Gaarder, Jostein - Bibbi Bokkens Magische Bibliothek

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Jostein Gaarder Bibbi Bokkens magische Bibliothek scanned by unknown corrected by lg Ein Brief mit einer mysteriösen Nachricht, eine unheimliche Frau, die plötzlich überall auftaucht, und ein rätselhaftes Buch ohne Autor bringen Nils und Berits Fantasie ganz schön auf Touren. Gibt es da einen Zusammenhang? Oder ist altes nur Zufall? Mutig stellen die beiden Nachforschungen an und tauschen Ideen und Spekulationen per Tagebuch aus. Immer mehr Spuren führen zu einer unterirdischen Bibliothek. Versucht jemand sie dorthin zu locken? Die Recherche wird zusehends gefährlich – doch die geheimnisvolle Bibliothek scheint der Schlüssel zu allen anderen Rätseln zu sein. Eine fantastische Entdeckungsreise in die Literatur und ein abenteuerlicher Detektivroman, den Gaarder und Hagerup mit viel Witz und Esprit gewürzt haben. ISBN: 3-446-20039-8 Original: Bibbi Bokkens magiske bibliote Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs Verlag: Carl Hanser Verlag Erscheinungsjahr: 2001 Umschlaggestaltung: Quint Buchholz Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Jostein Gaarder

Bibbi Bokkens magische Bibliothek

scanned by unknown corrected by lg

Ein Brief mit einer mysteriösen Nachricht, eine unheimliche Frau, die plötzlich überall auftaucht, und ein rätselhaftes Buch ohne Autor bringen Nils und Berits Fantasie ganz schön auf Touren. Gibt es da einen Zusammenhang? Oder ist altes nur Zufall? Mutig stellen die beiden Nachforschungen an und tauschen Ideen und Spekulationen per Tagebuch aus. Immer mehr Spuren führen zu einer unterirdischen Bibliothek. Versucht jemand sie dorthin zu locken? Die Recherche wird zusehends gefährlich – doch die geheimnisvolle Bibliothek scheint der Schlüssel zu allen anderen Rätseln zu sein. Eine fantastische Entdeckungsreise in die Literatur und ein abenteuerlicher Detektivroman, den Gaarder und Hagerup mit viel Witz und Esprit gewürzt haben.

ISBN: 3-446-20039-8 Original: Bibbi Bokkens magiske bibliote

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs Verlag: Carl Hanser Verlag

Erscheinungsjahr: 2001 Umschlaggestaltung: Quint Buchholz

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Autor

Jostein Gaarder, geboren 1952, wurde mit seinem Roman »Sofies Welt« international berühmt. Das Buch ist inzwischen in 44 Sprachen übersetzt und wurde rund 30 Millionen Mal verkauft. Gaarder ist Norweger, er studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaft und unterrichtete zehn Jahre lang Philosophie an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Daneben schrieb er Romane und Erzählungen. Sein erstes Buch, ein Erzählungsband für Erwachsene, erschien 1986, sein erstes Kinderbuch 1987. Heute lebt er als freier Schriftsteller mit seiner Frau und zwei Söhnen in Oslo. »Sofies Welt«, 1993 bei Hanser erschienen, erhielt ein Jahr später den Deutschen Jugendliteraturpreis. Danach folgten die Bücher »Das Kartengeheimnis« (1995), »Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort« (1996), »Das Leben ist kurz« (1997), »Das Weihnachtsgeheimnis« (1998), »Hallo, ist da jemand?« (1999) und »Maya oder Das Wunder des Lebens« (2000) im Hanser Programm. Auch sie wurden zu Bestsellern.

Klaus Hagerup, geboren 1946, ist Regisseur und Dramatiker und lebt wie Jostein Gaarder in Oslo. Als Autor debütierte er mit einer Sammlung von Gedichten, außerdem schrieb er fürs norwegische Fernsehen und für den Rundfunk. Sein erstes Kinderbuch erhielt den Preis der norwegischen Literaturkritiker. Außerdem wurde er u. a. mit dem Sonja-Hagemann-Preis ausgezeichnet. In Deutschland sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen, zuletzt der Roman »Verliebt zwischen Ecke und Elfmeter« (2001).

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Inhalt

TEIL l Das Briefbuch ..................................................4

TEIL 2 Die Bibliothek.............................................118

Literaturliste ............................................................201

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TEIL 1 Das Briefbuch

Liebe Berit, schön, dass wir uns in diesem Sommer gesehen haben.

Das war wirklich toll. Morgen fängt die Schule wieder an und ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich darauf freue. Da sind so viele kleine Gören. Aber egal, nächstes Jahr bin ich fertig damit und dann wechselt Nils Bøyum Torgersen auf die Oberschule.

