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I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert „Was ist des Deutschen Vaterland?“ ZUM INHALT 1 MATERIALIEN 4 Einstiegsmodul: Nation und nationale Identität heute 4 M 1.2 Orientierungswissen: Nation und Nationalismus 4 M 1.3 „Deutsches Volk — nicht mehr gewollt“. Kunstbeirat des Bundestages befürwortet neue Widmung 5 M 1.4 Der Historiker Sönke Neitzel in einem Interview über nationale Identität und Patriotismus 5 M 1.5 Umfrageergebnisse 2008 7 M 1.6 Nationale Symbole 7 M 1.7 Die Nationalhymne im Unterricht 7 M 1.8 „Adler und Eisernes Kreuz haben über Berlin nichts zu suchen“ 8 Grundkurs: Nation und Nationalismus — Begriffe im Wandel der Zeit 9 M 2.2 Definitionen 9 M 2.3 Stationen der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert 11 M 2.4 Die Befreiungskriege als Ursprung der deutschen Nationalbewegung 12 M 2.5 Grundsätze und Beschlüsse der Burschenschaften 1817 14 M 2.6 Das Hambacher Fest 1832 — ein Fanal für die Demokratie? 14 M 2.7 Arbeitsblatt zur Revolution von 1848/49: die großdeutsch- kleindeutsche Diskussion der Nationalversammlung 18 M 2.8 Der Sedantag als nationaler Gedenktag im Kaiserreich 20 M 2.9 Kriegsgedichte von 1914 22 Erweiterungsmodul: Denkmäler als nationale Symbole 23 M 3.2 Die politische und touristische Bedeutung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim 23 Folien M 1.1 Fußball-WM 2006 in Deutschland Folie 1 M 2.1 Fußball-EM 2008 in Basel Folie 1 M 3.1 Niederwalddenkmal, Rüdesheim Folie 2 Klausurvorschlag „Völkerhass“ (E. M. Arndt, 1813) und „Bundeslied“ (E. M. Arndt, 1815) 24 UNTERRICHTSVERLAUF 25 LITERATUR 3. Umschlagseite

Dieses Mal im BONUSBEREICH für Abonnentinnen und Abonnenten: Die Karten aus M 2.7 (S. 18) finden Sie als Download und im DIN-A4-Format bereitgestellt unter www.buhv.de/downloadcenter oder www.buhv.de/bonus.

Impressum

Herausgeberin: Myrle Dziak-Mahler Autor: Martin Grosch Erscheinungsweise: sechs Ausgaben pro Jahr Abonnement pro Jahr: 63,— € unverb. Preisempf. inkl. MwSt. zzgl. 4,50 € Versand-pauschale (innerhalb Deutschlands) Anzeigen: Petra Wahlen T 0241-93888-117 Druck: Verlag: Bergmoser + Höller Verlag AG Karl-Friedrich-Straße 76 52072 Aachen DEUTSCHLAND T 0241-93888-123 F 0241-93888-188 E [email protected] www.buhv.de Titelbild: Niederwalddenkmal bei Rüdesheim, um 1900. Quelle: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org Rechtshinweis: Wir haben uns intensiv bemüht, die Nachdruckrechte bei allen Rechte-inhabern einzuholen. Sollten sich dennoch Ansprüche ergeben, die wir nicht berücksichtigt haben, sind wir für Hinweise dankbar. Wir wer-den diese prüfen und berechtigte Ansprüche abgelten. ISSN 0176-943X

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G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

Martin Grosch

Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert „Was ist des Deutschen Vaterland?“

Aktuelle Bedeutung des Themas Die heutige Menschheit gliedert sich in über 100 Nationen, die in einem eige-nen Staatswesen oder als Minderheit in einem Staat leben, hinzu kommen zahlreiche weitere ethnische Gruppen, die für sich den Anspruch einer Nation zum Teil friedlich, zum Teil aber auch auf gewaltsame Weise reklamieren. Trotz Globalisierung erscheint nach wie vor für die meisten Menschen kei-ne Bindung von so großer Bedeutung zu sein wie die an die Nation — wie auch immer dieser Begriff konkret zu defi-nieren sein mag. Auch neuere und ak-tuelle Bindungen, Bezugspunkte bzw. Identifikationen wie beispielsweise der Kommunismus im 20. Jahrhundert oder nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee und praktische Umsetzung eines mög-lichst vereinten Europas haben es nicht oder nur teilweise vermocht, den ho-hen Stellenwert der Nation aufzuhe-ben. Nationen stellen somit eine Reali-tät dar und das Nationalgefühl, in übersteigerter Form der Nationalismus, bilden auch in Zeiten der Demokratie und europäischen Kooperation eine po-litische Kraft ersten Ranges. Der Nati-onalismus mit all seinen negativen Be-gleiterscheinungen ist zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts nach Europa zurückgekehrt, wenn auch „nur“ in seinen östlichen Teil, dort da-für aber um so massiver. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, gewaltsame Auseinandersetzungen in Moldawien und im Kaukasus, Spannungen in der Ukraine sind nur einige derartiger Bei-spiele. Das eben skizzierte Bindungsge-fühl fordert(e) dann konsequent für die eigene Nation politische, wirtschaftli-

che und kulturelle Unabhängigkeit, notfalls mit dem in Europa längst überholt geglaubten Mittel des Krieges. Auch wenn die vom Nationalgefühl so hoch bewertete Unabhängigkeit der Nation häufig eine Illusion bzw. Utopie darstellt — allein oft schon aufgrund des geringen Gebietes, der kleinen Kopfzahl der nach Selbständigkeit strebenden ethnischen Gruppe oder in-folge ökonomischer Schwäche —, so finden sich separatistische, auf den Ge-danken der eigenen Nation beruhende Tendenzen auch in Teilen Westeuropas, hier sei nur an den politischen Dauer-streit in Belgien, die Separatismusbe-wegung der ETA im Baskenland oder an Anschläge korsischer Separatisten erin-nert. Dieser Widerspruch zwischen dem Unabhängigkeitswillen mancher Natio-nen bzw. ethnischer Gruppen und ihrer tatsächlichen Abhängigkeit von anderen ist nach wie vor ein zentrales politi-sches Problem unserer Zeit. Gegen-wartsbezüge sind also allenthalben reichlich vorhanden. Man mag dies be-dauern, kritisieren oder akzeptieren, nur ignorieren lassen sich derartige Er-scheinungen nicht, und wenn doch, dann mit teilweise katastrophalen Kon-sequenzen, wie der Bosnien-Krieg 1992—1995 in seiner ganzen Brutalität gezeigt hatte.

Das Beispiel der „deutschen Nation“ Grund genug also, derartige Phänome-ne und deren Konsequenzen schwer-punktmäßig am Beispiel der deutschen Nation historisch für die Anfänge und deren weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert zu untersuchen. Wie ge-

lang es den Deutschen sich als Nation zu definieren, welche Wege und Vari-anten wählten sie? Geschah die Nati-onswerdung im Einklang mit den Nachbarn mit dem Ziel ein gleichbe-rechtigter Partner zu sein? Wo finden wir den Bruch hin zu Nationalismus und Chauvinismus mit dem Kulminations-punkt des rassistischen Regimes des Nationalsozialismus? Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation war in den Jahren vor der Wie-dervereinigung eher ein „Nicht-Verhältnis“. Patriotismus oder gar Na-tionalismus waren, abgesehen von ein-zelnen rechtsradikalen Parteien und deren Publikationen, nicht nur im poli-tischen Diskurs tabu, sondern spielten auch im gesellschaftlichen, öffentli-chen Leben so gut wie keine Rolle mehr. Man denke hier beispielsweise an den „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni, der von den meisten Men-schen als willkommener Feiertag ange-sehen wurde, über dessen Bedeutung und historischen Hintergrund sich aber höchstens eine Minderheit informierte. Auch die Frage, ob die gemeinsame Nation aus der Bundesrepublik Deutsch-land und der DDR noch bestehe, ließ weite Teile der Bevölkerung beider deutscher Staaten eher unberührt. Um so erstaunlicher der Prozess der Wende und Wiedervereinigung. Vom Motto „Wir sind das Volk“ ausgehend wurde unter dem Slogan „Wir sind ein Volk“ der Einigungsprozess forciert — aus welchen Motiven auch immer. Die poli-tische Kontroverse um den Umgang mit der eigenen Nation stand plötzlich wieder im Rampenlicht. Sie verschaff-te sich in den großen Tages- und Wo-

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chenzeitungen, in den politischen Ma-gazinen und Talkshows in zunehmen-dem Maße ihren Platz. Es entstand und besteht bis heute eine teilweise gera-dezu leidenschaftliche, emotionale Debatte um die Frage, ob und inwie-weit nationales Bewusstsein zeitgemäß und berechtigt sei. Eine Debatte, die nahezu alle Altersgruppen in Deutsch-land mit einbezog, beispielsweise im Bereich des Sports und hier speziell des Fußballs. Wurde der Gewinn des Weltmeistertitels 1990 noch eher ver-halten gefeiert, so lösen spätestens seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland große Turniere eine Be-geisterungswelle für die deutsche Na-tionalmannschaft aus, die sich unter anderem in schwarz-rot-goldenen Fähnchen an Autos und dem sogenann-ten „Public Viewing“ Ausdruck ver-schafft. Ein Anschwellen patriotischer, nationaler Gefühle? Wenn ja, dann je-denfalls auf friedliche Weise, die den Respekt gegenüber den anderen Teams und somit Nationen verdeutlicht. Ein enormer Fortschritt, sicher, aber wo ist die Grenze hin zum Nationalismus? Kann auch heute die Gefahr nationalis-tischer Tendenzen gänzlich ausge-schlossen werden? Lassen sich Gewalt-ausbrüche „nur“ auf rechtsradikale Gruppierungen reduzieren? Phänomene und Ausblicke, die auch in Zukunft in-tensiv beobachtet, diskutiert und, wenn möglich, gelöst werden müssen. Dabei kann auch die Kenntnis über die historischen Hintergründe mancher Ausprägungen, Parolen und Forderun-gen hilfreich sein.

Historische Hintergründe Die Frage nach der Nation — ein politi-sches Problem, das viele Deutsche, speziell aus dem Bürgertum, nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon in-tensiv beschäftigen sollte. „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Das war die zentrale Frage des Schriftstellers und Professors für Geschichte Ernst Moritz Arndt (1769—1860) für ein „vaterländi-sches“ Gedicht. Arndt hatte sich — wie viele seiner Zeitgenossen — für die „nationale Erhebung“ gegen Napoleon eingesetzt und forderte die nationale Einheit Deutschlands. Von den Ergeb-

nissen des Wiener Kongresses, der statt eines deutschen Nationalstaates nur einen „Deutschen Bund“ von 39 mehr oder weniger souveränen Einzel-staaten und Freien Städten geschaffen hatte, tief enttäuscht, setzten sich zahlreiche weitere Vertreter des Bür-gertums mit der Frage nach der Zu-kunft der Deutschen und Deutschlands auseinander. Aus der älteren Vorstel-lung von den Deutschen als einem Volk — mit gemeinsamer Sprache und Ge-schichte — wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — begünstigt durch die Französische Revolution — auch ein politisches Nationalbewusst-sein. In einem historischen Längsschnitt von ca. 1808 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollen die verschiedenen Nationsbegriffe und –vorstellungen analysiert und kritisch hinterfragt wer-den — unter Berücksichtigung des ex-emplarischen Prinzips, mit einem in-haltlichen Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hier vor allem auf den gescheiterten Versuch 1848/49 einen demokratischen Natio-nalstaat zu gründen, der dann 1870/71 in die kleindeutsche Reichsgründung „von oben“ im Deutschen Kaiserreich mündete. Als Ausblick in das 20. Jahr-hundert dienen abschließend Beispiele von Kriegsgedichten bzw. -liedern aus dem Jahr 1914. Weimarer Republik und der Nationalsozialismus könnten dann darauf aufbauend, über die Inhal-te und Fragestellungen in diesem Heft hinausgehend, in einem separaten Un-terrichtsgang unter ähnlichen Frage-stellungen thematisiert werden. Glei-ches gilt auch für das Problem einer deutschen Identität nach 1945. Hier sollten aktuelle Beispiele für Fragen und Probleme von „nationaler Identi-tät“ und somit Traditionslinien und Brüche in der deutschen Geschichte thematisiert werden. Ein fächerüber-greifender bzw. -verbindender Ansatz zum Politikunterricht kann hierdurch zusätzlich ermöglicht werden. Eine Theoriedebatte über das Begriffs-feld Nation, Nationalismus und natio-nale Identität wirkt auf Schüler/-innen dann besonders interessant, wenn die historischen Entwicklungen zu Fragen und Problemen der Gegenwart, kontro-

versen Diskussionen, wie z.B. der Fra-ge nach einer „deutschen Leitkultur“, und zeitgenössischen Erkenntnisinte-ressen in Beziehung gesetzt werden. Am anschaulichsten geschieht das, wenn derartige Auseinandersetzungen über die nationale Identität sich an Bildern, Motiven und Texten festma-chen lassen, die gleichzeitig die lange Geschichte der von verschiedenen Sei-ten geführten Debatten um die deutsche Nation in den verschiedenen histori-schen Epochen bis heute widerspie-geln. Einführend sollte hier somit weniger der wissenschaftliche Diskurs als viel-mehr ein Beispiel der immer wieder auftretenden und dann sehr lebhaft bis heftig geführten Kontroversen bezüg-lich Fragen zum Patriotismus, Natio-nalstolz o.Ä. aus den Medien bzw. der aktuellen Publizistik herangezogen wer-den. Die historischen Wurzeln des deut-schen Nationalgedankens bzw. Natio-nalismus im 19. Jahrhundert werden anschließend angesprochen. Die Vor-kämpfer des Verfassungs- und Natio-nalstaates (siehe Arndt) strebten drei Ziele an: 1. nationale Unabhängigkeit und Einheit, 2. staatsbürgerliche Frei-heit, Gleichheit und Partizipation im Rahmen einer verfassungsmäßigen Ordnung, 3. wirtschaftliche Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Liberalismus und Nationalstaatsbewegung bzw. Na-tionalismus gingen Hand in Hand und wurden von der fürstlichen Obrigkeit bekämpft und ihre Verfechter als Re-volutionäre diffamiert (hier sei exem-plarisch der Schöpfer der deutschen Nationalhymne Heinrich Hoffmann von Fallersleben genannt). Schon in der Revolution von 1848/49 zeigte sich al-lerdings, dass diese Ziele nicht immer und überall miteinander zu vereinba-ren waren. Während die Vertreter der alten Ordnung sich in der Abwehr der Freiheits- und Emanzipationsbestre-bungen einig waren, zeigten sich die Vertreter der neuen Ideen und Ideale häufig zerstritten, bedenkt man bei-spielsweise die Debatten in der Pauls-kirche zur Frage „großdeutsche“ oder „kleindeutsche“ Lösung. Mit der Reichsgründung 1871 blieben dann ei-nige der liberalen und demokratischen

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Forderungen auf der Strecke. Große Teile des Bürgertums sahen mit der Gründung des deutschen Nationalstaa-tes ihre Ziele verwirklicht. Nationaler Patriotismus und Autoritätsfixierung waren zentrale Grundlagen des Kaiser-reiches. Anderen allerdings ging das Erreichte noch nicht weit genug. Deutschland müsse Großmacht wer-den und Weltpolitik betreiben. Der Übergang vom Patriotismus über Nati-onalismus hin zum Chauvinismus und völkerverachtenden Rassismus war dann nur noch ein kleiner Schritt. Die Ideen beispielsweise des Alldeutschen Verbandes, eines Admiral Tirpitz oder des Kolonialpolitikers Carl Peters konnten später problemlos eine Basis für die nationalsozialistische Ideologie bilden. Von Bedeutung sind weiterhin die un-terschiedlichen Funktionen von Natio-nalismus — hier auch unter Einschluss der europäischen Perspektive mit Blick auf verschiedene Nachbarstaaten Deutschlands. Neue Aspekte und Trends (wie schon am Beispiel von Sportveranstaltungen angedeutet) be-züglich der Bewertung von nationaler Identität, Nationalgefühl und dem da-

mit verbundenen Umgang sollen an-hand aktueller Beispiele und Symbole (z.B. Hymne, Flagge, Wappen etc.), aber auch insbesondere mittels histori-scher Denkmäler vorgenommen wer-den.

Methodische Aspekte und Schwerpunkte Die Diskussion der zeitgenössischen Texte und Auffassungen und die multi-perspektivisch vorzunehmende Gegen-überstellung von Position und Gegen-position sollen die Beurteilung von Einstellungen und Verhaltensweisen aus ihrem jeweiligen historischen Kon-text heraus ermöglichen, weiterhin ei-nen Überblick über aktuelle Beurtei-lungen von Nation und Nationalgefühl erschließen, aber auch zur kritischen Reflexion der eigenen Wertmaßstäbe und Einstellungen anregen. In Form von handlungsorientiertem Un-terricht mit selbständiger Gestaltung von Interpretationen durch die Schü-ler/-innen, die sich den historischen Hintergrund der Quellen, eines natio-nalen Symbols und/oder Denkmals al-lein oder in der Gruppe erarbeiten, soll

ein schwerpunktmäßiger Zugang zu ei-ner eher „trockenen“, aber uns alle betreffenden Materie ermöglicht wer-den. Auch die eigenständige Recherche und Dokumentation der aktuellen Lage bietet sich hier an. Gelegenheit dazu kann auch eine weitere Methode lie-fern: Ergänzend bzw. ausbauend be-steht die Möglichkeit für Projektarbeit bzw. eine Projektwoche: nationa-le/historische Denkmäler bzw. Orte als außerschulische Lernorte werden in Form einer Exkursion mit integrierter empirischer Studie (Interview/Frage-bogen, Auswertung und Möglichkeiten der Präsentation) analysiert. Selbstverständlich besitzt das in die-sem Heft vorgestellte Niederwald-denkmal hier nur eine exemplarische Funktion; es lässt sich sicher — je nach Region — durch andere adäquate Orte ersetzen (und seien es Kriegerdenkmä-ler auf Friedhöfen, ein Bismarck-Denkmal oder auch Straßennamen). Eine derartige Fallstudie kann natür-lich auch ohne Besuch vor Ort mithilfe visualisierter Materialien vorgenom-men werden.

