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Das Zukunftsmagazin der Nr. 20 18. Dezember 2013 future Von der Kunst, richtig über den Gaumen zu peilen Die Zukunft des Essens

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Das Zukunftsmagazin der Nr. 20 ● 18. Dezember 2013

future

Von der Kunst, richtig über den Gaumen zu peilen

Die Zukunft des Essens

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Innovation auf der Speisekarte

ACR Kooperationspreis 2013

Ein KMU aus dem Burgenland entwickelte mit der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung eine innovative Waffelmischung, die ohne den Zusatz von Zucker, gehärteten Fetten und Konservierungsstoffen auskommt. Rohstoffe und Produktion sind regional. Das überzeugt den Gast und den Wirt. Hinter dem Produkt stehen ein Jahr technische und chemische Analysen und Versuche.

Die österreichische Gastronomie folgt immer stär-ker dem Trend zu gesundheitsbewusster Ernäh-

rung und regionalen Lebensmitteln. Das erkannten auch Astrid und Richard Aichholzer von der Firma Waffelmax aus dem Südburgendland: „Die größte Marktlücke besteht hier bei Desserts. Sie sollen ein-fach und schnell zuzubereiten sein und gleichzeitig qualitativ hochwertig und aus regionalen Zutaten. Der Gast will eine frische Nachspeise auf dem Teller haben, die Küche ein sicheres Produkt anbieten und effizient vorausplanen können. Waffeln sind dafür gut geeignet, weil man die Toppings je nach Jahres-zeit und Vorliebe variieren kann.“

Qualität bei Waffeln bedeutete für die Aichholzers: kein Zusatz von Zucker, keine Geschmacksverstär-ker, keine gehärteten Fette, keine Konservierungs-stoffe, österreichische Rohstoffe und Produktion, Aromen und Backtriebmittel auf ein Minimum redu-ziert. Bei ersten Versuchen in ihrer Backstube stieß Astrid Aichholzer bald an ihre Grenzen, denn bei marktüblichen Waffelmischungen werden Zusatz-stoffe verwendet, um die variierende Rohstoffquali-tät auszugleichen und eine leichte Verarbeitung zu ermöglichen. Ein Partner aus der Forschung wurde gefunden: Christian Kummer von der Versuchsan-stalt für Getreideverarbeitung (vg), Mitglied der Aus-trian Cooperative Research (ACR).

„Wir erkannten, welchen Stellenwert unsere For-schungsarbeit für dieses kleine Unternehmen hat, und entwickelten mit ihnen ein Produkt, das es so am heimischen Markt noch nicht gab. Und das in knapp einem Jahr mit geringen Kosten.“, so Kum-mer.

Im ersten Schritt ging es um die optimale Konsi-stenz. In technischen Analysen ermittelten Kummer und sein Team die optimale Mehlbeschaffenheit (u.a. Proteingehalt, Verkleisterungseigenschaften, Grif-figkeit und Teilchenverteilung des Mehls) und die ideale Zusammensetzung der verwendeten Zutaten. Viele Versuche waren nötig, um die optimale Mi-schung aus verschiedenen Mehlen, Salz, Backtrieb-mittel etc. zu finden. Backzeit und Backtemperatur wurden optimiert. Der Prozess dauerte ein halbes

Jahr, dann war die optimale Konsistenz der Halbfer-tigmischung fertig und Getreidelieferant und Mühle in der Region gefunden.

Im zweiten Schritt wurden auch die Kunden einge-bunden, denn es ging um Geschmack und Geruch. Hier war nicht nur der Duft der fertigen Waffel son-dern besonders der appetitanregende Geruch wäh-rend des Backprozesses wichtig. Die fertige Waffel sollte außerdem eine leicht krosse Kruste und eine goldgelbe Bräunung haben, ohne den Zusatz künst-licher Farbstoffe. Das dauerte weitere fünf Monate und die vg setzte die gesamte Teigrheologie mit allen Geräten und Instrumenten ein, von Extensogramm über Luftstrahlsieb bis hin zu Glutograph, Farino-graph, Ammylograph etc. Das Ergebnis ist für Unter-nehmen und Markt optimal.

Das Endprodukt ist eine innovative Habfertigmi-schung für eine Softwaffel, die Küche gibt nur noch Wasser, Butter und Eier dazu, und alle Ansprüche der Aichholzers an Qualität und Regionalität wurden erfüllt. Gleichzeitig wurden, dank der Produktion in der Region, die Logistikkosten und die CO2 Bilanz optimiert. Alle bestehenden Kunden von Waffelmax stiegen rasch auf das neue Produkt um und neue Kunden konnten gewonnen werden. Waffelmax und vg arbeiten gerade an der Entwicklung von drei wei-teren Produkten.

Die gute Kooperation zwischen Forschungsinstitut und Unternehmen und die ausgezeichnete Markt-akzeptanz des Produkts überzeugte auch die Jury. Ebenfalls entscheidend für die Auszeichnung: „Waf-felmax konnte als sehr kleines Unternehmen direkt und unkompliziert auf die volle Kompetenz der For-scherinnen und Forscher in der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung zugreifen und so seine Ideen im Markt zu vernünftigen Kosten umsetzen. Gerade kleinere Unternehmen sind bei ihren Innovationen auf Hilfe angewiesen und werden durch die F&E-Kooperation im Wettbewerb unterstützt: Hier sind die ACR-Institute besonders leistungsfähig und ein wichtiger Teil der österreichischen Innovationsland-schaft.“, so Juryvorsitzender Rudolf Lichtmannegger von der Wirtschaftskammer Österreich.

Das Ergebnis ist eine Waffelmischung, die ohne den Zusatz von

Zucker, gehärteten Fetten und Konservie-

rungsstoffen auskommt. Rohstoffe und Produkti-

on sind regional.Foto: Waffelmax

Innovation auf der Speisekarte: Der ACR Kooperationspreis 2013 ging an eine Produktentwicklung von Waffelmax und der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung (vg).

Bei Versuchen der vg wurden zum Beispiel Salzgehalt, PH-Wert und Säuregrad ermittelt.

Der ACR KooperationspreisDer ACR Kooperationspreis 2013 ging an Innovationen in den Gebieten Fahrzeugleichtbau, Holzbau und Lebensmittel: „Die drei Projekte, die wir heuer auszeichnen, haben eines gemeinsam: Es handelt sich um sehr spe-zialisierte KMU, die einen konkreten Bedarf und eine klare Vorstellung für eine Innovation in ihrem Unternehmen hatten. Damit wandten sie sich an ein ACR-Institut, mit dem sie die Idee gezielt in die Praxis umsetzten. Die Innovation bedeutet immens viel für das Unternehmen und sichert seine Marktposition.“, kommentierte Martin Leitl, Präsident der ACR, die Gewinnerprojekte.

Der ACR Kooperationspreis wurde – im Rahmen der ACR Enquete 2013 – am 15. Oktober in der Sky Lounge der Wirtschaftskammer Österreich in Wien verliehen. Zum achten Mal vergaben ACR und Wirtschaftsministe-rium diese Auszeichnung für ein Forschungsprojekt, das ein ACR-Institut für ein österreichisches KMU realisiert hat.

Die KooperationspartnerWaffelmax wurde 2007 von Astrid Aichholzer in Wörterberg im Bezirk Güssing (Burgenland) gegründet. Das KMU vertreibt Waffelmischungen und Waffeleisen. Umsatz, Mitarbeiter- und Kundenzahl steigen. www.waffelmax.at

Die Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung (vg) mit Sitz in Wien wurde 1952 als Sektion der Österreichischen Mühlenvereinigung gegründet und ist spezialisiert auf Forschung, Entwicklung und Prüfung für Getreide, Mehl, Brot und Gebäck. www.vg.or.at

www.acr.ac.at

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Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Fortschritt ist wichtig und aufregend, nur nicht beim Essen“, sagte der Pop-Künstler Andy Warhol in den 1970er Jahren. Die Zukunfts-strömungen unseres leiblichen Wohls sind so vielfältig, dass er zugleich recht und unrecht hatte.

Forscher sehen einen immer engeren Zusammenhang zwischen Ernährung und psychischer Gesundheit. Fast Food erhöht langfristig das Risiko, an Depressionen zu erkranken, frisches Obst und Gemüse ����������������� �������������������������������������klare Absage an Hamburger und Co. Der Grund, warum sich das Zeug aber dennoch beinhart hält, ist der Preis. Forscher der Brown Univer-sity in Providence haben nun sogar wissenschaftlich nachgewiesen, dass fettig billiger ist. Ihre Auswertung von 27 Studien zeigt: Wer Fertigessen und Tiefkühlpizza zu Gunsten von Obst, Gemüse und Fisch links liegen lässt, zahlt pro Tag rund einen Euro drauf. Dafür erspart er sich wiede-rum industrielle Zusatzstoffe mit unbekannten Auswirkungen auf den Körper. Lesen Sie mehr darüber auf den Seiten 4 bis 7.

Prognosen zufolge werden Konsumenten in Zukunft immer mehr Wert legen auf die Herkunft der Lebensmittel, ihre Qualität, Zubereitung, Vielfältigkeit und gesundheitsfördernde Wirkung. Wegen des besseren Preis-Leistungsverhältnisses gehen immer mehr Menschen dafür zu lokalen Produzenten oder zum Bauern statt in teurere Biomärkte. Die Idee ist, wieder mehr selbst zu kochen und genussvoll nachhaltig zu speisen, gibt die Star-Köchin Sarah Wiener im Interview zu verste-hen. Was der Westen in Zukunft essen wird, ist auf den Seiten 8 bis 10 beschrieben.

In anderen Ländern stellt sich die Frage anders. Einer von acht Men-schen hungert. Die UNO hat sich vor Jahren zum Ziel gesetzt, die Zahl der Hungernden bis 2015 halbieren zu wollen. Sehr weit ist sie jedoch noch nicht gekommen. Zwar wurde die Getreideproduktion in den letzten 50 Jahren verdoppelt, doch Wetterextreme wie Dürren oder Fluten lassen Fortschritte wie Sisyphusarbeit erscheinen. Gerade in Ländern, in denen der Hunger am größten ist, verschärft ihn der Klima-wandel noch weiter, analysieren wir auf den Seiten 12 und 13.

Insekten sind eine wertvolle Protein-Quelle – auch für Menschen. �������������������� �������������������������������den zu Mund nehmen. Wo es Schokolade-Ameisen und frittierte Heu-��������������������!����"��!�����#$��#%�����������

Für Menschen mit traditionellerem Geschmack haben wir ein beson-deres Rezept für eine Weihnachtsgans. Denn gewisse Werte bleiben ja gleich: Speisen sollen gut schmecken, ein Gefühl von Genuss bereiten und satt machen. Die Schöpfer dieses Weihnachtsmenüs betonen allerdings, es sei deswegen so gut, weil es sich nach biochemischen und physikalischen Prinzipien richtet. Wohl bekomm’s!

Fröhliche Weihnachten und ein gutes Neues Jahr wünschen Ihnen Eva Stanzl und das Future-Team

Editorial

Impressum

future erscheint als Verlagsbeilageder Wiener Zeitung.Medieneigentümer und Herausgeber:Wiener Zeitung GmbHMedia Quarter Marx 3.3Maria Jacobi-Gasse 1, 1030 WienTel.: 01/20699-0Geschäftsführung: Dr. Wolfgang RiedlerMarketingleitung: Wolfgang Renner, MSc.Anzeigenleitung: Harald WegscheidlerRedaktion: Eva Stanzl (Leitung), Cathren Landsgesell, Helmut RibaritsArtdirection: Richard KienzlDruck: Niederösterreichisches PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbH, Gutenbergstraße 12A-3100 St. Pölten

Die Offenlegung gemäß § 25 MedienG ist unter www.wienerzeitung.at/impressum ständig abrufbar.

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In Zukunft könnten wir das � �����������������'�����������*

Wir sind, was wir essen

Nahrungsmittel werden kurzfristig billiger – doch der Hunger bleibt:

Ernährungssicherheit –ein Wunschtraum?

Star-Köchin Sarah Wiener über die Rolle des Genusses:

Genussvoll nachhaltig speisen

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8 Die Zukunft der Ernährung::

Gib dem Essen einen tiefen Sinn

Weltweit stehen über 1400 Insektenarten auf den Speiseplänen:

Käfer im Bauch 14

Pizza am Stiel ...........................................................................11

Dürreresistenter Gentech-Reis ..................................................11

Wissenschaftlich fundiertes Weihnachtsmenü ............................11

Telegramm ...............................................................................16

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Wir sind, was wir essen

Wendepunkt in der Ernährungsforschung: In Zukunft könnten ����������� �����������������'�����������

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Was wir essen entscheidet nicht nur über die Figur, sondern auch über den Gemütszustand. Wissenschafter sehen

einen immer engeren Zusammenhang zwischen der Ernährung und der psychischen Gesundheit. Nun wollen sie

entschlüsseln, wie dieser Zusammenhang im Detail funktioniert. Wenn dieses Forschungsvorhaben gelingt, könnte

man Depressionen, Alzheimer und Parkinson vermeiden.Von Cathren Landsgesell

Es ist simpel:

Die Mahlzeit auf dem großen Bild wird

Sie depressiv machen. Schon kleine Dosen

reichen, um das Risiko um 51 Prozent zu

erhöhen. Die Mahlzeit auf dem kleinen

Bild hingegen wird sie glücklich machen.

