Für Zeit und Ewigkeit - 9783865916587

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Iowa, 1850: Die fünfzehnjährige Camilla Deardon würde ihr Leben wohl als eintönig bezeichnen. Das ändert sich schlagartig, als sie Nathan Fox kennenlernt. Dem Charme des gutaussehenden Mannes kann sich Camilla nicht entziehen, so sehr ihre Eltern sie auch vor ihm warnen. Denn Nathan gehört zu einer Gruppe Mormonen, die in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen haben. Voller Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit brennt Camilla mit ihrem Liebsten durch. Doch das vermeintliche Glück währt nur wenige Jahre. Denn dann muss sich Camilla mit dem Kern ihres christlichen Glaubens auseinandersetzen. Und mit der Frage, was sie als Ehefrau und Mutter alles ertragen kann ...

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Allison Pittman

Für Zeit und Ewigkeit

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Antje Balters

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Kapitel 2

Ich hatte nie das Gefühl, etwas an mir zu haben, das mich aus der Menge der anderen Mädchen in der Stadt hervorhob. Ich wurde von niemandem jemals als das hübscheste Mäd-chen der Schule bezeichnet – oder als das klügste. Im Gegen-teil. Mama sagte immer, ich sei so still und unauffällig, dass ich mit der Wand verschmelzen würde, wenn ich nur lange genug still stünde. Wenn wir in der Schule etwas aufsagen mussten, dann standen die anderen Mädchen aufrecht da und konnten fünf Minuten lang etwas auswendig vortragen. Wenn so etwas anstand, versuchte ich oft, Mama zu über-reden, mich zu Hause bleiben zu lassen. Und meistens ge-lang mir das auch. Ich glaube, dass sie mich verstand. Auch sie war eher ein stiller Mensch, und ehrlich gesagt hatte ich auch das Gefühl, dass sie manchmal einfach gerne jemanden zum Reden hatte. Vielleicht hätte sie mich überhaupt nicht zur Schule geschickt, wenn nicht Papa und die Bezirksregie-rung darauf bestanden hätten.

Meine Schule bestand aus drei Klassen mit drei Lehrern. Unsere Familie trug zur Entlohnung dieser Lehrer bei, indem sie mit Milch, Butter und Käse von unserer Farm versorgt wurden. Ungefähr einmal in der Woche musste ich deshalb mit Pferd und Wagen zur Schule fahren. Na ja, eigentlich war es gar kein Pferd, sondern eher ein altes Maultier na-mens Gracie, und der Wagen war auch eher ein kleiner Kar-ren mit einer Sitzbank darauf. Trotzdem fühlte ich mich an

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diesen Tagen immer wichtig, und es machte Spaß, besonders an frühen Sommermorgen, wenn ein Nachtschauer den Weg zur Stadt in eine einzige Schlammwüste verwandelt hatte.

Am Tag nach der Versammlung war es wieder einmal so weit. Es war kühl und feucht, aber es deutete sich schon an, dass es später am Tag wärmer werden würde. Papa hatte ge-rade die letzte Milchkanne auf den Karren geladen, als Mama hinter unserem Kühlhäuschen hervorgestürmt kam.

„Stopp! Halt, Arlen!“ Nun war aber mein Vater kein Mann, der getan hätte, was

seine Frau sagt, und auch dieser Morgen bildete da keine Aus-nahme. Er stellte die Milchkanne auf die Ladefläche des Kar-rens und schloss die Klappe an der Hinterseite.

„So warte doch! Sie kann die Milch nicht mitnehmen. Die ist wahrscheinlich schlecht.“ Inzwischen hatte Mama Papa erreicht und packte ihn am Arm.

„Wahrscheinlich?“ Er blinzelte Mama unter der Hutkrem-pe hervor an.