Aber zur Sache. Ich habe viel über diese Idee mit dem Briefbuch nachgedacht und muss zugeben, dass ich sie doch nicht so schlecht finde. Briefe in ein Buch zu schreiben, das wir zwischen Oslo und Fjærland hin- und herschicken, wird mir so vorkommen, als ob wir ein Fotoalbum mit Worten füllten statt mit Bildern. (Hö, hö.) Wenn es etwas gibt, worüber wir schreiben können, meine ich. Das ist ja noch die Frage. Ich habe den Verdacht, dass dieser Herbst ebenso spannend wird wie ein Stück Knäckebrot mit Ziegenkäse, und in Fjærland ist wohl auch nicht gerade der Bär los, stell ich mir vor. Oder ist vielleicht auf eurem Gletscher ein geheimnisvoller Schneemensch entdeckt worden?

Doch ich muss jetzt aufhören. Viele Grüße von meiner Mutter. Sie hofft, dass Tante Grete ihr neuer Job im Hotel gefällt, und sie ist »looking forward to seeing you again«, wie es im Flugzeug heißt. Mein Vater würde sicher auch grüßen lassen, aber er muss Taxi fahren und weiß nicht, dass ich dir schreibe.

Viele Grüße von deinem höchst geehrten Vetter Nils. PS. Ich muss doch noch erzählen, dass etwas Seltsames

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passiert ist, als ich dieses Buch gekauft habe. Das habe ich nämlich nicht in Oslo gemacht, sondern auf dem Heimweg von Fjærland in Sogndal. Kannst du dich an diese seltsame Frau erinnern? Die mit den Telleraugen und dem zerfetzten Buch in der Handtasche? Die oben in der Flatbrehütte im Gästebuch las und uns über die Schulter geschaut hat, als wir unser Gedicht hineingeschrieben haben? Hast du das Gedicht noch im Kopf? Ich ja:

Hier in unserem Sommerspaß

genießen wir ein Colaglas, Nils und Berit, das sind wir,

verbringen unsre Ferien hier. Hier oben ist es wunderschön,

wir mögen gar nicht wieder gehn.

Ziemlich gutes Gedicht, wenn du mich fragst. Aber ich wollte nicht über das Gedicht schreiben.

Sondern über die Frau. Denn als ich in Sogndal in den Buchladen ging, war sie da. Sie wanderte an den Regalen entlang und sah sich die Bücher an. Und, Berit, sie sabberte! Ja, ich kann das nicht anders ausdrücken, die Frau stand im Buchladen und sabberte. Als wären die Bücher aus Schokolade oder Marzipan oder so. Und das Allerseltsamste passierte, als ich das Buch bezahlen wollte. Da kam sie zu mir und fragte, ob sie sich nicht dran beteiligen könnte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber sie starrte mich mit einem dermaßen unheimlichen Blick an, dass ich einfach nicht Nein sagen konnte. Ich weiß nicht, wie ich den Ausdruck in ihren Augen beschreiben soll, ich hatte das Gefühl, dass sie in mir las wie in einem offenen Buch. Ich konnte den Zehner einfach nur annehmen und »tausend Dank« sagen. Und

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kannst du dir vorstellen, was sie geantwortet hat? »Nein, ich habe zu danken!« Und dann zog sie ein Taschentuch hervor, wischte sich den Mund ab und war verschwunden.

Hier ist jedenfalls das Buch. Ich lege den einen Schlüssel bei. Du musst das Buch unbedingt abschließen, wenn du gerade nicht drin schreibst. Denk dran, der Inhalt ist »for your eyes only« (nur für deine Augen). Du musst das Bild auf dem Einband so hinnehmen. Ich hatte die Wahl zwischen dem Sognefjord und einem Sonnenuntergang mit einem roten Herzen als Sonne. Wofür hättest du dich entschieden? Briefende.

Lieber Vetter,

danke für das Briefbuch, das ich vor wenigen Minuten im Briefkasten fand und aufgemacht habe. Ich bringe es im Moment leider nicht über mich, von hier zu erzählen, denn ich habe heute Nachmittag etwas erlebt und kann an nichts anderes denken. Deshalb muss ich sofort an dich schreiben, obwohl meine Hand zittert. Aber du kannst es hoffentlich trotzdem lesen?

Es geht um diese geheimnisvolle Frau. Um die, die dir in Sogndal begegnet ist, ja. Himmel – wie soll ich nur anfangen?

Ich stand also beim Anleger, als die Zwei-Uhr-Fähre kam. Bei uns fängt die Schule nämlich erst am Montag an und viel zu tun gibt es nicht. Und dann kam sie, verstehst du, sie ging als Allererste an Land. Als sie an mir vorbeikam, schaute sie mich mit so einem »Ich weiß genau, wer du bist«-Blick an. Ich hatte deinen Brief noch nicht gelesen, aber ich dachte an unsere Begegnung in der Flatbrehütte und beschloss ihr zu folgen – in sicherer Entfernung. Ich begreife nicht, dass ich mich das getraut habe, aber es kommt mir fast so vor, als hätte sie mich

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hypnotisiert, um mich dazu zu bringen. (Jetzt siehst du bestimmt, wie sehr meine Hand zittert!) Als sie an der Kirche vorbeiging, drehte sie sich um. Ich musste mich in den Straßengraben fallen lassen, und als wir durch Mundalen gingen, hat sie das mit dem Sich-Umdrehen noch einige Male wiederholt, aber ich glaube nicht, dass sie mich bemerkt hat.