Warum das so ist, beginnen Wissenschafter

allmählich zu ergründen.

„Wir beginnen erst, die Wirkungspfade der Ernäh-rung in Bezug auf neuronale und psychische

Erkrankungen zu verstehen“, sagt Felice Jacka. Die Epi-demiologin aus Melbourne erforscht die Entstehung von Depression und Angst. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs mit der Ernährung gelang ihr erstmals 2012 durch die Analyse einer Gruppe von australischen Jugendlichen. „Man erkrankt aufgrund der schlechten Er-nährung und umgekehrt verbessert sich der psychische Zustand, wenn die Ernährung besser wird“, sagte sie da-mals beim Abschluss der Studien zu „Future“. Nun be-schäftigt sich die Forscherin mit den Auswirkungen des Essens in der Schwangerschaft und Stillzeit auf die gei-stige Entwicklung des Kindes. Ihre Arbeit steht für eine Wende in der Ernährungsforschung.

Bisher hatten sich die Wissenschafter in erster Linie auf einzelne Inhaltsstoffe konzentriert, wie die Wirkung von Vitaminen oder von bestimmten Fettsäuren. Etwa hat Nobelpreisträger Linus Pauling eine Krebstherapie ent-wickelt, die auf der Gabe von hoch dosiertem Vitamin C beruht. Andere Forscher konnten zeigen, dass Omega-3-Fettsäuren eine wichtige Rolle zur Vorbeugung von De-menzerkrankungen spielen.

Lebensstile unter der LupeNun entwickelt sich ein ganzheitlicher Ansatz: Forscher nehmen zunehmend Ernährungsmuster und Lebensstile in den Blick. Anhand echter Lebensmittel untersuchen sie die Wirkung von Ernährung auf bestimmte Bevöl-kerungsgruppen. Der Wirkungszusammenhang, der sich herauskristallisiert, ist weniger trivial, als er vielleicht auf den ersten Blick aussehen mag. Vollkornprodukte, viel Gemüse und Obst senken die Wahrscheinlichkeit, depressiv, dement, krebs- oder herzkrank zu werden, während Weißmehl, viel Zucker, gehärtete Fette – kurz,

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alles, was vor allem in industriell verarbeiteten Le-��������� � ������ + ������������ ������� ������-kant erhöhen.

Wer sich hauptsächlich schlecht ernährt, wird see-lisch und körperlich krank. Aber wie wirkt die Ernäh-rung genau? Arthur Westover und Lauren Marangell, Psychiater aus Texas, kamen 2002 auf die Idee, den Pro-Kopf-Zuckerkonsum in sechs Industrieländern mit der Verbreitung von Depression zu korrelieren. '�;������������������ �����������������������<�-sammenhang. Die Psychiater schrieben damals: „Ein statistischer Zusammenhang ist noch keine kausale Herleitung, aber man sollte einige Mechanismen nä-her untersuchen, die im Zusammenhang mit dem Konsum von Zucker stehen.“ Namentlich nannten ��� �� =����������� ��� =���>'��������� ����Zucker und die Erhöhung von oxidativem Stress in den Körperzellen.

Die Erforschung einzelner Mikronährstoffe, etwa von Fettsäuren wie Omega-3, oder die Unter-

suchung von bestimmten Vitaminen, insbesonde-re jenen der B-Gruppe, konnte nachfolgend zwar mögliche Wirkungsmechanismen für die Entstehung von Depressionen ausmachen, aber die Ergebnisse blieben zunächst uneindeutig. So konnte eine For-schungsgruppe um Almudena Sanchez-Villegas von der Universität Las Palmas auf Gran Canaria 2008 zwar zeigen, dass eine Ernährung mit vielen Omega-3-Fettsäuren, zum Beispiel aus Fisch, „potenziell posi-tive Effekte auf die neuronale Gesundheit“ hat. Einen linearen Zusammenhang aber vermochten sie damals nicht zu etablieren.

Fast Food macht depressivVier Jahre später gelang ein Durchbruch. Sanchez-Vil-legas und ihre Kollegen betrachteten die Ernährungs-stile von insgesamt 12.059 Studienteilnehmern und stellten fest: Es besteht eine Verbindung zwischen der Menge an Pommes und Burgern und der Entwicklung von Depression. Je mehr Fast Food, desto depres-siver: Wer Fast Food isst, erhöht seine Chancen auf eine Depression um satte 51 Prozent.

Wissenschaftlich gesehen scheint es nämlich so zu sein, dass das Fast Food dem Gemüt quasi noch den letzten Rest gibt, denn die Studienteilnehmer mit dem höchsten Konsum waren auch diejenigen, die am wenigsten Sport betrieben und jede Woche mehr als 45 Stunden arbeiteten – somit also ohne-hin einen erhöhten Stresslevel hatten. Die spanische Forschungsarbeit bestätigt damit den Verdacht, den die beiden texanischen Psychiater in Bezug auf den Zucker hatten: Schlechtes Essen stresst Körper und Seele. Hinzu kommt, dass der Mechanismus derselbe zu sein scheint wie jener, der Zucker und gesättigte Fette mit Herz- Kreislauferkrankungen verbindet: ein irritiertes Immunsystem, das überall im Körper, auch im Gehirn, chronische Entzündungsprozesse in Gang setzt. Entzündliche Zustände der Körperzellen sind typisch bei Herz-Kreislauferkrankungen und bei De-pression.

Entzündungen können die gesamte Kommunikation im Körper durcheinanderbringen. Sie sind eigent-

lich eine Strategie der Immunabwehr des Körpers, wie etwa bei Fieber der Fall ist. Die entzündliche Im-munabwehr ist ein komplexer Stoffwechselprozess, der über verschiedene Wege die Hormone und Bo-������""���������"���������� �������������Erinnerungsvermögen wichtig sind. Wie aber schafft es ein simpler Burger, chronische Entzündungszustän-de auszulösen? Sanchez-Villegas und ihre Kollegen vermuten, dass die gesättigten Fettsäuren und die Transfette den Weg über das Cholesterin und die sich langsam aufbauende Insulinresistenz (im Endstadium Diabetes) nehmen. Ein erhöhter LDL-Cholesterin-Spiegel und das freie Insulin in den Körperzellen stö-ren die Signalübertragung in allen Körperzellen. Das bedeutet: Das Erinnerungs- und Lernvermögen leidet, die Stimmung sinkt, wir sind schlapp und unmotiviert. Essen wird zur Dauerbeschäftigung, weil wir auch nicht mehr wissen, wann wir satt sind.

Obst und Fisch machen frohHeißt dies umgekehrt, dass eine gesunde Ernährung auch gesund macht? Es scheint so zu sein. Eine Meta-analyse von Wissenschaftern der Universität Florenz brachte 2008 zutage, dass eine sogenannte „mediter-rane Diät“ mit viel frischem Gemüse, Obst, Fisch und Olivenöl, aber sehr wenig Fleisch und Käse das Risiko von Alzheimer und Parkinson senkt. Und eine Studie

Hans-Ulrich Grimm nennt sich „Experte für schlechtes Essen“. Mit „Future“ sprach der Autor über die Wirkung von Zusatzstoffen in Lebensmitteln.

Die Konzerne bestimmen, was ins Essen kommt. Interview: Cathren Landsgesell

„Von Geschmacksillusionen kann man nicht leben“

Future: Woran forscht die Lebensmittelindustrie gerade, in welche Richtung geht es? Hans-Ulrich Grimm: Die Lebensmittelindustrie ist gerade auf die Bakterien gekommen. Sie spielen eine prominente Rolle bei der Erzeugung von Zusatzstoffen für den Geschmack. Ein weiteres, un-�������������@�������������� "���� X������� �������� �����Nutzung von Abfällen jeder Art. Das läuft sogar unter dem Stich-wort „Nachhaltigkeit“. Klassiker sind die Erzeugung von Erdbeerge-schmack aus Sägespänen, oder die Nutzung von Nebenprodukten, wie Molke oder Sojaprotein. Die Geschmackstechnologie macht generell gerade riesige Sprünge: Jetzt nutzt man die Genetik, um den Geschmack auf dem Weg von der Zunge zum Gehirn zu ma-nipulieren.

Heißt das, der Geschmack wird nicht mit natürlichen oder künstlichen Substanzen erzeugt, sondern mit Hilfe von Zusätzen, die erst auf dem Signalweg zum Gehirn wirksam werden?Genau. Große Biotechnologie-Unternehmen wie Senomyx, die für Nestlé, Kraft, Pepsi oder Coca Cola forschen, haben sich Signalpfade patentieren lassen, die von den Geschmacksrezeptoren auf der Zun-ge über die Gene, die das Ganze codieren, bis ins Gehirn reichen, wo die eigentliche Geschmacksensation entsteht. Wir wissen noch relativ wenig über die Rolle des Geschmacks, aber es scheint so zu sein, dass er vor giftigen Substanzen warnt und auf wertvolle Inhalts-stoffe hinweist. Jeder hat einen individuellen Geschmack, der auf die Konstitution des Körpers abgestimmt ist und seine aktuellen Bedürf-nisse. Die Regeneration des Körpers kann durch den Geschmack gesteuert werden, weil wir so eher zu Lebensmitteln greifen, deren Inhaltsstoffe wir brauchen. Das Problem ist nun: Sie schmecken et-was, aber das, was Sie als Geschmack wahrnehmen, ist nicht das, was im Essen drin ist. Der Körper bekommt nicht die Stoffe, die er braucht. Dabei ist Geschmack eine so wichtige Information für den Körper, dass sogar im Darm noch Geschmacksrezeptoren sind. Sie teilen dem Darm mit, was zu verarbeiten ist und was nicht in den Blutkreislauf darf. Wird der Geschmack gestört, kann das auch zur Aufnahme von Substanzen führen, die eigentlich schädlich sind.

Wir verlieren also immer mehr die Kontrolle über das, was wir essen? Ja, genau so ist es. Und wir reden hier nicht von einer Marginalie, sondern von einer dominanten Strömung.

Aber Bakterien können nicht so schlimm sein, oder? Bakterien können auch gut sein, aber ich weiß nicht, ob Sie wirklich anstelle einer echten Vanille eine von Bakterien erzeugte Simula-tion des Geschmacks essen wollen, die keinerlei Brauchbares für den Körper hat. Schon im 19. Jahrhundert hat man aus Birkenrin-de Vanillin, einen künstlichen „Vanille“-Geschmack, erzeugt, in den 1980er Jahren hat man das Abwasser einer kanadischen Papierfabrik genommen und heute sind es unter anderem die Pseudomonas-Bakterien. Bakterien haben den Vorteil, dass man durch sie erzeugte Aromen als „natürlich“ bezeichnen darf. Auf der Verpackung lesen Sie dann: natürliches Vanillearoma. Es geht dabei aber nur um die Illusion von Geschmack. Davon kann der Körper nicht leben.

Die Lebensmittelindustrie aber scheinbar schon. Sind die Kosten der alleinige Treiber dieser Entwicklung? Ja, so ist das im Kapitalismus; man muss mit wenig Einsatz möglichst viel herausholen. Das gilt zumindest für die großen Konzerne. Un-ternehmen wie Coca-Cola oder Nestlé müssen jedes Quartal eine Bilanz legen. Der ökonomische Druck ist enorm hoch und drängt

die Konzerne, immer noch billigere Rohstoffe zu suchen und ein-zusetzen. Für den Verbraucher ist das undurchschaubar, und selbst die Lebensmittel-Kontrollbehörden wissen oft nicht mehr, was in den Lebensmitteln drin ist. Die Konzerne bestimmen, was ins Essen kommt.

Wie konnte es zu einem derartigen Kontrollverlust kom-men?Durch die Zusammenarbeit mit der Industrie. Zum Beispiel werden die Länderdelegationen für den „Codex Alimentarius“, die Weltre-gierung in Sachen Lebensmittel, regelmäßig durch Industrievertreter besetzt, die dann gemeinsam mit den Regierungsvertretern an den Sitzungen teilnehmen. Der Codex ist eine von der UNO und der WHO eingesetzte Einrichtung, die im Konsens entscheidet, welche Zusätze zulässig sind und welche nicht. In der österreichischen De-legation sitzt immer ein Vertreter von Red Bull, in der Schweizer Delegation ein Vertreter von Nestlé und in Deutschland ein Ver-treter von Südzucker. Es geht um Dinge, die uns alle betreffen, aber wenn es um Lebensmittel geht, hat die Demokratie Pause.