Sie wandte sich jetzt mir zu. „Erinnerst du dich, wie du ges-tern die Kühe von der Weide heimgetrieben hast?“

„Ja.“ „Hast du nicht gesagt, dass ein paar von ihnen sich abge-

sondert hatten?“ „Nur Missy und Peggy, die waren in die Südwestecke der

Weide gelaufen. Ich musste sie mit einem Stock zusammen-treiben, um sie vor Einbruch der Dunkelheit in den Stall zu bekommen.“

„Es muss dort eine Stelle mit wilden Zwiebeln geben, an-ders kann ich es mir nicht erklären“, sagte Mama. „Die Milch hat jedenfalls den Geschmack angenommen. „Wir werden ta-gelang nichts davon verkaufen können.“

Ich stand da, schaute zu Boden, und mein Nacken brann-te trotz der Morgenkühle heiß. Irgendwie würde das hier am Ende bestimmt alles meine Schuld sein, auch wenn ich nichts von den Zwiebeln gewusst hatte und obwohl ich den ganzen

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Tag in der Schule gesessen und gelernt hatte, während die Kü-he auf der Weide gegrast hatten. Papas Lippen wurden ganz schmal und er presste Ober- und Unterkiefer fest aufeinan-der. Als er dann sprach, klang seine Stimme mühsam be-herrscht, und das machte mich immer nervös.

„Wie schlimm ist es denn?“ Er sprach mit Mama, sah da-bei aber die ganze Zeit nur mich an.

„Schlimm genug, um unseren guten Ruf zu ruinieren.“ „Geh und hol eine Schöpfkelle.“ Diese Worten waren jetzt eindeutig an mich gerichtet, also

machte ich auf dem Absatz kehrt und ging dann so langsam wie möglich los, wobei ich alle möglichen furchtbaren Dinge vor mich hin murmelte. Obwohl ich ganz sicher war, dass ich die Schöpfkelle aus dem Eimer holen sollte, der am Brunnen hing, trottete ich ganz langsam daran vorbei und rechnete ei-gentlich fest damit, dass er mich anschnauzen würde, gefäl-ligst ein bisschen schneller zu machen. Aber das tat er nicht. Ich ging in die Küche, wo ich eine kleine Ecke von einem Zimtbrötchen abzwackte und danach die langstielige Kelle vom Haken an der Wand nahm. Als ich wieder zurückkam, hatte mein Vater die Milchkanne vom Wagen abgeladen und den Deckel geöffnet.

„Probier!“ Nur mein Vater schaffte es, mit nur einem Wort eine ganze Standpauke zu halten.

Ich tauchte also die Kelle in die weiße Flüssigkeit und setz-te sie an die Lippen. Zunächst fiel mir kein ungewöhnlicher Geruch auf und auch der erste winzige Schluck kam mir vor wie immer.

„Mehr“, sagte er. „Trink einen großen Schluck.“ Ich wappnete mich und leerte die Kelle in einem Zug. Der

erste Geschmack war zwar in Ordnung, aber kurz nachdem ich geschluckt hatte, breitete sich in meinem Mund ein bitte-rer Geschmack aus, den ich gar nicht wieder loswurde.

„Tut mir leid“, sagte ich, wild entschlossen, nicht das Ge-sicht zu verziehen.

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„Wenn du heute aus der Schule nach Hause kommst, möch-te ich, dass du mir ganz genau zeigst, wo du die beiden Kühe gestern gefunden hast, und dann graben wir das Stück um.“

„Ich kann es dir auch jetzt gleich zeigen. Ich führe dich hin.“

„Nein, nach der Schule, damit du mir beim Umgraben hel-fen kannst.“

„Ja, Vater.“ Ich machte Anstalten, auf den Sitz des Karrens zu klettern, aber mein Vater versperrte mir den Weg.

„Das ist ja jetzt nicht mehr nötig. Ohne die Kanne kannst du auch laufen.“ Er griff in den Karren, nahm ein verschnür-tes Bündel heraus und knüpfte aus den Enden der Schnur ei-ne Schlinge, die er mir über die Schulter hängte. Das Bündel war gar nicht so schwer, aber sehr unbequem zu tragen, und ich wandte ein, dass ich ja auch noch meine Bücher und den Eimer mit meinem Mittagessen tragen müsse.