Kompetenzerweiterungen

Sachkompetenz Die Schülerinnen und Schüler 1. lernen verschiedene Definitionen

und Auslegungen der Begriffe „Na-tion“, „Nationalismus“, „Patriotis-mus“ etc. kennen und beurteilen diese;

2. untersuchen verschiedene Phasen und Epochen der Entwicklung hin zum deutschen Nationalstaat;

3. erkennen die gegenwärtige Bedeu-tung des Themas Nationalismus an-hand aktueller politischer Diskussi-onen;

4. können die Bedeutung von Nationa-lismus in Form einer Fallstudie an-hand der deutsch-französischen Be-ziehungen ermessen;

5. ermitteln verschiedene nationalis-

tisch geprägte Konfliktherde (Terri-torien etc.);

Methodenkompetenz 6. analysieren und interpretieren un-

terschiedliche zeitgenössische Text-quellen zielgerichtet;

7. untersuchen und analysieren ein Denkmal als historische Quelle;

8. präsentieren ihre Ergebnisse präg-nant und strukturiert mittels an-gemessener Formen (PowerPoint, OHP);

Urteilskompetenz 9. schärfen ihren Blick gegenüber na-

tionalistischen Aussagen, z.B. von

rechten Gruppierungen und Parteien; 10. entwickeln ein kritisches Urteils-

vermögen als mündige Staatsbür-ger/-innen;

11. beurteilen aktuelle politische De-batten zu Fragen nationaler Identi-tät u.Ä. und

12. definieren ihren eigenen Stand-punkt zu derartigen Diskussionen;

Handlungskompetenz 13. praktizieren Toleranz und Respekt

gegenüber anderen Völkern bzw. Kulturen;

14. führen eine Exkursion zu einem au-ßerschulischen Lernort durch;

15. entwerfen einen Fragebogen und führen eine empirische Studie durch.

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Nation und nationale Identität heute M 1.2 Orientierungswissen: Nation und Nationalismus Vorbemerkung: Allgemeingültige De-finitionen, mit denen Begriffe wie Volk und Nation zu fassen wären, existieren nicht. Es gibt lediglich Beschreibungen, auf die sich die Wissenschaft sowie die 5

(internationale) Politik verständigt ha-ben. Nation, abgeleitet vom lateinischen „natio“ (Geburt, Geschlecht, Art, Stamm, Volk), bedeutete in der Antike 10

die durch Abstammung verbundene Bevölkerung einer Stadt, einer Land-schaft oder eines Territoriums, im Mit-telalter so viel wie „Landsmannschaft“ und in der frühen Neuzeit die Gesamt-15

heit der Adligen, Privilegierten und Gebildeten eines politischen Territori-ums. Völker, Nationen und Staaten gab es demnach schon im vormodernen Eu-ropa, nur stellten sie noch keine Größe 20

dar, die das politische Denken und Handeln bestimmte. Dies sollte sich im Zuge der großen Revolutionen ändern. Der Nationsbegriff — und damit ein-hergehend der Nationalismus — entwi-25

ckelte sich im modernen Staat zwi-schen dem 16. und 18. Jahrhundert. Voraussetzung hierfür waren die Ideen der Aufklärung, insbesondere der Ge-danke der Volkssouveränität. So pro-30

pagierten die Jakobiner die Nation als höchste politische Ordnung sei iden-tisch mit Volk und Staat. Die Romanti-ker entdeckten den „Volksgeist“ und die „Volksseele“. Sie erhoben die Na-35

tion in den Rang einer natürlichen, auf kultureller und sprachlicher Gemein-samkeit beruhenden Lebensgemein-schaft. Eine Nation enthält über das hier deutlich werdende Zusammenge-40

hörigkeitsgefühl hinaus ein staatspoli-tisches Willenselement, das nach einer Vereinheitlichung beispielsweise der kulturellen Normen strebt. Nation bzw. Nationalität bedeutet so zum einen 45

die Staatsangehörigkeit einer Person (= Staatsnation, eine v.a. im französi-

schen und englischen Einflussbereich weit verbreitete Auffassung). Hier ist der Staat der spezifische Nationalstaat 50

einer bürgerlich konstituierten Gesell-schaft, deren subjektives Gemein-schaftsgefühl historisch geformt bzw. gewachsen ist und die den Staat aus einem gemeinsamen Willen heraus de-55

finiert. Im mittel- und osteuropäischen Sprachgebrauch hingegen stellt eine Nation die Gesamtheit derer dar, die durch eine gemeinsame Sprache, Kul-tur, Geschichte und Abstammung mit-60

einander verbunden sind (= Kulturna-tion, Territorium und Staat sind hier weniger wichtig). Mit dem Nationalbe-wusstsein, dem Stolz auf die eigene Nation und der Zielsetzung national-65

staatlicher Politik, verbanden sich zur Zeit der Restauration und des Vormärz auch liberale und soziale Forderungen wie Verfassung, Pressefreiheit, Parla-ment, Bildung und Wohlstand. Das 70

Selbstbestimmungsrecht der Völker, u.a. von US-Präsident Wilson in den „Vierzehn Punkten“ formuliert, breite-te sich nach 1918 weltweit aus. Zuvor wurden allerdings in der zweiten Hälf-75

te des 19. Jahrhunderts nationale Be-wegungen häufig von demokratischen Grundsätzen und Strömungen abge-koppelt und propagierten im Namen des Nationalismus weitreichendere 80

Ziele. Die Hinwendung zum religiös übersteigerten nationalen Machtstaat bedeutet eine Hinwendung zum politi-schen Irrationalismus. Die eigene Nation wurde als einzigartig und unumstößlich 85

überhöht. In Verbindung mit Fremden-feindlichkeit, Chauvinismus und Rassen-hass erfuhr sie eine wahnhafte und zerstörerische Übersteigerung, wie das Beispiel des „Dritten Reiches“ unheilvoll 90

verdeutlicht. Nationalismus stellt somit eine Ideolo-gie dar, in der die eigene Nation das „Nonplusultra“ darstellt. Sie ist dem-

nach keinem allgemeingültigen Sitten-95

gesetz unterworfen, in ihrem Interesse ist alles erlaubt (vgl. Hitler: „Recht ist, was dem Volke nützt.“). Diese Art von Nationalismus — als „integraler Natio-nalismus“ — führt zur Einschränkung 100

oder gar zur völligen Aufhebung der Rechte des Individuums (vgl. die NS-Parole: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“). Sie verurteilt jedes Verhalten, das nicht der Art und den — angebli-105

chen — Interessen der eigenen Nation entspricht und führt zu extremem Misstrauen bis hin zur Verfolgung An-dersdenkender. In der Außenpolitik führt ein integraler Nationalismus zu 110

Prestige- und Machtpolitik, zu radika-lem Erstreben des eigenen Vorteils, zu Imperialismus und zur völligen Missach-tung der Rechte anderer Nationen (vgl. z.B. die nationalsozialistische „Lebens-115

raumpolitik“). Hier stellt der Übergang zum Rassismus, der als eine Art des Nationalismus nur den als Angehörigen der Nation anerkennt, der hinsichtlich seiner Abstammung bestimmte Merk-120

male aufweist (vgl. die „Reinheit des Blutes“), nur noch einen kleinen Schritt dar und kann im Extremfall zu einer Politik der „ethnischen Säube-rungen“ und des Völkermordes führen. 125

Der Nationalismus im wertfreien Sinne hat sich seit dem 18. Jahrhundert zu einer Idee entwickelt, die auf allen Gebieten menschlichen Lebens in allen Teilen der Erde in stärkster Weise 130

wirksam geworden ist. Solange er ne-ben der eigenen Nation noch andere Werte anerkennt, wie Menschenrech-te, Religion, verschiedene Traditionen und Kulturen sowie das Völkerrecht, 135

kann bzw. konnte er auch als durchaus fortschrittliche Bewegung unterdrück-te Völker zu Unabhängigkeit bzw. Selbstbestimmung führen. Autor: Martin Grosch

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M 1.3 „Deutsches Volk — nicht mehr gewollt“. Kunstbeirat des Bundestages befürwortet neue Widmung

Berlin. […] Im Lichthof Nord, einem von zwei Innenhöfen des Berliner Reichstages, soll als Kunstwerk ein sogenanntes Erd-hügel-Biotop angelegt werden mit dem Widmungstext „DER BEVÖLKERUNG“. […] Einen solchen fundamentalen Selbst-eingriff hat es in der Menschheitsgeschichte bislang noch nie gegeben. Dennoch fand der Planungsentwurf des in New York lebenden, sogenannten Prozeßkünstlers Hans Haacke (Jahrgang 1936) überwältigenden Zuspruch im Kunstbeirat des Deutschen Bundestages. […] Haacke sagte in der Beirats-sitzung vom 2. November unter anderem: - Das Adjektiv „deutsch“ und das Substantiv „Volk“ hätten „im gesellschaftlichen Leben Deutschlands im Laufe des ge-samten 20. Jahrhunderts eine zwiespältige und oftmals un-heilvolle Rolle gespielt“. - Die Widmung „Dem deutschen Volke“ am Reichstagspor-tal sei „von Anfang an nationalistisch aufgeladen“ gewesen. - Sie diskriminiere all jene Millionen Menschen, die seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart zugewandert oder „hier hängengeblieben“ seien. Es dürfe jedoch nicht sein, daß „ihr Ahnenpaß sie für die Zulassung zum deutschen Volk“ disqua-lifiziere. - Vielmehr beträfen die Beschlüsse des Bundestages alle Bewohner der Bundesrepublik, gleichgültig, ob sie gemäß der Definition des Lexikons oder irgendeiner anderen Be-griffsbestimmung zum „deutschen Volke“ gehörten. - Deshalb, so Haacke, könnten die Deutschen nicht länger die „Exklusivität“ für sich in Anspruch nehmen, wie sie in der Widmung am Portal des Reichstages zum Ausdruck komme. Fast einmütig stimmte der Kunstbeirat des Deutschen Bun-destages dem Plan des Prozeßkünstlers Hans Haacke zu, im Lichthof Nord des Reichstagsgebäudes Erde aus allen Teilen Deutschlands zusammenzutragen und dieses Kunstwerk „der Bevölkerung“ zu widmen — „der ganzen Bevölkerung“. Alle Bundestagsabgeordneten, so Haacke, müßten sich end-lich dazu bekennen, daß die „nationalistisch exklusive Paro-le“ an der Fassade des Reichstages und heutigen Bundesta-ges nunmehr endlich „korrigiert“ werde. Rolf Dressler im „Westfalen-Blatt“ vom 13./14.11.1999, Nr. 265, S. 1

Reichstagsgebäude, Berlin. Foto: Marco Berscheidt

M 1.4 Der Historiker Sönke Neitzel in einem Interview über nationale Identität und Patriotismus Prof. Dr. Sönke Neitzel lehrt Neuere und Neueste Geschich-te an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Seit 1994 ist er Fachberater der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. GBU: Was verstehen Sie heute unter dem Begriff Nation bzw. deutsche Nation? Neitzel: Dies ist heute eindeutig: Staatsvolk und Staatsge-biet bilden die Nation. Früher war dies im Bereich von Deutschland nicht der Fall. Deutschland als Staat war nicht 5

mit der deutschen Nation identisch, heute freilich schon. GBU: Inwiefern sollte Ihrer Meinung nach eine eigene natio-nale Identität betont bzw. gepflegt werden? Neitzel: Die Deutschen besitzen eine nationale Identität, ob sie wollen oder nicht. Die Deutschen merken dies regelmä-10

ßig, wenn sie ins Ausland reisen und der eigene Kulturraum mit anderen Kulturen und Mentalitäten konfrontiert wird. Sie sind innerhalb der deutschen Grenzen aufgewachsen und verfügen von daher über eine nationale Identität. Man sollte dies annehmen und sich damit auseinandersetzen und sich 15

diese Tatsache bewusst machen. Dies trägt zur positiven Auseinandersetzung mit der eigenen Identität bei. GBU: Oder anders gefragt: Wie viel Patriotismus „verträgt“ Deutschland heute? Neitzel: Der Patriotismus hat sich im Laufe der deutschen 20

Geschichte sehr gewandelt. Anfang des 19. Jahrhunderts de-finierte er sich über die Abwehr gegen Frankreich bzw. ge-gen die Franzosen. Ende des 19. und im 20. Jahrhundert nahm der Hypernationalismus schlimme Auswüchse an. 98% der Deutschen sehen dies als Vergangenheit an, von wenigen 25

unbelehrbaren Ausnahmen abgesehen. Deutschland verträgt den Patriotismus, den die Deutschen momentan hervorbrin-gen. Es ist ein moderner Patriotismus, der aus der Geschich-te gelernt und eine eigene Form gefunden hat, sicherlich anders als in den USA oder in Großbritannien. 30

GBU: Inwieweit soll bzw. muss die deutsche Vergangenheit bei einem derartigen Thema eine Rolle spielen? Neitzel: Der aktuelle deutsche Patriotismus hat sich aus den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit entwickelt, aus den dunklen Stunden der deutschen Geschichte. Sie besitzt somit 35

immer eine wichtige Bedeutung, denken wir hier nur an den Holocaust. Dennoch sollte der Patriotismus seine Rolle spie-len, wir sind heute weiter als beispielsweise in der Phase der 68er, die dem Patriotismus sehr kritisch gegenüberstanden. Diese Gegenreaktion ist überwunden, sodass der Patriotis-40

mus in Deutschland eine neue Rolle spielen kann. GBU: Gehen wir konkret ins 19. Jahrhundert: Wer waren Ih-rer Meinung nach die zentralen Träger der deutschen Natio-nalbewegung? Kommentieren Sie hierbei bitte auch die Funktion der Burschenschaften. 45

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Neitzel: Der klassische Träger der Nationalbewegung war das Bürgertum, die gebildeten Schichten. Sie definierten sich in ihrer Abwehrbewegung gegen Napoleon während der französischen Besatzung. Diese Nationalbewegung konnte sich im Rahmen des Wiener Kongresses nicht entfalten, sie 50

lebte sich dann im Vormärz aus in Turnvereinen, Studenten-bewegungen und Burschenschaften, wobei vor allem letztere eine entscheidende Bedeutung besaßen. Die Burschenschaf-ten initiierten beispielsweise 1817 das Wartburgfest zum Gedenken des Anschlags der 95 Thesen von Luther und der 55

Völkerschlacht bei Leipzig. Die Farben „Schwarz-Rot-Gold“ der Lützower Jäger als eines von zahlreichen Freikorps ab 1813 wurden zu den deutschen Nationalfarben und wurden von den Burschenschaften adaptiert. Sie sind somit auch im Hinblick auf ihre Symbolik von zentraler Bedeutung. Später 60

prägte dann ebenfalls das Bürgertum etwa in Form der Nati-onalliberalen Partei im Kaiserreich die Nationalbewegung, allerdings in einer radikalen Weise, wie z.B. die auch von ihm getragene Flottenbewegung verdeutlicht. GBU: Wo würden Sie Kontinuitäten bzw. Brüche bezüglich 65

der deutschen Nationalbewegung/der Entwicklung hin zum Nationalstaat konstatieren? Neitzel: Als Beginn der deutschen Nationalbewegung sind die napoleonischen Kriege zu nennen, den großen Katalysa-tor bildeten dann die Einigungskriege 1864—1871, insbeson-70

dere der gegen Frankreich. Diesem Konflikt mit Frankreich verdanken wir unsere patriotischen Lieder wie z.B. die „Wacht am Rhein“, das 1841 während der Rheinkrise ent-stand. Der Sieg 1871 über Frankreich führte zu einer Über-höhung der Nationalbewegung. In einer borussischen Traditi-75

on erfolgte eine Umschreibung der Geschichte auf diesen Fluchtpunkt. Eine Kritik an diesen Deutungen war im öffent-lichen Diskurs in einem Klima des Hypernationalismus gar nicht mehr möglich. Den Bruch mit dieser Überidentifikation stellt der Zweite Weltkrieg dar, ein regelrechter Donner-80

schlag, der wohl fast jedem bewusst wurde. Erst ab 1945 er-folgte, zuerst ganz langsam und peu à peu der Aufbau eines neuen Nationalbewusstseins. GBU: Wie unbefangen können oder sollten wir Deutsche also mit Nationalgefühl bzw. Nationalbewusstsein auch im euro-85

päisch-globalen Kontext umgehen? Neitzel: Ich halte nicht viel davon, dass wir kein Nationalge-fühl entwickeln und in einem Internationalismus aufgehen sollen, das können vielleicht Eliten, aber nicht die Deutschen insgesamt. Es gibt keinen Anlass, nicht mit einem gesunden 90

Nationalgefühl aufzuwarten, es gibt genügend Gründe stolz zu sein, was in der Bundesrepublik Deutschland geleistet wurde. Identifikation mit Kultur und Nation sollte sich nicht nur auf die eigene Stadt oder den Kreis beschränken, ebenso sollte nicht nur Negatives, sonden auch Positives betont 95

werden. Dies stellt ein Stück zur Normalität dar. Meiner Mei-nung nach sind wir hier auf einem guten Weg.

GBU: Für welchen konkreten Umgang beispielsweise mit nati-onalen Symbolen in der Öffentlichkeit würden Sie plädieren? Neitzel: Es stellt für mich kein Problem dar, zu besonderen 100

Ereignissen die Hymne zu singen oder die Fahne zu hissen. In den USA weht die Fahne vor jedem Haus, was in Deutschland sicher als merkwürdig empfunden würde und auch nicht nachgeahmt werden muss. Bei einer entsprechenden Identi-fikation sollte im öffentlichen Raum die Hymne gesungen 105

werden, das finde ich sehr gesund und als völlig unproblema-tisch. Wir können froh sein, wenn ein Wirgefühl da ist, das kann nur gut tun. Dies kann eben auch mittels eines Symbols geschehen, wie auch schon das Hambacher Fest beweist, wo die schwarz-rot-goldenen Fahnen der Identifikation dienten. 110

GBU: Ein weiteres konkretes Beispiel dazu: Verdeutlichen Sie doch bitte aus Ihrer Perspektive den heutigen Stellen-wert nationaler Denkmäler aus dem 19. Jahrhundert. Neitzel: Nationale Denkmäler sind Teil unserer Geschichte, sie haben zwar ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, den-115

noch müssen wir sie aber als Teil unserer Geschichte aner-kennen. So können wir an ihnen sehen, wie destruktiv der Nationalismus im 19. Jahrhundert gewesen ist, damals war Frankreich der große Feind, heute sind Städtepartnerschaf-ten und Schüleraustausche Normalität. Vergleicht man bei-120

spielsweise den destruktiven Text der „Wacht am Rhein“ am Niederwalddenkmal mit der derzeitigen Situation, so können wir anhand der Denkmäler unsere Entwicklung nachvollzie-hen. Wir sollten heute freilich eigene Denkmäler mit natio-nalem Bezug entwickeln, z.B. zur Wiedervereinigung. 125

GBU: Eine abschließende Frage: Halten Sie ein National-/Staatsbewusstsein für die Existenz und Identität eines Staates und seiner Bevölkerung heute noch für notwendig oder würden Sie den Nationalstaat nicht vielmehr als ein „Auslaufmodell“ bezeichnen? 130

Neitzel: Eine klare Antwort: Der Nationalstaat ist kein Aus-laufmodell. Wir wünschen uns zwar die Vereinigten Staaten von Europa, dies ist aber ein Elitenprojekt von Personen, die sich im Alltag auf dem internationalen Parkett bewegen. Für die Mehrzahl der Deutschen, Italiener, Franzosen usw. ist 135

dies aber keine gelebte Realität. Die eigene Kultur bedeutet viel, die faktische Kraft des Nationalstaates hat eine große Bedeutung. So würde man als Engländer oder Franzose eine derartige Frage gar nicht stellen. Die Nation spielt auch für die Deutschen nach wie vor eine wichtige Rolle, so müssen 140

wir uns auch im globalen Kontext auf eigene Interessen be-ziehen. Die EU wird z.B. auch kritisch von vielen Bürgern wahrgenommen, hier dürfen wir nicht zu viel verlangen: Es ist unrealistisch, Deutschland zugunsten eines Internationa-lismus aufheben zu wollen. Nationale Vielfalten in Europa 145

sind etwas Belebendes. GBU: Herr Prof. Neitzel, wir danken Ihnen für das Ge-spräch. Das Interview mit Prof. Neitzel wurde im Mai 2009 von „Geschichte betrifft uns“ ge-führt.