Die Lebensmittelkonzerne werden aber wohl kaum ab-sichtlich schädliche Substanzen ins Essen mischen.Das ist richtig. Nur: Die Menge macht das Gift. Niemand weiß, wie viele Zusatzstoffe wir zu uns nehmen. Eigentlich müsste es laut EU-Verordnung bereits seit 1995 in jedem Mitgliedsland ein Monitoring dafür geben. Das heißt: Vor fast 20 Jahren ließ man Zusätze mit der Maßgabe zu, sie zu überwachen, aber die Überwachung passiert ������'��=������ *[�������;��������'\\$]�^�������������� ���bis zum Zwölffachen der Menge, die als unbedenklich gilt. Es geht nicht um akute Erkrankungen, sondern um chronische Zustände und langfristige Wirkungen wie neurologische Erkrankungen, Überge-wicht und Diabetes. Da ist die Kontrolle nicht auf der Höhe der Zeit.

Wenn die Kontrollstellen von der Industrie besetzt sind, ist dann die Forschung zumindest unabhängig? @�������� �� X������� ��� �"��� � ��� ����������� ��������stark in der Tierfutterindustrie. Es ist schon bedenklich: Da zahlt der Steuerzahler für Universitäten und dann muss sich der Forscher in den Dienst der Industrie stellen, weil das Geld nicht reicht und er Drittmittel einwerben muss. Die Freiheit der Wissenschaft war noch nie so gefährdet wie heute. ■

Zur Person:Hans-Ulrich Grimm, geboren 1955 im Allgäu, ist ein deutscher Autor und Journalist. Der ehemalige „Spiegel“-Redakteur ist für seine Studien über industriell gefertigte Lebensmittel und die beschönigenden, biswei-len verschleiernden Taktiken ihres Marketings bekannt geworden. Er hat zahlreiche Bestseller zum Thema Lebensmittelzusatzstoffe und Lebensmittelindustrie geschrieben und arbeitet

aktuell an einem Buch über Milch, Käse und Fleisch aus Massentier-haltung. Im Rahmen von „Talk Gate“, eine Veranstaltungsreihe zu Forschung und Innovation im Tech Gate Wien, hielt Grimm einen Vortrag rund um das Thema „Wie viel Technologie verträgt unser Bauch?“ Die Veranstaltung ist unter http://www.streams.h82.eu/techgate/?modid=18&a=show&pid=225 zum Nachhören zu �����

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Gestalten Sie die

Zukunft des Essens!Die Lebensmittelsicherheit ist zwar hoch, in der öffent-lichen Wahrnehmung wird aber nicht unterschieden, ob ein tatsächliches Risiko besteht – Skandal bleibt Skandal. Ein vermeintliches Risiko wird genauso be-drohlich empfunden wie ein reales. Neue Technolo-gien und Entwicklungen auf dem Lebensmittelsektor - Schlagwort „Schummelschinken“, „Analogkäse“, „Kle-befl eisch“ oder „Sauerstofffl eisch“ – wecken Ängste vor unbekannten Gefahren. Diese Gefahren existieren zwar nicht – Schummelschinken und Analogkäse sind nicht gesundheitsschädlich –, allerdings erfüllen derar-tige Erzeugnisse häufi g auch nicht die Erwartungen der VerbraucherInnen. Die AGES sorgt für einen sicheren Lebensmittelkreislauf „vom Acker bis zum Teller“, effi zienten Seuchenschutz für Mensch, Tier und Pfl anze, sowie für wirksame und si-chere Medikamente. Das Leistungsspektrum der AGES umfasst insbesondere Analyse, Begutachtung, Überwa-chung, Zertifi zierung und Zulassung. Um ein Höchstmaß

an Gesundheit, Ernährungssicherheit und Verbrauche-rInnenschutz im Wirkungskreis der AGES zu gewährlei-sten, gehen wir nach den Grundsätzen der Risikoanalyse vor: Wir bewerten Risiken, betreiben Risikokommunika-tion, geben Risikomanagement-Empfehlungen ab und betreiben Risikomanagement im behördlichen Bereich.Informationsarbeit ist ein wichtiges Aufgabengebiet der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernäh-rungssicherheit GmbH, kurz AGES, und wird es auch in Zukunft sein. Mit dem Forschungsprojekt „Future Foods 4 Men and Women“ wollen wir Sie einladen, die Zukunft des Essens mitzugestalten.

Future Foods 4 Men & WomenIm Rahmen des Forschungsprojekts „Future Foods 4 Men & Women“ sollen Erwartungen und Meinungen zu Produkten, Lebensmittelsicherheit und gesunder Ernäh-rung ergründet werden.

Ihre Meinung zähltHaben Sie Lust, die Zukunft unserer Ernährung und Lebensmittelsicherheit aktiv mitzugestalten? Wenn Sie sind zwischen 20 und 60 Jahren alt sind, dann suchen wir Sie!

Details zum Projekt:Sie beantworten einen Fragebogen und nehmen an zwei Workshops teil (jeweils 1 Tag). Die Workshops werden in Wien, Linz, Graz und Innsbruck abgehalten. Der erste Workshop fi ndet im Zeitraum von April bis Juli 2014 statt. Dabei geht es um eine erste Sammlung Ihrer Er-wartungen und Meinungen zu den Themen gesunde Ernährung und Lebensmittelsicherheit. In einem zweiten Workshop, der im Zeitraum von Jänner bis Juni 2015 geplant ist, haben Sie die Möglichkeit, Ihre Empfeh-lungen für Produktinnovationen und Dienstleistungen zu konkretisieren.

Nähere Informationen und Anmeldung unter:

http://futurefoods.ages.at

aus 2009 des University College in London konnte zeigen, dass eine vollwertige Ernährung vor Depres-sionen schützen kann. Dazu waren der Gesundheits-zustand und der Ernährungsstil von 3486 Briten mittleren Alters über einen Zeitraum von neun Jah-ren mehrmals gemessen und analysiert worden. Die Autoren führen den antidepressiven Effekt gesunden Essens auf das Zusammenspiel vieler Inhaltsstoffe zurück, darunter der hohe Anteil an Antioxidantien wie Vitamin A und C und Folsäure in Gemüse, von ����������� {����>]>@����|���� �� }���;��� ��sowie von Ballast- und Mineralstoffen in Vollkorn-produkten. Diese Erkenntnisse wurden heuer durch eine Studie aus Finnland bestätigt: Anu Ruusen von der University of Eastern Finland in Kuopio stellte einer gesunden Ernährung (Vollkorn, Gemüse, Obst, Fisch) eine ungesunde Ernährung (Fleisch, Wurst, Frittiertes, stark verarbeitete Lebensmittel, viel Zu-cker und Weißmehl) gegenüber und kam 2013 zu ähnlichen Ergebnissen: Wer sich insgesamt gesund ernährt, ist weniger depressiv. Zudem scheinen iso-lierte Nährstoffe lange nicht so wirksam zu sein wie angenommen: Die Gabe von Vitamin B12 beispiels-weise oder von Omega-3-Fettsäuren allein reicht für eine bessere seelische und körperliche Gesundheit nicht aus, legt Ruusen dar.

Der Bestsellerautor Hans-Ulrich Grimm (sie-he Interview) weist ebenfalls auf die Notwen-

digkeit hin, das Zusammen- und Wechselspiel von Nährstoffen verstärkt in Betracht zu ziehen. Aller-dings aus anderen Gründen: Es sind die Zusatzstoffe in stark verarbeiteten Lebensmitteln wie Fertigpizza und Fertig-Erdäpfelpüree, die ihm Sorgen bereiten. Bei einem Vortrag im Tech Gate Anfang Dezember in Wien wies er auf die exorbitante Zahl von 2500 zu-gelassenen Lebensmittelzusatzstoffen hin, darunter

Aromen, Emulgatoren und Geschmacksverstärker. Über die Wechselwirkung dieser Stoffe und – noch wichtiger – über die Menge, die wir davon zu uns nehmen, wissen wir nämlich so gut wie nichts.

Zusatzstoffe können die Körperchemie durcheinan-derbringen. Vom Geschmacksverstärker Glutamat, der auch in Hefeextrakt enthalten ist, weiß man zum Beispiel, dass er den Leptinspiegel senkt. Dieser teilt dem Gehirn normalerweise mit, wann wir satt sind. Ist er künstlich gesenkt, tritt das Sättigungsgefühl viel zu spät oder gar nicht ein. Der Insulinspiegel steigt und damit gerät die ganze Entzündungskaskade in Gang, die von Fast Food bekannt ist. Als Neurotrans-mitter kann das Glutamat auch direkt in den Stoff-wechsel der Gehirnzellen eingreifen.

Langzeitwirkungen von Zusatzoffen Während Epidemiologen in aufwendigen Langzeit-studien versuchen, die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit zu belegen, sind die Lang-zeitwirkungen von Zusatzoffen noch kaum erforscht.Zudem kommen täglich neue hinzu. Die Kontrolle darüber fehlt weitgehend, wie Grimm erklärt, weil Industrie und Lebensmittelkontroll-Behörden oft personell verbündet sind. Angesichts der Verbreitung von Fast Food und stark verarbeiteten Lebensmit-teln ist Kontrolle aber eine dringliche Frage für das Wohlergehen der Bevölkerung und der kommenden Generationen: Wie Felice Jacka festgestellt hat, ent-wickeln Kinder von Müttern, die sich in der Schwan-gerschaft und nach der Geburt ungesund ernährt hatten – also mit den üblichen Verdächtigen wie ge-sättigte Fette, viel Zucker, Weißmehl, viele Fertigle-bensmittel –, bis zum Alter von fünf Jahren bereits eine Reihe von mentalen Entwicklungsstörungen und

seelischen Erkrankungen wie zum Beispiel Formen der Depression und Ängstlichkeit.

Neurophysiologische Studien einer Forschungs-gruppe um Corina O. Bondi von der Universität

Pittsburgh sind besonders alarmierend: An Ratten konnten die Forscher zeigen, dass die frühe Jugend eine sehr kritische Phase der Gehirnentwicklung dar-stellt. Ist die Versorgung mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren (wie Omega-3 und Omega-6) in dieser Phase unzureichend, werden die Bereiche des Ge-hirns, die auf den Neurotransmitter Dopamin (das „Belohnungshormon“) reagieren, gestört. Affekt- und Aufmerksamkeitsstörungen, Schizophrenie und Stoff-wechselstörungen können die Folge sein. Die Tragik daran: Der Mangel an mehrfach ungesättigten Fettsäu-ren kann von einer Generation an die nächste weiter-gegeben werden, da der Mensch ja auch über körper-eigene Reserven verfügt oder vielmehr verfügen sollte.