Erinnerst du dich an die Mauer mit dem Tor? Dort bog sie nach rechts ab, zu dem gelben Haus, das ganz allein am Waldrand steht. Ich hatte mich hinter der Mauer versteckt und jetzt komme ich bald zum Eigentlichen: Als sie die Haustür aufschloss, flatterte plötzlich etwas aus ihrer Handtasche. Und gleich darauf war sie verschwunden.

Ich war so aufgeregt, dass ich einfach nicht mehr denken konnte. Bestimmt hat man so ein Gefühl, wenn man zum allerersten Mal ein Verbrechen begeht. Eine Sekunde später stand ich nämlich vor dem Haus, ungefähr so wie ein maskierter Bankräuber, der plötzlich vor den Schalter springt und etwas von einem Überfall schreit. Das hier war vielleicht nicht gerade ein Überfall und ich habe auch nichts gebrüllt und ich war auch nicht maskiert, aber ich habe einen kleinen Briefumschlag an mich gerissen und mich dann wieder hinter die Mauer fallen lassen. Im Umschlag steckte ein Brief und in dem stand:

Liebe Bibbi,

ich bin den ganzen Vormittag durch die Stadt gewandert, aber dieses seltsame Antiquariat kann ich einfach nicht wiederfinden. Kann es seit gestern geschlossen worden sein? Ich weiß nur, dass es in einer der engen Gassen um die Piazza Navona gelegen hat. Dort bin ich jedenfalls herumgelaufen …

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Ich war auf der Jagd nach einer italienischen Ausgabe von ›Peer Gynt‹, aber als der Ladeninhaber hörte, dass ich Norwegerin bin, zog er mich zu einem alten Bücherschrank und zeigte auf ein Buch, das ganz anders aussah als alle anderen Bände dort, es war nämlich nagelneu.

»Ich habe nicht nur Bücher, die geschrieben worden sind«, flüsterte er und starrte mich dabei viel sagend an.

Ich begriff natürlich nicht, was er damit meinte, doch dann zog er das Buch aus dem Schrank, musterte mich eindringlich – und erklärte:

»Ich sammle auch Bücher, die noch nicht geschrieben sind. Von diesen Büchern gibt es natürlich endlose Mengen, aber zugleich kann man nur sehr selten eins in die Hand nehmen.«

Dann legte er das Buch in meine Hände. Der Einband zeigte ein Bild von einigen hohen Bergen und der Titel hatte irgendetwas mit einer »magischen Bibliothek« zu tun. Aber weder Titel noch Einband sind hier wichtig. WICHTIG IST, WANN DAS BUCH IN OSLO ERSCHIENEN IST!

Irgendwann im nächsten Jahr also, Bibbi! Der alte Mann hat ja auch betont, dass es sich um ein ganz besonderes Buch handelte.

Vor Schreck legte ich das Buch gleich wieder weg. Ich hatte das Gefühl, mich an etwas verbrannt zu haben. Ich konnte mir nicht einmal merken, wer es geschrieben hat. Kannst du mir helfen, Bibbi? Wenn es in Norwegen auch nur eine einzige wirkliche Bibliografin gibt, dann musst du das doch sein. Die Frage ist also nicht, wer ein Buch über eine »magische Bibliothek« geschrieben hat, sondern wer vielleicht gerade daran schreibt.

Ich bin dann einfach aus dem Antiquariat davongestürzt,

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habe behauptet, ich dürfe meinen Zug nicht verpassen. Als ich die Ladentür aufriss, schaute ich mich aber trotzdem noch einmal um und fragte den Mann, wie viel dieses seltene Buch denn kosten solle. Und da wurde er so wütend, das hättest du mal sehen sollen. Er hob die Augenbrauen und kläffte:

»Wie können Sie es wagen? Seine allerliebsten Kinder verkauft man doch nicht. Dieser eine Band ist kostbarer als die allerwertvollste Inkunabel …«

Ich frage mich, ob er vielleicht taub gewesen sein mag. Sein Italienisch klang ein wenig undeutlich und ich hatte den Eindruck, dass er mir von den Lippen ablas, als ich mit ihm redete.

Du musst meinen späten Anruf von gestern Abend verzeihen, aber ich war einfach außer mir. Wenn ich das Antiquariat doch bloß wiederfinden könnte. Doch es ist wie vom Erdboden verschluckt!