„Daran kannst du ja dann denken, wenn du das nächs-te Mal beim Eintreiben der Kühe so leichtsinnig bist“, sagte er und ließ mich dann zusammen mit meiner Mama einfach dort im Hof stehen.

„Tut mir leid“, sagte sie und sah genauso ernüchtert aus, wie ich mich fühlte.

„Ich hätte nie gedacht, dass er …“ „Es geht schon.“ Ich rückte das Bündel zurecht und nahm

dann meine Schulbücher, die Schiefertafel und meine Pau-senbrote aus dem Karren. Als ich mir die Bücher einigerma-ßen bequem unter den Arm geklemmt hatte, blieb ich kurz stehen, sodass mir meine Mutter einen Kuss auf die Wange geben konnte, und dann machte ich mich auf den Weg.

Die Zufahrt zu unserer Farm war zu beiden Seiten von ei-nem knapp einen Meter hohen Steinwall gesäumt. Er war nicht besonders massiv und reichte auch an beiden Seiten nicht besonders weit, und eigentlich war es auch gar kein richtiger Wall, sondern eher ein paar aufeinandergeschich-tete Felsbrocken, aber ich weiß, dass Papa darin eine richtig

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prachtvolle Einfahrt sah. Wenn er sich einmal einen Sams-tag von der Farmarbeit freinahm, nutzte er diese Zeit dazu, um Steine vom Flussbett herbeizuschleppen und aufzusta-peln und damit dann erst die eine und dann die andere Seite der Mauer zu verlängern. Er ließ uns alle an einen glorrei-chen Tag glauben, an dem sich die beiden Mauerenden auf der Rückseite unseres Grund und Bodens treffen würden.

Ich hatte es kaum bis zum Ende der Mauer geschafft, als mir die Schnur, an der das ganze Gewicht des Bündels mit Käse und Butter hing, schon schmerzhaft in die Schulter schnitt. Der Schmerz an meinem Schlüsselbein war so hef-tig, dass ich schon, bevor ich die Abzweigung zur Schule er-reichte, das Gefühl hatte, mir würde der Kopf abgeschnitten. Sooft ich das Seil auch verschob, um das Gewicht zu verla-gern, es dauerte immer nur einen Moment lang, bis es wie-der wehtat. Schon bald spürte ich den Druck der Last auf dem gesamten Rücken, und aus meinem forschen Gang wurde ein langsames, unsicheres Schlurfen.

Ich redete mir ein, dass Papa sicherlich gar nicht gewusst hatte, wie schwer das Bündel für mich war. Bei all seiner Kraft konnte er sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass ich es mir nicht einfach locker über die Schulter schwingen und zur Schule tragen konnte. Ich dachte über den Bibelvers nach, in dem es hieß, dass wir unsere Lasten auf Jesus werfen sollen, und weil es nach Hause immer noch näher war als bis zur Schule, war ich drauf und dran, umzukehren und meinem Vater die Last vor die Füße zu legen. Welche Strafe das auch immer nach sich gezogen hätte, die Erleichterung wäre es al-lemal wert gewesen.

Es war dann aber der Gedanke an diese Strafe, der mich zögern ließ, und genau in diesem Moment des Zögerns sah ich ihn zum ersten Mal. Er stand am Ende unserer Straße, ge-nau an der Stelle, an der die Zufahrt zu unserer Farm von der Straße in die Stadt abzweigte. Ging man an dieser Abzwei-gung nach links, gelangte man zum Fluss, und zwar an die

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Stelle, an der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die Mormo-nen. Und von dort war er gekommen.

Mein Kopf war erfüllt mit all den Gesprächsfetzen, die ich in der Stadt, in der Kirche und bei uns zu Hause am Küchen-tisch mitbekommen hatte. Zu dem Einschneiden des Seils an meiner Schulter kam jetzt noch der einzigartige Schmerz hin-zu, den Angst auslöst. Als ob mein Atem nicht schon schwer genug ging, kam es mir jetzt so vor, als ob er mir in der Kehle stockte. Also blieb ich mitten auf dem Weg stehen.