Die medizinische Forschung und die staatlichen Ge-sundheitsbehörden setzen große Hoffnungen auf das „Ernährungsparadigma“: Wenn es stimmt, dass zahllose körperliche und seelische Erkrankungen wie Krebs, Diabetes, Demenz oder Depressionen ernäh-rungsbedingt sind, können sie durch eine veränderte Ernährung geheilt werden. Ob sie dabei auf die Un-terstützung durch die Lebensmittelindustrie hoffen können, ist offen. Bei der erwähnten Veranstaltung im Tech Gate mit dem sinnigen Titel „Wie viel Techno-logie verträgt unser Bauch?“ empfahl der Vertreter des Pressesprecher der Lebensmittelindustrie Os-kar Wawschinek den Konsumenten, aufmerksam die Verpackungen zu studieren. Um sich Wirkung der Inhaltsstoffe aber wenigstens ausmalen zu können, müsste man denn wohl aber auch das Fachvokabular recht genau kennen. ■

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Helene Ziniels Stand ist jeden Abend ausverkauft. Auf dem Wiener Naschmarkt bietet sie gelbe, rote und

schwarze Rüben, orangefarbene und violette Karotten, Tomaten und Paprika in allen Formen und Farben, Kräuter, Zwiebel, Kürbisse und Salate – je nach Saison. Ganzjährig gibt es alle Arten von Zwiebeln und „Grumpln“ – so wer-den im burgenländischen Seewinkel die Erdäpfel genannt. Dort ist Helene Ziniel eine der wenigen Kleinbäuerinnen, die mit ihrem Mann Gerhard und ihrer Familie von der Landwirtschaft lebt. „Zuallererst schaue ich, was die Leu-te wollen. Die Frische ist mir ganz wichtig. Ich ernte nie mehr, als ich denke, dass ich am nächsten Tag verkaufen kann“, erklärt sie. Aus gutem Grund: „Essen soll uns En-ergie geben. Das geht am besten, wenn sich der Kreis bei mir öffnet und schließt. Wir ernten am Vorabend und ich bleibe so lange am Markt, bis ich 20 Kisten Salat, 20 Zel-ler und fünf Kisten Karotten verkauft habe. Nichts wird zwischengelagert oder gekühlt, denn das nimmt Vitamine und Geschmack.“ Damit ihr Gemüse den Endverbraucher frisch erreicht, muss Helene Ziniel den Ablauf penibel ko-ordinieren. Im Organisieren ist die Bauerstochter ein Pro-�*=����������������� �������~���;������������Landwirtschaft nach eigenen Vorstellungen zu gründen, ���������"������|����������=�������^�����������"17 Hektar Land Gemüse an ohne chemische Dünge- oder Spritzmittel. Denn „es muss gut schmecken.“

Ihr Gemüse schmeckt sogar so gut, dass sie zusätzlich zum Marktstand einen Bauernladen eröffnet hat, weil

mittlerweile das ganze Grätzel bei ihr einkauft. In einer Kooperative mit anderen Bauern verkauft sie im fünften Wiener Gemeindebezirk neben Gemüse und Nudeln nun Speck, Butter, Käse, Brot, Eier, Eingekochtes, Ho-nig, Essig, Öl, Säfte und Wein. Alleinerziehende Mütter, die von zwei Jobs leben müssen, kommen genauso wie Anwaltsehepaare. Arbeiter kommen ebenso wie Aka-demiker und andere Bauern genauso wie Schauspieler, Künstler, Politiker und Manager, während die Wiener Spitzengastronomie ihre Bestellungen telefonisch durch-gibt. „Wir produzieren für die Leute daheim, die für sich kochen, aber auch für das Steirereck“, sagt Ziniel. Die Preise sind für alle gleich. „Ich will nicht teurer werden, nur weil ich weiß, dass mein Zulauf steigt und Bio-Ketten um mindestens ein Drittel mehr verlangen. Das wäre ein Ausnutzen der Situation am Markt und es ist in meinem Bereich nicht richtig, Angebot und Nachfrage streng über den Preis zu regulieren“, sagt sie. Und: „Der Bauer als Produzent von Lebensmitteln war schon vor 200 Jah-�������������������������;����������+������Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, eine Menge Geld dafür zu bezahlen. Warum soll jemand dazu verur-teilt sein, beim Diskonter zu kaufen, nur weil sonst das Haushaltsbudget zu knapp wird?“

Trend 1:

Qualität soll leistbar seinDer Querschnitt von Helene Ziniels Stammkunden steht für den Hunger nach hochwertigem Essen zu erschwing-lichen Preisen, der sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Hintergrund ist das komplexe Netzwerk aus Kapazi-täten in Anbau, Lagerung, Transport, Verarbeitung, Herstel-lung und Marketing, das in der Nahrungsmittelindustrie den Verkauf stark von verarbeiteten Lebensmitteln zu maximalen Margen für die Industrie begünstigt. Das hat unter anderem zur Folge, dass wir im Supermarkt immer mehr für die gleiche Menge bezahlen müssen, ohne dass die Qualität merklich steigt. Parallel dazu gibt es Bio-Ketten, die Gütesiegel verteilen und von den Herstellern Abgaben für den Vertrieb verlangen, was Bio-Lebensmittel egal welcher Sorte stark verteuert. „Man kann doch nicht 6,80 Euro für ein Kilo Ochsenherz-Tomaten bezahlen – das sind ja fast 100 Schilling“, rechnet Ziniel vor: „Bei mir soll jeder einkaufen können.“

Dass die Bäuerin vom Seewinkel mit ihrer Linie ins Herz der Dinge trifft, zeigt einerseits die Tatsache, dass sie heu-er schon im September und nicht wie in den Vorjahren erst im November die gesamte Ernte verkauft hatte. Wei-ters ergibt eine Umfrage der Key Quest Marktforschung,

Was werden wir in Zukunft essen? Vordenker der Ernährungsbranche sehen sechs Trends: Wichtig werden Herkunft, Qualität, Sinnlichkeit der Zubereitung, Preis-Leistungsverhältnis, Vielfältigkeit und die gesundheitsfördernde Wirkung von Lebensmitteln sein. Groß darüber steht Genuss. Denn nur Essen, das uns schmeckt, kann gesund sein, und nur was schmeckt bringt Qualität ins Leben. Von Eva Stanzl

Gib dem Essen einen tiefen Sinn

Die Zukunft der Ernährung:

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dass in Österreich die Bedeutung des Etiketts „Bio“ deutlich verloren hat. 2006 galten Bioprodukte noch als Produkte der Zukunft, seit 2010 setzen die Öster-reicher aber lieber auf Produkte aus der Region.

Trend 2:

Gesundes Essen wird sexyIn der gleichen Umfrage geben die Österreicher an, dass sie am liebsten Spaghetti und Pasta (37 Prozent), gefolgt von Schnitzel (25 Prozent), Pizza (23 Prozent), Salat (18 Prozent) und Hühnergerichten (17 Prozent) essen. Vor allem ältere Menschen mögen traditionelle Gerichte wie Schweinsbraten, Schnitzel und Torten am liebsten, während die Jüngeren Nudeln und Piz-za den Vorzug geben. Ernährungsforscher erwarten jedoch, dass eine Trendwende Platz greifen wird und die Österreicher gesünder essen werden. Oder, wie die in Bregenz geborene Ernährungsexpertin Hanni Rützler in ihrem „Food Report 2014“ verdeutlicht: „Gesundes Essen wird sexy“.

Hintergrund sind nicht nur Lebensmittelskandale ���������� �������=����� ����~���� ���-dern auch ein wachsendes Bewusstsein zu den Aus-wirkungen von Pestiziden und chemischen Zusätzen. Konsumenten wollen immer genauer wissen, was im Essen drin ist, um so weit wie möglich sicherzugehen, dass es ihnen auch gut tun kann. Dahinter steht im-mer weniger ein Schlankheitswahn oder eine Selbst-kasteiung durch Essverbote, sondern immer mehr das Bewusstsein, dass die falsche Ernährung eine Reihe von Zivilisationskrankheiten auslösen kann, wie der Bericht zu verstehen gibt.

Trend 3:

Genuss ist Lebensqualität„Während Gesundheit in der Ära des Korrektivge-schmacks obsessiv und oft auf Kosten der Freude am Essen thematisiert wurde, steht sie heute, im Zeital-ter des Qualitätsgeschmacks, gleichberechtigt neben Genuss und Lebensfreude. Die Überzeugung, dass nur das Essen, das uns schmeckt, auch gesund sein kann, setzt sich durch“, ist in dem Bericht zu lesen. Rützler selbst formuliert es etwas direkter: „Gutes Essen ent-spannt, es ist ein Stück Lebensqualität. Tagelang nicht zu essen, was einem schmeckt, macht dagegen nicht satt, sondern es stresst. Sich Esspausen zu nehmen für etwas Gutes lohnt sich qualitativ.“ Genuss ist Le-bensqualität und was zählt, ist, was man isst, und nicht, was man vermeidet. Experten von Rützler über Ziniel bis zur Star-Köchin Sarah Wiener (siehe Interview Seite 10) verweisen darauf, dass wieder mehr Ge-schäfte eröffnet werden, die einst von großen Ketten verdrängt wurden, weil der Bedarf geblieben ist: Bä-cker, die selbst backen, Läden mit Greisler-Sortiment, Stände mit alten Sorten am Grünmarkt. Jeder will gut essen, Essen ist kommunikativ und es verbindet.

Trend 4:

Pragmatische PazifistenUnd dennoch wird das Essverhalten auch zunehmend von der Vernunft gesteuert. Nicht Genussorgien sind das Gebot der Stunde, sondern bewusster Genuss. Rützler, die nahezu alle Geschmäcker kennt, machte heuer eine interessante Erfahrung: Sie war der erste ������� �� ����� ~�������� ��� ��������������gekostet hat. „Das war eine spannende Sache, er war besser als erwartet“, sagte sie kurz danach zum deut-schen Radiosender „DRadio Wissen“: „Man gewann Zellen vom lebenden Rind, ließ sie im Labor wachsen und bekam eine fettfreie Masse. Der Burger war zwar nicht die kulinarische Eröffnung, aber durchaus ess-bar. Und wenn wir uns die Welternährungssituation anschauen, müssen wir offen sein für neue Konzepte, denn wir haben zu wenig Ressourcen, als dass wir täglich Fleisch essen könnten.“

Das Ernährungsverhalten umzustellen ist leichter zu bewerkstelligen, als künstliches Fleisch in Massen zu er-zeugen. Rützler rechnet damit, dass eine pragmatische Haltung die Zukunft des Essens prägen wird: Flexitari-��������������������}�;��������[�����������„Flexitarier essen Fleisch, wenn sie das Gefühl haben, es hat eine gute Qualität. Wenn sie aber nicht wissen, woher es kommt, können sie darauf verzichten“, sagt Rützler. Sich für eine Speise zu entscheiden, wird „zur kulinarischen, nicht emotionalen Entscheidung“.

Die gesunde Mischung zwischen Gemüse, Fisch und Fleisch spiegelt den Trend zur bewussten Ernährung.

Doch im Unterschied zu unseren Urgroßeltern sind die Menschen heute wählerisch. „Wir sind eine Filet-Gesellschaft“, hält Rützler fest: Während früher alle Teile eines Tiers inklusive Innereien liebevoll zuberei-tet wurden, nimmt man heute nur die besten Stücke. „Das ist traurig, es fehlt an Wertschätzung dem Tier gegenüber. Wir sollten uns rasch überlegen, wie wir Tiere bewusst verwerten, anstatt von ihm und allen Lebensmitteln ein Drittel wegzuschmeißen.“

Trend 5:

Urban Gardening statt SchrebergartenEine andere Strömung entwickelt sich mit Urban Gardening. Städter sind immer bestrebter, ihr Ge-müse selbst anzubauen und selbst zu verwerten. Sie mieten ein paar Quadratmeter Erde im städtischen öffentlichen Raum, um ihre Samen zu säen und die Früchte zu ernten. Rein äußerlich unterscheidet sich ihre Aktivität von jener der Schrebergartenbesitzer nur insofern, als dass die „Felder“ zentraler liegen und das Häuschen fehlt. In einem tieferen Sinn ist Urban Gardening aber auch ein politisches Statement: Ob-��� ��������������� �������������"��� ����belächelt werden könnte, die den ganzen Tag nicht aus dem Büro kommen, entspricht das Anliegen der Gärtner einem völlig normalen, ursprünglichen Be-dürfnis: Gemüse soll sich gut angreifen, gut riechen und frisch sein, nicht aussehen wie die grüngewor-dene EU-Norm und keinen Stundenlohn für das Kilo kosten. „Urban Gardening ist eine hervorragende Lösung“, sagt Hanni Rützler. Manche Köche würden sogar die Lebensmittelproduktion in die Küche holen und Gemüse dort mit entsprechenden Leuchten zum Wachsen zu bringen. Was uns zur zunehmenden Fi-���������"����������������������������

Trend 6:

Köche als mächtige Meinungsbildner1964 verzehrten zehn Prozent der Österreicher ihr Essen in Restaurants. 2010 waren es schon 31 Pro-zent, die einen immer höheren Anteil ihres Haushalts-budgets für die Gastronomie ausgaben, was sich auch in einer steigenden Anzahl von Lokalen niederschlägt. An sich könnten alle Städter, die das wollen, in der Bundeshauptstadt jeden Abend in immer neuen Re-staurationen speisen, denn mit den Ansprüchen der Gäste steigt die Kreativität der Konzepte. Von Imbis-sen, in denen nun die arabische Küche immer mehr <� ��"������ �����=����������� ��|����������bis hin zu Pop-Up-Restaurants, für die Gastronomen vorübergehend leere Lokale mieten, um sie als Bi-stros mit wechselnder Karte zu betreiben. Auf der anderen Seite des Preis-Spektrums stehen Lokale, in denen jede Woche ein anderer Spitzenkoch Gaumen-freuden bereitet, oder solche mit gleich mehreren Sternen.

„Küchenchefs sind mächtige Meinungsbildner. Sie sind hoch vernetzt und tauschen sich ähnlich intensiv aus wie die Winzer. Viele verwenden hochregionale Le-bensmittel, die am Waldesrand gesammelt werden müssen, und sie kochen mit altem Wissen“, beschreibt es Hanni Rützler. Gastronomen wirken als gestal-tende Kraft und können Lösungen anschieben für Nachhaltigkeit und Qualität. Denn Sinnlichkeit geht durch den Magen und wenn sie noch dazu sinnvoll ist, erfreut sie auch den Intellekt. Wenn wir uns schon ei-nen Luxus gönnen, beruhigt es das Gewissen, dabei in irgendeiner Form die Welt zu verbessern. Außerdem fühlt es sich besser an, von herrlichen Zutaten dick zu werden, die vom Koch unseres Vertrauens liebevoll zubereitet wurden, als von einem Mc Donalds-Burger, den wir am Fahrersitz verzehren.