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M A T E R I A L I E N 7

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

M 1.5 Umfrageergebnisse 2008

Männer Frauen

Ich bin ziemlich oder sehr stolz Deut-scher zu sein.

68%

61%

Sehen Sie sich eher als Europäer oder als Deutsche? - als Europäer:

29%

27%

Gibt es Ereignisse in der deutschen Geschichte, auf die Sie mit Stolz bli-cken? - Mauerfall/Wiedervereinigung - Wiederaufbau/

Wirtschaftswunder - Gründung der BRD/ demokratische Grundordnung

33%

14%

12%

23%

9%

6%

Soll Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernehmen? - Ja - Deutschland sollte sich zurückhal-

ten

35%

50%

25%

55% Quelle: SPIEGEL 17/2008, S. 70/71

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Stellen Sie den Begriff „Nationale Identität“ in den Mittelpunkt eines von Ihnen zu entwerfenden Mind-maps.

2. a) Formulieren Sie knapp die zentralen Positionen der Artikel (M 1.3 und M 1.4).

b) Äußern Sie sich dazu spontan und verdeutlichen Sie, was Sie unter den Worten „deutsch“, „Volk“ und „Nation“ verstehen.

Halten Sie dieses — mittlerweile verwirklichte — Pro-jekt (M 1.3) für angemessen und realitätsnah?

3. Verfassen Sie unter Berücksichtigung der Umfrageer-gebnisse (M 1.5) einen Kommentar zu dem hier kon-trovers diskutierten Projekt.

M 1.6 Nationale Symbole Braucht die Demokratie Symbole? Diese Frage stellte sich in Deutschland nach 1945. Daß sie überhaupt aufkommen konn-te und diskutiert wurde, hängt sicher mit dem Überfluß an Flaggen, Orden und Abzeichen während des Dritten Reiches zusammen. Der damit verbundene Mißbrauch von Gefühlen 5

löste nach dem katastrophalen Ende des nationalsozialisti-schen Regimes Enttäuschung und Ernüchterung aus. Die Ge-neration, die erzogen worden war, in der Hakenkreuz- und Runenfahne ein „heiliges Zeichen“ zu sehen, das „mehr als der Tod“ sei, mußte nach 1945 erkennen, daß unter diesen 10

Symbolen durchaus Unheiliges geschehen war. Der Sinn des Soldatentodes „für Führer, Volk und Vaterland“ verdunkelte sich für die Überlebenden umso mehr, je stärker die Einsicht wuchs, der Einsatz- und Opferwille sei von der Staatsführung für verwerfliche Ziele mißbraucht worden. Vor dem Hinter-15

grund dieser Erfahrungen wird in der Bundesrepublik Deutsch-land die Frage verständlich, ob sich der demokratische Staat der Flaggen, Orden und Wappen bedienen solle. Symbole haben selbstverständlich auch im demokratischen Staat ihren Sinn. Wie in jeder Gemeinschaft sollen die Bürger in be-20

stimmten Symbolen erkennen und akzeptieren, was sie seit Jahr-tausenden sind: Zeichen der Identifikation, Kennzeichen für ein über alle Individual- und Gruppeninteressen stehendes Bekennt-nis zur Gemeinsamkeit. Die Integrationswirkung der Symbole ist in der Geschichte früh erkannt, über die Jahrhunderte hinweg 25

immer genutzt worden und bis zur Gegenwart unseres Staates in ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen ungeschmälert. Bundeszentrale für politische Bildung: Flaggen — Wappen — Orden. Symbole im de-mokratischen Staat. Bonn 1998, S. 1

M 1.7 Die Nationalhymne im Unterricht Mit dem Erlaß zur Nationalhymne habe ich die Lehrerinnen und Lehrer im Lande Hessen beauftragt, eine selbstverständliche er-zieherische Pflicht zu erfüllen: Die Schülerinnen und Schüler sol-30

len Text und Melodie unserer Nationalhymne kennenlernen. Wir hören bei internationalen Sportereignissen, vor allem bei den Eröffnungs- und Abschlußfeiern für die Olympischen Spiele und bei Siegerehrungen Nationalhymnen. Viele Rundfunksen-der beginnen oder beenden mit der Nationalhymne ihr Pro-35

gramm. Es gibt feierliche Anlässe — nicht nur Besuche von Staatsoberhäuptern —, bei denen die Nationalhymne erklingt. Deshalb sollen die Schüler in die Lage versetzt werden, die 3. Strophe des Deutschlandliedes mitsingen zu können. Allerdings gab und gibt es mit unserer Nationalhymne 40

Schwierigkeiten, weil die nationalen Symbole in den Jahren von 1933 bis 1945 in nationalsozialistischem Sinne miß-braucht wurden. Wer jedoch bereit ist, das Deutschlandlied im Zusammenhang mit seiner Entstehungsgeschichte zu se-hen, ist in der Lage, seinem Text gerecht zu werden. 45

Deshalb gebe ich Ihnen diese Handreichung, die zugleich den Charakter einer Dokumentation hat. Damit will ich Ihnen die Aufgabe, Schüler mit unserer Nationalhymne vertraut zu ma-chen, erleichtern. Christean Wagner/Hessisches Kultusministerium: Die Nationalhymne. Handreichung für die Besprechung an den Schulen im Lande Hessen. Wiesbaden 1989, S. 3

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8 M A T E R I A L I E N

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

M 1.8 „Adler und Eisernes Kreuz haben über Berlin nichts zu suchen“ Friedbert Pflüger: Berlin ist nicht die Hauptstadt Preu-ßens, sondern der Bundesrepublik Deutschland Es ist schon bedauerlich, was sich ein Mitglied des Bundes-tages geleistet hat. […] Dem schlichten Eisernen Kreuz, In-begriff preußisch-deutscher Tapferkeit und Treue, Symbol 5

unserer Bundeswehr, seinen angestammten Platz abzuspre-chen, sollte aber für einen deutschen Volksvertreter un-denkbar sein. Es wäre zu wünschen, wenn Herr Pflüger ein-mal über die Worte des Präsidenten des Preußeninstituts […] nachdenken würde: „Ohne Preußen ist in Deutschland 10

kein Staat zu machen!“ Und immer wieder die panische Angst: Was denkt das Ausland? […] Nachstehend bringen wir einen Artikel des „General-Anzeiger“ lt. Pressedokumentation des Deutschen Bundesta-ges vom 11.7.1991 […]. 15

Friedbert Pflüger ist Mitglied des Deutschen Bundestages. In seinem Beitrag wendet sich der CDU-Politiker dagegen, Ei-sernes Kreuz und Preußenadler auf der Quadriga in Berlin wiederzuerrichten. […] Nun plant der Berliner Senat, die restaurierte Quadriga mit 20

der Siegesgöttin Viktoria am 6. August wieder auf ihren alten Platz auf dem Brandenburger Tor zu errichten. Dagegen wird niemand etwas einwenden. Allerdings wird die Quadriga an-ders aussehen, als es Berlin und Berlin-Besucher gewohnt sind. Am Stab der Siegesgöttin soll in Zukunft ein Lorbeer-25

kranz mit Eisernem Kreuz und preußischem Adler zu sehen sein. Was soll das? Die Quadriga wurde 1794 von Johann Schadow geschaffen und auf das drei Jahre zuvor erbaute Brandenburger Tor ge-hievt. 1806 ließ Napoleon die Statue nach dem Sieg über 30

Preußen nach Paris bringen. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig holte sie Blücher 1814 nach Berlin zurück. Daraufhin erhielt die Siegesgöttin erstmals das Eiserne Kreuz und den preußischen Adler. Die DDR entfernte in den fünfziger Jah-ren diese Symbole. 35

Weshalb will man nun Eisernes Kreuz und Adler wieder er-richten? Berlin ist nicht die Hauptstadt Preußens, sondern die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, nach dem 20. Juni 1991 auch Regierungs- und Parlamentssitz. Das Vo-tum des Bundestages ist zu akzeptieren. Aber nach dieser 40

Entscheidung können die Berliner nicht mehr bauen wie sie wollen. […]

Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine politische Mehrheit dafür gibt, das Eiserne Kreuz, die höchste Kriegsauszeich-nung […], auf dem Brandenburger Tor zu errichten, das in 45

den letzten vierzig Jahren Symbol des Wunsches der Deut-schen nach Freiheit und Frieden war. Ich fordere, daß das Brandenburger Tor am 6. August genau die historische Ges-talt erhält, die es vor 200 Jahren bei seiner Einweihung hat-te. Preußenadler und Eisernes Kreuz können im Museum be-50

wundert werden — über Berlin haben sie nichts zu suchen. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich habe nichts gegen Auszeichnungen für Tapferkeit. Aber ob wir vor allem von der jüngeren Generation im Ausland verstanden werden, wenn wir gerade diese Symbole dem Brandenburger Tor 55

überstülpen, das bezweifle ich. Preußische Mitteilungen, Nr. 106, 1991, D

Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin Quelle: Wikimedia Commons: Bundesarchiv, B 145, Bild F089327-0016. Foto: Joachim F. Thum, September 1991. © http://creativecommons.org/licenses/ by-sa/3.0/de/deed.en

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Untersuchen Sie die Bedeutung der heutigen nationalen Symbole Flagge, Hymne und Wappen. Ermitteln Sie dabei auch die Entstehungshintergründe, die Bedeutung im Laufe der Geschichte Deutschlands sowie den heutigen Stellenwert. Verdeutlichen Sie dabei die Symbolik, die Lyrik bzw. Wortwahl sowie die kreative Gestaltung (Farben etc.).

2. Diskutieren Sie unter Einbeziehung von M 1.7 und M 1.8 den dort vorgeschlagenen Umgang mit diesen Symbolen. Hal-ten Sie derartige Vorschläge für historisch angemessen bzw. gerechtfertigt?

3. Entwerfen Sie eigene, alternative nationale Symbole und stellen Sie diese Ihrem Kurs vor.

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M A T E R I A L I E N 9

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

Nation und Nationalismus — Begriffe im Wandel der Zeit M 2.2 Definitionen

Text 1: Johann Gottfried Herder — Der Nationalstaat als „natürlichster Staat“ (1784—1791) Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. Jahrtausende-lang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitge-bornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden; denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur als 5

eine Familie, nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entge-gen als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen unter ei-nen Zepter. Der Menschenzepter ist viel zu schwach und 10

klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechli-che Maschine, die man Staatsmaschine nennt, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander. Reiche dieser Art, die dem besten Monarchen den Namen des Vaterlandes 15

so schwer machen, erscheinen in der Geschichte wie jene Symbole der Monarchien im Traumbilde des Propheten, wo sich das Löwenhaupt mit dem Drachenschweif und der Ad-lersflügel mit dem Bärenfuß zu einem unpatriotischen Staatsgebilde vereinigt. Wie trojanische Rosse rücken solche 20

Maschinen zusammen, sich einander die Unsterblichkeit verbürgend, da doch ohne Nationalcharakter kein Leben in ihnen ist […]; denn eben die Staatskunst, die sie hervor-brachte, ist auch die, die mit Völkern und Menschen als mit leblosen Körpern spielet. Aber die Geschichte zeigt gnug-25

sam, daß diese Werkzeuge des menschlichen Stolzes von Ton sind und wie aller Ton auf der Erde zerbrechen oder zerfließen. J. G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1, Ber-lin/Weimar 1965, S. 368 f. Zit. nach: J. Rohlfes: Historisch-politische Weltkunde. Staat und Nation im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett Verlag 1990, S. 26

Text 2: Der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan – Was ist eine Nation? (1871 bzw. 1882) Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit 30

an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzu-leben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man unge-teilt empfangen hat […] Eine Nation ist also eine große Soli-35

dargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotz-dem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Fak-tum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgespro-40

chenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist […] ein tägliches Plebiszit […] Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefan-gen, sie werden enden. […] Gegenwärtig ist die Existenz der Nationen gut, sogar notwendig. Ihre Existenz ist die Garantie 45

der Freiheit, die verloren wäre, wenn die Welt nur ein einzi-ges Gesetz und einen einzigen Herrn hätte […] Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Spra-che, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Rich-tung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Men-50

schen gesunden Geistes und warmen Herzens erschafft ein Moralbewußtsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewußtsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Ge-meinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht 55

zu existieren […] Das Vergessen — ich möchte fast sagen: der historische Irr-tum, spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation. Die historische Forschung 60

zieht in der Tat die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller politischen Gebilde, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben. Die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise. Die Vereinigung Nord- und Südfrankreichs ist das Ergebnis von fast einem 65

Jahrhundert Ausrottung und Terror gewesen. Der König von Frankreich, […] der die vollkommenste nationale Einheit vollbracht hat, die es überhaupt gibt — verliert, von nahem besehen, seinen Nimbus. Die von ihm geformte Nation hat ihn verflucht […] Es macht jedoch das Wesen einer Nation 70

aus, daß alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, daß sie viele Dinge vergessen haben […] Die moderne Nation ist demnach das historische Ergebnis einer Reihe von Tatsachen, die dieselbe Richtung haben. Bald wurde die Ein-heit durch eine Dynastie verwirklicht, wie im Falle Frank-75

reichs; bald durch den unmittelbaren Willen der Provinzen, wie im Falle Hollands, der Schweiz und Belgiens; bald durch einen allgemeinen Geist, der spät über die Launen des Feu-dalwesens triumphiert, wie im Falle Italiens und Deutsch-lands. 80 E. Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1882 In: H. Vogt (Hrsg. u. Übers.): Nationa-lismus gestern und heute. Opladen 1967, S. 138—143. Zit. nach: D. Weidinger: Nati-on, Nationalismus, Nationale Identität. Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 15

Text 3: Der deutsche Historiker Friedrich Meinecke — Weltbürgertum und Nationalstaat (1907) […] Nationen, so sieht man wohl auf den ersten Blick, sind große mächtige Lebensgemeinschaften, die geschichtlich in langer Entwicklung entstanden und in unausgesetzter Bewe-gung und Veränderung begriffen sind […] Gemeinsamer Wohnsitz, […] gemeinsame oder ähnliche Blutmischung, ge-85

meinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben, gemein-samer Staatsverband oder Föderation mehrerer gleichartiger Staaten — alles das können wichtige und wesentliche Grund-lagen oder Merkmale einer Nation sein, aber damit ist nicht gesagt, daß jede Nation sie alle zusammen besitzen müßte, 90

um eine Nation zu sein. Unbedingt vorhanden sein muß in ihr wohl ein naturhafter Kern, der durch Blutsverwandtschaft

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10 M A T E R I A L I E N

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

entstanden ist […] Man wird […] die Nationen einteilen kön-nen in Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vor-zugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten 95

Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Ge-schichte und Verfassung beruhen. Gemeinsprache, gemein-same Literatur und gemeinsame Religion sind die wichtigsten und wirksamsten Kulturgüter, die eine Kulturnation schaffen 100

und zusammenhalten […] Aber häufiger sind doch die Fälle, daß politische Einflüsse und Interessen die Entstehung einer Gemeinsprache und Gemeinliteratur gefördert, wenn nicht sogar verursacht haben. Eng ist oft auch der Zusammenhang von Religion, Staat und Nationalität […] Kann man also inner-105

lich Kultur- und Staatsnationen nicht streng und säuberlich voneinander unterscheiden, so kann man es auch äußerlich nicht tun. Denn innerhalb einer echten Staatsnation können — wie das Beispiel der Schweiz zeigt — die Angehörigen ver-schiedener Kulturnationen leben; und wiederum die Kultur-110

nation kann in sich — wie das Beispiel der großen deutschen Nation zeigte — mehrere Staatsnationen entstehen sehen, d.h. Bevölkerungen von Staaten, die ihr politisches Gemein-gefühl zu kräftiger Eigenart ausprägen, die dadurch zu einer Nation werden, oft es bewußt werden wollen, zugleich aber 115

— sie mögen es wollen und wissen oder nicht — auch Angehö-rige jener größeren umfassenderen Kulturnation bleiben können […] F. Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. München/Berlin 1919, S. 1—7. Zit. nach: D. Weidinger: Nation, Nationalismus, Nationale Identität. Hrsg. von der Bun-deszentrale für politische Bildung, Bonn 1998, S. 16

Text 4: Der deutsche Sozialwissenschaftler und Historiker Eugen Lemberg — Nationalismus (1964) Was also die Nationen zu Nationen macht oder — allgemei-ner gesagt — große gesellschaftliche Gruppen zu selbstbe-120

wußten, aktionsfähigen, nationalen oder nationähnlichen Gemeinschaften bindet und von ihrer Umwelt abgrenzt, das ist nicht die Gemeinsamkeit irgendeines Merkmals, die Gleichheit der Sprache, der Abstammung, des Charakters, der Kultur oder der Unterstellung unter eine gemeinsame 125

