen eine An-passungsstrategie, die man ihnen als sess-haften Lebewesen auf den ersten Blicknicht zutraut: die so genannte „escape”oder Ausweich-Strategie. Für Tiere ist esselbstverständlich, ungünstigen Umwelt-bedingungen auszuweichen, einfach da-von zu laufen. Wenn man aber fest imBoden verwurzelt ist, kommt Weglaufennicht in Frage. Dennoch können vielePflanzen der Kälte entkommen! Sie ma-chen das Auskeimen abhängig vomLichtangebot und der Umgebungstempe-ratur. So stellen sie sicher, dass die emp-findlichen Keimlinge erst im Frühling ausdem Boden kommen. Dann nutzen siedas meist reichliche Wasser- und Lichtan-gebot zu Beginn des Jahres, um ihren Le-benszyklus rasch abzuschließen. Wenn es im Herbst wieder kälter wird, sind dieSamen der nächsten Generation längstgereift, und der Rest der Biomasse wirdnun ohnehin absterben. Den Samen kannder Winter nicht viel anhaben: sie habeneinen sehr geringen Wassergehalt, betrei-ben fast keinen Stoffwechsel und sind daher weitgehend temperatur-unemp-findlich. Diese Strategie können einjähri-ge, krautige Pflanzen nutzen – für Bäumeund mehrjährige Sträucher, die eine auf-wändige Biomasse produzieren, bevor siezum ersten Mal blühen, ist die Flucht aus-geschlossen. Sie können zwischen denbeiden anderen Optionen wählen: derVermeidung und der Toleranz.

Wie können Pflanzen Frost vermeiden?Bis zu einem gewissen Umfang sindPflanzen durchaus zur Wärmeproduktionin der Lage. Der Aronstab (Arum macula-tum, Abb. 3) kann seine Blüte um etwa25 Grad gegenüber der Umgebungstem-peratur aufheizen. Er tut dies, um Lock-stoffe für Fliegen zu verdunsten, die dieBlüten bestäuben sollen. Aber schon austheoretischen Erwägungen ist die Wär-mefreisetzung keine dauerhafte Option:anders als Tiere sind Pflanzen Primärpro-duzenten chemischer Energie. Das „Ver-feuern” energiereicher Kohlenstoff-Ver-

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Der saisonale Aspekt von Temperaturwird um so bedeutsamer, je weiter wiruns vom Äquator entfernen: der Unter-schied zwischen Sommer und Winterwird dabei immer größer, der zwischenTag und Nacht immer kleiner. So liegenin Tromsø in Norwegen Tages- undNachttemperaturen nur um vier bis sie-ben Grad auseinander, während sich diedurchschnittlichen Januar- und August-

Abb. 1: Klimazonen der Erde. Nur etwa ein Drittel unseres Planeten ist dauerhaft frostfrei. In den tropischen Ge-bieten Südamerikas, Afrikas, des pazifischen und des indischen Ozeans fällt die Temperatur nicht unter 15Grad Celsius – überall sonst müssen die Organismen mit Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts von Was-ser zurechtkommen können.

Abb. 2: Klimadiagramme von Tromsø, Norwegen, und Nakaru, Kenia. Nahe am Äquator sind die Temperatur-unterschiede zwischen Tag und Nacht groß, aber Winter und Sommer unterscheiden sich kaum. Weit vomÄquator entfernt dominieren die Unterschiede der Jahreszeiten, Tag/Nacht-Rhythmen fallen dagegen geringeraus.

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bindungen kommt einem direkten Bio-masseverlust gleich. Ein Aufwärmen desOrganismus mit dem Ziel, Stoffwechselbetreiben zu können, würde also spätes-tens bei derjenigen Temperatur an eineGrenze stoßen, bei der die „Heizkosten”den Gewinn durch die Photosyntheseauffressen. Frostvermeidung bei Pflanzenbedeutet etwas anderes und hat etwasmit den physikalischen Besonderheitendes Wassers zu tun. In einem Wassermo-lekül stehen zwei Wasserstoff-Atome ineinem Winkel von 106 Grad von einemSauerstoffatom ab wie zwei Mickey-MausOhren. Der Sauerstoff hat zwei freie Elek-tronenpaare, sozusagen die Füße des Moleküls (Abb. 4). Die Elektronenpaaresind negativ, die Kerne der Wasserstoffa-tome positiv geladen – und jeder suchtnach einem Partner mit gegensinnigerLadung. Der Winkel zwischen den Was-serstoffkernen verbietet die Wechselwir-kungen der beiden Elektronenpaare einesWassermoleküls mit den „Ohren” eineszweiten. Stattdessen bilden sich Ketten