Ich muss genauso erschrocken ausgesehen haben, wie ich mich fühlte, denn er hob seine Hände wie jemand, der sich ergibt. Vielleicht hätte ich trotzdem die Kraft gehabt, kehrt-zumachen und wegzurennen, hätte er nicht seinen Hut gezo-gen, gelächelt und gesagt: „Kann ich dir an diesem schönen Morgen vielleicht behilflich sein?“

Das waren die ersten Worte, die er zu mir sagte, und seine Stimme war wie Honig. Er hatte ein vollkommenes, breites Lächeln, ein Lächeln, wie ich es noch nie zuvor gesehen hat-te. Das Lächeln dieses Jungen war so warm, als trüge er die Sonne zwischen den Lippen. Ich machte mir Sorgen wegen der Butter in meinem Bündel, dass sie auf der Stelle schmel-zen und dann durch den Stoff hindurchtropfen könnte, aber es gab jetzt kein Halten mehr. Ich merkte, wie ich weiterging, und zwar direkt auf ihn zu, und ich blieb erst wieder stehen, als ich ihm direkt in die Augen sehen konnte – die von einem Hellbraun waren, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte – und das verblichene grüne Karomuster seines Hemdes deut-lich erkennen konnte.

„Das sieht schwer aus“, sagte er mit einem Blick auf das Bündel. „Ich bin auch auf dem Weg in die Stadt. Darf ich es für dich tragen?“

Ich verstand beim besten Willen nicht, was er meinte, und wir standen da und starrten einander an, bis er seinen Hut wieder aufsetzte, vortrat und mir erst meinen Blecheimer mit dem Mittagessen und dann die Bücher abnahm. Er stapelte

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beides übereinander und balancierte es auf dem Unterarm, um dann noch einmal die Hand auszustrecken: „Komm, gib mir das auch noch.“

Als ich seiner Einladung nachkam, war es, als flögen Hun-derte von Vögeln von meinem Körper auf. Er nahm das Bündel und schwang sich das Seil über die Schulter, ohne an-gesichts des Gewichts auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Nach dir“, sagte er und deutete mit dem Kopf in Rich-tung Stadt.

„Lass mich wenigstens die Bücher nehmen.“ Er streckte seinen Arm aus und ich nahm meinen kleinen

Blecheimer und dann meine Bücher wieder entgegen. Seine Hemdsärmel waren bis zum Ellbogen hochgekrempelt, und ich achtete peinlich darauf, ihn nicht zu berühren, als ich ihm die Bücher abnahm.

Es stellte sich heraus, dass der Zustand der Straße ideal für einen Fußmarsch war – gar nicht so aufgeweicht, wie ich be-fürchtet hatte. Es hatte gerade genügend geregnet, dass der Boden etwas angefeuchtet war, also weder matschig noch staubig. Irgendwie fielen wir ganz von selbst in einen Gleich-schritt.

„Und“, meinte er, als wir unser Tempo gefunden hatten, „macht es dir etwas aus, mir zu sagen, was ich da trage?“

„Käse“, antwortete ich, den Blick fest auf die Straße ge-richtet.

„Dann hast du ja anscheinend vor, ziemlich viel Hunger zu bekommen.“

Ich sah zu ihm hin, aber er schaute lächelnd geradeaus, und ich musste laut lachen. Mama sagte immer, dass eine Dame schicklich ihren Mund bedeckt, wenn sie lacht, aber ich hatte beide Hände voll, und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre – mir schien es unmöglich, mit dem La-chen aufzuhören.