Staatsgewalt, sondern umgekehrt: ein System von Vorstel-lungen, Wertungen und Normen, ein Welt- und Gesell-schaftsbild, und das bedeutet: eine Ideologie, die eine durch irgendeines der erwähnten Merkmale gekennzeichnete Groß-gruppe ihre Zusammengehörigkeit bewußt macht und dieser 130

Zusammengehörigkeit einen besonderen Wert zuschreibt, mit anderen Worten: diese Großgruppe integriert und gegen ihre Umwelt abgrenzt. […] Wenn es die Gleichheit irgendeines jener Merkmale wäre, was die Nationen zu Nationen macht, was die Träger des 135

gleichen Merkmals zu einer Gemeinschaft auf Leben und Tod verbindet, zu Hingabe, Leistung und Opfer veranlaßt, dann wäre das überlegene Lächeln über dieses Relikt primitiver Gesellschaftszustände berechtigt, ebenso die Erwartung, daß fortschreitende Vernunft und Aufklärung die leidenschaftli-140

che Bindung auf Grund solcher Gleichheit und die daraus entstehenden Konflikte mit der Zeit aus der Welt schaffen werden. Denn welche sittliche Verpflichtung, welchen Anlaß

zu Liebe und Haß, zu Heroismus und Verbrechen könnte die Gleichheit der Haarfarbe oder Schädelform oder auch der 145

Sprache und Abstammung geben, wenn dahinter nicht ein Welt- und Gesellschaftsbild, ein System von Werten und Normen stünde, das dieser Gleichheit einen besonderen Wertakzent, einen verpflichtenden Charakter verleiht, den Einzelnen an diejenigen bindet, die mit ihm jenes Merkmal 150

teilen, und von anderen abgrenzt, die dieses Merkmals nicht teilhaft sind! Dieses System von Vorstellungen, Werten und Normen aber, die Ideologie, ist das Primäre und Wesentli-che; die Merkmale sind die Hilfsmittel, an denen sie sich ori-entiert. 155

Danach ist der Nationalismus eine jener Ideologien, die Großgruppen binden und von ihrer Umwelt abgrenzen, ihnen einen Ort und eine Rolle in der Geschichte der Menschheit oder ihres Kulturkreises zuweisen, die die Hingabe und manchmal den Fanatismus ihrer Angehörigen herausfordern, 160

die diese Angehörigen auf eine Werteordnung verpflichten, ja ihnen den Sinn ihres Lebens deuten. In eine Formel gefaßt erscheint der Nationalismus damit als die Integrationsideolo-gie jener Großgruppen oder Großgesellschaften, in die sich die Menschheit seit Anbeginn gegliedert hat und aller Vor-165

aussicht nach auch weiterhin gliedern wird. […] Eine solche Ideologie muß: a) auf Grund irgendeines charakteristischen Merkmales ein Gesamtbild der zu integrierenden Gruppe enthalten, das diese Gruppe von ihrer Umgebung abgrenzt, 170

b) dieser Gruppe eine Rolle in ihrer Umwelt zuweisen, c) die Gruppe mit dem Bewußtsein einer Überlegenheit über diese Umwelt erfüllen, d) ein gruppenbezogendes Normensystem, eine Gruppenmo-ral, entwickeln, die unter Umständen innerhalb der Gruppe 175

ein anderes Verhalten vorschreibt als außerhalb, e) das Gefühl einer Bedrohung von außen, eine Feindvorstel-lung erzeugen, f) die Einheit der Gruppe als ein lebenswichtiges, gegen Spaltungen sorgsam zu hütendes Gut erscheinen lassen, 180

g) der Gruppe die Hingabe ihrer einzelnen Angehörigen ver-schaffen und diese Angehörigen für ihre Hingabe belohnen. E. Lemberg: Nationalismus. Reinbek: Rowohlt Verlag 1964, Bd. 2, S. 52 f., 65

Text 5: Der deutsche Historiker Peter Alter — Nationalismus (1994) […] Im heutigen Sprachgebrauch und Sprachverständnis han-delt oder argumentiert jemand „nationalistisch“ oder wird jemand als „Nationalist“ bezeichnet, wenn er die Interessen 185

einer Nation, in der Regel die der eigenen, den Interessen anderer Nationen rücksichtslos überordnet und bereit ist, diese gegebenenfalls […] zu mißachten […] Dem Nationalis-mus als einer extremen Ideologie haftet spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ein starker negativer Beigeschmack an, 190

eine mehr oder weniger moralische Bewertung. Der Begriff wird von Westeuropäern und Amerikanern benutzt, um For-men kollektiver Selbstsucht und Aggressivität im vorgescho-benen Namen der Nation zu brandmarken. Demgegenüber werden eine „nationale Gesinnung“, „Nationalgefühl“ oder 195

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G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

ein Handeln im „nationalen“ Sinne weiterhin positiv gewer-tet. Hiermit werden offenbar legitime Interessen angespro-chen, die nicht zwangsläufig zu Konflikten mit dem Nationa-lismus anderer Völker führen müssen […] Um das […] Wort „Nationalismus“ zu vermeiden, wird heute 200

gelegentlich wieder der ältere Begriff des Patriotismus, der Vaterlandsliebe, bemüht. Er meinte im Europa des 18. Jahr-hunderts die emotionale Bindung an eine Landschaft, an ei-nen dynastischen Staat oder einen Herrscher. Die Liebe zum Vaterland verband sich mit allgemeinmenschlichen Idealen: 205

Man konnte sehr wohl Patriot und Weltbürger zugleich sein […] Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Begriff Patriotismus auf die Bindung des Individuums zur Nation und zum Natio-nalstaat übertragen […] Der Gebrauch des Begriffs Nationa-lismus, der sich zum ersten Mal in einer Schrift Johann 210

Gottfried Herders nachweisen läßt, verbreitete sich in der

Alltagssprache erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber bis heute ist umstritten, was unter Nationalismus genau zu verstehen ist. […] Der moderne Nationalismus, wie er sich seit der Amerikanischen und Französischen Revolution dar-215

stellt, ist eine Ideologie und zugleich eine politische Bewe-gung, die sich auf die Nation und den souveränen National-staat als zentrale innerweltliche Werte beziehen und die in der Lage sind, ein Volk oder eine große Bevölkerungsgruppe politisch zu mobilisieren. Nationalismus verkörpert also in 220

hohem Maße ein dynamisches Prinzip, das Hoffnungen, Emo-tionen und Handlungen auszulösen vermag. Es ist ein Instru-ment zur politischen Solidarisierung und Aktivierung von Menschen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen […] P. Alter: Nationalismus. München/Zürich 1994, S. 17—20. Zit. nach: D. Weidinger: Nation, Nationalismus, Nationale Identität. Hrsg. von der Bundeszentrale für politi-sche Bildung, Bonn 1998, S. 26 f

Leitfrage/Arbeitsauftrag

Fassen Sie anhand der Texte die zentralen Definitionselemente des Begriffes „Nation“ nach verschiedenen Merkmalen zu-sammen. Berücksichtigen Sie dabei auch den Entstehungskontext. Versuchen Sie den unterschiedlichen Erklärungsmustern jeweils ein passendes Beispiel aus den nun folgenden Epochen bzw. Stationen der deutschen Nationalbewegung zuzuord-nen.

M 2.3 Stationen der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert

1813—1815 16.—19.10.1813 Juni 1815

Befreiungskriege Völkerschlacht bei Leipzig Schlacht bei Waterloo

1814/15 Wiener Kongress: Gründung des Deutschen Bundes

1815 Gründung der ersten „Burschenschaft“ in Jena

1817 Wartburgfest: studentische Versammlung, symbolische Verbrennung reaktionärer Schriften

1819 Karlsbader Beschlüsse

1832 Hambacher Fest: erste deutsche republikanisch-demokratische Massenversammlung

1834 Gründung des „Deutschen Zollvereins“

1840 26.8.1841

Französische Forderung der Rheingrenze: Proteststürme in Deutschland, Entstehung patriotischer Lieder, z.B. „Die Wacht am Rhein“ Hoffmann v. Fallersleben dichtet das „Deutschlandlied“ auf Helgoland

1848 März 1849 3. April 1849

Märzrevolution u.a. in Baden, Bayern, Sachsen, Württemberg, Österreich und Preußen Verkündung der Verfassung des Deutschen Reiches („Paulskirchenverfassung“) Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV.

1864 Deutsch-Dänischer Krieg

1866 Preußisch-Österreichischer Krieg (auch Deutscher Krieg genannt)

1870/71 2. Sept. 1870 1.1.1871 18.1.1871

Deutsch-Französischer Krieg Sieg bei Sedan und Gefangennahme Kaiser Napoleons III. Gründung des Deutschen Reiches Kaiserproklamation Wilhelms I. im Spiegelsaal von Versailles

Autor: Martin Grosch

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G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

M 2.4 Die Befreiungskriege als Ursprung der deutschen Nationalbewegung

J. G. Fichte: „Reden an die deutsche Nation“ (1807/08) Zum Behuf einer Schilderung der Ei-gentümlichkeit der Deutschen ist der Grundunterschied zwischen diesen und den anderen Völkern germanischer Ab-kunft angegeben worden, daß die er-5

stern in dem ununterbrochenen Fort-flusse einer aus wirklichem Leben sich fortentwickelnden Ursprache geblieben, die letztern aber eine ihnen fremde Sprache angenommen, die unter ihrem 10

Einflusse ertötet worden. […] Sind wir bisher im Gange unserer Un-tersuchung richtig verfahren, so muß hiebei zugleich erhellen, daß nur der Deutsche — der ursprüngliche, und 15

nicht in einer willkürlichen Satzung er-storbene Mensch, wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner 20

Nation fähig ist. […] Dies ist nun in höherer vom Standpunk-te der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Worts, ein Volk: das Ganze der in Ge-25

sellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort na-türlich und geistig erzeugenden Men-schen, das insgesamt unter einem ge-

wissen besondern Gesetze der Ent-30

wicklung des Göttlichen aus ihm steht. […] Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich 35

demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volks, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigentüm-lichkeit desselben, nach jenem verbor-genen Gesetze; ohne Einmischung und 40

Verderbung durch irgendein Fremdes, und in das Ganze dieser Gesetzgebung nicht Gehöriges. Diese Eigentümlich-keit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens 45

anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie al-lein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Le-50

bens hienieden zu fortdauerndem Le-ben hienieden ausgedehnt wird. Sein Glaube, und sein Streben, Unvergäng-liches zu pflanzen, sein Begriff, in wel-chem er sein eignes Leben als ein ewiges 55

Leben erfaßt, ist das Band, welches zunächst seine Nation, und vermittelst ihrer das ganze Menschengeschlecht,

innigst mit ihm selber verknüpft, und ihrer aller Bedürfnisse, bis ans Ende 60

der Tage, einführt in sein erweitertes Herz. Dies ist seine Liebe zu seinem Volke, zuvörderst achtend, vertrau-end, desselben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich ehrend. Es ist 65

Göttliches in ihm erschienen, und das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt, es zu seiner Hülle, und zu seinem un-mittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch 70

ferner Göttliches aus ihm hervorbre-chen. Sodann tätig, wirksam, sich auf-opfernd für dasselbe. Das Leben, bloß als Leben, als Fortsetzen des wech-selnden Daseins, hat für ihn ja ohne-75

dies nie Wert gehabt, er hat es nur gewollt als Quelle des Dauernden; aber diese Dauer, verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar ster-80

ben wollen, damit diese lebe, und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat. […] Zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation, hrsg. von A. Aichele. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2008, S. 77 und S. 127 ff. (5. und 8. Rede)

E. M. Arndt: „Des Deutschen Vaterland“ (1813) Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland? Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein! nein! nein! 5

Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Bayerland, ist’s Steierland? Ist’s, wo des Marsen Rind sich streckt? Ist’s, wo der Märker Eisen reckt? 10

O nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Pommerland, Westfalenland? Ist’s, wo der Sand der Dünen weht? 15

Ist’s, wo die Donau brausend geht? O nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! 20

Ist’s Land der Schweizer? Ist’s Tirol? Das Land und Volk gefiel mir wohl. Doch nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland? 25

So nenne mir das große Land! Gewiß es ist das Österreich, An Ehren und an Siegen reich? O nein! nein! nein! Sein Vaterland muß größer sein. 30

Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es sein. 35

Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Eide schwört der Druck der Hand, Wo Treue hell vom Auge blitzt Und Liebe warm im Herzen sitzt — 40

Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein! Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind, 45

Wo jeder Deutsche heißet Freund — Das soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein! O Gott vom Himmel sieh darein 50

Und gib uns rechten deutschen Mut, Daß wir es lieben treu und gut. Das soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein!

Zitiert nach: Das Ernst Moritz Arndt Buch. Eine Auswahl der Werke. Stuttgart: o.V. 1925, S. 249—251

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Theodor Körner: „An mein Volk“ (1813) Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen rauchen, Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht, Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen, Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen, Die Saat ist reif, ihr Schnitter, zaudert nicht! 5

Das höchste Heil, das letzte liegt im Schwerdte; Drück dir den Speer ins treue Herz hinein. Der Freiheit eine Gasse! wasch die Erde Das deutsche Land, mit deinem Blute rein. Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen 10

Es ist ein Kreuzzug, s’ist ein heilger Krieg Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen Hat der Tyrann aus deutscher Brust gerissen Errette sie mit deiner Freiheit Sieg. Der Jammer deiner Greise ruft: erwache 15

Der Hütte Schutt verflucht die fremde Brut Die Schande deiner Töchter schreit um Rache Der Meuchelmord der Söhne schreit nach Blut. Zerbrich die Pflugschar, laß den Meisel fallen, Die Leyer still, den Webstuhl ruhig stehn 20

Verlasse deine Höfe, deine Hallen Vor dessen Antlitz deine Fahnen wallen, Er will sein Volk in Waffenrüstung sehn Denn einen großen Altar sollst du bauen In seiner Freiheit ewgem Morgenroth 25

Mit deinem Schwerdt sollst du die Steine hauen Des Tempels Grund sei seiner Helden Tod. […] Der Himmel hilft, die Hölle muß uns weichen Drauf, wackres Volk, drauf, ruft die Freiheit, drauf Hoch schlägt dein Herz, hoch wachsen deine Eichen 30

Was kümmern dich die Hügel deiner Leichen Hoch pflanze da die Freiheitsfahne auf. Doch stehst du dann, mein Volk, bekränzt vom Glücke In deiner Vorzeit heilgem Siegerglanz, Vergiß die treuen Todten nicht, und schmücke 35

Auch unsre Urne mit dem Eichenkranz. Zitiert nach: Theodor Körners Tagebuch und Kriegslieder aus dem Jahre 1813. Freiburg: Verlag F. E. Fehsenfeld 1893, S. 75—77

Das „Eiserne Kreuz“ Quelle: BPK Berlin, Bildnr. 00004801

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. a) Stellen Sie die politischen und gesellschaftlichen Rah-menbedingungen während der Befreiungskriege dar.

b) Beschreiben Sie die emotionale Lage vieler Deutscher, die anhand der vorliegenden drei Texte deutlich wird.

2. Arbeiten Sie aus den Texten von J. G. Fichte, E. M. Arndt und Th. Körner die herausragenden Merkmale der deutschen Nati-onalbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts heraus. Stellen Sie dabei die wichtigsten Begriffe und Leitmotive in den Tex-ten zusammen.

3. Verfolgen Sie anhand einer historischen Karte (Geschichts-atlas) bzw. eines modernen Atlasses die bei Arndt formu-lierten Grenzen. Wie realitätsnah waren jene für die dama-lige Zeit?

4. Untersuchen Sie die Bedeutung des „Eisernen Kreuzes“ als im Jahr 1813 gestifteter Tapferkeitsorden und seine weitere Entwicklung.

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14 M A T E R I A L I E N

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M 2.5 Grundsätze und Beschlüsse der Burschen-schaften 1817

1) Ein Deutschland ist und Ein Deutschland soll sein und blei-ben. Je mehr Deutschland in Staaten zerrissen ist, desto hei-ligere Pflicht ist es für jeden Deutschen, dahin zu streben, daß die Freiheit nicht verloren gehe und das Vaterland nicht verschwinde. Für diese Einheit Deutschlands, für dieses Va-terland haben diejenigen von uns, welche die Waffen tragen konnten, gekämpft, sind diejenigen gefallen, welche in dem Rettungskriege 1813 den Tod fanden. 2) Die Lehre von der Spaltung Deutschlands in Norddeutsch-land und Süddeutschland ist irrig, falsch, verrucht. Es gibt ein Norddeutschland und ein Süddeutschland, wie es eine rechte und eine linke Seite des Menschen gibt, aber der Mensch ist eins und hat nur Einen Sinn und Ein Herz. So ist Deutschland eins und soll nur Einen Sinn und Ein Herz haben. […] 6) Die Lehre von der Spaltung Deutschlands in das katholi-sche und protestantische ist irrig, falsch, unglückselig. Wenn viele Deutsche sich zur katholischen Kirche bekennen und viele den protestantischen Grundsätzen anhängen, so sind sie darum nicht minder Deutsche und Eins durch das gemeinsame Vaterland. Wir Deutsche haben alle Einen Gott, an den wir glauben, und einen Erlöser, den wir verehren, Ein Vaterland, dem wir an-gehören. Wenn wir in diesem Sinne leben und handeln, kön-nen wir alles Übrige dem Allerbarmer anheimstellen. 7) Alle Deutsche sind Brüder und sollen Freunde sein. 8) Ein Krieg zwischen deutschen Staaten würde der größte Frevel sein. […] 11) Wenn die Deutschen im Kriege zusammenstehen sollen, so müssen sie auch im Frieden in Einem Sinn handeln. Es muß der freieste Verkehr zwischen ihnen sein. […] 17) Der Wille des Fürsten ist nicht Gesetz des Volkes, son-dern das Gesetz des Volkes soll Wille des Fürsten sein. […] 19) Freiheit und Gleichheit ist das Höchste, wonach wir zu streben haben, und wonach zu streben kein frommer und ehrlicher deutscher Mann jemals aufhören kann. Aber es gibt keine Freiheit als in dem Gesetz und durch das Gesetz, und keine Gleichheit als mit dem Gesetz und vor dem Gesetz. […] Wo kein Gesetz ist, da ist keine Gleichheit, sondern Ge-walttat, Unterwerfung, Sklaverei. 20) Gesetze sind keine Verordnungen und Vorschriften; Ge-setze müssen von denen ausgehen oder angenommen wer-den, welche nach denselben leben sollen […]. Alle Gesetze haben die Freiheit der Person und die Sicherheit des Eigen-tums zum Gegenstande […]. 28) Das erste und heiligste Menschenrecht, unverlierbar und unveräußerlich, ist die persönliche Freiheit. Die Leibeigen-schaft ist das Ungerechteste und Verabscheuungswürdigste, ein Greuel vor Gott und jedem guten Menschen. […] 31) Das Recht, in freier Rede und Schrift seine Meinung über öffentliche Angelegenheiten zu äußern, ist ein unveräußerli-ches Recht jedes Staatsbürgers, das ihm unter allen Umstän-den zustehen muß. Dieses Recht muß das Wahlrecht des Bür-gers ergänzen, wenn er die reelle Freiheit behalten soll. Wo

Rede und Schrift nicht frei sind, da ist überhaupt keine Frei-heit, da herrscht nicht das Gesetz, sondern die Willkür. […] Quellen: H. J. Franz: Grundrechte in Deutschland. Ulm 1973, S. 41 f. Zit. nach: Grundkurs Geschichte. Darmstadt: Winklers Verlag 1984, S. 53 und „Das Parlament“ vom 4.10.1967, S. 7. Zit. nach: Geschichte, Politik und Gesellschaft. Bd. 1. Berlin: Cornelsen-Verlag 1988, S. 95

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Analysieren Sie knapp die politische Lage im Deut-schen Bund nach dem Wiener Kongress.