von Einzelmolekülen, bei denen es seltenist, dass beide Ohren und beide Füßegleichzeitig assoziiert sind. Darum ist imWasser kaum ein Molekül wie ein ande-res umgeben, und die Konsequenz ist,dass Wasser relativ ungeordnet ist unddarum nicht so leicht kristallisiert. Des-halb friert Wasser nicht bei null Grad ein,wenn keine Verunreinigungen daringelöst sind, die als Kristallisationskeimewirken. Absolut reines Wasser friert erstbei minus 38 Grad ein – dann allerdingsschlagartig und mit einem hörbarenKnall. Viele Pflanzen vermeiden das Ein-frieren von Wasser, indem sie die Kon-zentration an Kristallisationskeimen sogering wie möglich halten. Das erlaubt esihnen, flüssiges Wasser bis zu einer Tem-peratur von etwa minus 30 Grad zu un-terkühlen. Auf diese Weise überstehendie Blütenknospen des Rhododendronden Winter (Abb. 5). In einigen Bäumenkönnen die Leitgefäße des Xylems (Was-ser leitender Gefäßteil) Wasser sogar biszu einer Temperatur von minus 47 Grad

Abb. 3: Der Aronstab besitzt gestielte, pfeilförmigeBlätter, zwischen denen der Blütenstand mit einer tü-tenförmigen Blütenscheide entsteht. Sie bedeckt denKolben. Der Kolben enthält im unteren Bereich dieweiblichen Blüten, im oberen die männlichen. DerBlütenstand wird von der Pflanze aufgeheizt, um ei-nen unangenehmen Duft zu verströmen, der bestäu-bende Insekten anlockt. Die ganze Pflanze ist giftig.

Abb. 4: Molekülmodell des Wassers. In einem Was-sermolekül stehen zwei Wasserstoff-Atome in einemWinkel von 106 Grad von einem Sauerstoffatom abwie zwei Mickey-Maus Ohren. Die Atomkerne sind je-weils rot, die Elektronen auf ihren Bahnen schwarzdargestellt. Der Sauerstoff hat zwei freie Elektronen-paare (unten), die die Füße des Moleküls bilden. DieAnordnung der elektronegativen freien Elektronen-paare und der Kerne der Wasserstoffatome verbietetWechselwirkungen beider Elektronenpaare mit denAtomkernen eines zweiten Wassermoleküls. Im flüssi-gen Wasser bilden sich daher Ketten von Einzelmo-lekülen, bei denen kaum zwei Moleküle die gleicheUmgebung haben.

Abb. 5: Die Blütenknospendes immergrünen Rhodo-dendron überstehen denWinter, indem sie das Ein-frieren von Wasser verhin-dern. Sie entziehen demWasser die Kristallisations-keime, so dass es bis zu ei-ner Temperatur von minus25 bis minus 30 Grad flüs-sig bleibt. Bei noch tieferenTemperaturen würde diePflanze erfrieren.

unterkühlen. Zusätzlich zur Vermeidungvon Kristallisationskeimen wird hierfürwohl noch eine Gefrierpunktserniedri-gung genutzt – aber ganz aufgeklärt istdas Phänomen nicht. Für die meisten im-mergrünen Pflanzen stellen Tiefsttempe-raturen zwischen minus 15 und minus40 Grad eine Ausbreitungsgrenze dar:Mammutbäume, Magnolien, viele Rhodo-dendron-Arten oder Efeu kommen beinoch tieferen Temperaturen nicht mehrvor.

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Nadelbäume wie Fichten, Kiefern undTannen sind aber viel widerstandsfähiger.Ihnen können Temperaturen von minus80 Grad nichts anhaben – ihre Ausbrei-tung wird also nicht durch die tiefste Jah-restemperatur begrenzt, sondern durchdie Länge der Vegetationsperiode. Be-sonders beeindruckend ist dies an der„Baumgrenze” sichtbar, jener relativscharf gezogenen Linie, die die monta-nen Wälder von den alpinen, baumfreienRegionen trennt (Abb. 6). Die Baumgren-ze wird neben der Temperatur noch vonanderen Faktoren beeinflusst, zu denendas Weideverhalten von Schafen und an-deren Tieren, das Vorkommen vonSchädlingen und die Wasserverfügbar-keit gehören. Die Temperatur ist jedocheine maßgebliche Größe, zumal sie dieanderen Faktoren beeinflusst.