Das war dann aber auch das letzte Geräusch, das einer von uns von sich gab, bis wir den Schulhof am Stadtrand erreicht

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hatten. Andere Mädchen, die ich kannte, waren geübt da rin, mit Jungen zu plaudern, aber mir blieb irgendwie alles, was mir zu sagen einfiel, im Halse stecken. Er war kein Junge, mit dem man plauderte, und ich glaube, eigentlich war er auch überhaupt kein Junge mehr. Von seiner Größe und Gestalt her war er schon eher ein Mann. Ab und zu warf ich ihm von der Seite einen Blick zu, nur um zu sehen, wie er so zielstre-big neben mir herging. Selbst im Profil war sein Gesicht gut-aussehend – glatt und rund. Er trug den Kopf hoch erhoben, und der Weg schien ihm ebenso vertraut wie mir, obwohl er hier doch fremd war.

Ich ging mit einem Fremden. Es war jetzt auch eigentlich gleichgültig, ob ich weiter

schwieg oder sogar nie wieder mit ihm sprach. Wenn sich herumsprach, dass Arlens Tochter mit einem Fremden zur Schule gegangen war, und dann auch noch mit einem von de-nen, den Mormonen … Nun, es war gar nicht auszudenken, welche Strafe mich erwartete.

Ach, Herr, betete ich, lass sie mich bitte nicht sehen. „Was ist denn los?“ Erst da merkte ich, dass ich stehen geblieben war und er

mich ganz leicht berührte. Er fasste mich nicht richtig an, nur seine Hand schwebte über der Manschette meiner Bluse, und ich presste die Bücher noch fester an mich.

„Eigentlich sollte ich gar nicht mit dir zusammen gehen.“ Ich weiß gar nicht, ob ich das eher zu mir selbst oder zu ihm sagte, aber es stimmte.

„Ja, natürlich.“ Er stieß die Worte hervor und nickte dabei, als hätten wir beide gerade eine großartige Idee gehabt. „Ei-ne junge Frau ist ja auch viel sicherer, wenn sie allein unter-wegs ist, nicht wahr?“

„Nein.“ Er hatte mich als Frau bezeichnet. „Na, dann vielleicht, weil ich eine Art Monster bin?“ Darüber musste ich wieder lachen, aber dieses Mal erstarb

mein Lachen. „Ich weiß doch gar nicht, wer du bist.“

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Wären diese Worte von einem anderen Mädchen gekom-men, hätten sie vielleicht kokett geklungen. Aber bei mir war das nicht so. Ich wusste gar nicht, wie man flirtet.

„Mein Name ist Nathan Fox und ich komme aus Spring-field in Missouri.“

„Ich bin …“ „Camilla Deardon.“ „Du weißt, wie ich heiße?“ „Wir sind doch schließlich Nachbarn, oder?“ „Wohl kaum.“ „Was meinst du denn mit ,kaum‘?“ Er verlagerte das Ge-

wicht des Bündels ein wenig und trat einen Schritt von mir weg. „Die Grenze eures Landes verläuft direkt am Rand un-seres Lagers. Soviel ich weiß, sind wir dadurch Nachbarn, oder?“

„Aber wir sprechen nicht miteinander.“ „Das tun wir doch gerade.“ „Wir kennen uns gar nicht.“ „Das könnten wir aber.“ In der Ferne vernahm ich ein vertrautes Geräusch, das

durch die Morgenluft zu uns herübergetragen wurde. Es war Mr Teague, der Lehrer der höheren Klassen, also auch mein Lehrer, der dieselbe Melodie pfiff wie jeden Morgen. Diese Melodie verkündete seine Anwesenheit lauter, als jede Schul-glocke es vermocht hätte. In den nächsten Sekunden würde er um die Ecke biegen, seinen Schlüsselbund um den Finger kreiseln lassen und dann die Eingangstüren der drei Gebäu-de öffnen, aus denen unsere Schule bestand. Weil er der ein-zige Mann im Lehrerkollegium war, wurde ihm als Einzigem diese Aufgabe anvertraut.

„Du musst jetzt gehen“, sagte ich und nahm meine Bücher in den anderen Arm, damit ich Nathan das Bündel wieder ab-nehmen konnte, das er immer noch trug.