Das Vertrauen ihrer viel beschäftigten Kunden wol-len auch Anbieter im Internet gewinnen, indem sie auf individuelle Qualitätsansprüche zugeschnittene Lebensmittel-Kombinationen ins Haus liefern. All jene, die es gerade noch vor Ladenschluss in den Supermarkt schaffen, können wiederum eine Art Fast Food zu Selberkochen erwerben, denn manche Ketten bieten Rezepte komplett mit extra abgewo-genen Zutaten. Ob die Hersteller damit die Herzen ihrer Kunden wirklich gewinnen? „Meine Oma hat immer gesagt, du musst dir nur vorstellen, du stehst auf der anderen Seite vom Verkaufstisch am Markt. Wenn Du Dich in das hineinversetzen kannst, dann geht es. Und wenn Du nicht gierig wirst, dann steigt der Zulauf“, sagt Helene Ziniel. Sie setze auf das Ver-trauen, dass ihr ihre Stammkunden persönlich ent-gegenbringen. ■

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Fotos: Corbis (8), apa

„Essen soll uns Energie geben. Das geht am besten, wenn sich der Kreis bei

mir öffnet und schließt“, sagt die Bäuerin Helene Ziniel.

„Gutes Essen entspannt, es ist ein Stück Lebensqualität“,

betont Ernährungsforscherin Hanni Rützler.

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„Future“: Jeden Monat neue Kochtrends und dazu passende Kochshows, ständig Meldungen, was am Es-sen alles gut oder schlecht ist, unzählige Top-Lokale mit unterschiedlichen Images: Essen wird zum Ego-Statement einer individualisierten Gesellschaft. Es muss nicht nur satt machen und schmecken, sondern soll auch gesund, schön und glücklich machen. Wel-chen Stellenwert haben dabei der steigende Hunger und die Welternährung?

Sarah Wiener: Wir könnten schon heute alle Menschen von dem ernähren, was wir produzieren, wenn wir keine Lebensmittel wegwerfen und einen besseren Transport und eine bessere Lagerhaltung ermög-lichen würden. Außerdem müssten wir stabilere politische Verhältnisse schaffen. Das alles ginge, wenn wir wirklich den Willen hätten, den Welthunger zu besiegen. Welchen Stellenwert hat der Genuss vor diesem Hin-tergrund?Genuss ist natürlich eine vernachlässigbare Größe für Men-schen, die hungern oder schlimmer noch: am Verhungern sind. Der Genuss hat aber auch eine Warnfunktion, weil er dabei hilft, zu unterscheiden, ob etwas überhaupt essbar oder gar giftig ist. Und er hilft, das, was überlebenswichtig ist, eben zu genießen. Für Genuss brauchen wir auch Bewusstsein, ein subjektives Geschmacksgedächtnis und die Fähigkeit, Erleb-nisse rund um Geschmack einordnen zu können. Allerdings ������� ��� ����� �� ��������* <�� ������ ������ ����immer die Beschränkung. In reichen Ländern scheint Beschränkung zu fehlen, denn die Menschen werden dicker. Forschern zufolge sind besonders Menschen mit kleineren Einkommen betroffen, weil sie zu kostengünstigerem, kohlehydra-tereichem Essen greifen müssen. Muss gutes Essen teuer sein?Ernährung ist eine Frage der Bildung, des Interesses und der Möglichkeiten. Wenn Sie keine Bauernmärkte oder Bioläden in Ihrer Umgebung haben, dann sind Sie da natürlich auch nicht Kunde. Selberkochen ist immer günstiger, als stark ver-arbeitete Lebensmittel zu kaufen. Und es ist gesünder. Dann müssen Sie aber auch kochen wollen. Würde man Kosten für Transport, Umweltbelastung und Landverlust für Bewohner vor Ort mit einbe-rechnen, wären eine spanische Tomate viel teurer als derzeit. Andererseits würden aber Arbeitsplätze verloren gehen, wenn man die globale Nahrungsmit-telproduktion stoppen würde. Wie sind Lebensmittel korrekt zu preisen?Wenn es tatsächlich so wäre, dass Lebensmittel wieder einen wahren Wert hätten, dann hätten wir über Nacht mehr Klein-bauern, eigene Gärten und eine ganz andere Esskultur. Ar-

beitsplätze würden wieder entstehen. Wir reden außerdem immer nur über den monetären Preis und vergessen gern jenen Preis, den unser Ernährungssystem indirekt durch Tier-leid, Bodenzerstörung, Raubbau und Gesundheit entweder zu bezahlen bereit ist oder verdrängt und zur Gänze auf künftige Generationen abwälzt.

Wenn Sie das zentrale Problem der heutigen Nah-rungsmittelindustrie benennen müssten, was ist es? Woran krankt die Nahrungsmittelindustrie wirklich, was wiegt am allerschwersten?Wir haben eine Nahrungsmittelindustrie, die ein Landwirt-

schaftssystem befeuert, das Biodiversität und Qua-lität zerstört, das Landwirte zu Gegnern

statt zu Partnern macht, das ge-sunde Böden vernichtet,

Nutztiere ausbeutet und als einziger Gewinner in einer kranken Welt her-vorgehen möchte. Da

wir alle in einem Boot sit-zen, wird sich das als Trug-

schluss erweisen.

Selbst zu kochen ist am gesün-desten, aber viele haben vor lauter Arbeit keine Zeit dazu. Wie ist eine hochwertige, gesunde Ernährung im Alltag zu bewerkstelligen?Wenn Sie diese Fragen wirklich ernst nehmen, müssen Sie mit den Ursachen anfangen und nicht mit den Symptomen, also mit unserem sich immer schneller drehenden Alltag, dem wachsenden Druck auf jeden einzelnen. Wir sollten unseren Alltag an unsere Grundbedürfnisse anpassen und nicht um-gekehrt. Bis wir so weit sind, wird uns nichts übrigbleiben, als einen Spagat zwischen frischer, gesunder, abwechslungs-reicher Ernährung und schneller, einfach verfügbarer Nahrung zu wagen. Trotzdem: Viele könnten zumindest zeitweise frisch und selbst kochen, wenn sie andere Prioritäten in ihrem Pri-vatleben setzen würden.

Was genau unterscheidet hochwertiges Essen von Gourmet-Speisen?Hochwertiges Essen ist eine Frage von funktionierenden öko-logischen Kreisläufen, Ernährungsgerechtigkeit und Souvere-nität, Sortenvielfalt und natürlichem, vollwertigem Essen. Da-für müssen Sie nicht zwingend in der Küche gestanden sein. Rohkost kann sehr hochwertig sein. Um gesund zu bleiben, müssen wir hochwertig essen. Bei Gourmet-Speisen sollten Sie hingegen eine kreative Vorstellung von einer Speise ent-wickeln und sie kochen und servieren können, möglichst mit dem Hintergrund der Besonderheit. Das muss aber nicht ge-sund sein und auch nicht satt machen – und nicht einmal der Mehrheit schmecken. Der US-Amerikaner Rob Rhinehart ist überzeugt, er braucht all das nicht. Der 24-jährige Software-Entwickler aus Atlanta hat das Essen eingestellt. Er mischte Nährstoffe zusammen und testete einen Cocktail aus Vitaminen, Mineralstoffen, Aminosäuren, Kohlenhydraten und Fett 30 Tage lang. Brauchen wir wirklich keine feste Nahrung? Wir brauchen natürliche, vielfältige Grundnahrungsmittel ohne Chemie und Zusatzstoffe, um dauerhaft gesund zu blei-ben und genussvoll zu speisen. Du bist, was du isst. Aber je-dem ist es freigestellt, sich selbst masochistisch zu quälen und unvernünftig zu handeln. ■

Die Nahrungsmittelindustrie befeuert ein Landwirtschaftssystem, das Biodiversität und Qualität zerstört, Landwirte zu Gegnern macht und gesunde Böden vernichtet, um als einzige Gewinnerin in einer kranken Welt hervorzugehen, ist die Star-Köchin Sarah Wiener überzeugt. Hochwertiges Essen ist jedoch eine Frage von funktionierenden ökologischen Kreisläufen, Ernährungsgerechtigkeit und natürlichem, vollwertigem Essen. Kombiniert mit der Bereitschaft, selbst zu kochen, steigern all diese Elemente den Genuss. Interview: Eva Stanzl

Genussvoll nachhaltig speisen

Star-Köchin Sarah Wiener über die Rolle des Genusses in der Küche der Zukunft:

Zur Person:Sarah Wiener, geboren am 27. August 1962 in Halle, ist Starköchin und Buchautorin. Die vor allem in Deutschland tätige österreichische Unternehmerin wuchs in Wien auf, trampte mit 17 Jahren durch Europa und hat weder Schulabschluss noch Berufsausbildung. Im Restaurant ihres Vaters, dem Autor Oswald Wiener, buk sie Kuchen und Torten in Berlin. 1990 gründete sie ein Cateringservice für Filmcrews. 1999 machte sie in Berlin-Mitte ihr erstes Restaurant auf, „Das Speisezimmer“. Heute betreibt sie drei Lokale. Sarah Wiener ist verheiratet und hat einen Sohn. Ihr neues Buch, „Kochen kann jeder - mit Sarah Wiener“ ist im November erschienen. Ihr Buch „Zukunftsmenü“ über die Nahrungsmittelindustrie wurde von der Deutschen Umweltstiftung zum Umweltbuch des Monats Oktober 2013 ernannt.

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Pizza am Stiel

Dürreresistenter Gentech-Reis

Mozzarella-Käse in Spaghetti-Form, Coca Cola als Aufstrich, Ketchup aus Bananen, Eiersalat in Wurstform und Wurst, die ohne Fleisch auskommt: Auf der Kölner Ernährungsfachmesse Anuga wurden neue kulinarische Innovationen aufge-tischt, die ein Spiegel dessen waren, dass Konsumenten immer schneller und un-komplizierter essen wollen. Auch die wachsende Zahl der Single-Haushalte spiegelte sich im Angebot auf der Anu-ga wider. Demnach sollten sich Wiener Schnitzel und Burger, die man mit dem Toaster zubereiten kann, in den Tief-kühlregalen der Supermärkte etablieren.Zudem sollten sich immer kleinere Por-tionen durchsetzen, ebenso wie vegeta-rische Kost.

Sieger der Veranstaltung war allerdings die „Pizza am Stiel“ von Hasta La Pizza. Sie ist nicht viel größer als ein „Magnum“-Eis und wird wie Eis am Stiel gegessen. Somit machen sich Konsumenten nicht die Finger fett. Zu haben ist diese Kri-stallisation von Convenience-Food als klassische Margherita und als Version mit Schinken oder scharfer Salami.

Auch weiße Balsamico-Perlen für Salat werden präsentiert. Ebenso wie Verbrau-cherstudien, denen zu entnehmen ist, dass die Menschen bedachter essen: Demnach wäre jeder vierte Verbraucher bereit, für Nachhaltigkeit, Genuss und Qualität deutlich mehr zu bezahlen als früher – so lange es eben schnell geht. (rib)

Manche Wissenschafter setzen auf Gentechnik, um widerstandsfähige Reis- und andere Getreidesorten zu entwickeln und damit die Ernäh-rung der Weltbevölkerung zu sichern. Laut einer UN-Schätzung werden um die Jahrhundertmitte 9,6 Milliarden Menschen die Erde bevölkern, bis 2100 könnte die Zahl auf 10,9 Milliarden anwachsen. Japanische For-scher um Yusaku Uga vom Nationalen Institut für agrarbiologische Wis-senschaft in Tsukuba haben nun ein entscheidendes Gen in einer Reis-sorte entdeckt, die im trockenen Hochland der Philippinen angebaut und Kinandang Patong genannt wird. Die Sorte entwickelt lange Wurzeln, die senkrecht in den Boden wachsen und auch in großer Tiefe Wasser errei-chen können. Das unterscheidet sie von jenen Sorten, die in unter Was-�����������@� ������������������������������ ������������wachsende Wurzeln ausbilden. Verantwortlich für die Wurzelentwicklung beim Kinandang-Patong-Reis ist ein Gen, das die Forscher Deep Rooting (Tiefe Verwurzelung) oder kurz DR01 nennen und in eine herkömmliche ��������;���� ��=�;�������� X��$ ������;������� ��� ������""���!������������������ ��������� ������������������;�*�������Trockenheit konnte dem langwurzeligen Reis kaum etwas anhaben und bei schwerer Dürre sank der Ertrag um lediglich 30 Prozent. Nun sind die Forscher guter Dinge, den Genreis auch im Hochland ohne Bewässe-rung ertragreich anbauen zu können. Kritiker argumentieren aber, solche Ziele könnten auch ohne genmanipulative Eingriffe erreicht werden. (rib)

Die Autoren des Fachmagazins „Bild der Wissenschaft“ haben ein Weih-nachtsmenü zusammengestellt, das ihnen zufolge deswegen so köstlich sei, weil es biochemischen und physikalischen Prinzipien folgt. Das Re-zept stammt von dem französischen Chemiker und Kochforscher Hervé This. Es sei auch für unsere Leserinnen und Leser veröffentlicht, damit diese ein neues Kochstück ausprobieren können:

Vorspeise: Zwiebelsuppen-Flan1 Liter sehr gute Hühnersuppe, 300 Gramm gewürfelte Zwiebeln, 2 Eier, Butter, Weißbrot.Die Zwiebeln in Butter andünsten und die heiße Suppe dazugießen. Eineinhalb Stunden köcheln lassen, durch ein Sieb gießen, mit Salz und Pfeffer abschmecken und abkühlen lassen. Die Eier sanft mit der Zwie-belsuppe verschlagen. In Portionsschalen füllen und in einem Wasser-bad in den auf 160 Grad Celsius vorgeheizten Backofen geben. Der Flan braucht etwa eine Stunde, um zu stocken. Die Schälchen wandern in den Kühlschrank und werden mit geröstetem Weißbrot serviert.