Frosttoleranz ist sehr variabel

Pflanzen, die das Einfrieren überstehenkönnen, ohne dabei großen Schaden zunehmen, werden als „frosttolerant” be-zeichnet. In ihren Geweben bilden sichechte Eiskristalle, ohne dass die Zellenzerstört werden. Das liegt daran, dass dieEiskristalle nicht in den Zellen, sondernnur in den Bereichen dazwischen, den sogenannten Interzellularen, entstehen. Die-se sind normalerweise gasgefüllte Räu-me, die in einem Blatt einen Großteil desVolumens ausmachen können. Die Eisbil-dung außerhalb der Zellen ist sogar einewichtige Voraussetzung für das Überle-ben: Eis hat ein geringeres Wasserpoten-zial als flüssiges Wasser. Da die Wasser-Konzentration außerhalb der Zellen alsoscheinbar geringer ist, diffundiert immermehr Wasser hinaus und friert dort ein.Gleichzeitig werden die Zellen entwäs-sert, der Zellsaft wird aufkonzentriert. Dieimmer höher werdende Konzentration angelösten Stoffen im Zellsaft senkt die Ge-fahr der intrazellulären Eisbildung, dieden sicheren Tod bringen würde. Im ex-

tremen Fall verliert die Zelle so viel Was-ser, dass das Cytoplasma seine Fluiditätverliert. Man spricht dann von „Vergla-sung” oder „Vitrifikation”. Dieser Prozessist beispielsweise in Samen eine wichtigeVoraussetzung für die Lagerfähigkeit. Imverglasten Zellinneren sind alle Prozesseso stark verlangsamt, dass Ruhephasenauch unter ungünstigen Bedingungen ge-fahrlos überstanden werden können.

Frosttoleranz ist sehr variabel: bei man-chen Pflanzen reicht sie nur bis wenigeGrade unter Null, einige Bäume undSträucher wie zum Beispiel der weißeHartriegel (Cornus sericea, Abb. 7) kön-nen auch dann wieder austreiben, wennihre Äste in flüssigem Stickstoff bei mi-nus 196 Grad eingefroren waren.

Wie kommen diese Unterschiede zu-stande? Bis heute ist nicht abschließendgeklärt, was Pflanzen frosttolerant macht.Wir wissen, dass es zwei unterschiedli-che Arten von Frosttoleranz gibt: eine ba-sale, die die Pflanzen schützt, auch wennsie noch nie der Kälte ausgesetzt waren.Sie ist eine Art genetischer Voreinstel-lung, eine ererbte Toleranz, die etwasganz anderes ist als die Fähigkeit zur Ak-klimatisierung, also zur kälte-bedingtenAusbildung von Frosttoleranz. Beide For-men der Toleranz sind sehr komplexe Ei-genschaften, an deren Zustandekommeneine Vielzahl von Genen beteiligt ist. Wirkennen einige davon, aber längst nichtgenug, um erfolgreich züchterisch dieFrosttoleranz von Pflanzen verbessern zu können.

Abb. 6: Die Baumgrenzetrennt die montanen Wäldervon der alpinen, baumfreienRegion. Oberhalb dieser Li-nie ist die Dauer der Vegeta-tionsperiode zu gering, umdas Überleben von Bäumenzu ermöglichen. Außer derTemperatur haben noch an-dere Faktoren einen Einfluss,so das Weideverhalten vonSchafen und anderen Tie-ren, das Vorkommen vonSchädlingen oder Umwelt-giften und die Wasserverfüg-barkeit. Aus diesem Grundist die Lage der Baumgrenzeveränderlich.

Abb. 7: Der weiße Hartriegel (Cornus sericea) kann extrem tiefe Temperaturen überstehen. Zweige, die zuvorlangsam auf eine Temperatur von minus 40 Grad gebracht wurden, überleben ein Bad in flüssigem Stickstoff (-196°C) oder sogar flüssigem Helium (-236°C).

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Deshalb haben wir damit begonnen,Frosttoleranz in einer Modellpflanze sys-tematisch zu untersuchen, Stoffwechsel-vorgänge aufzuklären, die am Zustande-kommen der Toleranz beteiligt sind, de-ren Beitrag zu erfassen und die zugrunde-liegende genetische Ausstattung zu iden-tifizieren. Hierfür verwenden wir einePflanze, die über ganz Europa verbreitetist und in zahlreichen lokalen Populatio-nen vorkommt, die sich in ihrer Frosttole-ranz ganz erheblich unterscheiden. Eshandelt sich um die Modellpflanze Arabi-dopsis thaliana, die in den 80er Jahren inder Molekularbiologie Furore machte,weil sie ein für Pflanzen erstaunlich klei-nes, geradezu überschaubares Genomvon nur etwa 130 Millionen Einzelbau-steinen, so genannten Nukleotiden, be-sitzt. Inzwischen ist die vollständige Se-quenz dieser Nukleotide bekannt – ähn-lich wie beim Menschen, dessen Erbgutimmerhin 25 mal so groß ist. Genau wiebeim Menschen bedeutet die Kenntnisder Nukleotidreihenfolge allerdings nochlange nicht, dass wir die enthaltene Infor-mation verstanden hätten. Daran arbeitenweltweit viele Forschungslabors.