Viele Grüße von Siri, Campo dei Fiori, 8. August 1998

Das ist der Brief, Nils. Was sagst du dazu? Plötzlich hatte ich einen geheimnisvollen Brief geklaut und klammheimlich gelesen. Wie soll ich ihn bloß wieder loswerden? Du lästerst ja gern, dass ich immer einen Notizblock in der Tasche habe. Aber ich schreibe eben kluge Gedanken gern auf, damit ich sie nicht vergesse, und diesmal war ich wirklich froh über den Block. Ich schrieb den Brief ganz schnell ab, dann schlich ich mich zu dem gelben Haus zurück und legte ihn an die Stelle, wo ich ihn gefunden hatte.

Ich bin erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und dein Brief hat mich nicht gerade beruhigt, denn die Vorstellung, dass die Frau unser Briefbuch mit einem Zehner gesponsert hat, sagt mir überhaupt nicht zu.

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Mir kommt es fast so vor, als ob sie damit auch unsere Gedanken gekauft hätte.

Was soll ich machen? Ich glaube, wir haben hier einen dicken Fisch zu fassen bekommen. Immerhin wissen wir jetzt, dass sie Bibbi heißt. Und wenn wir dem Brief glauben können, dann wissen wir auch, dass sie »Bibliografin« ist. Aber was zum Henker macht eine Bibliografin? Und was ist eine »Inkunabel«?

Ich glaube, mir kommen gleich die Tränen, und da höre ich vielleicht besser auf mit Schreiben. Ich glaube nicht, dass der Filzstift Wasser verträgt.

Ich bringe das Buch jetzt sofort auf die Post. Und du musst sofort antworten!!!

Grüße von deiner verängstigten Kusine Berit Bøyum

Hallo, hallo, Berit! Sehr komisch. Ein Buch, das im kommenden Jahr

erschienen ist. Hältst du mich für total schwachsinnig? Dass wir ein Briefbuch schreiben, ist schön und gut, aber deshalb brauchen wir ja wohl nicht gleich loszudichten. Wenn du glaubst, ich ginge dir so leicht auf den Leim, dann liegst du wirklich falsch. Auch wenn ich ein Jahr jünger und zehn Zentimeter kleiner bin als du, bin ich doch kein Baby, dem du alles einreden kannst. Du bist durchschaut. Wenn ich dir das mit dem Brief glauben soll, dann musst du mir das Original schicken. Eine Abschrift aus »Berit Bøyums fantastischen Notizblockgeschichten« reicht einfach nicht.

Aber okay, ich habe tatsächlich nachgesehen, was »Bibliografin« bedeutet und was eine »Inkunabel« ist. »Biblion« ist Griechisch und bedeutet »Buch«. Und deshalb tippe ich, dass eine Bibliografin in Bücher verliebt ist, und das klingt ganz schön pervers, wenn du mich

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fragst. »Inkunabel« kommt von dem lateinischen Wort »incunabula« und das bedeutet »Wiege«.

Diese Bibbi ist also eine Frau, die verrückt nach Büchern ist, und die andere, von der der Brief stammt, hat ein Buch entdeckt, das noch nicht geschrieben und wertvoller ist als eine Wiege. Ich glaube dir. Ich glaube dir.

Wenn du findest, das hört sich an wie Spott, dann hast du richtig verstanden. Aber ich bin heute nicht zu Scherzen aufgelegt. Wir kriegen nämlich den »Eisen-mann« im Sport und der ist total wahnsinnig.

Und jetzt kannst du mir glauben, dass ich mich auf den echten Brief von Siri Campo dei Fiori freue.

Gruß und KUSS, Nils.

Lieber (?) Nils, wie ungeheuer traurig, sage ich! Nachdem ich deine Gemeinheiten verdaut hatte, starrte

ich eine ganze Stunde einfach nur in den Regen hinaus. Du glaubst mir nicht!!! Da setze ich um deinetwillen mein Leben aufs Spiel und reiße vor der Höhle der Löwin diesen Superbrief an mich, und was ist der Dank? »Gruß und KUSS« und »Berit Bøyums fantastische Notizblockgeschichten«.

Vielleicht ist das mein allerletzter Brief an dich, denn wenn du mir nicht glaubst, hat das Schreiben doch keinen richtigen Sinn. Dann kannst du das Buch auch gleich behalten. Du quillst doch von faulen Eiern nur so über. Das reicht hundertmal für das ganze Buch. Da kannst du später dann dran riechen, wenn du schön alt und grau bist. (»Hö, hö.«) Hast du ansonsten vergessen, dass ich eben erst aus Bergen weggezogen bin und an die fünfzehn bis zwanzig Bekannten dort versprochen habe, ihnen zu schreiben?? Außerdem fällt mir immer wieder etwas ein, das ich in mein höchst privates Notizbuch schreiben kann.

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Betrachte dieses Briefbuch also nicht als so eine KONTAKTANZEIGE:

»einsam und verlassen zwischen den hohen Bergen des Sognefjords«.