„Oh nein.“ Er trat einen Schritt zurück, sodass ich sei-ne Schulter nicht erreichen konnte. „Das Bündel ist nicht

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leichter geworden und du auch nicht stärker. Wohin soll ich es bringen?“

„Nein, bitte nicht.“ Fast panisch sah ich mich um. „Du darfst hier auf keinen Fall gesehen werden.“

„Aber ich komme doch andauernd in die Stadt.“ Und da war auch wieder sein Lächeln. Er neckte mich, und ich spür-te, wie die Wärme, die durch ihn entstand, mein Gesicht er-reichte.

„Aber nicht mit mir und nicht in meine Schule.“ Die gepfiffene Melodie wurde zunehmend lauter. Klar er-

kennbar jetzt der „Yankee Doodle“. „Dann geh doch einfach weiter.“ Er machte eine Geste mit

der einen Hand, als wollte er mich fortscheuchen, und pack-te mit der anderen Hand das Seil noch fester. Und dann ging er langsam einen Schritt rückwärts und dann noch einen zu-rück zum Weg, bis aus seiner scheuchenden Geste ein Ab-schiedswinken wurde.

„Was machst du da?“ Obwohl er sich immer weiter von mir entfernte, sprach ich zunehmend leiser. Es war fast nur noch ein Zischen, weil das Pfeifen aufhörte und ich Mr Teague ir-gendjemandem einen guten Morgen wünschen hörte – ir-gendjemandem, der ebenfalls gleich um die Ecke kommen und mich entdecken würde.

„Komm mit!“ Nathan Fox gab sich nicht einmal Mühe, lei-se zu sprechen, und ich staunte, als ich sah, dass er rückwärts genauso zielstrebig gehen konnte wie vorwärts.

Ich drehte mich um und sah hinter mir Mr Teague, der in ein Gespräch mit Miss Powers vertieft war, der hübschen La-dy aus Philadelphia, von der die unteren Klassen unterrichtet wurden. Fürs Erste war ich also in Sicherheit.

„Das ist Diebstahl!“ Er zuckte nur mit den Achseln. „Sollten nicht diejenigen,

die viel haben, den Hungrigen zu essen geben?“ Ich dachte an die Käselaibe und die Pfunde Butter in dem

Bündel und auch an den Witz, den er darüber gemacht hatte

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und den ich jetzt aufgriff. „Du kannst unmöglich so großen Hunger haben!“

Und da veränderte sich seine Haltung. Doch er sah mich nicht hart, unnachgiebig oder verbissen an, sondern sanft. Und es schien ihm jetzt fast Mühe zu bereiten, weiterzulä-cheln.

„Aber meine Leute haben Hunger, Camilla. Und du tust ein Werk des himmlischen Vaters, indem du uns zu essen gibst. Er wird dich dafür segnen.“

Dann zog er seinen Hut und hielt ihn über sein Herz. Wäh-renddessen ging er die ganze Zeit im selben Tempo rückwärts, sogar dann noch, als er sich tief vor mir verbeugte. Schließ-lich drehte er sich um. Ich zwang mich, stehen zu bleiben.

„Miss Deardon?“, hörte ich Mr Teague hinter mir sagen. Ganz langsam drehte ich mich um und fand es in diesem Augenblick schrecklich, dass ich nun Nathan Fox nicht ent-schwinden sehen würde.

„J-ja, Mr Teague?“ Er stand inzwischen auf der oberen Stufe der Schultrep-

pe – allein. „Würden Sie mir bitte erklären, was das da gerade war?“ Er

verrenkte sich beinah den Hals und blickte über mich hinweg auf das Bündel Wohltätigkeit, das da des Weges zog.

„Die Kühe haben auf einer Weide gegrast, auf der in einer Ecke wilde Zwiebeln wuchsen“, entgegnete ich und trottete über den Schulhof. „Deshalb ist die Milch und alles, was da-raus gemacht worden ist, ungenießbar.“

„Wie schade.“ Er sah mich über seine lange, schnabelför-mige Nase hinweg an. „Dann müssen Sie aber beim nächsten Mal besser aufpassen.“

Ich blinzelte in die Morgensonne und dachte an Nathan Fox.

„Ich weiß.“