Arabidopsis ist eine unscheinbare, ein-jährige Pflanze (Abb. 8), die Europa nach

der Eiszeit wahrscheinlich von zwei Zen-tren aus, der Iberischen Halbinsel undAsien, wieder besiedelt hat (Sharbel etal., 2000). Die kleine Rosettenpflanze mitdem deutschen Namen „Ackerschmal-wand” hat einen kurzen Lebenszyklus,produziert eine große Menge an Samenund stellt keine hohen Ansprüche an denBoden. Dies hängt damit zusammen,dass Arabidopsis sehr konkurrenz-schwach ist, das heißt, es gelingt ihrkaum, sich gegen andere Pflanzen durch-zusetzen (Pigliucci and Hayden, 2001).Es handelt sich also um eine typische„Ruderal-Pflanze”: sie besiedelt Standorte,an denen noch keine anderen Pflanzengewachsen sind. Das gilt zum Beispiel fürAckerflächen, die durch die Bodenbear-beitung regelmäßig gestört werden unddarum keine stabilen Lebensgemein-schaften entwickeln. Daher der Name„Ackerschmalwand”.

Als Einjährige mit einem raschen Le-benszyklus wäre Arabidopsis der idealeKandidat für die „escape”-Strategie, diekeiner Frosttoleranz bedarf. Tatsächlichtreffen wir bei den iberischen Populatio-nen auf recht empfindliche Pflanzen: beietwa minus vier Grad werden die Blätterzu 50 Prozent geschädigt, kälte-akklimati-sierte Pflanzen halten bis etwa minussechs Grad durch. Ganz anders verhält essich aber mit Populationen von weiternördlich gelegenen Standorten. Sie zei-gen schon im nicht akklimatisierten Zu-stand eine Frosttoleranz bis minus siebenGrad, und im Winter überleben die Pflan-

zen minus 12 Grad. Offenbar hat sich beider Ausbreitung von Arabidopsis nachNord-Europa eine Zunahme der Frosttole-ranz entwickelt.

Um dem nachzugehen, haben wir vonNord-Afrika bis nach Skandinavien undRussland lokale Populationen von Arabi-dopsis, so genannte Ökotypen, ausge-wählt (Abb. 9). Schon äußerlich sind diePflanzen recht unterschiedlich, und dieseUnterschiede spiegeln sich im jeweiligenGenom der Ökotypen wider. Arabidopsisist eine überwiegend selbstbestäubendePflanze. Der genetische Austausch ver-schiedener Populationen ist daher gering.Die lokalen Populationen sind folglichrecht isoliert und gehen evolutionär eige-ne Wege. Als wir die Frosttoleranz derverschiedenen Ökotypen untersuchten,fanden wir eine sehr gute Korrelation derToleranz – vor allem der akklimatisiertenPflanzen – mit der Entfernung vom Äqua-tor, also dem nördlichen Breitengrad(Abb. 10).

Abb. 8: Arabidopsis thaliana, die Ackerschmalwand,ist eine unscheinbare, einjährige Pflanze, die durchihr kleines Genom Berühmtheit erlangte. Die Sequenzdes Erbguts ist inzwischen vollständig bekannt, undArabidopsis ist zum wichtigsten Modellorganismus inder Pflanzenforschung geworden.

Abb. 9: Ökotypen von Arabidopsis thaliana. Arabidopsis ist über ganz Europa und Nord-Afrika verbreitet. DiePopulationen sehen nicht nur unterschiedlich aus, sondern sind auch ganz spezifisch an ihre jeweiligen Lebens-räume angepasst. Te: Tenela, Finnland; C24: Portugal, Cvi: Cap Verde'sche Inseln, Col-0: wahrscheinlich Mitte-leuropa, Nd: Niederzens, Deutschland.

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Die Ursache dafür, dass eine Pflanzemit typischem „escape”-Verhalten den-noch Frosttoleranz entwickelt, dürfte beiArabidopsis wiederum mit der Konkur-renzschwäche zusammenhängen: da diePflanzen sehr früh im Jahr auskeimen,können ihnen die Fröste zu Beginn derVegetationsperiode noch gefährlich wer-den. Das erklärt auch, warum Arabidopsisso schnell auf niedrige Temperaturen rea-giert: schon nach einem Tag bei vier Gradnimmt die Toleranz zu. Während der Ak-klimatisierung kommt es zu weitreichen-den Veränderungen im Stoffwechsel derPflanzen. Wachstumsprozesse werdenrasch unterbrochen, und die Zellen begin-nen mit der Produktion von Frostschutz-mitteln. Aber was muss geschützt wer-den – und wie?