Übrigens glaub ich dir nie, dass du nicht wenigstens etwas davon glaubst, was ich geschrieben habe. Du hast einfach nur Schiss, du könntest dich blamieren – das ist ja üblich bei Jungs in deinem Alter. Aber es gibt ein Sprichwort: »Wer wagt, gewinnt.« Wenn du das mit dem geheimnisvollen Brief nicht geglaubt hättest, dann hättest du diese seltsamen Wörter auch nicht im Lexikon nach-gesehen. Und das Gleiche habe ich nun auch getan. Zitat: Bibliograf, jemand, der sich mit Bibliografie beschäftigt, Buchkenner. Du hast das offenbar mit »bibliophil« verwechselt, mit »Buchliebhaber, jemand, der seltene und schöne Bücher sammelt«. Dass »Inkunabel« ursprünglich »Wiege« bedeutet, stimmt, aber heute wird das Wort nur für Bücher benutzt, die vor dem Jahr 1500 gedruckt wurden. Zitat: Inkunabel, Buch, das in der ersten Zeit nach der Erfindung der Buchdruckerkunst gedruckt worden ist.

Verstehst du jetzt den Zusammenhang? Der Mann im Antiquariat meinte, das Buch über die magische Bibliothek sei noch seltener als diese uralten Bücher, die vor über fünfhundert Jahren gedruckt wurden. Viele von denen wurden nämlich von der katholischen Kirche verbrannt, weil sie als ketzerisch galten, oder sie sind aus anderen Gründen verloren gegangen. Aber trotzdem ist es sicher eine noch größere Seltenheit, ein Buch in der Hand zu halten, das bisher gar nicht veröffentlicht wurde? Und ziemlich geheimnisvoll noch dazu, Nils. Ich finde ja auch, dass der Brief, den ich gefunden habe, einfach unglaublich ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass du mir nicht glauben sollst!

Findest du es eigentlich leichter zu glauben, dass eine

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erwachsene Frau durch einen Buchladen geht und sich die Lippen leckt, weil sie glaubt, die Bücher seien aus Schokolade und Marzipan gemacht? Oder dass sie einen Zehner aus der Tasche angelt und ihn einem Jungen gibt, bloß weil der sich ein Poesiealbum kaufen will? (Ich frag ja nur.)

Du erinnerst mich ein bisschen an den Jünger, der erst die ganze Hand in Jesu Wunden stecken musste, ehe er ihm glaubte. Ich kann dir leider keine anderen Wunden zeigen als die große in meiner Seele, die du mir heute verpasst hast, doch in die kann man eben nicht so leicht die ganze Hand schieben. Und sie heilt auch nicht sonderlich leicht. Aber ich habe noch mehr in Erfahrung gebracht, Nils, und wenn du es auch wieder nicht glaubst, so kann ich das doch immerhin belegen.

Meine Mutter arbeitet jetzt also im Hotel und auf diese Weise habe ich dort auch einen Fuß in der Tür. Du wirst so nach und nach mehr über das Leben hinter der alten Fassade hören. Jetzt will ich nur erzählen, was ich über die Frau im gelben Haus gehört habe.

Sie nennt sich Bibbi Bokken und allein schon der Name ist natürlich ein Kapitel für sich. Aber niemand hier weiß, ob sie wirklich so heißt, denn sie redet mit niemandem. Sie ist neu zugezogen – genau wie ich. Obwohl ich immerhin hier geboren bin, während Bibbi Bokken wohl erst vor ein paar Jahren den ersten Schritt nach Fjærland getan hat.

Sie hat sich hier ein Haus mit schönem Blick über den Fjærlandsfjord gekauft. Warum nicht, denkst du jetzt vielleicht, und, na und? Aber in den Wochen nach ihrem Einzug waren aus ihrem Haus einige Male undefinierbare Geräusche zu hören. Vielleicht hat sie ja renoviert, Wände gezogen und Regale angebracht. Vielleicht, ja – aber diese unerklärlichen Geräusche wurden vor allem nachts gehört.

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Ab und zu knallte es auch scharf … Ich habe mit der Nachtwache im Hotel gesprochen,

weißt du. Sie heißt Hilde Mauritzen und ist total in Ordnung. Außerdem ist sie die Tochter eines Parlaments-mitglieds (und damit ziemlich glaubwürdig, oder?). Sie hat außerdem noch mehr erzählt. Angeblich war Bibbi Bokken eine Art Bibliothekarin in einer großen Bibliothek in Oslo, dann hat sie plötzlich ihre Koffer gepackt und ist in Fjærland aufgetaucht.

Kannst du dich in der Hauptstadt mal umhören? Auf jeden Fall musst du im Telefonbuch unter »Bokken« nachsehen (auch wenn sie nicht mehr dort wohnt).