2. a) Welche Gedanken enthalten die „Grundsätze“ der Studenten?

b) Welche haben eine Langzeitwirkung entwickelt? 3. Beurteilen Sie die Bestrebungen der Burschenschaf-

ten und vergleichen Sie deren damalige Rolle mit ih-rem heutigen Selbstverständnis bzw. ihrer heutigen politischen Position.

M 2.6 Das Hambacher Fest 1832 — ein Fanal für

die Demokratie?

Rede 1: Johann August Wirth, 1832 […] Deutschland, das große, reiche, mächtige Deutschland, sollte die erste Stelle einnehmen in der Gesellschaft der euro-päischen Staaten, allein beraubt durch verrätherische Aristo-kratenfamilien, ist es aus der Liste der europäischen Reiche gestrichen und der Verspottung des Auslandes Preiß gegeben. 5

Berufen von der Natur, um in Europa der Wächter des Lichts, der Freiheit und der völkerrechtlichen Ordnung zu seyn, wird die deutsche Kraft gerade umgekehrt zur Unterdrückung der Freiheit aller Völker und zur Gründung eines ewigen Reiches der Finsterniß, der Sclaverei und der rohen Gewalt verwendet. 10

So ist denn das Elend unseres Vaterlandes zugleich der Fluch für ganz Europa. Spanien, Italien, Ungarn und Polen sind Zeuge davon. […] Polen ist zu wiederholtenmalen von deutschen Mächten verrathen worden, und hat den Verlust der Freiheit und des Vaterlandes auch in neuerer Zeit einem deutschen 15

Könige zu verdanken. […] Bei jeder Bewegung eines Volkes, welche die Erringung der Freiheit und einer vernünftigen Staatsverfassung zum Ziele hat, sind die Könige von Preußen und Oesterreich durch Gleichheit der Zwecke, Gesinnungen und Interessen an Rußland geknüpft, und so entsteht jener 20

furchtbare Bund, der die Freiheit der Völker bisher immer noch zu tödten vermochte. […] In dem Augenblicke, wo die deutsche Volkshoheit in ihr gutes Recht eingesetzt seyn wird, in dem Au-genblicke ist der innigste Völkerbund geschlossen, denn das Volk […] gönnt das, was es selbst mit seinem Herzblut zu errin-25

gen trachtet, und, was ihm das Theuerste ist, die Freiheit, Aufklärung, Nationalität und Volkshoheit, auch dem Bru-dervolke: das deutsche Volk gönnt daher diese hohen, un-schätzbaren Güter auch seinen Brüdern in Polen, Ungarn, Italien und Spanien. […] Unermeßlich sind die Folgen der Befreiung 30

Europa’s […]. Und alle diese […] unermeßlichen Segnungen sollten den Völkern Europa’s blos darum vorenthalten werden, damit ein paar unverständige Knaben fortwährend die Königs-rolle erben können? Wahrlich, ich sage euch, giebt es irgend

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Verräther an den Völkern und an dem gesammten Menschen-35

geschlechte […], so wären es die Könige […]! Es ist einleuchtend, daß unter den bemerkten Umständen die Reform Deutschlands […] eine große gemeinschaftliche Angele-genheit aller Völker unseres Welttheils sey. […] Von Frankreich haben wir […] in dem Kampfe um unser Vaterland wenig oder 40

keine Hülfe zu erwarten. Denn, daß wir um den Preiß einer neuen Entehrung, nämlich der Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich, selbst die Freiheit nicht erkaufen wollen, daß vielmehr bei jedem Versuche Frankreichs, nur einen Schollen deutschen Bodens zu erobern, auf der Stelle alle Opposition im 45

Innern schweigen und ganz Deutschland gegen Frankreich sich erheben müßte und werde, daß die Befreiung unseres Vater-landes vielmehr umgekehrt die Wiedervereinigung von Elsaß und Lothringen mit Deutschland wahrscheinlicherweise zur Folge haben werde, über alles dieß kann unter Deutschen nur 50

eine Stimme herrschen. […] Aus allen diesen Gründen dürfen denn die deutschen Patrioten auf die Hülfe Frankreichs nicht allein keine Hoffnung setzen, sondern sie müßen auch die Plä-ne Frankreichs aufmerksam beobachten, vor allem aber in ihr politisches Glaubensbekenntniß den Satz aufnehmen: 55

„Selbst die Freiheit darf auf Kosten der Integrität unseres Ge-bietes nicht erkauft werden; der Kampf um unser Vaterland und unsere Freiheit muß ohne fremde Einmischung durch un-sere eigene Kraft von innen heraus geführt werden […].“ […] Deutschland wird die Freiheit und den Frieden sehen, es 60

wird zur herrlichsten Macht und Größe emporblühen. […] Darum deutsche Patrioten wollen wir die Männer wählen, die durch Geist, Feuereifer und Charakter berufen sind, das große Werk der deutschen Reform zu beginnen und zu leiten […]. Hoch! dreimal hoch leben die vereinigten Freistaaten Deutsch-65

lands! Hoch! dreimal hoch das conföderirte republikanische Europa! Johann Georg August Wirth: Festrede auf dem Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. In: J. G. A. Wirth: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Neustadt 1832, S. 41 ff.

Rede 2: Jakob Siebenpfeiffer, 1832 […] Vaterland — Freiheit — ja! ein freies deutsches Va-terland — dies der Sinn des heutigen Festes, dies die Worte, deren Donnerschall durch alle deutschen Gemarken drang […]. 70

Für unser Deutschland war ein solcher Mai aufgegangen, mit brausender Jugendkraft stürzte das deutsche Volk in den Kampf, zu erringen die Freiheit, zu erringen ein Vaterland; aber die edelste Blüte des Siegs ward zernagt vom Wurm fürstlich-aristokratischer Selbstsucht, die heilige Saat, von 75

edlem Bürgerblute gedüngt, ward zertreten vom eisernen Fuß der Despoten. Nun ist er wiedergekehrt der herrliche Völker-Mai, er steht vor Aller Augen […] […] aber das deutsche Vaterland liegt verödet. […] aber die Regnungen der Vaterlandsliebe sind uns unbekannt, die Erfor-80

schung dessen, was dem Vaterlande Noth thut, ist Hochverrath, selbst der leise Wunsch, nur erst wieder ein Vaterland, eine frei-menschliche Heimath zu erstreben, ist Verbrechen. […] noch ist’s dasselbe Volk, das in der Zeit tiefster Erniedrigung […] die Ketten des Fremdlings zerbrach und auf blutigen Siegesfel-85

dern den Altar des Vaterlandes erhob […]; die Hände, welche Opernhäuser und Zwingburgen errichteten, werden auch Hallen erbauen, worin die Repräsentanten deutscher Nation über das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes berathschlagen […]. Und es wird kommen der Tag, der Tag des edelsten Siegstol-90

zes, wo der Deutsche vom Alpengebirg und der Nordsee, vom Rhein, der Donau und Elbe den Bruder im Bruder umarmt, wo die Zollstöcke und die Schlagbäume, wo alle Hoheitszeichen der Trennung und Hemmung und Bedrückung verschwinden, sammt den Constitutiönchen, die man etlichen mürrischen 95

Kindern der großen Familie als Spielzeug verlieh; wo freie Stra-ßen und freie Ströme den freien Umschwung aller Nationalkräf-te und Säfte bezeugen; wo die Fürsten die bunten Hermeline feudalistischer Gottstatthalterschaft mit der männlichen Toga deutscher Nationalwürde vertauschen […]; wo jeder Stamm, 100

im Innern frei und selbstständig, zu bürgerlicher Freiheit sich entwickelt, und ein starkes, selbstgewobenes Bruderband alle umschließt zu politischer Einheit und Kraft; wo die deutsche Flagge, statt Tribut an Barbaren zu bringen, die Erzeugnisse unseres Gewerbfleißes in fremde Welttheile geleitet, und nicht 105

mehr unschuldige Patrioten für das Henkerbeil auffängt, son-dern allen freien Völkern den Bruderkuß bringt. Es wird kom-men der Tag, wo […] das deutsche Weib, nicht mehr die dienstpflichtige Magd des herrschenden Mannes, sondern die freie Genossin des freien Bürgers, unsern Söhnen und 110

Töchtern schon als stammelnden Säuglingen die Freiheit ein-flößt, und im Samen des erziehenden Wortes den Sinn ächten Bürgerthums nährt; […] wo der Bürger nicht in höriger Un-terthänigkeit den Launen des Herrschers und seiner knechti-schen Diener, sondern dem Gesetze gehorcht, und auf den Ta-115

feln des Gesetzes den eigenen Willen liest, und im Richter den freierwählten Mann seines Vertrauens erblickt […]. Wir selbst wollen, wir selbst müssen vollenden das Werk, und, ich ahne, bald, bald muß es geschehen, soll die deut-sche, soll die europäische Freiheit nicht erdrosselt werden 120

von den Mörderhänden der Aristokraten. […] Es lebe das freie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere

Nationalität und Selbstständigkeit achten! 125

Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört!

Vaterland — Volkshoheit — Völkerbund hoch! Jakob Siebenpfeiffer: Festrede auf dem Hambacher Fest vom 27.Mai 1832. In: J. G. A. Wirth: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Neustadt 1832, S. 31 ff.

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Fassen Sie beide Reden in ihren Kernaussagen zusammen und verdeutlichen Sie dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede. 2. Welche Folgen hatten diese programmatischen Forderungen für die weitere Entwicklung des deutschen Nationalstaa-

tes und die nationale Einheit im Vormärz?

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M 1.1 Fußball-WM 2006 in Deutschland WM 2006: „Public Viewing“ in Siegen Foto: Christian Eickbusch

M 2.1 Fußball-EM 2008 in Basel EM-Halbfinale 2008: Türkei — Deutschland in Basel Foto: Marco Berscheidt

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M 3.1 Niederwalddenkmal, Rüdesheim Das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim, um 1900 Quelle: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org

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M 2.7 Arbeitsblatt zur Revolution von 1848/49: die großdeutsch-kleindeutsche Diskussion der National-versammlung

Karte 1: Politische Grenzen um 1848 Karte 2: Sprachen und Nationalitäten um 1848 Karten: Ansgar Jöbkes, Krauchenwies

Auszüge aus Abgeordnetenreden Text 1: Georg Waitz, 20.10.1848 Es ist die Zeit herangekommen, wo die Nationalitäten sich fester […] an einander schließen, wo sie sich staatlich zu concentriren suchen. […] Und da ist mir […] die Ueberzeu-gung gekommen, daß jene österreichische Monarchie […] nicht mehr Bestand haben wird. […] Die Nationalitäten ha-5

ben sich erhoben, in Italien, in Ungarn; es haben sich erho-ben die Slaven und zuletzt die Deutschen […]. Ich glaube nicht, daß es gelingen wird, sie wieder zusammen zu fassen […]. Gerade weil ich dieser Ueberzeugung bin, so stelle ich dem entgegen eine Forderung […]: ich will, daß Das, was 10

deutsch ist und deutsch war seit Jahrhunderten von Oester-reich, daß Das ganz deutsch bleibe, daß es ganz und völlig dem Gesammtbau mit angehöre, den wir nicht für einen Theil Deutschland’s, sondern für das Ganze zu gründen un-ternommen haben. 15

Text 2: Heinrich von Gagern, 20.10.1848 Ich frage […], können wir im nationalen Interesse so han-deln: die außerdeutschen Provinzen Oesterreichs für die Zu-kunft sich selbst und dem Zufall überlassen? Ich habe den Beruf des deutschen Volkes als einen großen, weltgebieten-den aufgefaßt. Man mag darüber spötteln […] Welche Einheit 20

haben wir zu erstreben? Daß wir der Bestimmung nachleben können, die uns […] zu gesteckt ist; daß wir diejenigen Völ-ker, die längs der Donau zur Selbstständigkeit weder Beruf, noch Anspruch haben, wie Trabanten in unser Planetensys-tem einfassen. […] ist es nicht im Gesammtinteresse der Na-25

tion, sowohl Oesterreichs als des übrigen Deutschlands, daß wenigstens das übrige Deutschland sich fester an einander anschließe; auch wenn Oesterreich wegen seiner außerdeut-schen Provinzen unter gleichen Bedingungen in diesen engs-

ten Bund nicht eintreten kann; dabei aber nichtsdestoweni-30

ger ein enges Bundesverhältniß zwischen Oesterreich und dem übrigen Deutschland aufrecht erhalten werde? […] Text 3: Alfred Ritter von Arneth, 20.10.1848 Der Oesterreicher, meine Herren, ist deutsch, er will es bleiben […]; er will aber auch Oesterreich nicht zerrissen […] sehen; […] meine Herren, wenn es sich darum handeln wird, 35

ganz Österreich sammt seinen nichtdeutschen Provinzen Deutschland förmlich zu incorporiren, dann würde es […] nur wenige Deutsch-Oesterreicher geben, welche einem solchen Aufgehen ihres Vaterlandes in Deutschland Widerspruch ent-gegensetzen würden. Wir glauben aber, daß mit einer Zer-40

reißung Oesterreichs Deutschland nur ein schlechter Dienst geschähe; wir glauben, daß es in Deutschlands hohem Inte-resse liege, die aus einer Losreißung der nichtdeutschen Pro-vinzen in Oesterreich unzweifelhaft hervorgehende Entste-hung neuer selbstständiger, sei es Slawen-, sei es Magyaren-45

Reiche an der Ostgrenze Deutschlands zu hindern; daß aber […] die Einführung einer reinen Personalunion, die Entste-hung dieser neuen selbstständigen Reiche zur Folge haben würde […]. Text 4: Wilhelm Jordan Polen bloß deßwegen herstellen zu wollen, weil sein Unter-50

gang uns mit gerechter Trauer erfüllt, das nenne ich eine schwachsinnige Sentimentalität. […] Ich sage, die Politik, die uns zuruft: gebt Polen frei, es koste, was es wolle, ist eine kurzsichtige, eine selbstvergessene Politik, eine Politik der Schwäche, eine Politik der Furcht, eine Politik der Feigheit. 55

Es ist hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen, aus je-ner träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärm-

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ten für alle möglichen Nationalitäten, während wir selbst in schmachvoller Unfreiheit darniederlagen und von aller Welt mit Füßen getreten wurden, zu erwachen zu einem gesunden 60

Volksegoismus, um das Wort einmal gerade heraus zu sa-gen, welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in al-len Fragen oben anstellt. Aber eben dieser Egoismus, ohne den ein Volk niemals eine Nation werden kann, wird von den Polenfreunden als höchst verdammlich bezeichnet. Wir müs-65

sen vor allen Dingen gerecht sein, sagen sie, und sollte es uns auch manches schwere Opfer kosten. […] Unser Recht ist kein anderes, als das Recht des Stärkeren, das Recht der Er-oberung. […] Wenn wir rücksichtslos gerecht sein wollten, dann müßten wir nicht bloß Posen herausgeben, sondern 70

halb Deutschland. Denn bis an die Saale und darüber hinaus, erstreckte sich vormals die Slavenwelt.

Text 5: Arnold Ruge […] im Namen der Humanität und der Gerechtigkeit verlange ich, daß Polen wieder hergestellt werde […]. An der Ehre Deutschlands ist es, daß es die lang fortgesetzte Unterdrückung 75

der slawischen Völker aufhebe; an der Ehre Deutschlands ist es, daß Deutschland die Freiheit nach Osten propagire und nicht an der Grenze von Rußland und Polen damit stehen bleibe. An un-serer Ehre ist es, daß wir aufhören, Unterdrücker zu sein, daß wir Freunde aller befreiten Völker werden, daß wir die Italiener 80

befreien und ihre Freunde werden, und daß wir die Polen be-freien und ihre Freunde werden. […] Die Frage, die uns hier be-schäftigt, ist die Reconstituirung eines neuen Völkerrechts, die Reconstituirung der europäischen civilisirten Nationen […] Alle fünf Texte zitiert nach: F. Wigard (Hrsg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a.M. Frankfurt 1848. Text 1: Bd. 4, S. 2787; Text 2: Bd. 4, S. 2898; Text 3: Bd. 4, S. 2779 f.; Text 4: Bd. 2, S. 1144 ff.; Text 5: Bd.2, S. 1185

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Ordnen Sie die vorliegenden Redeauszüge tabellarisch (s.u.) zu. Berücksichtigen Sie dabei auch die Problematik einer Einbeziehung Österreichs in den deutschen Nationalstaat.

2. Präsentieren Sie Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern eine eigene, nach begründeten Kriterien vorgenommene Grenzziehung. Tragen Sie sie auf Karte 1 ein.

3. Formulieren Sie zu einem Redeauszug Ihrer Wahl eine Gegenrede, die Sie anschließend in Form einer Debatte vor Ih-rem Kurs halten können.