Schon vor einigen Jahren konntenWissenschaftler nachweisen, dass vor al-lem die zellulären Membranen bei Frostgefährdet sind – in erster Linie die Plas-mamembran, aber auch die Membranender Chloroplasten, jener pflanzlichen Or-ganellen, in denen die Photosynthesestattfindet (Steponkus, 1984; Hincha andSchmitt, 1992). Die Membranen reagie-ren empfindlich auf den Wasserentzug,der die Zellen ansonsten vor der intrazel-

lulären Eisbildung schützt. Entzieht maneiner Membran nämlich die Wassermo-leküle, die die „Köpfchen” der Lipide um-geben (Abb. 11), dann verliert sie ihre Beweglichkeit und erstarrt zu einem Gel.Damit werden einerseits Transportprozes-se behindert, andererseits erfolgt die Gel-bildung nicht gleichmäßig, sondern inmanchen Membranbereichen schnellerals in anderen. Durch die Ausbildung vonDomänen mit unterschiedlicher Beweg-lichkeit kommt es zu Beschädigungen der Membran, Löcher entstehen und dieZellen verlieren ihre Inhaltsstoffe. Nebender Ausbildung von Gelen kann es auchzur Entstehung von Micellen kommen,wenn benachbarte, de-hydrierte Membra-nen miteinander fusionieren. Eine Ver-schmelzung von Plasmamembran undPlastidenhülle bedeutet dabei den Unter-gang der Zelle. Wie die Zellen sich vordiesen Schädigungen schützen, ist nochnicht ganz aufgeklärt, aber wir haben beiArbeiten mit Modell-Membranen wichti-ge Hinweise erhalten. So fanden wir her-aus, dass die Kopfgruppen der Lipide ausHühnerei sich anstelle von Wasser auchmit einer Reihe von Zuckermolekülen umgeben können und dadurch unter-schiedlich gut gegen Gefrierschäden ge-schützt werden. Die Schutzwirkung vonSaccharose und Trehalose, einem beson-ders bei Hefe wichtigen Zuckermolekül,war schon bekannt.

Abb. 10: Frosttoleranz von Arabidopsis thaliana. Von Links nach rechts sind die Ökotypen nach zunehmenderEntfernung vom Äquator angeordnet. Die Toleranz nicht akklimatisierter Pflanzen ist orange, die der akklimati-sierten Pflanzen blau dargestellt. Die Lethaltemperatur50 ist diejenige Temperatur, bei der die Zellen des Blattge-webes zu 50 Prozent geschädigt sind. Deutlich ist zu erkennen, dass die Toleranz akklimatisierter Pflanzennach Norden hin zunimmt.

Abb 11: Modell einer biologischen Membran. Die Membran besteht aus einer Doppelschicht von Lipiden, indie Proteine (lila), Kohlenhydrate und Cholesterin (gelb) eingelagert sind. Die Lipide bestehen aus einer vonWassermolekülen umgebenen Kopfgruppe (grau) und zwei hydrophoben Fettsäureketten. Die Ketten sind be-weglich, solange die Kopfgruppen vom Wasser auf Abstand gehalten werden. In diesem Zustand ist die Mem-bran flüssig-kristallin.

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Raffinose – ein guter Kandidatals Frostschutzmittel?

Wir konnten aber nachweisen, dass eini-ge größere Zuckermoleküle aus drei bisfünf Einzelbausteinen unterschiedlicherStruktur noch stärker als Saccharose wir-ken (Hincha et al., 2002; Hincha et al.,2003). Insbesondere die Raffinose, einTrisaccharid aus Galaktose, Glukose undFruktose, ist besonders interessant. Siewird von verschiedenen Pflanzen – dar-unter auch Arabidopsis – nur in der Kälteund in Samen gebildet und hat hervorra-gende Schutzwirkung. In unserer Ökoty-pensammlung korreliert der Raffinosege-halt mit der Frosttoleranz. Es lag also na-he, in der Raffinose einen guten Kandida-ten für ein Frostschutzmittel zu vermuten. Wir haben deshalb den Stoffwechsel vonArabidopsis-Pflanzen so verändert, dasssie mehr Raffinose produzieren können.Hierfür haben wir ein Gen aus Gurkeübertragen, dessen Produkt die Vorstufeder Raffinose, das Galactinol, syntheti-siert. Die „transgene” Arabidopsis mitdem Gurkengen produziert nun auch beiNormaltemperatur Raffinose, und selbstin der Kälte, wenn die Raffinosebildungsowieso induziert wird, ist der Gehaltnoch fast doppelt so hoch (Abb.12). Fürden direkten Vergleich haben wir außer-dem eine Mutante ausgewählt, die auf-grund eines Gen-Defekts nicht mehr inder Lage ist, Galactinol in Raffinose um-zuwandeln. Die Mutante enthält keinerleiRaffinose mehr und reichert stattdessengroße Mengen Galactinol an. Zu unsererÜberraschung zeigten alle drei, die Mu-tante, die Transgene und die Ausgangsli-nie, die gleiche Frosttoleranz – der Weg-fall der Raffinose hatte den Pflanzen alsogar nichts ausgemacht. Für diesen uner-warteten Befund gibt es zwei möglicheErklärungen: entweder war die Raffinosegar nicht wichtig für die Frosttoleranz derPflanzen – oder irgendeine andere Sub-stanz, vielleicht auch mehrere andere, ha-ben ihre Funktion übernommen. Aus un-serem kleinen Experiment lässt sich eini-ges ableiten: zum einen sehen wir, dassdie Korrelation einer Stoffmenge mit ei-nem physiologischen Phänomen wie Käl-tetoleranz nicht unbedingt auf einen funktionalen Zusammenhang hinweist.Zum anderen deutet sich an, dass Frost-toleranz ein komplexes Phänomen ist.