Hauptgericht: Gans mit Feigen und SauerkrautFür den Braten benötigen Sie 1 küchenfertige Gans (etwa 3 Kilo schwer), grob geschnittenes Gemüse (1 Stange Lauch, 2 Karotten, 1/2 Sellerie-knolle), 100 ml frischen Feigensaft, 4 EL Glukose- (Traubenzucker-) oder @�������������#����������!�����""�#'�}������%@������Die Gans wird mit dem Sirup, dem Süßstoff und dem Pektin bestrichen. Der Feigensaft muss frisch gepresst sein, da er sonst seine enzymatische Wirkung verliert und das Fleisch nicht zart macht. Dazu wird das Mark ��@������������!�����������������!�"�;������������������er mit etwas Wasser verdünnt werden. Der Feigensaft wird dann mit einer Spritze an verschiedenen Stellen ins Fleisch injiziert. Anschließend kommt die Gans für mindestens 5, aber besser 6 Stunden mit dem Ge-müse in einen Bräter in den nur 80 Grad Celsius warmen Herd. Gegen Ende der Garzeit wird der Sirup erwärmt und die noch bleiche Gans kräftig damit eingepinselt. Dann kommst sie wieder in den Herd – dies-mal bei 220 Grad Celsius (Grill mit Umluft). Ohne Grillfunktion wählen Sie 250 Grad Celsius mit Umluft. Das Bräunen dauert etwa 5 bis 10 Minuten, Zucker und Eiweißbausteine reagieren dabei zu einer Kruste.

Zum Servieren wird die Gans portioniert und auf Sauerkraut mit ge-schmorten Feigen und Feigensoße angerichtet.Für die geschmorten Feigen benötigen Sie 8 frische Feigen, 200 ml Fei-gensaft (frisch oder aus der Flasche), 100 ml Johannisbeersaft, 3 EL Balsa-����>'�����������'�}������������;��� ����� ����������������wird. Dann kommen die halbierten Feigen hinein und ziehen 10 Minuten lang.Für das das Sauerkraut brauchen Sie 800 Gramm frisches Sauerkraut, %��� ������ �����������}����= ��������' ������]��� ����-gelfond, 1 gewürfelte Zwiebel, 1 Gewürzsäckchen mit Wacholder, Nelke, Lorbeer, Pfefferkörner, Salz und 30 Gramm Butter. Die Zwiebeln werden in Butter angeschwitzt. Dann kommen das gewässerte Sauerkraut und der Gewürzbeutel hinzu. Das Ganze füllen Sie mit Lindenblütentee und Fond auf und lassen es etwa eineinhalb Stunden dünsten.

Nachtisch: Schokoladen-Chantilly mit Orangenkompott200 ml einer nach Belieben aromatisierten Flüssigkeit (Orangenlikör, Orangensaft, Espresso oder Johannisbeersaft), 250 Gramm Schokolade. Das Prinzip der Schokoladen-Chantilly hat sich Hervé This vom Schlag-obers abgeschaut, bei dem Fetttröpfchen in Wasser gelöst sind: Schlägt man es auf, wird es schaumig und fest. Auf die gleiche Art stellt This auch „Schlagschokolade“ her: In einem Topf werden die aromatisierte Flüssig-keit und die Schokolade erwärmt. Sobald die Schokolade geschmolzen ist, wandert der Topf in Eiswasser und Sie rücken der Schokolade mit einem Mixer zu Leibe. Die Mischung geht nach kurzem auf und wird heller. Nach ein paar Sekunden Rührzeit ist das luftige, feste Schokola-denmouse perfekt.

Für das Orangenkompott verwenden Sie 5 Orangen, 50 Gramm Zucker, 2 EL Honig, 200 ml Orangensaft, einen EL Grenadine-Sirup für die Farbe, \'�{���������� ��>!����"������{������������ �������� �����-re zu einem Sirup eingekocht. Der Topf kommt schließlich vom Herd, ����{������� �����>�����"����"���������!�;������@�����ist das Gericht! (est)

Gutes Gelingen, wohl bekomm‘s und fröhliche Weihnachten!

Wissenschaftlich fundiertes Weihnachtsmenü

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Die UNO will die Zahl der hungernden Menschen bis 2015 halbieren. Doch ist Ernährungssicherheit angesichts von Armut, Bevölkerungswachstum und Klimawandel eine Illusion? Von Cathren Landsgesell

Ernährungssicherheit – ein Wunschtraum?

Nahrungsmittel werden kurzfristig billiger – doch der Hunger bleibt:

Die Lage auf den Nahrungsmittelmärkten entspanne sich, konnte die UN-Organisation für Ernährung

und Landwirtschaft (FAO) Anfang November vermel-den. Die Preise für die meisten Grundnahrungsmittel seien in den vergangenen Monaten gesunken, erklärte der Direktor der FAO-Abteilung für Handel und Mär-kte, Aussichten für das kommende Jahr seien positiv: Die Produktionsmengen von Mais und Weizen sollten steigen, insbesondere in den USA und in den ehema-ligen Sowjetrepubliken. 2014 werden die weltweiten Getreidespeicher um 14 Prozent voller sein als in die-sem Jahr. Diese Prognose bringt eine lange ersehnte Entlastung: Die Kosten für Nahrungsmittelimporte sinken um drei Prozent im weltweiten Durchschnitt. Bringt uns diese Entwicklung der Bekämpfung des Hun-gers auf der Welt einen Schritt näher?

'������������������������������������������FAO bedeutet dies, so unregelmäßig ausreichend mit Nahrung versorgt zu sein, dass ein aktives Leben nicht

möglich ist. Allenfalls ein Überleben, oft noch nicht einmal das. Insgesamt sind 868 Millionen Menschen davon betroffen, immerhin 27 Millionen weniger als noch vor zwei Jahren. Die Mehrzahl der hungernden Menschen lebt in Afrika und in Asien, wobei Subsa-hara-Afrika besonders schlimm betroffen ist. Ihrem Jahrtausendziel sind die Vereinten Nationen bisher also nicht sehr viel näher gekommen: Bis 2015 soll sich die Zahl der Hungernden um die Hälfte reduzie-ren, heißt es in den Millennium Development Goals von 1990. Bis jetzt sind aber nur 17 Prozent erreicht. Die Aussichten sind gemischt: Armut, Klimawandel und die Nachfrage der reichen Länder bedrohen die globale Ernährungssicherheit der kommenden Gene-rationen und das Bevölkerungswachstum legt noch ein Schäufelchen drauf – zumindest in den Ländern, in denen es schon jetzt nicht genug zu essen gibt. Kann eine intensivere Landbewirtschaftung wettmachen, was Dürren, Überschwemmungen und Bodenknapp-heit nehmen?

Ernährungssicherheit ������� ���� �� �������-on des Welternährungsgipfels von 1996, dass alle

Menschen zu „jeder Zeit physischen, sozialen und ökonomischen Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Nahrung haben, die ihrem Bedarf und ih-ren Vorlieben für ein aktives und gesundes Leben ent-spricht.“ Das ist ein hoher Anspruch, der über die aus-reichende Versorgung mit Energie in Form von einer bestimmten Kalorienmenge weit hinausreicht. Ob die globale Ernährung „sicher“ ist, hängt damit nicht allein von der Verfügbarkeit und dem Zugang zu Nahrungs-mitteln ab.

In Politik und Wissenschaft kommen – je nach Modell – noch zwei weitere Dimensionen hinzu: Verwendung und Stabilität. Während Verfügbarkeit und Zugang zu Nahrung unter anderem von der globalen Produktion und den Preisen auf dem Weltmarkt abhängen, geht es bei der Verwendung um den Einsatz dieser globa-len Produktion und die individuelle Verwendung auf

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Haushaltsebene: Mais und Getreide, das als Treibstoff im Autotank landet, kann keinen Hunger stillen. Eine einseitige Ernährung mit Getreidebrei wird die Folgen der Fehlernäh-rung nicht beseitigen. 1,4 Milliarden Menschen auf der Welt �� ��� ��� ��������� �� @�{ � � "�� ���|���� �������500 Millionen Menschen, weil sie stark übergewichtig sind. Auch sie sind mitunter von dem Mangel an essenziellen Nährstoffen betroffen, unter dem die anderen leiden: Der Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen ist eine Hypothek für die Zukunft. Chronisch unter- und fehlernährte Kin-der entwickeln nie ihre volle Leistungsfähigkeit, sie bleiben anfällig für Infektionen, sterben leichter an „harmlosen“ [���������� �� ���� ��"���� ����� ���������|�����körperlichen und geistigen Kräfte auch schwerer Wege aus der Armut. Für Katastrophen sind sie schlecht gerüstet. Der Klimawandel bedroht die Ernährungssicherheit vor allem in ihrer vierten Dimension, der Stabilität. Klimabe-dingte Wetterextreme wie Dürren oder Fluten werden in den kommenden Jahrzehnten zunehmen. Dass ausreichend Nahrung jederzeit zur Verfügung steht, ist also nicht gesagt. Schon gar nicht in jeder Region der Erde.

Der Agrarausblick von OECD und FAO 2013 malt ein gemischtes Bild der Zukunft: Die steigende glo-

bale Nachfrage nach Nahrungsmitteln begünstige gerade die Entwicklungsländer, die ihren Anteil an der weltwei-ten Produktion von Agrarrohstoffen nicht zuletzt dank des Kapitals internationaler Investoren erhöhen werden. Der weltweite Output werde langsamer wachsen als in den letzten Jahren, heißt es in dem Bericht. 2030 werden 50 Prozent mehr Nahrungsmittel gebraucht als heute. Bevölkerungswachstum und steigender Wohlstand in den Schwellenländern sind die Gründe.

„Die Welt steht vor einer dreifachen Herausforderung“, berichtete eine Gruppe von Wissenschaftern um den Ökologen Charles Godfray an der Universität Oxford im Februar 2010 im Wissenschaftsmagazin „Science“: den wachsenden Bedarf an Nahrung zu stillen, dies auf eine ökologisch und sozial verträgliche Weise zu tun und sicher-zustellen, dass die ärmsten Menschen nicht mehr länger hungern. Ist dies überhaupt möglich? In der Vergangenheit haben Intensivierung und Technologisierung der Landwirt-schaft ganz generell dafür gesorgt, dass sich zum Beispiel die Getreideproduktion in den letzten 50 Jahren verdop-peln konnte, während die dafür aufgewendete Fläche nur um etwa neun Prozent zunahm. Allerdings um den Preis einer gesunden Umwelt. Heute trägt die industrielle Land-wirtschaft etwa 18 Prozent zu den klimarelevanten Emissi-onen bei, darunter Methan- und Stickoxid-Emissionen, die noch schädlicher sind als CO2. Sie ist abhängig von Öl- und Gas, viele Böden sind durch Monokulturen und Überdün-gung ausgelaugt oder durch Urbanisierung der Produktion entzogen. Landwirtschaft dezimiert die Biodiversität und belastet die Gewässer. Alternative Methoden wie Precisi-on Agriculture, integrierte Formen der Bewirtschaftung, soziale Absicherung und Landrechte für Kleinbauern, eine Erweiterung der genetischen Grundlagen der eingesetzten }���;�� �������� ������� ����������� ������������und eine bessere Infrastruktur sind vor dem Hintergrund steigender Ölpreise und stagnierender Outputs zu Hoff-nungsträgern geworden (siehe rechts).