Vielleicht zum letzten Mal – Grüße von Berit

PS. Die Frau, die den geheimnisvollen Brief geschrieben hat, heißt nicht Siri Campo dei Fiori. Ich bin sicher, dass ich den Brief ganz genau abgeschrieben habe, und dort stand:

»Viele Grüße von Siri, Campo dei Fiori, 8. August 1998.«

Das bedeutet, dass diese Siri den Brief an irgendeinem Ort namens Campo dei Fiori geschrieben hat, wo immer der liegen mag. Auf jeden Fall kann es beim Lesen ebenso wichtig sein, alle Zeichen zu registrieren wie alle Buchstaben. Wenn ich »Grüße von Berit, gute Nacht«, schreibe, dann heiße ich deshalb noch lange nicht Berit Gute Nacht.

PPS. Kannst du mir nicht bitte glauben, Nils? Please! Ich möchte zwei Regeln für unser Briefbuch einführen, denn das würde alles sehr viel leichter machen.

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1. Regel: Lügen ist im Briefbuch verboten.

2. Regel: Es ist verboten zu glauben, dass die Gegenseite lügt.

Wenn du dich an diese Regeln nicht halten willst, dann kannst du das Briefbuch gleich behalten. Sicherheitshalber lege ich den Schlüssel bei, den kannst du dann Tante Ingrid geben, denn ganz bestimmt soll doch irgendwer lesen, was du schreibst? (Spott? Ich?)

PPPS. Und merk dir noch ein weiteres Sprichwort: »Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Grüße von Berit. Gute Nacht!

Liebe Berit,

das tut mir jetzt wirklich Leid. Ich wollte dich nicht verletzen, ich wollte dich bloß ein bisschen hochnehmen. Du weißt doch, wie ich bin. Raue Schale, weicher Kern. (Hm.) Aber wenn du schreibst, dass ich dir eine »tiefe Wunde in der Seele« verpasst habe, dann könnte ich fast losheulen. Denn das wollte ich nun wirklich nicht und ich wusste nicht, dass du so empfindlich bist. Aber das bist du also und jetzt glaube ich dir. Denn wenn du nicht die Wahrheit gesagt hättest, dann hättest du auch keine Wunde in der Seele und dann hättest du ganz anders geschrieben. Also glaube ich dir. Ich bitte um Verzeihung und schicke den Schlüssel zurück. Bitte behalte ihn. Ich verspreche dir, dass ich mich von jetzt ab an die zweite Buchregel halten werde. Ich will auch versuchen, nicht selber zu lügen, obwohl das ganz schön schwer sein kann.

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Um zu beweisen, dass ich es ernst meine, habe ich Untersuchungen angestellt. Erstens habe ich mich erkundigt, wo Campo dei Fiori liegt. Ich habe meine Mutter gefragt. Du weißt ja, dass sie Geschichten für diese Illustrierte schreibt, um die »Haushaltskasse aufzubessern und sich aus dem grauen Alltag wegzuträumen«, wie sie sagt.

Jetzt arbeitet sie an einer Geschichte für irgendein Preisausschreiben, und als ich sie fragte, ob sie je vom Campo dei Fiori oder von der Piazza Navona gehört hätte, starrte sie mich an, als ob sie das Licht der Welt erblickt hätte.

»Natürlich«, rief sie. »Es ist doch in Rom passiert!« »Weißt du das genau?«, fragte ich und dachte schon, sie

hätte vielleicht heimlich im Briefbuch gelesen. »Ja«, sagte sie. »Auf der Piazza Navona in Rom. Da

haben wir uns kennen gelernt.« Und dann machte sie sich über ihre Schreibmaschine her

und hämmerte ihre Geschichte runter. Sie redete also nicht über unser Briefbuch, sondern über die Kitschsuppe, die sie gerade zusammenrührte.

»Du hast mir eine Inspiration gegeben, Nils«, murmelte sie.

Ich bin nicht sicher, was Inspiration bedeutet, aber ich glaube, das ist eine Art Idee, die schreibende Leute bekommen, und dann fangen sie an. Aber egal, was ich ihr gegeben hatte, die Piazza Navona liegt jedenfalls in Rom!

Das war die eine Nachforschung. Die andere hat mich auf eine Spur gebracht, bei der mir ganz anders wird. Wenn du Recht hast, dann schwebst du in Gefahr, Berit, und ich kann dir im Augenblick nur den einen Rat geben: Mach einen großen Bogen um Bibbi Bokken und versteck alle deine Bücher. Ich habe nämlich eine Theorie. Genauer

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gesagt, eine Idee. Eine Idee, wer Bibbi Bokken sein kann und was sie so treibt. Aber jetzt darfst du dich nicht zu sehr fürchten, Berit. Ich weiß ja, wie empfindlich du bist, aber du musst jetzt wirklich einen kühlen Kopf behalten. Also, hör zu:

Ich habe im Telefonbuch nachgeschaut, wie du gesagt hast. Und dort fand ich »Bokken AG«. Ich rief an und ein Mann meldete sich. Er hatte noch nie von Bibbi Bokken gehört. Ich fragte, was das für eine Firma sei, und er sagte, sie seien in der Lebensmittelindustrie tätig. Ich kenne mich mit schwierigen Wörtern ja nicht so gut aus wie du (bibliophil/Bibliograf, verstehst du?), deshalb fragte ich, was das bedeutet, und er sagte, sie hätten ihre Büros in der Fleischstadt in Furuset und importierten Geräte, die sie den Schlachtereien verkaufen.