Die Raffinose-Bildung könnte in einemnur indirekten Zusammenhang mit demToleranzerwerb stehen. Außer Galactinolist Saccharose eine direkte Vorstufe der

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Raffinose-Synthese. Und Saccharose istdie Hauptdrehscheibe des pflanzlichenStoffwechsels: sie ist das eigentliche End-produkt der Photosynthese, ist Transport-form für die Versorgung der Wurzeln undBlüten und fungiert als Signalmolekül,das die Pflanze über ihren Stoffwechsel-Status informiert. Ein Eingriff in den Raffi-nose-Haushalt könnte also Nebenwirkun-gen haben – und zwar selbst dann, wenn– wie in unserem Fall – der Saccharose-gehalt weder bei der Mutante noch beider Transgenen verändert ist. Es kommtnämlich nicht unbedingt auf die Konzen-tration eines Stoffes an, wenn dieser ei-nem raschen Umsatz unterliegt. Eben dieser Umsatz kann entscheidend sein:der Saccharosegehalt einer Zelle ergibtsich aus dem Gleichgewicht zwischenSynthese, Abbau und Abtransport in dieübrigen Gewebe der Pflanze. Zu- und Ab-flüsse dieses Gleichgewichts sind an derKonzentration nicht abzulesen.

Wir haben darum ein weiteres Experi-ment durchgeführt, bei dem wir dasGleichgewicht ganz bewusst gestört ha-ben. In den Blattzellen nimmt die Vakuoleden größten Raum ein. Sie ist eine Artwassergefüllter Vorratsraum der Zelle, indem Mineralsalze, aber auch Zellgifte ge-lagert werden, weil sie den eigentlichenStoffwechsel hier nicht stören. AuchZucker werden gespeichert, und dafürkommen in der Vakuole Enzyme – die sogenannten Invertasen – vor, die Saccha-rose in die Bestandteile Glukose undFruktose zerlegen. In dieser Form könnendie Zucker die Vakuole wahrscheinlichnicht mehr so leicht verlassen, werden al-so angereichert. Noch ist die Rolle der In-vertasen nicht ganz verstanden, aber eine

der Wirkungen der Saccharose-Spaltungist, dass die Zucker nicht abtransportiertwerden können, denn Transport ist nur inForm von Saccharose möglich. Wiede-rum durch einen gentechnischen Eingriffhaben wir die Invertase-Aktivität reduziertmit der Folge eines bis zu fünffachen An-stiegs der Saccharose-Konzentration. Die-ser Eingriff hatte bei einem frostsensitiveniberischen Ökotyp (C24) keinerlei Folgenfür die Kältetoleranz.

Abb. 12: Rafinosegehalte verschiedener Arabidopsis Genotypen. RS ist eine Mutante mit Defekt im Raffinose-Synthase Gen. Die Pflanze enthält daher keinerlei Raffinose. GcGol32 ist eine transgene Linie, die eine Galac-tinol-Synthase aus Gurke exprimiert. Sie hat im nicht-akklimatisierten Zustand, in dem Raffinosegehalte niedrigsind (orange), viermal mehr Raffinose als die Mutterpflanze (Col-0), im akklimatisierten Zustand (blau) ist derGehalt noch fast zweimal so groß. Trotz der deutlichen Unterschiede im Raffinosegehalt zeigen alle drei Pflan-zen die gleiche Frosttoleranz.

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Im Genotyp Columbia, der ein deutlichhöheres Akklimatisierungspotenzial auf-weist, nahm die Toleranz jedoch um zweiGrad zu (Abb. 13). Offensichtlich kann al-so eine Veränderung des Saccharose-haushalts die Frosttoleranz beeinflussen – aber dies ist von genetisch bedingtenVoraussetzungen abhängig. Bei Genoty-pen mit nur geringer Akklimatisierungs-Kapazität bleibt sie wirkungslos. Dieskönnte einerseits darauf hindeuten, dassin der iberischen Varietät C24 irgendeineweitere, essentielle Komponente fehlt,oder dass die Saccharose nicht selbstwirkt, sondern als Substrat für die Synthe-se anderer Frostschutzmittel genutztwird, zu deren Bildung C24 nicht in derLage ist.