Argumente für die kleindeutsche Lösung die großdeutsche Lösung andere Konzepte

Text 1 (Waitz)

Text 2 (von Gagern)

Text 3 (von Arneth)

Text 4 (Jordan)

Text 5 (Ruge)

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M 2.8 Der Sedantag als nationaler Gedenktag im Kaiserreich

Aus dem „Sedan-Büchlein“ (Material 1) Am Rhein, hoch oben auf dem Niederwald, erhebt sich ein heh-res Denkmal. Eine eherne Jungfrau in Wehr und Waffen, schaut fest und stolz hinüber über die grünenden Weinberge und die fruchtbaren Gefilde des andern Ufers nach dem Franken-Lande. Die goldene Septembersonne, — die Sonne von Sedan, 5

— spiegelt sich auf der Kaiserkrone, die sie hoch empor hält; hell blitzt ihr blankes Schwert. […] Vor fünfundzwanzig Jahren wurde dort drüben auf welschem Boden unter dem Kampf-Getöse der gewaltigen Schlacht durch Blut und Eisen das deut-sche Reich zusammengeschmiedet. Das jahrhundertelange 10

Sehnen der nationalen Treue des deutschen Volkes wurde end-lich erfüllt, darum laßt die Geschütze donnern und die Sieges-fanfaren schmettern, laßt uns jubeln, singen, beten und Gott im Himmel danken, der alles so herrlich gefügt hat! […] Es war ein Sieg, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gese-15

hen hatte; man ahnte, welche herrlichen Früchte er bringen würde. Die Morgenröte des deutschen Reiches nahte heran. Festes Vertrauen auf die Zukunft beseelte Aller Herzen.

Nun laßt die Glocken von Turm zu Turm Durch’s Land frohlocken im Jubelsturm. 20

Des Flammenstoßes Geleucht facht an, Der Herr hat Großes an uns gethan. Ehre sei Gott in der Höhe! […]

Vaterlandsliebe und Begeisterung stähle unsern Arm und neu erwache das Gedenken an die gewaltigen Schlachten, 25

durch welche wir vor fünfundzwanzig Jahren den Erbfeind bezwangen!

Deutsches Volk! Du wirst das heilige Vermächtnis deines ent-schlafenen Heldenkaisers zu bewahren wissen. Sein Enkel trägt jetzt die durch jene heißen Kämpfe erstrit-30

tene Krone. Ein leuchtendes Vorbild der edelsten Herrschertugenden, wird er dich mit starker Hand weiter führen zu neuen Sie-gen, Ruhm und Herrlichkeit!

Und wenn die Trommeln rufen 35

Die Männer zum Gewehr, Dann geht der alte Kaiser Lebendig vor uns her. Dann rauscht in unsern Fahnen Sein Geist zu uns und spricht: 40

Mein Deutschland, ich bin bei dir, Sei stark und fürchte nicht.

Wir teilten jede Freude, Wir teilten jede Not. So große, tiefe Liebe 45

ist stärker als der Tod. Solang’ vom Berg zum Meere Durch Deutschland fließt der Rhein Wird mit dem deutschen Volke Sein Kaiser Wilhelm sein. 50

Zit. nach: R. v. Restorff: Sedan-Büchlein. Zur fünfundzwanzigsten Jubelfeier der großen Siege unseres Volkes im Jahre 1870/71. Berlin: Verlag des Christlichen Zeit-schriftenvereins SW 1895, S. 2—3; S. 7—8; S. 100; S. 163—164

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M A T E R I A L I E N 21

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

Eine Postkarte von 1895 zum 25. Jahrestag der Schlacht bei Sedan (Material 2) Bild: akg-images, Berlin

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Wie definiert sich das Deutsche Reich als Nationalstaat? Inter-pretieren Sie dazu mithilfe der Materialien 1—3 (M 2.8) die Be-deutung des Sedantags für die Gesellschaft des Kaiserreichs.

2. Geben Sie Haffners Überlegun-gen (Material 3) zum Sedantag kurz gefasst wieder und neh-men Sie dazu Stellung. Bezie-hen Sie sich dabei auch auf die Auszüge aus dem „Sedan-Büchlein“ (Material 1).

3. Verfassen Sie einen Kommentar zum Umgang mit nationalen Feier- und Gedenktagen. Wel-chen Stellenwert sollten diese Ihrer Meinung nach heute besit-zen?

Der Publizist Sebastian Haffner über den Sedantag (Material 3) […] Sedan, nach dem noch jetzt fast in jeder deutschen Stadt eine Straße heißt, hat im politischen Bewußtsein der Deutschen lange Zeit eine ganz un-gewöhnliche, man muß heute wohl sa-5

gen: verhängnisvolle Rolle gespielt. Das wirklich Merkwürdige und Beden-kenswerte ist, wie vollständig, wie spurlos sich die Erinnerung daran nach dem Zweiten Weltkrieg verloren hat. 10

[…] Der Sedantag war ein rundes hal-bes Jahrhundert lang der deutsche Na-tionalfeiertag, mit Paraden, Beflag-gung, Schulfeiern, patriotischen Reden und allgemeinen Hochgefühlen. Und 15

zwar war es, muß man wahrheitsge-mäß und mit einiger Beschämung sa-gen, der einzige wirklich effektive Na-tionalfeiertag, den die Deutschen je gehabt haben. Was nachher an seine 20

Stelle trat, der 11. August, Verfas-sungstag der Weimarer Republik, der 1. Mai der Nazis, der 17. Juni der Bun-desrepublik, das alles war nichts Rech-tes mehr: halt ein freier Tag und ein 25

paar Weihestunden und Reden, die keinen sonderlich interessierten. Aber der 2. September, Sedantag, mein Gott, da war wirklich noch was los! Das war eine Stimmung — ich finde für die 30

heutige Zeit keinen anderen Vergleich

—, als ob die deutsche Nationalmann-schaft die Fußballweltmeisterschaft gewonnen hätte, und zwar jedes Jahr aufs neue. 35

Alle Jahre wieder wurde die große Schlacht im Geiste noch einmal sieg-reich durchgekämpft, immer wieder brachen die französischen Kavallerie-attacken im deutschen Musketenfeuer 40

zusammen, immer wieder übergab der stolze französische Kaiser als gebro-chener Mann, dem es nicht vergönnt gewesen war, an der Spitze seiner Truppen zu fallen, dem Preußenkönig 45

seinen Degen. Jeder trug im Kopf die triumphalen Bilder, die damals zu Hunderttausenden in Deutschlands gu-ten Stuben hingen: König Wilhelm, der Heldengreis, inmitten seiner Paladine 50

auf der Höhe von Frésnois; Moltke bei den Kapitulationsverhandlungen, den Handrücken lässig auf der General-stabskarte, auf die die französischen Unterhändler wie auf ein Todesurteil 55

starrten; der gigantische Bismarck ne-ben dem häßlichen Zwerg Napoléon auf der schütteren Holzbank vor dem Weberhäuschen in Domchérie — alle diese Szenen des Triumphs Jahr für 60

Jahr aufs neue nachzuschmecken, das war ein wirkliches Fest. Von den Hoch-

gefühlen patriotischen Selbstgenusses, mit denen das gefeiert wurde, macht man sich heute kaum noch eine Vor-65

stellung. […] Aber der Rausch war wirklich, und wirklich waren auch die Empfindungen und Taten, die ihm entsprangen. Sedan war für die Deutschen der mitlebenden 70

und folgenden Generationen mehr als eine gewonnene Schlacht. Es war der Gründungsmythos einer neuen Natio-nalreligion, und es ist keine Übertrei-bung, daß die Deutschen sich, dank 75

Sedan, lange Zeit als das auserwählte Volk empfunden haben. S. Haffner: Im Schatten der Geschichte. Historisch-politische Variationen aus zwanzig Jahren. © 1985, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlags-gruppe Random House GmbH

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22 M A T E R I A L I E N

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

M 2.9 Kriegsgedichte von 1914 „Das Volk in Eisen“. Kriegsgedichte der Täglichen Rundschau. Berlin 1914, S. 15 (Deutschland) und S. 18 (1914)

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Lesen Sie die Gedichte laut vor. Wie wirken sie emotional auf Sie? Äußern Sie sich spontan und fassen Sie anschließend Ihre Aussagen in einem Assoziationsstern zusammen.

2. Erklären Sie anhand Ihrer gewonnenen Erkenntnisse Ursprung, Motivation und Intention derartiger Gedichte. 3. Diskutieren Sie: Inwieweit trug der deutsche Nationalismus zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei?

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M A T E R I A L I E N 23

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

Denkmäler als nationale Symbole M 3.2 Die politische und touristische Bedeutung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim In einem weit verbreiteten Schulbuch des Jahres 2008 schaut die Germania immer noch nach rechts, zum früheren „Erb-feind Frankreich“. Doch das tat sie weder bei ihrer Einwei-hung am 28. September 1883 noch wird sie es tun, wenn in Anwesenheit des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch 5

[…] ihr 125jähriger „Geburtstag“ gefeiert wird. Das 12,38 Meter hohe Standbild der Germania ist Teil des nach ihrem Standort auf dem Niederwald […] benannten Nationaldenk-mals. […] Wie kaum ein anderes Denkmal symbolisiert die Germania die Schwierigkeiten, die Deutsche immer noch mit 10

ihrem Geschichtsverständnis haben. Vor allem dann, wenn ein Thema so mystifiziert und mit Vorurteilen oder falschen Informationen belegt ist, wie das der Germania. […] Reichskanzler Bismarck konnte sich für das Niederwald-denkmal nie erwärmen und blieb der Grundsteinlegung wie 15

der Einweihungsfeier fern. Er sah sich und den Kaiser nicht gebührend präsentiert — und die Germania, die schon 1848 in der Paulskirche als Symbol eines aufgeklärten Deutschland galt, war ihm ohnehin suspekt. Bismarck konnte aber weder ihre Erbauung noch ihre nachfolgende große Popularität ver-20

hindern, zu der Millionen von Postkarten und Geldscheinen beitrugen, die mit ihrem Konterfei versehen waren. […] 125 Jahre nach der […] Einweihungsfeier genießen jedes Jahr etwa 1,5 Millionen Besucher den herrlichen Blick auf den Rheingau […]. 25

Für eine satte Refinanzierung [der] Kosten sorgten in der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart Millionen von Touristen, die von der jetzt bereits restaurierten Terrasse des Denkmals einen der schönsten Ausblicke genießen, die Deutschland, ja Europa, zu bieten haben. Eine Seilbahn befördert die Besu-30

cher aus der ganzen Welt bequem „über den Reben schwe-bend“ hinauf zu ihrem Podest. Die Gäste blicken dort neugie-rig auf den Text der 1840 anläßlich der Rheinkrise von Max Schneckenburger verfaßten „Wacht am Rhein“. Deren vierte Strophe wurde von Johannes Schilling [Erbauer des Denkmals] 35

1883 bewußt weggelassen. Sie ist die einzige, die den „Erb-feind Frankreich“ direkt anspricht. Am 28. September wird die Germania 125 Jahre alt. In: Rheingau Echo vom 25.9.2008., S.20 f.

Weitere nationale Denkmäler: - Hambacher Schloss bei Neustadt a.d. Weinstraße - Deutsches Eck in Koblenz - Hermannsdenkmal bei Detmold - die Walhalla bei Regensburg - Bismarck-Denkmal in Hamburg - Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig - Kyffhäuserdenkmal im Harz bei Wernigerode - Burschenschaftsdenkmal bei Eisenach (evtl. im Ver-bund mit der Wartburg) - Siegessäule in Berlin - Marineehrenmal Laboe

Eine Politikermeinung Die Landtagsabgeordnete Petra Müller-Klepper (CDU) hält eine Sanierung des Niederwalddenkmals für dringend erfor-derlich. […] 40

Die CDU-Politikerin unterstreicht den Stellenwert des Nie-derwalddenkmals: Die Germania sei das national und inter-national bekannteste deutsche Denkmal mit der höchsten Besucherzahl von jährlich bis zu drei Millionen Menschen. Angesichts dieser kulturhistorischen und touristischen Be-45

deutung für Rüdesheim, die Region Rheingau und das Land Hessen sei es wichtig, daß sich das Denkmal in einem ange-messenen Zustand präsentiere. „Monument und Umfeld instand setzen“. In: Rheingau Echo vom 3.5.2007, S. 29

Das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim, um 1900 Quelle: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. Recherchieren Sie im Internet Informationen zu den hier vorgestellten Denkmälern. Präsentieren Sie sie an-schließend Ihrem Kurs. Ordnen Sie die Denkmäler dabei in ihren jeweiligen Entstehungszusammenhang ein. Un-tersuchen Sie deren heutige Bedeutung und Akzeptanz.

2. Prüfen Sie, welche Denkmäler oder Orte der Erinne-rung es in Ihrer Region gibt, die die „deutsche Nati-on“ zum Thema haben.

3. Kreieren Sie ein eigenes Denkmal, das Ihrer Meinung nach der deutschen Nationalbewegung gerecht wird.

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KLAUSURVORSCHAG Material 1: „Völkerhass“ (E. M. Arndt, 1813) Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ernst Moritz Arndt (1769—1860) in seiner Schrift „Über Volkshaß“ (1813): Es ist eine unumstößliche Wahrheit, daß alles, was Leben und Bestand haben soll, eine bestimmte Abneigung, einen Gegensatz, einen Haß haben muß; daß, wie jedes Volk sein eigenes, innigstes Lebenselement hat, es ebenso eine feste Liebe und einen festen Haß haben muß, wenn es nicht in 5

gleichgültiger Nichtigkeit und Erbärmlichkeit vergehen und zuletzt mit Unterjochung endigen will. Ich könnte traurig hinweisen, wodurch die letzten Jahre über Deutschland ge-kommen sind. Wir liebten und erkannten das Eigene nicht mehr, sondern buhlten mit dem Fremden. […] Ich will den 10

Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer. Dann werden Deutschlands Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein, denn das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn 15

überlaufen wollen. Dieser Haß glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unsrer Treue, Redlichkeit und Tapfer-keit. […] Wir sind von Gott in den Mittelpunkt Europens gesetzt, wir 20

sind das Herz unseres Weltteils, wir sind auch der Mittel-punkt der neuen Geschichte und der Kirche und des Chris-tentums. Gerade weil wir in der Mitte liegen, stürmen und strömen alle verschiedensten Völker Europens immer auf uns ein und suchen uns wegzuspülen und wegzudrängen. […] Wir 25

haben also mehr als alle anderen Völker Ursache zu wachen, daß das Eigentümliche und Besondere, was uns als Deutsche, als ein bestimmtes Volk mit einem bestimmten Namen, aus-zeichnet, durch die Völkerflut und Geistesflut, die immer von uns und zu uns geht, nicht weggespült und weggewa-30

schen werde; wir müssen dreifache und vierfache Bollwerke und Schanzen um uns aufführen, damit wir nicht zuletzt matte Bilder werden, welche Allem und Nichts ähnlich sehen und welche, weil sie Gestalt und Gepräge verloren haben, auch nichts andres gestalten und bilden können; daß ich es 35

mit einem Wort sage, damit der Deutsche der große geistige Spiegel der Welt bleiben könne, muß er seine Eigentümlich-keit nicht verschleifen noch vertändeln: er muß ein Deut-scher bleiben. Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß, 1813. Zit. nach: H. Vogt (Hrsg.): Nationalismus gestern und heute. Opladen 1967, S. 102 ff. Abgedruckt in: J. Rohlfes: Historisch-politische Weltkunde. Staat und Nation im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett Verlag 1990, S. 27

Material 2: „Bundeslied“ (E. M. Arndt, 1815) […] Wem soll der erste Dank erschallen? Dem Gott, der groß und wunderbar Aus langer Schande Nacht uns allen In Flammen aufgegangen war, Der unsrer Feinde Trotz zerblitzet, Der unsre Kraft uns schön erneut Und auf den Sternen waltend sitzt Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wem soll der zweite Wunsch ertönen? Des Vater landes Majestät! Verderben allen, die es höhnen! Glück dem, der mit ihm fällt und steht! Es geh’, durch Tugenden bewundert, Geliebt durch Redlichkeit und Recht, Stolz von Jahrhundert zu Jahrhundert, An Kraft und Ehren ungeschwächt! […] Ernst Moritz Arndt: Bundeslied. In: Das Ernst Moritz Arndt Buch. Eine Auswahl der Werke. Stuttgart: o.V. 1925, S. 261 f.

Leitfragen/Arbeitsaufträge

1. a) Fassen Sie den Text (Material 1) strukturiert zu-sammen.

b) Erläutern Sie dabei, was sich Arndt vom „Hass ge-gen die Franzosen“ verspricht.

Ziehen Sie hierzu auch das Gedicht (Material 2) hinzu. c) Ordnen Sie beide Materialien in ihren jeweiligen

historischen Kontext ein. 2. Die „Bewahrung und Reinhaltung der eigenen Art“

war stets eine Forderung überzeugter Nationalisten. Verdeutlichen Sie deren Beweggründe und zeigen Sie an ausgewählten geeigneten Beispielen auf, welche Konsequenzen dies im weiteren Verlauf der deut-schen Geschichte hatte.

3. Schreiben Sie einen Kommentar bzw. eine Entgeg-nung zu den von Arndt hier dargelegten Gedanken.

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G GESCHICHTE betr i f ft uns 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

Einstiegsmodul: Nation und nationale Identität heute EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS Unterrichtsgespräch mit anschließendem Mindmap (Tafelanschrieb) M 1.1 (Folie 1) — M 1.2 M 1.1. — Folie zur Fußball-WM 2006 als Impulsgeber Schwarz-rot-goldene Fahnen und Fanartikel bzw. Kleidung in diesen Farben, die bei Großereignissen (v.a. im Bereich Sport) häufig zu sehen sind. Die Schüler/-innen äußern spontan ihre Ideen und Eindrücke und erwei-tern diese sukzessive um weitere Aspekte zum Stichwort „Nationale Identität“. Folgendes Mindmap könnte als Tafelanschrieb entstehen: Orientierungswissen (M 1.2) Die Informationen können mittels Lehrervortrag die Ergebnisse des Mindmaps (s.o.) ergänzen bzw. abrunden und im Folgenden bei Bedarf herangezogen werden. M 1.2 soll in die wesentlichen Begriffe und Zusammen-hänge einführen und kann (anschließend) an die Schüler/-innen verteilt und mit ihnen besprochen werden. ERARBEITUNG I UND PROBLEMATISIERUNG/GEGENWARTSBEZUG Unterrichtsgespräch mit anschließender Pro-Kontra-Diskussion; Kommentar als Hausaufgabe M 1.3 — M 1.5 „Deutsches Volk — nicht mehr gewollt“ und Interview (M 1.3 und M 1.4) - Kunstwerk im Berliner Reichstag, das „der Bevölkerung“ gewidmet werden soll - Widmung „dem deutschen Volke“ sei nationalistisch aufgeladen - Begriffe „deutsch“ und „Volk“ seien zwiespältig, so der Künstler Haacke, und diskriminierten Millionen

Zugewanderter - Beschlüsse des Bundestags beträfen alle Bewohner/-innen Deutschlands, von daher könne es keine „Ex-klusivität“ für die Deutschen geben daher müsse eine Korrektur erfolgen - Im Gegensatz dazu betont Neitzel in dem Interview die Bedeutung eines modernen, gewandelten Patrio-tismus, der aus der deutschen Vergangenheit seine Lehren gezogen habe; er schätzt ihn als wichtig und unproblematisch ein und sieht in ihm ein Stück „Normalität“. - Unterschiedliche nationale Identitäten, Kulturräume und Mentalitäten stellten eine Bereicherung dar. Laut Neitzel ist der Nationalstaat kein Auslaufmodell. Die Nation spiele für die Deutschen auch heute ei-ne wichtige Rolle. - Sinnvoll sei es, heute eigene Denkmäler mit nationalem Symbolgehalt zu entwickeln. Denkmäler, die den Hypernationalismus des Kaiserreichs abbilden, haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren.