Wissenschafter sind sich einig, dass die Trendumkehr schnell passieren muss. Es sind der Klimawandel und

seine direkten und indirekten Effekte, die das dickste Frage-zeichen hinter das Ziel einer Halbierung des Hungers set-zen. Der Klimawandel wirkt auf den Handel mit Nahrung und auf die Produktion: „Die globale Ernährungssicherheit ist nach wie vor durch Produktionsengpässe, Preisvolatilität und Handelsstörungen bedroht, insbesondere angesichts �������������������|���'��������|��������������sie 2012 in den Vereinigten Staaten und in den GUS Staa-ten herrschte, könnte in Verbindung mit niedrigen Lager-beständen bei den Anbauprodukten zu einem Preisanstieg um 15 bis 40 Prozent führen“, heißt es im Agrarausblick von OECD und FAO. Preisanstiege dieser Größenordnung können sich Hungernde nicht leisten, denn sie sind in der Regel hungrig, weil sie arm sind. Die Agrarökonomen Tim Wheeler und Joachim von Braun plädieren dafür, insbe-sondere die indirekten Folgen des Klimawandels, wie etwa Verarmung, Migration und die Ausbreitung von Seuchen, verstärkt in den Blick zu nehmen. Auch die politischen Antworten auf den Klimawandel können die Ernährungs-sicherheit bedrohen. 2022 werden rund zwölf Prozent des grobkörnigen Getreides für Bioethanol verwendet. Wenig untersucht seien auch parallele Entwicklungen zum Klima-wandel wie die zunehmend einseitige kalorienreiche Er-nährung in den Industrieländern und die fortschreitende Urbanisierung. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass die Folgen des Klimawandels unterschätzt werden. „Der Klimawandel wird die Ernährungsunsicherheit verschärfen und zwar in den Ländern, in denen Hunger und Unterer-nährung am weitesten verbreitet sind.“ ■

Josef Schmidhuber, Leiter der statistischen Abteilung der Welternährungsorganisation der UNO, über die Zukunft der Landwirtschaft und die Ursachen des Hungers. Von Cathren Landsgesell

Was werden wir essen?

Future: Was halten Sie von dem Stammzellen-Burger, der im August in London präsentiert wurde: Hätten Sie den probiert? Josef Schmidhuber: Probiert hätte ich ihn vielleicht, aber Fleisch aus dem Reagenzglas ist natürlich in keinster Weise eine Lösung für das Welternährungsproblem.

Aus technologischen Gründen? Nein, er ist einfach viel zu teuer.

Der Burger kostete 250.000 Euro. Rund 500 Millionen Euro müssten nach Schätzung der Wissenschafter noch investiert werden, um das Fleisch auf industriellem Ni-veau zu produzieren. Die Fleischproduktion braucht etwa 70 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Landes, mehr ist ökologisch nicht möglich. Ist der Preis immer noch zu hoch?Das ist nicht die Frage. Es gibt günstigere Alternativen als die Stammzellen, und wir sind technologisch noch viel zu weit von ei-ner industriellen Produktion entfernt.

Sind die Ernährungsgewohnheiten in den westlichen In-dustrieländern überhaupt eine Stellgröße in Bezug auf die Hungerproblematik? In gewisser Weise schon: Über hohen Fleischkonsum steigt der CO2- und Methan-Ausstoß, wir verbrauchen mehr Wasser, mehr biologische Diversität und schließlich auch mehr Getreide. Damit wird es teurer und der Zugang für Menschen in den Entwicklungs-ländern noch schwieriger. Der Verzicht auf Fleisch löst aber das Hungerproblem nicht. Historisch gesehen war Hunger ein Ver-fügbarkeitsproblem, es wurde in den Entwicklungsländern einfach nicht genug produziert. Das ist heute nur noch in Afrika südlich der Sahara und in großen Teilen des südasiatischen Raums der Fall. Hunger ist heute ein Zugangsproblem: Es gibt in den meisten Re-gionen genug Nahrungsmittel, aber zu Preisen, die für viele unbe-zahlbar sind. Die wichtigste Stellgröße ist daher die Bekämpfung der Armut.

Kann man den Hunger und die Armut bekämpfen, ohne dass man die Nahrungsmittelspekulation an den Börsen bekämpft? Die Nahrungsmittelspekulation hat meines Erachtens keinen si-����������'��������"��~����������������������������Warenterminmärkte nicht manipulieren kann, das ist ja auch im Aluminium-Handel passiert. Allerdings fand auch hier die eigent-liche Manipulation über die Lagerhaltung in den Fundamentalmärk-ten statt, nicht im Warenterminmarkt für Aluminium.

Das heißt, die hohen Getreidepreise haben nichts mit der Hungerkatastrophe vor drei Jahren am Horn von Afrika zu tun? Natürlich hatten die hohen Preise eine Auswirkung, weil sie den Zugang zu Nahrungsmitteln reduzieren. Aber die Preise folgen nicht der Spekulation auf den Warenterminmärkten, sondern den Fundamentalmärkten. Diese können prinzipiell auch manipuliert werden, siehe Aluminium, allerdings kann ich eine Manipulation der Fundamentaldaten über das Horten von Nahrungsmitteln nicht erkennen. Angebot und Nachfrage bestimmen die Preisentwick-lung, nicht die Spekulation. Futures tragen zur Markttransparenz bei, das ist vorteilhaft. Ein Problem der Entwicklungsländer ist oft, �����������}�����������������������������=����������wissen, was der richtige Preis für ihre Produkte ist, weil es keine Warenterminmärkte gibt.

Monitoring-Plattformen wie Land Matrix zeigen, dass Landgrabbing oder Land Deals zunehmen. Investoren kaufen zum Beispiel Land in Äthiopien, um darauf Wei-zen anzubauen, der dann exportiert wird. Geht es da um eine real existierende Nachfrage oder handelt es sich ein-fach um anlagesuchendes Kapital?

Es sind auch Risikomanagementstrategien: In den Jahren 2007/2008 und 2010 gab es auf dem Weltmarkt einfach nichts zu kaufen, auch nicht zu extrem hohen Preisen, eine zusätzliche Nachfrage treibt die Preise dann in ganz extreme Höhen. Länder mit wenig natür-lichen Ressourcen, wie eben Saudi Arabien, können nur am Markt kaufen oder Ressourcen erwerben. Das haben sie nach 2008 auch vermehrt gemacht.

Die FAO prognostiziert eine Steigerung des landwirt-schaftlichen Outputs um 60 Prozent bis 2050 – wird das für dann über neun Milliarden Menschen reichen?Die Prognose bedeutet nicht, dass dann alle gut genährt sind oder es keinen Hunger mehr gibt. Die Nachfrage in den entwickelten Ländern wird um 25 Prozent wachsen, während die Nachfrage in den Entwicklungsländern um achtzig bis neunzig Prozent und noch mehr wächst. Die Menschen werden schon ernährt werden, aber natürlich schlecht. Länder wie der Niger werden wahrscheinlich von externer Hilfe abhängig bleiben, insgesamt gehen wir davon aus, dass bis 2050 noch über 300 Millionen Menschen unterernährt sein werden, außer es gibt bis dahin ein massives Hilfsprogramm zur globalen Hungerbekämpfung.

Wie wird der zusätzliche Output bewerkstelligt? Acker-land ist eine begrenzte Ressource. Wir nutzen etwas mehr als 1,5 Milliarden Hektar Land als Acker-land, Wiesen und Weiden nicht mitgerechnet, und verfügen über insgesamt 4,15 Milliarden Hektar nutzbare Fläche. Aber: Der wei-tere Umbruch von Wiesen und Wäldern für Ackerland ist mit dem Abbau von organischer Substanz verbunden, und das bedeutet mehr CO2-Emissionen, mehr Wasserverbrauch und den Verlust von Biodiversität. Die Umwandlung lohnt sich aber auch ökonomisch nicht. Es ist wesentlich billiger, über eine höhere Produktivität oder auch eine höhere Nutzungsintensität die Erträge zu steigern. Beide bestimmen die Produktivitätszuwächse auch in Zukunft.

Wird die zusätzliche Produktivität wieder erkauft sein durch die ohnehin schon bestehende Ölabhängigkeit der Landwirtschaft für Pestizide, Dünger und Ernte? Intensive Bewirtschaftung heißt nicht, dass man mehr düngen und spritzen muss. In vielen Ländern wie zum Beispiel in China haben wir bereits viel zu hohe Düngemittelgaben, insbesondere bei Stick-stoff. Die Ursache ist Unwissen bei den Bauern und die Subventi-onierung der Düngemittel selbst. Man muss aufklären und ökono-mische Anreize für weniger Verbrauch setzen. Außerdem kann man durch bestimmte Fruchtfolgen den Output verbessern.

Von außen betrachtet hat man den Eindruck, dass das Ge-genteil passiert: riesige Monokulturen, viel Dünger und ein Zurückdrängen der kleinbäuerlichen Strukturen. Das ist falsch und richtig. Die Mineraldüngergaben bei uns sind in den letzten Jahrzehnten gesunken. Gülle aus der Viehzucht hat den Mineralstoffdünger ersetzt und man hat verstanden, dass Überdün-gung zu geringeren Ernten führen kann, zum Beispiel bei Zuckerrü-ben. Insgesamt sind die Düngemittelgaben immer noch sehr hoch. '�������������;��������������������������}������������-culture. Man düngt nur dort, wo der Ertrag noch gesteigert werden kann. In den USA geht die Produktionssteigerung auch zu einem großen Teil darauf zurück. Es ist also nicht unbedingt alles negativ. ■

Zur Person:Josef Schmidhuber ist Agrar-ökonom und stellvertretender Di-rektor der statistischen Abteilung der Food and Agriculture Organi-zation der UNO (FAO). Er ist der Mitautor des Berichts World agri-culture: towards 2015/2030, einem Ausblick auf die globale Zukunft der Landwirtschaft.

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Libellen, Grillen, Schmetterlinge und Fliegen kommen vor allem in Asien und Afrika auf den Teller. Europäer ekeln sich hingegen eher vor gebratenen, gerösteten, getoasteten und gegrillten Insekten. Dabei geben sie pro Kilo Futter zwölf Mal so viel Nahrung ab wie Rinder und haben einen höheren Protein- und Vitamingehalt. Zudem sind sie cholesterinarm und enthalten wenige Kohlehydrate, was sie passend macht für Diabetiker. Von Helmut Ribarits

Käfer im Bauch

Weltweit stehen rund 1400 Insektenarten auf den Speiseplänen:

Wenn der Fleischkonsum der reichen Län-der so weitergeht wie jetzt, benötigen wir

nach Ansicht der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) bald einen zweiten Pla-�����;����������@���������;�� "������"-zucht jener Tiere, die wir zu Steaks verarbeiten wollen. In Asien, Südamerika oder Afrika sieht die Lage anders aus: Hier isst man gerne Insekten.

Traditionellerweise gelten Schädlinge durch ihr pla-genhaftes Auftreten als Verursacher von Hungerka-tastrophen. Zwei Milliarden Menschen verzehren jedoch Kerbtiere verschiedenster Art. Für einen ���������� '����|��� �� ��� �� ������ ���Wort „Schmetterlinge im Bauch“ sicherlich nicht schwer verdauliche, geröstete Libellen am Spieß

verbindet, mag das wie ein Kulturschock erschei-nen. Für Schulkinder in Laos, Kambodscha oder Vietnam gehört der Jausensnack frittierte Zikaden aber ebenso zum Alltag wie für eine Vielzahl ihrer Altersgenossen in der westlichen Hemisphäre „Pi-Pa-Po“: Pizza, Pasta, Pommes. Und so ekelig Kriech- und Krabbeltiere für uns auch auf dem Teller aus-sehen mögen: Halbwüchsige in Südostasien wissen wenigstens, was sie vorgesetzt bekommen, denn im Unterscheid zu Fastfood hat es sich wenige Minu-ten zuvor noch bewegt.

Was die Entomophagie des Menschen (Verzehr von Insekten durch denselben) betrifft, geht sie in westlich geprägten Kulturen schon auf die alten Römer und Griechen, die sich über gegrillte Heu-

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schrecken hermachten, zurück. Danach gerieten die Krabbeltiere aber als „Armeleuteessen“ in den Hintergrund. Und obwohl sich bis in die frühen 1920er Jahre in Teilen Europas noch Altvordere in schlechten Zeiten an Maikäfersuppe gütlich taten, geht der Verzehr von Insekten heute besten-falls als Skurrilität durch, meistens aber wird er als bizarr bis ungustiös, ja sogar als gesundheitsschädlich erachtet. Viele würden Insekten sogar nur dann vom Boden aufklauben und zu sich nehmen, würden sie in Einzelhaft hungergefoltert. Dabei stehen weltweit mehr als 1400 Insektenarten auf dem Speiseplan.