Hinweise, die für die zweite Möglich-keit sprechen, erhielten wir bei einer um-fassenden Metabolit-Analyse der transge-nen Pflanzen. Das so genannte „Metabo-lite Profiling” zielt auf einen Vergleich derKonzentrationen möglichst vieler Stoff-wechselprodukte bei verschiedenen Ge-notypen oder unterschiedlich behandel-ten Pflanzen. Hierbei zeigte sich, dass dieSteigerung der Saccharosekonzentrationin Columbia-Pflanzen umfangreiche Ver-änderung auch im Aminosäure-Stoff-wechsel bedingt, während dies bei C24nicht der Fall ist. Unter den Aminosäuren,die in Columbia vermehrt auftreten, befin-det sich das Prolin, ein Molekül mit unge-wöhnlichen Eigenschaften, das als „Su-per-Osmolyt” an vielen Stressreaktionenbeteiligt ist. Daneben wird aber auchGlutamin angereichert – eine Aminosäu-re, die in Pflanzen bislang kaum im Zu-sammenhang mit Kältestress aufgefallenwar, wohl aber bei Bakterien (Frings etal., 1993). Das Glutamin hat eine positivgeladene Seitenkette und könnte dahermit den negativ geladenen Kopfgruppender Lipide wechselwirken (Anchordoguyet al., 1988).

Sind es also doch nur einige wenigeSubstanzen, die für die unterschiedlicheToleranz von C24 und Columbia verant-wortlich sind? Wenn das zuträfe, müsstesich die Toleranz von Columbia durchKreuzung leicht auf C24 übertragen las-sen. Mit einem kleinen Trick kann mandie Selbstbestäubung verhindern unddann mit dem Pollen von Columbia dieBlüten von C24 bestäuben. In der Filial-generation enthalten alle Nachkommenjeweils gleich viele Chromosomen vonbeiden Eltern, sind also vollständig he-terozygot. Rein theoretisch sollte die Frost-toleranz in dieser Generation einen mittleren Wert einnehmen. Bei den Fol-gegenerationen kommt es dann aufgrundvon Rekombinationen zu einer zufälligenEntmischung der Genome. In den weite-ren Nachkommenschaften werden die In-dividuen also genetisch verschieden sein,und immer dann, wenn die wichtigen Ge-ne von Columbia homozygot vorliegen,sollte die Frosttoleranz so wie bei Colum-bia ausgeprägt sein. In der Praxis verhältes sich jedoch ganz anders: die Wirkungder Gene ist nicht rein additiv, es gibtWechselwirkungen zwischen den Lociund in manchen Fällen kommt es zu ei-nem Phänomen, das die Pflanzenzüch-tung seit langem kennt und nutzt, abernoch heute nicht recht erklären kann: He-terosis. Sie ist die Überlegenheit hetero-zygoter Nachkommen gegenüber beiden

Eltern. Man beobachtet Heterosis vor al-lem bei komplexen Eigenschaften wieder Ertragsbildung landwirtschaftlicherNutzpflanzen oder deren Wuchshöhe.Komplexität scheint geradezu eine Vor-aussetzung für Heterosis zu sein, denn sie lässt Spielraum für die Interaktion ver-schiedener genetisch bedingter Merkma-le der beiden Eltern.

Auch die Kreuzung von C24 und Co-lumbia zeigt Heterosis (Abb. 14). Die he-terozygoten Nachkommen sind größerund produzieren mehr Samen als die El-tern. Aber nicht nur das: sie sind auch frost-toleranter. Die Lethal-Temperatur der akklimatisierten Nachkommen liegt einGrad unter der von Columbia (Rohde etal., 2004). Ob hierfür ausschlaggebendist, dass vom jeweils besser ausgestatte-ten Elternteil das jeweils überlegene Genbeigesteuert wurde oder ob zwei ver-schiedene Varianten desselben Gens vor-liegen müssen, ist nicht ganz klar. Zwi-schen drei Theorien zur Heterosis kannbislang noch nicht eindeutig entschiedenwerden. Eins ist aber klar: Frosttoleranzmuss eine komplexe Eigenschaft sein.Mit einigen wenigen Genen oder einerHand voll Metaboliten kann man das Phä-nomen nicht erklären.

Deshalb haben wir damit begonnen,die Akklimatisierung systematisch zu un-tersuchen. Für den Genotyp Columbia ha-

Abb. 13: Steigerung der Saccharosegehalte durch Inhibition der vakuolären Invertase führt im frosttolerantenGenotyp Col-0 zu einer Verbesserung der Toleranz, nicht aber im sensitiven Genotyp C24. Akklimatisierte Co-lumbia-Pflanzen sind dunkelblau dargestellt, nicht akklimatisierte orange. Verschiedene transgene Pflanzen mitreduzierter Invertase-Aktivität sind mit Nummern bezeichnet, die Balken sind gemustert. Entsprechend wurdebei C24 verfahren. Hier sind nicht akklimatisierte Pflanzen gelb, akklimatisierte hellblau wiedergegeben. DieZahlenangaben beziehen sich auf die Lethaltemperatur50.