Das Interview bzw. Auszüge davon können ebenfalls als Einstieg/Impuls genutzt werden.

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ERARBEITUNG II Arbeitsteilige Gruppenarbeit mit anschließendem Unterrichtsgespräch und Diskussion M 1.6 — M 1.8 - Gruppe 1 — Flagge: Die Farben Schwarz-Rot-Gold entstanden während der Befreiungskriege gegen Napo-

leon (Lützower Freikorps) und blieben für die Anhänger eines freiheitlichen und einheitlichen deutschen Nationalstaats ein revolutionäres Symbol (vgl. Hambacher Fest 1832, Revolution 1848/49). Das 1871 ge-gründete Deutsche Reich wählte hingegen Schwarz-Weiß-Rot als Flaggenfarbe. Die Weimarer Republik führ-te nach heftigen Diskussionen wieder Schwarz-Rot-Gold als Flagge ein (Hinweis: Flaggenstreit und Kom-promiss bezüglich der schwarz-weiß-roten Handelsflagge); ein Indiz, wie schwer sich die demokratischen Ideen des Vormärzes durchsetzen konnten. 1949 übernehmen Bundesrepublik Deutschland und DDR wieder Schwarz-Rot-Gold als Farben. Diskutiert werden könnten Fragen bezüglich des Identifikations- und Solidari-tätsempfindens mittels der Flagge (vgl. Folie 1) sowie des Missbrauchs in Form eines Fahnenkults. - Gruppe 2 — Wappen: Der Adler ist eines der ältesten Wappentiere, er wurde bereits als Herrschaftszei-chen der römischen Kaiser verwendet. Die fränkischen Herrscher übernahmen ihn mit der Kaiserwürde als Symbol ihrer Macht. Als Doppeladler repräsentierte er das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ bis 1806. Seit 1871 mit leichten Veränderungen Wappentier des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ und 1950 als Bundeswappen übernommen. - Gruppe 3 — Hymne: 1841 von Hoffmann von Fallersleben gedichtet. In den Versen kommt die zeittypi-sche Sehnsucht nach einem einheitlichen deutschen Vaterland zum Ausdruck. Der als Aufruf zu verste-hende Einleitungssatz der 1. Strophe „Deutschland, Deutschland über alles …“ ist aufgrund der demokra-tischen Gesinnung des Autors als Bekenntnis für den noch nicht geschaffenen deutschen Nationalstaat zu verstehen. Umdeutung, Missbrauch durch die Nationalsozialisten und dadurch eine gewisse Diskreditie-rung nach 1945. Diskussion in der Bundesrepublik: Briefwechsel zwischen Bundespräsident und Bundes-kanzler: Alle drei Strophen bilden die offizielle Hymne, gesungen werden soll bei staatlichen Anlässen nur die 3. Strophe; ab 1990 ist nur die 3. Strophe die offizielle Hymne. Ein Atlas, um die in Strophe 1 be-schriebenen Grenzen zu verfolgen, sollte hinzugezogen werden.

Anhand der hier gewonnenen Erkenntnisse sollte eine kritische Diskussion über den Umgang mit nationalen Symbolen, deren Tradition bzw. Traditionswürdigkeit, deren Instrumentalisierung sowie die Gefahr des Missbrauchs geführt werden. Die in M 1.8 artikulierten Positionen gegenüber dem „Eisernen Kreuz“ (Ur-sprung ebenfalls in den Befreiungskriegen) als weiteres, z.B. von der Bundeswehr verwendetes nationales Symbol, wie auch dem „Preußenadler“, können dementsprechend kritisch miteinbezogen werden. Die krea-tive Aufgabe 3 ist offen angelegt und dient der Abrundung dieser Problematik.

Sollte das Einstiegsmodul zu zeitintensiv sein, kann mittels M 2.1 (s.u.) direkt in das Thema eingestie-gen werden.

Grundkurs: Nation und Nationalismus — Begriffe im Wandel der Zeit

ALTERNATIVER EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS Blitzlicht mit anschließendem Unterrichtsgespräch M 2.1 (Folie 1)

Blitzlicht: Was fällt Ihnen spontan zu vorliegendem Foto ein? Jede Schülerin/jeder Schüler äußert spontan (nacheinander) ein Wort/einen Satz, mit dem sie/er die Ideen, Empfindungen etc. bezüglich des Fotos zum Ausdruck bringt. Es wird zunächst nicht diskutiert, die Beiträge bleiben als persönliche Meinungen so stehen, wie sie mitgeteilt werden. Aus dem anschließenden vertiefen-den Unterrichtsgespräch kann ein Mindmap zum Begriff „Nationalismus“ entwickelt werden. (Vgl. S. 25)

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G GESCHICHTE betr i f ft uns 4 · 2009 Nationalismus und nationale Identität im 19. Jahrhundert

ERARBEITUNG UND PRÄSENTATION Gruppenarbeit (arbeitsteilig) mit anschließender Präsentation der Gruppenarbeitsergebnisse M 2.2

Arbeitsanregung: Die Schüler/-innen können die Materialien in fünf Gruppen arbeitsteilig erarbeiten und die Ergebnisse auf OHP-Folie visualisieren; jeweils ein Gruppenmitglied stellt die Ergebnisse dem Plenum vor. Herder: - Volk mit einem eigenen Nationalcharakter ist der natürlichste Staat; Kritik/Warnung vor Staatsvergröße-

rungen, die zur „Vermischung“ von Nationen führen; derartige Staaten seien fragil, schwer zu regieren und achten die Eigenheiten der Völker nicht Staat = Nationalstaat - Beispiel: Vielvölkerstaat Österreich(-Ungarn); evtl. auch Preußen nach den polnischen Teilungen als Gegensatz zum geforderten deutschen Nationalstaat; Entstehungskontext: Nationalismus der Französischen Revolution

Renan: - Nation ist ein geistiges Prinzip, bestehend aus Vergangenheit (Erbe an Erinnerungen) und Gegenwart (Wunsch nach Zusammenleben); Nation = Solidargemeinschaft in Form eines täglichen Plebiszits; Nationen seien nichts Ewiges, vielmehr müssten sie immer wieder neu definiert werden: Merkmale wie Ethnien, Sprache oder Geografie seien sekundär; hingegen bilde ein „Moralbewusstsein“ die Grundlage für moderne Nationen, die das Ergebnis einer Reihe von „Tatsachen“ seien, „die dieselbe Richtung haben“. - Zahlreiche Beispiele — vgl. Text; zeitliche Einordnung: Gründung des Deutschen Reiches 1870/71

Meinecke: - Nationen sind mächtige, in langer Entwicklung entstandene Lebensgemeinschaften. Betonung der Ge-meinsamkeiten von Wohnsitz, Sprache und vor allem der Ethnie („Blutsverwandtschaft“); Begriffe der Staats- und Kulturnation (gemeinsame Sprache, Literatur, Religion als wirksamste Kulturgüter), die al-lerdings innen- wie außenpolitisch nicht immer eindeutig voneinander zu trennen seien - Beispiel: Deutschland als Kulturnation, die aber in verschiedene Staatsnationen getrennt war/ist (z.B. Preußen, Österreich); Entstehungskontext: Kaiserreich als kleindeutsche Lösung ohne Österreich

Lemberg: - Nicht die Gemeinsamkeit eines Merkmals (Sprache, Abstammung, Kultur) macht eine Nation aus und grenzt sie gegenüber ihrer Umwelt ab, sondern ein System von Normen, Werten und Vorstellungen, so-mit ein Gesellschaftsbild, eine Ideologie Nationalismus als Abgrenzung und Integrationsideologie; Merkmale sind u.a.: Gruppe mit Überlegenheitsbewusstsein, entwickelte Gruppenmoral, Gefühl einer Bedrohung von außen, eine Feindvorstellung, Hingabe des Einzelnen gegenüber der Gruppe (= Nation) - Beispiel: Deutsches Reich im Wilhelminismus; Entstehungskontext: Bundesrepublik Deutschland; Erlebnis eines übersteigerten Nationsgedankens zu Chauvinismus und Rassismus während des Nationalsozialismus

Alter: - Die Begriffe „Nationalismus“ und „Nationalist“ sind zutreffend, wenn die Interessen der eigenen Nation denen anderer übergeordnet werden und diese evtl. gar missachtet werden; dem Nationalismus als ex-tremer Ideologie hafte seit dem Zweiten Weltkrieg ein stark negativer Beigeschmack an, er diene als Charakterisierung für Formen kollektiver Selbstsucht und Aggressivität. Dagegen gelten Begriffe wie na-tionale Gesinnung oder Nationalgefühl weiterhin als positiv. Daher werde heute wieder auf den Ausdruck Patriotismus zurückgegriffen, der die Liebe zum Vaterland mit allgemeinmenschlichen Idealen verbinde. Bis heute sei umstritten, was unter Nationalismus genau zu verstehen ist. Er verkörpere ein dynamisches Prinzip, das Hoffnungen und Emotionen auszulösen vermag; er sei ein Instrument zur politischen Solida-risierung, eine Ideologie und politische Bewegung. - Beispiel: Nationalismus als extreme Ideologie: Deutschland unter dem Nationalsozialismus; Entstehungs-kontext: aktueller Forschungsstand nach der Wiedervereinigung, die u.a. diesbezüglich eine neue Debat-te ausgelöst hat.

M 2.3

Arbeitsanregung: Vermittlung von Überblickswissen in Form von Kurzreferaten zu Beginn der Einzelthe-men (je nach Schülerinteresse und Zeit), sodass — evtl. unter Ergänzung der Chronologie — ein Gesamtbild der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert entsteht. Neben der Vermittlung einer inhaltlichen Übersicht sind der freie Vortrag sowie die selbständige Beschaffung historischer Informationen wesentliche Lernziele. Alternativ bietet sich auch der Lehrervortrag an.

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ERARBEITUNG I Gruppenarbeit mit anschließendem Unterrichtsgespräch; Anregung zu Atlas-/Kartenarbeit M 2.4 - Aufgabe 1: Bildungs- und Besitzbürgertum sowie Studenten als Protagonisten der aufgeklärten, liberalen

Opposition gegen Napoleon, aber auch gegen die deutschen Fürsten. Die Preußischen Reformen (Stein, Hardenberg) führten zu einer Modernisierung Preußens und zu ersten Anklängen eines Nationsbewusst-seins. Der Nationsgedanke erhielt infolge der französischen Besatzungszeit großen Aufwind und spiegelte sich in zahlreichen Freikorps („Lützower Jäger“ Hinweis auf „Schwarz-Rot-Gold“ hier möglich) und vor allem der Völkerschlacht bei Leipzig wider. Die Franzosen werden pauschal als Hauptfeind der Deut-schen empfunden und tragen somit zu deren geistiger Integration bei. Diese Phase trägt mit zur Begrün-dung der sogenannten „deutsch-französischen Erbfeindschaft“ bei. - Aufgabe 2:

Fichte: Abgrenzung von Deutschen und anderen germanischen Volksgruppen mittels der deutschen Spra-che, die unverfälscht sei; Definition von Volk als etwas „Höheres“, ewig Fortdauerndes mit quasi göttli-cher Weihe. Ein Patriot habe mit ganzer Kraft sein Volk und seine Nation zu lieben bis hin zum Tod für das Vaterland.

Arndt: Diskussion um die Größe und Grenzen eines geforderten und zu schaffenden deutschen National-staats nach geografischen, vor allem aber sprachlichen und charakterlichen Kriterien (u.a. der Franzo-senhass). Auch hier wird ein religiöser Bezug deutlich.

Körner: Flammender, emotionaler Appell an die Deutschen, einen „heilgen Krieg“ gegen den gemein-samen Feind Frankreich zu führen. Aspekte wie Freiheit gegenüber dem „Tyrannen“ (Napoleon), Hel-dentod und Opferbereitschaft dominieren; auch der Rachegedanke ist erkennbar. - Aufgabe 3: Gefordert wird ein großdeutscher Nationalstaat, der sogar die Schweiz (unrealistischerweise) mit einschließen soll. Mögliche Nationalbewegungen der Polen, Tschechen oder anderer nichtdeutscher Ethnien und deren politische „Sprengkraft“ werden von Arndt ignoriert. - Aufgabe 4: Das Eiserne Kreuz (EK) wurde von Preußens König Friedrich Wilhelm III. am 10.3.1813 in Breslau als Tapferkeitsorden bzw. Kriegsauszeichnung gestiftet. Der Entwurf stammt vom König selbst, ausgeführt wurde er von K. F. Schinkel. Erneuert wurde der Orden 1870, 1914 und 1939. Auf den Miss-brauch im Zweiten Weltkrieg sollte eingegangen werden. Das Revolutionäre am EK stellte die Tatsache dar, dass bei einer Ordensverleihung erstmals nicht mehr der Dienstgrad oder der gesellschaftliche Stand die entscheidende Rolle spielten, sondern der Einsatz und die Leistungen des einfachen „Fußsoldaten“, Unteroffiziers sowie Offiziers den Ausschlag gaben. Auch an Frauen wurde es verliehen. Um seinen de-mokratischen Charakter zu betonen, wurde es aus wertlosem Material — Gusseisen — hergestellt. 1814 wurde es in die 1806 von Napoleon als Kriegsbeute mitgenommene Quadriga auf dem Brandenburger Tor integriert. Das EK steht somit auch als Zeichen für die Traditionslinie der preußischen Reformen, die Teilhabe aller Bürger am Staatswesen, seiner Verteidigung und seiner Freiheit.

Arbeitsanregung: Vergleichen Sie Ihre Überlegungen zum „Eisernen Kreuz“ mit den Ausführungen in M 1.8.

Bezug zu M 1.8 mit anschließender kritischer Diskussion. Gegenwartsbezüge möglich angesichts der neu ein-geführten Tapferkeitsauszeichnung der Bundeswehr. ERARBEITUNG II UND PROBLEMATISIERUNG Einzelarbeit mit evtl. anschließender Pro-Kontra-Diskussion zwischen einem „Fürsten“ und einem „Burschenschaftler“ M 2.5 - Aufgabe 1: Der Deutsche Bund war ein loser Bund von 35 deutschen Staaten und 4 freien Städten, der

die Prinzipien des Wiener Kongresses (Restauration, Legitimität, Solidarität) und somit den Neoabsolu-tismus im deutschen Sprachraum verwirklichte. Revolutionäre, liberale Ideen wurden ebenso ignoriert und später unterdrückt wie Forderungen nach einem einheitlichen deutschen Nationalstaat. Die Ideale der Befreiungskriege wurden somit aus Sicht vieler Bürger verraten. - Aufgabe 2: Forderung nach einem deutschen Nationalstaat, Religion solle hier keinen Trennungsgrund darstellen; ökonomische Zusammenarbeit. Langzeitwirkung haben die dominierenden liberalen Inhalte

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wie Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit, aber auch das hier an-klingende Nationalgefühl gehabt. - Aufgabe 3: In der damaligen Zeit waren diese Forderungen modern bzw. revolutionär und wurden daher massiv von den Monarchen bekämpft ( Möglichkeit einer simulierten Pro-Kontra-Diskussion). Heute weisen manche (nicht alle!) Burschenschaften eher eine politisch rechts anzusiedelnde Gesinnung auf.

Mögliche weiterführende Hausaufgabe: Analyse der „Karlsbader Beschlüsse“ als Reaktion der Monar-chen (bzw. Metternichs). ERARBEITUNG III UND PRÄSENTATION; BEURTEILUNG Methodische Anregung: Zweiteilung der Klasse; arbeitsteilige Textanalysen mit anschließen-der vergleichender Präsentation der Ergebnisse M 2.6 - Aufgabe 1: Beide Redner fordern einen deutschen Nationalstaat und liberale Grundrechte. Gemeinsam

ist ihnen ebenso die massive Kritik an den Monarchen wie auch an der Heiligen Allianz. Auch wird bei beiden eine europäische Perspektive bzw. Solidarität deutlich. Viele andere Nationen werden als Brüder und Verbündete im Kampf für die gemeinsamen Ziele und Ideale hervorgehoben. Allerdings unterschei-den sich Wirth und Siebenpfeiffer hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber den Franzosen, die von Wirth mit dem Verweis auf deren Streben zur Rheingrenze und der Möglichkeit einer Angliederung von Elsass-Lothringen nicht als Partner betrachtet werden. Siebenpfeiffer hingegen — insgesamt der progressivere Redner (vgl. z.B. seine Hinweise auf die Frauenemanzipation) — betrachtet sie als Verbündete im Kampf gegen die europäischen Monarchen. - Aufgabe 2: Das Hambacher Fest war eine erste Massenkundgebung für ein freies und einiges Deutsch-land. Ca. 30.000 Bürger, Burschenschaftler, Handwerker und Bauern sowie Polen und französische De-mokraten nahmen teil. Es stellte einen Höhepunkt der im Zuge der französischen Julirevolution 1830 in den deutschen Staaten sich erneut bemerkbar machenden Einheits- und Oppositionsbewegung dar und kann somit durchaus als Fanal für die weitere revolutionäre Entwicklung gelten, auch wenn der deutsche Bundestag — also die Monarchen — mit Repressionsmaßnahmen (Verhaftung von Teilnehmern, völlige Unterdrückung der Presse- und Versammlungsfreiheit) reagierte.