Die Proteine der Zukunft?Bevor wir also an den hüpfenden, zirpenden, krabbelnden und sich rau-penden Geschöpfen kein gutes Haar, respektive Bein lassen, sollten Daten der FAO zur Bedeutung der Insekten für die Ernährungssicherung von Menschen in bedrohten Gebieten ins Treffen geführt werden. Demnach ent-halten 100 Gramm getrocknete Raupen 53 Prozent Proteine, 15 Prozent Fett und 17 Prozent Kohlehydrate und ihr Energiewert belaufe sich auf 430 Kalorien. Raupen seien reich an Mineralien und enthalten – je nach Art – Kalzium, Zink, Kalium, Magnesium und Eisen. Bereits 100 Gramm decken au-ßerdem den Tagesbedarf eines Menschen an Mineralien und Vitaminen. Für den französischen Ernährungsforscher Bruno Comby sind Insekten sogar die Proteine der Zukunft, zumal sie mehr lebensnotwendige Eiweiße als eine ���� ��������������������������� �������������������������;�� "�� ����'����� ��������������� �����"���������"��!���������eine wichtige Ergänzungskost dar.

Allerdings reden die Menschen in vielen Entwicklungsländern nur ungern über ihre Insekten-Diät, was sich laut FAO aus der Tatsache erklärt, dass sie Angst haben, man könnte sie für primitiv halten. Wegen der Vorurteile, die mit Insekten verbunden sind, sind sie als Nahrungsquelle jedoch zu wenig untersucht, betont Arnold van Huis von der Universität Wageninger, der an der FAO-Studie beteiligt war. Er betont: „Obwohl ihnen der Ruf als Krank-heitsüberträger vorauseilt, gefährden Insekten die Gesundheit nicht – ganz im Gegenteil“: Weil die Krabbler evolutionär weiter vom Menschen ent-fernt sind als Schweine oder Rinder, gebe es wahrscheinlich sogar weniger Keime, die bei deren Verzehr gleichermaßen den Menschen krank machen könnten, erklärt Huis.

China hat die medizinischen und kulinarischen Vorzüge der Kerbtiere vereint und verinnerlicht. Stinkkäfer gelten als köstlich und entfalten

im Reich der Mitte sowohl als Aphrodisiakum als auch gegen Asthma- und ^����� ����������� ���������������������������������}� ;�����>zierte Schmetterlinge gelten einerseits als erlesene Spezialität und werden andererseits als teure Medizin gegen Gelbsucht und Tuberkulose gehandelt.

Eine Forschergruppe der Mendel-Universität in Brünn hat das gesund-heitsfördernde Potenzial von Insekten auch für Anwender in Europa wis-senschaftlich untersucht. Die Wissenschafter kamen zu dem Schluss, dass spezielle Insekten eine ideale Ergänzungsnahrung für Senioren und Kran-ke seien, da diese oft nicht in der Lage sind, alle notwendigen Stoffe als Mischkost zu sich zu nehmen. Die Tierchen sollten in verarbeiteter Form als Zusatzpräparate essenzielle Fettsäuren, Mineralstoffe und Spurenelemente liefern. Gleichzeitig seien sie cholesterin- und kalorienarm und enthalten wenig Kohlehydrate, was sie geeignet für Diabetiker mache. Da sich Insek-ten selbst der gleichen Art in ihrer Zusammensetzung stark unterscheiden können, seien nun weitere Studien nötig, um die Insekten-„Inhaltsstoffe“ aufzuschlüsseln, damit diese gegebenenfalls genutzt werden können.

Nahrhafter als Rinder und Schweine Ein Blick in die Zukunft der Nahrungsmittelindustrie lässt den Schluss zu, dass Insekten bald eine wesentliche Rolle spielen könnten. Alan Yen, der im Auftrag des Bundesstaates Victoria in Australien an essbaren Insekten forscht, geht davon aus, dass der Westen, wenn er es mit der Senkung von Treibhausgasen und nachhaltigem Wirtschaften ernst meint, stärker auf sie setzen sollte. Denn sie stoßen viel weniger Treibhausgase als Rinder und !���������������������������<����� ������|����=���������������������'"�;���;*!������;��������[� ������@�����;�� "�� ��viel Nahrung wie Rinder und fünf Mal so viel wie Schweine. Die FAO-Exper-����������������������������'"�;���;���X�������� �����"�����höher ist als jene von Soja, Mais oder Fischmehl. Außerdem lassen sie sich mit landwirtschaftlichen Abfällen aufziehen. Die Industrie interessiert sich ������������"������������!� ����������~�������� ���������Allesfresser sind. Die Larven können den Mist, der im Stall anfällt, in Kör-permasse mit 42 Prozent Eiweiß und 35 Prozent Fett umwandeln und dann wieder als Nahrung für Hühner, Fische oder Schweine genutzt werden. Das „lebende Tierfutter“ könnte also schon bald im Tonnenmaßstab produziert werden.

Rein statistisch gesehen verspeist jeder Mensch jährlich etwa ein halbes Kilo Insekten – ob beim Joggen, Radfahren oder in fein passierten Mar-

meladen, in Spaghettisaucen oder im Tiefkühlspinat. Außerdem essen wir rohen Fisch als Sushi, kitzeln gefühlvoll Weinbergschnecken aus ihren Ge-häusen, saugen dem Hummer das Mark aus den Scheren, schmatzen wie gekringelte Raupen aussehende Shrimps und schwappen mit dem letzten Schluck Mezkal den „Agavenwurm“ (eigentlich eine Mottenraupe) hinunter.

Gebratene Wachsmottenlarven sollen übrigens an Speck errinnern und ge-röstete Grillen nussig schmecken. Wer sie kosten will, braucht sich nicht auf die Flaniermeilen von Bejing oder Bankok zu begeben. Sondern Grillen mit Curry-Aroma, getoastete Scorpione, schokoüberzogene Ameisen und Schlecker mit Wurm-Füllung gibt´s auch bei Gourmet Cornelius im ersten Bezirk in Wien. ■

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Würden Sie so etwas essen? Viele Europäer verspüren keinen Gusto nach Insekten.

Dabei haben schon die alten Römer Heuschrecken gegessen.

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Telegramm von Helmut Ribarits 16future

2850 Milliarden Euro......wurden im Jahr 2013 für neue Technologien ausgegeben.

Damit haben die Experten des renommierten Forschungs-

instituts Gartner ihre letzten Schätzungen zwar nach unten

korrigiert, dennoch ist die Summe immer noch beeindru-

ckend. Der Gartner Worldwide IT Spending Forecast ist der

Frühindikator für Technologietrends im IT-Bereich. Zum gesunden Essen animierenTraurig, aber wahr: Immer

weniger Kinder erkennen

Gurken oder Tomaten auch

als solche. Das Spiel „Pixe-

late“ des Entwicklers Sures

Kumar Srinivasan soll sie nun

zum Essen von frischem Obst

und Gemüse animieren. Ziel

des Spiels ist, frisches Gemü-

se und Obst in der richtigen

Reihenfolge aufzuessen. Die

Lebensmittel werden an einem interaktiven Tisch über interaktives Besteck aufge-

nommen. Die Software erkennt mittels Spannungsmessung das jeweilige Produkt

und führt Kinder in spielerischer Weise an das Erkennen von Obst und Gemüse

heran. Noch ist „Pixelate“ allerdings ein Designerstück, ausgestellt in der Henry

Moore Gallery am Royal College of Art in London.

Futuristische Küche

Diese Küche könnte auch aus

den Kulissen von Star-Trek

strammen. Die „Z.Island“,

entworfen von Du Pont Corian,

ist aber voll funktionsfähig und

besteht aus zwei freistehenden

Kochinseln, wobei die eine

die Feuerstelle, die andere das Wasser beherbergt. Neben Herd und Spüle sorgt ein

modulares Schranksystem, versehen mit allerlei Lichtern und Lampen, für den nötigen

Stauraum. Eine fünf Meter lange Arbeitsfläche und ein Empfangsbereich für Gäste

komplettieren dieses stilvolle und höchst eigenwillige Designerstück.

Sharp Emperor – Dialog mit dem ArztDieser High-Tech-Sitz ist eine Art Diagnose-Stuhl, der es den Benutzern erlaubt,

mit Ärzten zu kommunizieren, die gerade nicht vor Ort sind. Die Station ist mit

verschiedensten Sensoren ausgestattet, die Blutdruck, Puls, Temperatur und vieles

mehr aufzeichnen und bei der Ferndiagnoseerstellung wichtige Fakten online an

den jeweiligen Arzt melden. Über dem Sitz befinden sich drei Monitore, auf denen

die Messwerte und weitere

relevante Informationen an-

gezeigt werden. Patienten, die

sich den Arztbesuch ersparen

wollen oder ihre Mobilität

eingebüßt haben, sind mit

5000 Euro dabei.

Effizentestes Leuchtmittel in Glühbirnenform – NanolightDie Lichtausbeute einer 100-Watt-Glühbirne mit einem Verbrauch

von lediglich zwölf Watt zu erreichen war das Ziel des „Nanolight“-

Projekts dreier Studenten der Universität Toronto. Bisherige LED-

Leuchten benötigen 20 Watt und Leuchtstofflampen 24 Watt für

diese Lichtstärke. Die außergewöhnliche Nanolight-LED-Leuchte

hat das Streuverhalten der klassischen Glühbirne beibe-

halten – das Licht wird in alle Richtungen gelenkt.

Dazu erreichen die neuen Leuchtmittel ihre

volle Helligkeit ohne Verzögerung. Mit 133

Lumen je Watt ist man um 200 Prozent

effizienter als andere Glühbirnen. Bei

einer Nutzung von täglich drei Stunden

mit soll die Birne 25-30 Jahre leben.

Hoffentlich ist das Wunderwerk bald

zu haben.

Der erste „grüne Hubschrauber“ der WeltDer Volocopter von e-volo ist eine Luftfahrt-Revolution made in Germany.

Sicherer, einfacher und sauberer als gewöhnliche Hubschrauber, ist er ein

Quantensprung in der individuellen Fortbewegung. Der Volocopter ist ein

umweltfreundlicher und emissionsfreier Privathubschrauber, der nicht von

einem Verbrennungsmotor, sondern von 18 elektrisch betriebenen Rotoren

angetrieben wird. Das Team um den Software-Experten Stephan Wolf und

den Physiker Thomas Senkel hat im November den Jungfernflug absolviert.

Der Volocopter erzeugt keine Abgase und ist nach einer Pilotenausbil-

dung „fly-by-Joystick“ zur fliegen. Überzeugend sind auch die niedrigen

Betriebskosten, der geringe Wartungsaufwand und das leise, vibrations-

freie Fliegen. Der innovative Helikopter erreicht eine Geschwindigkeit von

100 Stundenkilometer, hat Platz für zwei Personen und erreicht rasch eine

Höhe bis zu sieben Kilometern. In den kommenden Jahren soll die Serien-

produktion vorbereitet werden.

Rapidcool – die coole Revolution

Laut EU verbrauchen kommerziell genutzte Kühlanlagen und

Tiefkühler europaweit jährlich den Strom von 20 Millionen Haus-

halten. Das Konsortium „Rapid Cool“ will diesen Energiebedarf

drastisch reduzieren und hat einen Dosen- und Flaschenkühler

entwickelt, der Getränke binnen 45 Sekunden auf vier Grad

Celsius abkühlt. Möglich macht dies ein spezielles Schütteln des

Behälters, das auch als „V-Tex Technology“ patentiert ist. Obwohl

die Kühlzelle als separate Einheit entwickelt wurde, könnte sie in

übliche Selbstbedienungssysteme integriert werden. Man erwartet sich durch diese Möglich-

keit, nur bei Bedarf zu kühlen, eine Energieersparnis von über 80 Prozent gegenüber offenen

Kühlregalen und 54 Prozent gegenüber Kühlsystemen mit Glastüren.

Solar-LaptopDer erste Solar-Laptop der Welt der Firma „Sol“ kann ausschließlich mittels

Sonnenenergie geladen werden. Er besitzt integrierte Solar-Paneele, die

man unterwegs ausklappen kann - eine klassische Ladebuchse gibt es nicht.

Damit ist der Neue von „Sol“ für Menschen in Entwicklungsländern, wo es

nicht an Sonnenstunden, wohl aber an Elektrizität mangelt, prädestiniert.

Der Markteintritt soll denn auch in Ghana erfolgen, der Preis wird um die 280

Euro liegen. Der Laptop ist schnell, hat eine 320-Gigabyte-Festplatte, eine

Grafikkarte, einen LCD-Bildschirm und eine 3-Megapixel-Kamera.