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ben wir die Veränderung der Expressionaller 24.000 Gene in der Kälte aufge-zeichnet. Wir haben eine Datenbank an-gelegt, die unsere eigenen Untersuchun-gen und die Untersuchungen andererForschergruppen beinhaltet und dabeiberücksichtigt, wie lange die Pflanzen je-weils der Kälte ausgesetzt waren. Das Er-gebnis war erstaunlich: über 7.000 Ge-ne, also etwa ein Drittel, wird durch dieBehandlung bei vier Grad betroffen, wo-bei etwa gleiche Anzahlen induziert be-ziehungsweise reprimiert werden (Han-nah et al., 2005). Die Umstellung ist alsomassiv! Aber was ist einfach nur eine Fol-ge geänderter Umweltbedingungen undwas Ursache für die Zunahme der Tole-ranz? Bei über 7.000 Kandidatengenenist es durchaus schwierig, dieser Fragenachzugehen, zumal nicht klar ist, wiegroß die Beiträge einzelner Genproduktezur Gesamteigenschaft sind.

von Genen in die Ausprägung des Tole-ranzmerkmals involviert. Welche Gene esnun tatsächlich sind, untersuchen wir der-zeit mit Methoden der quantitativen Ge-netik. Hierzu verwenden wir eine Kreu-zung des sensitiven Ökotyps C24 mitdem sehr toleranten Ökotyp Tenela. Ausder Nachkommenschaft der Kreuzung ha-ben wir von 400 Individuen durch Selbst-befruchtung über sieben Generationen In-zuchtlinien erzeugt und können nun dieGenloci ermitteln, die einen signifikantenBeitrag zur Toleranz leisten. Man nenntdieses Verfahren „QTL Mapping” (quanti-tative trait locus mapping). Es liefert eine

Art „Landkarte” des Genoms, auf der diewichtigsten Orte der Toleranzausbildungverzeichnet sind. Sobald wir diese Ortegefunden haben, können wir mit moleku-laren Methoden sozusagen dort hinreisenund untersuchen, was an diesen Ortentatsächlich geschieht.

Abb 14 a: Als „Heterosis” wird bezeichnet, wenn die Nachkommen einer Kreu-zung (F 1) ihren beiden Eltern (P1 (links): Columbia; P2 (rechts): C24) überlegensind. In der Landwirtschaft wird Heterosis zur Steigerung von Erträgen genutzt.

Um zunächst einmal einen Überblickdarüber zu erhalten, wie groß in etwa derAnteil der merkmalsbildenden Gene ist,haben wir die Genexpressionsstudien aufunsere gesamte Ökotypen-Sammlung er-weitert. Nun können wir die Anzahl kälte-regulierter Gene mit den Akklimatisie-rungskapazitäten der verschiedenen Öko-typen korrelieren und so abschätzen, obder Umfang der Umstellung überhauptetwas mit der Toleranzzunahme zu tunhat. Das ist tatsächlich der Fall: je toleran-ter ein Ökotyp ist, desto stärker reagierter auf Temperaturänderungen (Abb.15).Offensichtlich ist also eine große Zahl

Abb. 15: Für neun verschie-dene Ökotypen von Arabi-dopsis lässt sich ein Zusam-menhang zwischen der An-zahl kälteregulierter Geneund der Frosttoleranz nach-weisen. Das deutet daraufhin, dass die Änderung derExpression bei einer großenAnzahl von Genen in einemfunktionellen Zusammen-hang mit der Frosttoleranzsteht.

Abb.14 b: Für die Eigenschaft Frosttoleranz konnte Heterosis erstmals in einerKreuzung der Genotypen Columbia und C24 von Arabidopsis nachgewiesenwerden. Die Nachkommen sind nach der Kälte-Akklimatisierung dem tolerante-ren Elternteil Columbia um ein Grad überlegen. Die Toleranz der akklimatisiertenPflanzen ist in dunkel- und hellblau, die der nicht akklimatisierten in gelb bezie-hungsweise rosa dargestellt.

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Prof. Dr.Arnd G. Heyer

Nach dem Studium der Bioche-mie an der Eberhard Karls Uni-versität Tübingen und an derFreien Universität Berlin promo-vierte der im Mai 1963 geboreneGießener 1991 über „Charakteri-sierung des Phytochromsystemsvon Solanum tuberosum an derFU Berlin. Im Juni 2001 habili-tierte sich Arnd Heyer an derUniversität Potsdam mit demThema „MolekularbiologischeAnsätze zum Studium derFruktansynthese“. Anschließendwar er als Gruppenleiter amMax-Planck-Institut für Molekula-re Pflanzenphysiologie in Golmbei Potsdam tätig. Seit April2004 ist Arnd Heyer Professorfür Botanik des Biologischen In-stituts der Universität Stuttgart.

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