In der FLEISCHSTADT, Berit! Ich wurde ganz zittrig und dann musste ich erst mal

meine Theorie überlegen, und nachdem ich überlegt hatte, habe ich den ganzen Kram wie einen Aufsatz aufge-schrieben. Wir müssen nämlich morgen einen abliefern, und da ich nur an Bibbi Bokken und die Fleischstadt denken konnte, habe ich genau darüber geschrieben. Mit Namen und allem. Ich hoffe, das macht nichts. Hier kennt bestimmt niemand Bibbi Bokken, und wenn meine Theorie stimmt, dann heißt sie ja auch gar nicht so.

Wie du siehst, habe ich den Aufsatz kopiert und ins Briefbuch eingeklebt. Ich bin gespannt, was du sagst. Aber du darfst auf keinen Fall in Panik geraten, Berit. Wenn du Hilfe brauchst, dann komm ich selber nach Fjærland, auch wenn ich trampen und Schule schwänzen muss. Und wie gesagt: Ich bitte um Entschuldigung und hoffe, dass deine Wunde schon ein bisschen verheilt ist.

Dein reuiger Vetter Nils

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PS. Ganz wichtig: Nie im Leben darf Bibbi Bokken das Briefbuch in die Finger kriegen, denn das würde dich möglicherweise in größte Gefahr bringen.

Die Mörderin aus der Fleischstadt

Birte Bakken leckte sich die Lippen. Sie war ziemlich zufrieden mit sich. Von der Osloer Fleischstadt bis nach Fjærland in Sogn war es ein weiter Weg, doch sie hatte ihn bewältigt. Alle Spuren waren verwischt und die Polizei wusste weder aus noch ein. Dass Birte Bakken zu Bibbi Bokken geworden war, war einfach genial. Die Idee war ihr gekommen, als sie im Kontobuch der Schlachterei den Namen des Lebensmittellieferanten Bokken entdeckt hatte, und diese Entdeckung war gerade im richtigen Moment geschehen. Sie hatte sich schon lange gefragt, wie sie sich an dem Tag verhalten sollte, an dem sie entlarvt würde. Aus dem Namen Bakken in ihrem Pass Bokken zu machen, war nicht leicht, aber durchaus möglich, und Birtes Motto war immer schon gewesen: Wer wagt, findet. Nein, an ihrem Mut war nun wirklich nichts auszusetzen.

Bergsteigerin, Fallschirmspringerin, Kampffliegerin Bakken. Es waren keine Kleinigkeiten, die sie gemacht hatte. Das Problem war, dass sie alles so schnell langweilte. Birte war eine unglaublich leidenschaftliche Person, doch ihre Leidenschaft erlosch ebenso rasch, wie sie aufgeflammt war. Abgesehen von der einen: Sie liebte Bücher.

Und das war eine unersättliche Liebe. Birte bezeichnete sich als Bibliografin, aber in Wirklichkeit war sie eher bibliophil, was etwas ganz anderes ist. Sie liebte Bücher. Nein, das stimmt nicht ganz. Sie liebte das Stehlen von

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Büchern, die Bücher aber las sie nie. Es kam vor, dass sie sich mit Leuten zusammentat, die sich keine Bücher leisten konnten, nur wegen der Freude, die das Bücherstehlen ihr dann später machte. Wenn sie ein Buch gestohlen hatte, interessierte es sie schon nicht mehr und sie musste noch eins stehlen. Und zwar sofort.

Die Tragödie hatte damals begonnen, als Birte Bakken eine Stelle in einer großen Osloer Bibliothek antrat. Nach Feierabend ging sie dann immer in den Saal mit den ganz alten Büchern. Ja, es handelte sich dabei sogar um Inkunabeln. Dort langte sie gierig zu und ich kann euch sagen, sie fand es wunderbar. Doch eines Tages wurde sie von einem Mann der Wachgesellschaft überrascht, als sie gerade eine ungeheuer wertvolle Inkunabel in die Tasche steckte. Es wäre durchaus nicht übertrieben zu behaupten, dass Birte Bakken überrascht und verängstigt war. Doch geistesgegenwärtig, wie sie nun einmal ist, packte sie das Papiermesser, das sie immer bei sich trug, und rammte es dem Mann von der Wachgesellschaft in die Brust. Er hieß Roger Larsen.

ABER WAS SOLLTE SIE MIT DER LEICHE ANFANGEN? Ihr fiel die Fleischstadt in Furuset ein. Wenn sie Roger Larsens Leiche dort einschmuggeln und unter dem übrigen Schlachtfleisch verstecken könnte, dann wäre die Sache gegessen. Und gesagt, getan.