FALLSTUDIE I Wiederholung und Kurzreferat, Kartenarbeit im Plenum; Einzelarbeit, anschließende simu-lierte Parlamentsdebatte M 2.7

Vorbereitende Hausaufgabe: 1. Skizzieren Sie die politische Lage in „Deutschland“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 2. Informieren Sie sich über Ursachen, Verlauf und Ergebnisse der Revolution von 1848/49 bzw. die Haupt-aufgaben der Nationalversammlung in der Paulskirche. (Aufgabe 2 könnte durch ein Schülerreferat oder durch einen Lehrervortrag ersetzt werden.) Anmerkungen zur Hausaufgabe: - Zu Aufgabe 1: Kurze Wiederholung der Ergebnisse des Wiener Kongresses, des Deutschen Bundes (Zer-

splitterung Deutschlands, fehlender Nationalstaat), der Ziele und Forderungen des Bildungs- und Besitz-bürgertums, der Burschenschaften und die Reaktion der Fürsten. - Zu Aufgabe 2: Eigenständige Recherche (z.B. Internet); Möglichkeit eines Schülerreferates; Stichworte: Revolution in Berlin und Wien, Zusammenkunft der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, Entstehung erster parteiähnlicher Gruppierungen; Kontroversen bei den Abgeordneten: Staatsform, -struktur und -größe (Monarchie oder Republik, Zentral- oder Föderalstaat, großdeutscher oder klein-deutscher Nationalstaat); fehlende Machtmittel des Parlaments; Wiedererstarken der Fürsten; Ableh-nung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV.

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- Aufgabe1 (M 2.7)

Argumente für

die kleindeutsche Lösung

die großdeutsche Lösung

andere Konzepte

Text 1 (Waitz)

Österreich könne als Viel-völkerstaat keinen Be-stand mehr haben.

Nur Einbeziehung der deutschspra-chigen Teile Österreichs, Akzep-tanz auch der anderen National-bewegungen

Text 2 (von Gagern)

Österreich könne wegen seiner außerdeutschen Provinzen nicht in den „engsten Bund“ eintreten.

Mitteleuropäische Lösung unter deutscher Führung als weitreichendstes Kon-zept

Text 3 (von Arneth)

Österreicher sind und fühlen sich als Deutsche; nichtdeutsche Provin-zen sollen einbezogen werden, kei-ne „Zerreißung Österreichs“

Text 4 (Jordan)

Keine Aussage Keine Aussage Betonung einer deutschen Politik der Stärke v.a. ge-genüber polnischen Unab-hängigkeitsbestrebungen

Text 5 (Ruge)

Nicht eindeutig Nicht eindeutig, zumindest aber Verzicht auf nichtdeutsche Gebiete

Betonung des Selbstbe-stimmungsrechts der Völker

- Aufgabe 2: Die vorliegenden Karten können als Vorlage für zwei Folien genutzt werden, wobei mittels Overlay-Verfahren die Schüler/-innen verschiedene Grenzziehungen vornehmen und präsentieren kön-nen. (Abonnentinnen und Abonnenten von „Geschichte betrifft uns“ finden die Karten einzeln, im DIN-A4-Format als Folienvorlagen im Bonusbereich — siehe http://bonus.buhv.de.) - Aufgabe 3: Kreative, selbständige, aber stringente, begründete Lösungen sind möglich. Die Kontroverse um die klein- bzw. großdeutsche oder weiter reichende Lösungen kann abschließend in Form einer klei-nen simulierten Parlamentsdebatte verdeutlicht werden. Perspektiven der Österreicher, Preußen, von polnischen oder tschechichen Abgeordneten sollten hier eingenommen werden.

FALLSTUDIE II: PROBLEMATISIERUNG UND GEGENWARTSBEZUG; BEURTEILUNG Einzelarbeit mit anschließendem Unterrichtsgespräch/Diskussion M 2.8 - Aufgabe 1: Die Reichsgründung ist ein Resultat dreier Kriege, insbesondere des Krieges gegen Frankreich

1870/71. Im preußisch-französischen Konflikt um die spanische Thronkandidatur eines Hohenzollernprin-zen trat der Bündnisfall der süddeutschen Staaten ein. Die Nation wurde somit quasi auf kriegerischem Weg geeint. Der militärische Erfolg der Deutschen bei Sedan am 1./2. September 1870 verbunden mit der Gefangennahme Kaiser Napoleons III. stellte in diesem Krieg den militärischen Höhepunkt dar. Für viele Deutsche bedeutete dieser Sieg die lang ersehnte Revanche gegenüber Frankreich. Allerdings wur-de dieser Erfolg durch die Vertreter der Obrigkeit — Monarchen, Militär — erreicht (vgl. hierzu die Aus-züge aus dem „Sedan-Büchlein“), nicht durch eine umfassende Volks- und Freiwilligenbewegung wie 1813. Dennoch wurde der Sedantag wie ein Nationalfeiertag mit Festgottesdiensten, Parademärschen, Militärmusik, Kinderfesten und Feuerwerken begangen. Dementsprechend hoch waren Ansehen, Rang und Stellenwert des Militärs im Kaiserreich. Auch die Verehrung des Kaisers war tief im Bürgertum ver-wurzelt. Demokratische Strukturen traten hingegen in den Hintergrund. Oppositionelle Gruppen (z.B. die Anhänger der SPD) mieden allerdings die Feierlichkeiten. - Aufgabe 2: Haffner weist auf die zentrale Bedeutung des Tages als „Nationalfeiertag“ hin, der von fast allen Deutschen auch so verstanden und entsprechend begangen bzw. gefeiert wurde (ganz im Gegen-satz zu vielen späteren Feiertagen), obwohl er nie zum offiziellen Feiertag erklärt worden war. Patrioti-sche Hochgefühle (vgl. wiederum die Auszüge aus dem Sedan-Büchlein) waren allgegenwärtig. Diese

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siegreiche Schlacht ist laut Haffner der „Gründungsmythos einer neuen Nationalreligion“ gewesen, durch die sich die Deutschen lange Zeit als ein auserwähltes Volk empfunden haben. - Aufgabe 3: Offenes und kreatives Ergebnis; nationale Gedenktage sind Marksteine historischen Erin-nerns, wobei die Erinnerung an manche Ereignisse nicht immer einfach und häufig auch umstritten ist. Diskutiert werden könnte auch die Frage, woran man sich erinnern sollte und in welcher Form. Nationale Gedenktage können ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen, ebenso aber auch nationalistisch miss-braucht werden. Dieses Spannungsverhältnis sollte berücksichtigt werden.

ERARBEITUNG IV UND ABSCHLIESSENDE BEURTEILUNG Assoziationsstern, Unterrichtsgespräch und Debatte M 2.9 Jede Schülerin/jeder Schüler äußert mittels knapper Formulierungen die Gedanken, die sie/er zu den Gedichten hatte. Rückfragen und Kommentare zu den Äußerungen sind nicht erlaubt. Eine Schülerin/ein Schüler schreibt die Stichwörter an den Assoziationsstern, in dessen Mitte das Thema/Problem steht. In 10—15 Minuten können so die „Geistesblitze“ strukturiert werden und als Vorbereitung für ein vertiefendes Mindmap dienen. Aufgabe 2 und 3 dienen der abschließenden Reflexion und Beurteilung der behandelten Unterrichtsinhalte. Die Schüler/-innen sollten sich ein eigenständiges, begründetes Urteil bilden können und dieses in einer Ab-schlussdebatte vertreten. Es ist auch möglich, diese Reihe mittels der Gedichte in die Problematik der wil-helminischen Außenpolitik und des Ersten Weltkriegs direkt zu integrieren.

Erweiterungsmodul: Denkmäler als nationale Symbole

Vorbemerkung: Neben dem hier näher zu betrachtenden Niederwalddenkmal existieren eine ganze Rei-he bedeutender nationaler Denkmäler aus der Zeit des Kaiserreiches, die einen sehr guten Querschnitt über das nationale Selbstverständnis dieser Epoche sowie die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert an sich zu vermitteln vermögen. Ergänzt werden kann diese Liste durch weitere Denkmäler sowie symbolträch-tige Orte, die teilweise schon vor der Zeit des Kaiserreiches errichtet wurden bzw. schon früher eine dies-bezügliche Bedeutung besaßen. Sollten diese Orte für eine Exkursion aufgrund einer zu großen Entfernung nicht geeignet sein, so bieten sich hier für einen außerschulischen Lernort durchaus auch Bismarck- und Kai-serdenkmäler an, die in jeder größeren Stadt zu finden sind. Auf lokaler Ebene können auch Soldatenfried-höfe, Kriegsgräberstätten oder Kriegerdenkmäler aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sowie Straßenna-men bedeutender „nationaler“ Persönlichkeiten (z.B. Bismarck, Moltke, Namen von Schlachtorten, wie z.B. Sedan- u. Wörthstraße) als historisch-politische Dokumente ihren Zweck erfüllen. Die unter M 3.2 (siehe S. 23) angeführten Denkmäler sind beispielsweise als außerschulischer Lernort für ei-ne Exkursion und vertiefende Analyse geeignet. EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS Ideensammlung mit anschließendem Unterrichtsgespräch M 3.1 (Folie 2) — M 3.2 Die Folie soll als Einstieg und Vorbereitung für eine mögliche Exkursion zu diesem oder einem vergleichba-ren Denkmal genutzt werden. Die Schüler/-innen äußern ihre Ideen, Anregungen oder auch damit verbunde-ne Fragen. Ebenso kann sie als Grundlage für den zu konzipierenden Fragebogen dienen. EXKURSION Gruppenarbeit mit eigenständiger Recherche und anschließender Kurzpräsentation - Aufgabe 1 und 2: Anhand der unter „Vorschlag für eine Exkursion“ (s.u.) vorgestellten Kriterien sollten

die verschiedenen der in M 3.2 aufgelisteten Denkmäler untersucht und vorgestellt werden. Dies dient

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der Vorbereitung einer möglichen Exkursion zu einem vergleichbaren Denkmal. Sollte dieses zu schwierig sein, so genügt die Präsentation und möglicherweise das Ausweichen auf ein Kriegerdenkmal oder die Beschränkung auf Straßennamen mit nationalem Hintergrund. Historische Lokalrecherchen können so den Unterricht auf einer handlungsorientierten Ebene bereichern. - Aufgabe 3: Kreativer Ansatz mit offenem Ergebnis, das somit ebenfalls in handlungsorientierter Form die Unterrichtsreihe abschließen bzw. zusammenfassen kann. Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt: Bilder, Collagen, Skulpturen etc. wären mögliche Varianten. - Vorschlag für eine Exkursion am Beispiel des Niederwalddenkmals:

Untersuchen Sie das Denkmal unter folgenden Fragestellungen: 1) Wie wirkt das Denkmal auf Sie? (Bitte begründen!) 2) Wem bzw. welchem Ereignis ist das Denkmal gewidmet? 3) Wer hat die Errichtung veranlasst? Wann war die Einweihung? 4) Analyse des Standorts und der Umgebung 5) Genaue Beschreibung des Denkmals, seiner Symbole und Inschriften 6) Was könnte die Intention dieses Denkmals sein? 7) Wer sind die Adressaten/Zielgruppen? 8) Fassen Sie zum Schluss die Aussagen des Denkmals zusammen. Konzipieren Sie nach Ihrer Analyse einen Fragebogen für Besucher/-innen des Niederwalddenkmals

und werten Sie ihn in Form einer kleinen empirischen Studie aus, die Sie anschließend präsentieren.

Klausurvorschlag „Völkerhass“ und „Bundeslied“ von E. M. Arndt - Aufgabe 1: Historischer Kontext sind die Befreiungskriege gegen die französisch-napoleonische Besat-

zung. Die Aufrufe von Fichte oder Körner, die Völkerschlacht bei Leipzig oder zuvor die Konvention von Tauroggen können hier kurz angesprochen werden. Auch der Hinweis, dass die Deutschen seit Jahrhun-derten (spätestens seit Ende des Dreißigjährigen Krieges) aus damaliger Sicht eher ein Spielball der eu-ropäischen Großmächte waren und dies nun als nationale Schmach empfunden wurde, könnte hier the-matisiert werden. Inhalt: Für Arndt dient der Hass auf die Franzosen der Besinnung auf eigene, deutsche Werte und somit der Integration. Das deutsche Volk werde und bleibe somit wehrhaft bzw. verteidi-gungsbereit. Weiterhin betont er die göttliche Auserwähltheit der Deutschen als dominierendem Volk in Mitteleuropa, das daher einen natürlichen, legitimen Anspruch auf eine eigene Identität habe und diese mit allen Mitteln verteidigen müsse, um auch in Zukunft die geistige und politische Entwicklung Europas zu prägen. - Aufgabe 2: Nationalismus als Integrationsideologie, Überhöhung der eigenen Nation als auserwähltes Volk mit göttlichem Segen. Ebenso spielen weiterhin machtpolitische, geografische und ökonomische Motive eine zentrale Rolle. Sendungsbewusstsein, kombiniert mit Chauvinismus und Rassismus, insbeson-dere gegenüber osteuropäischen/slawischen Völkern, denen entweder die Fähigkeit zur Staats- und Na-tionsgründung (z.B. Polen, Tschechen) von deutschen Nationalisten abgesprochen wurde oder die als kulturell minderwertige Völker (z.B. Russen) diffamiert und diskriminiert wurden. Folgen waren ein zu-nehmender Imperialismus und Kolonialismus — allerdings nicht nur im Deutschen Kaiserreich. Internatio-nale Folgen (z.B. Marokko-Krisen, China-Politik) und die Nichtverhinderung des Ersten Weltkriegs sind einige Konsequenzen. Auf die Pervertierung nationaler Gedanken durch den Nationalsozialismus sollte abschließend hingewiesen werden. - Aufgabe 3: Anknüpfungspunkte könnten die Reden von Siebenpfeiffer und Wirth darstellen, die den na-tionalen Gedanken in einen europäischen solidarischen Kontext stellen. Die kulturelle Bereicherung bei einem intensiveren Austausch mit anderen Völkern kann für einen Staat bzw. eine Gesellschaft auf ver-schiedenen Ebenen zur Weiterentwicklung beitragen (z.B. politische Ideen der Aufklärung aus England und Frankreich; ökonomischer Fortschritt aus England usw.). Ebenso sollte auf die historischen Leistun-gen und Verdienste anderer Staaten und Völker verwiesen werden (Griechenland und die Demokratie; England als ein Mutterland des Liberalismus u.a.). Auch ignoriert Arndt die Tatsache, dass Deutschland schon seit Jahrhunderten aufgrund seiner zentralen Lage von Einflüssen seiner Nachbarn geprägt wurde und das deutsche Volk auch auf ethnischer Ebene intensive Verbindungen zu anderen Völkern erfahren hatte (z.B. im Rahmen der Ostkolonisation oder durch die Hugenotten).

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LITERATUR Zur Einführung Peter Alter: Nationalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1985 Eine umfassende Überblicksdarstel-lung, die als Einführung in das Thema vielseitig zu verwenden ist. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenrei-chen Konzepts. Frankfurt a.M.: Cam-pus Verlag 1988. Erweiterte Neuausga-be 22005 Enno Meyer: Das europäische National-staatensystem — Völker und Staaten Zwischeneuropas. Hannover u.a.: Schroedel-Verlag 1966 (Neue Gemein-schaftskunde für Gymnasien) Eine altes, aber nicht veraltetes Ar-beitsbuch, das in einem historischen Längsschnitt seit Ende des 18. Jh. ei-nen Überblick über das Thema aus früherer Perspektive bietet. Zur Vertiefung Helmut Berding (Hrsg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neu-zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1996 Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770—1990. München: C.H. Beck Verlag 31992 Elisabeth Fehrenbach: Über die Bedeu-tung der politischen Symbole im Natio-nalstaat. In: Historische Zeitschrift, Bd. 213, 1971, S. 296—357 Ernest Gellner: Nationalismus und Mo-derne. Berlin: Rotbuch Verlag 1999 Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nati-onalismus. Mythos und Realität seit

1780. München: Deutscher Taschen-buch Verlag 1996 Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Kö-cher: Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charak-ter zu ändern. Stuttgart: Deutsche Ver-lags-Anstalt 1987 Ute Planert: Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2004, S. 11—18 (http://www.bpb.de/files/YG1WKE.pdf) Ein Essay zum Thema unter Einbezie-hung der nationalen Frauenbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Theodor Schieder: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Göttin-gen: Vandenhoeck & Ruprecht 21992 Hagen Schulze: Der Weg zum National-staat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichs-gründung. München: Deutscher Ta-schenbuch Verlag 51995 „Der Spiegel“: Die Erfindung der Deut-schen. Wie wir wurden, was wir sind. Nr. 4—8, 2007 Eine gut lesbare und diskussionsanre-gende Serie aus journalistischer Per-spektive von den Anfängen bis zur Ge-genwart. Lutz Tittel: Das Niederwalddenkmal 1871—1883. Hildesheim: Gerstenberg Verlag 1978 Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte: Die Deutschen. Profil einer Nation. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 21999 Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. München: C.H. Beck Verlag 32006

Zur Weiterführung Martina Boden: Nationalitäten, Min-derheiten und ethnische Konflikte in Europa. Ursprünge, Entwicklungen, Krisenherde. Ein Handbuch. München: Olzog Verlag 1998 Dieses Handbuch bietet einen klar strukturierten Überblick über die Viel-falt der europäischen Ethnien, ihre Herkunft und vorhandene Konfliktpo-tentiale. Es ermöglicht somit einen ergänzenden Gegenwartsbezug sowie einen Perspektivenwechsel. Ingrid Oswald: Nationalitätenkonflikte im östlichen Teil Europas. Berlin: Lan-deszentrale für politische Bildungsar-beit 1993 Kurze Überblicksdarstellung mit zahl-reichen Karten und Grafiken. ZUM AUTOR Martin Grosch ist seit 1999 als Stu-dienrat für Geschichte, Politik/Wirt- schaft und Erdkunde tätig. Zurzeit ist er an der Internatsschule Schloss Han-senberg in Geisenheim (im Rheingau), einem Oberstufengymnasium für die Klassen 11—13, beschäftigt. Bei „Ge-schichte betrifft uns“ erschien zuletzt von ihm: „Wilhelminische Außenpolitik 1890—1914. Der Weg in den Krieg“ (Ausgabe 5/2008). IN VORBEREITUNG Methoden im Geschichtsunterricht I. Textquellen, Karikaturen, Malerei

G GESCHICHTE b e t r i f f t u n s - bietet Planungsmaterial für einen modernen und interessanten Geschichtsunterricht in den Jahrgangsstufen 9—13 - enthält jeweils eine vollständige Unterrichtsreihe mit Sachinformationen zum Thema, einsatzfertigen Materialien, einem ausführlichen Unterrichtsverlauf und zwei farbigen OH-Folien - freut sich auf Ihre Anregungen und Unterrichtsentwürfe: Bergmoser + Höller Verlag AG, Redaktion „Geschichte betrifft uns“, Postfach 50 04 04, 52088 Aachen, DEUTSCHLAND, [email protected]