Wie Birte Roger Larsen in die Fleischstadt und zum übrigen Schlachtfleisch schmuggeln konnte, ist eine andere Geschichte, aber so geschah es nun mal. Und danach stellte sie fest, dass sie eine neue Leidenschaft entwickelt hatte: Mord. Bücher und Mord. Das wurde Birtes Leben. Und alles wäre gut gegangen, wenn nicht der Tierarzt aus Ås gerade in dem Moment das Schlachtvieh inspiziert hätte, als Birte Fredrik Wilhelmsen aus Stavern an einen Haken hängen wollte.

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»Was ist das denn für ein Tier?«, fragte der Tierarzt und Birte sah ein, dass das Spiel aus war. Jetzt war guter Rat teuer. Dass die Hilfsschlachterin Birte Bakken dieses Tier geschlachtet hatte, wussten alle. Dass es kein Tier war, sondern Buchhändler Wilhelmsen von Wilhelmsens Libris, war nur den wenigsten bekannt. Aber es kam heraus und Birte musste fliehen.

Und jetzt saß sie also mit einer neuen Identität in Fjærland. Sie schaute auf den Fjord hinaus. Sie war in Sicherheit und hätte eigentlich zufrieden sein müssen. Aber das war sie nicht. Sie langweilte sich und hatte keine Ahnung, wie sie sich die Zeit vertreiben sollte. Sie schaute auf die Straße hinunter, die sich am Friedhof vorbeischlängelte. Ein Mädchen kam des Wegs. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn. Sie hielt ein Buch in der Hand.

Birte sprang auf und leckte sich die Lippen. Sie spürte ein Ziehen im Bauch …

Lieber »fleischlicher« Vetter!

Dir ist verziehen. Aber du bist knatschverrückt! Im einen Moment willst du nicht glauben, dass ich vor Bibbi Bokkens Haus einen Brief gefunden habe und nennst das alles eine »Notizblockgeschichte«. Im nächsten tischst du mir eine absolut perverse Geschichte über die »Mörderin aus der Fleischstadt« auf!!! Ich glaube, du ziehst dir zu viele Videos rein, mein Junge.

Hast du die Geschichte der Fleischmörderin Birte Bakken geschrieben, um sozusagen zu feiern, dass jetzt alles erlaubt ist, wenn es nur unglaublich genug ist? Aber es ist nicht alles erlaubt. Ich glaube überhaupt, du solltest das Tempo deiner Nachforschungen ein wenig drosseln.

Ich weiß nicht so recht, ob ich dir vorwerfen kann, du

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hättest die erste Regel des Briefbuchs gebrochen, aber viel fehlt sicher nicht mehr. Dich rettet nur dein Eingeständnis, dass die ganze Geschichte die pure Fantasie ist. Oder, genauer gesagt, eine »Theorie«, das hört sich ein bisschen vornehmer an. Doch egal, ich bin ungeheuer gespannt, was dein Lehrer zu diesem Aufsatz sagen wird. Ich glaube, du solltest froh sein, dass es erst ab der nächsten Klasse Noten gibt.

Das war ein wichtiger Gedanke, Nils. Ich meine, ob Fantasie eigentlich dasselbe ist wie Lüge. Manchmal ist sie das natürlich. Zum Beispiel: Wenn du zu spät zur Schule kommst und dann losplapperst, dass du einer alten Dame helfen musstest, die auf dem Eis ausgerutscht ist und sich den Oberschenkelhals gebrochen hat – dann ist das eine miese Lüge. Denn dann tust du so, als ob du die Wahrheit erzählen würdest, obwohl es sich doch nur um Fantasie handelt. Aber so ist es ja nicht immer.

Wenn Fantasie und Lüge dasselbe sind, dann müssen Schriftsteller doch begeisterte Lügner sein. Ich meine, sie leben davon und die Leute kaufen ihnen ihre Lügen-geschichten bereitwillig ab. Sie treten sogar in Buchclubs ein, um sich die Lügen mit der Post kommen zu lassen.

Ich glaube, dass manche Leute gern lügen, während andere sich gern anlügen lassen. In jeder Gemeinde werden große Häuser gebaut, in denen die Lügen in Reih und Glied in so genannten Bibliotheken gesammelt werden. Wir könnten sie auch als »Lügenlabors« oder etwas Ähnliches bezeichnen. Das Allerbeste wäre vielleicht, Bibliotheken »Aufbewahrungsorte für Jux und Tatsachen« zu nennen. Denn nicht alles, was in Büchern steht, ist ja gelogen. Sogar in ein und demselben Buch können Wahrheit und pure Fantasie nebeneinander stehen. Und dann ist es nicht immer leicht, den Überblick zu behalten. Vieles von dem, was die reine und pure

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Wahrheit ist, ist nämlich ebenso unglaublich wie Lügen und verdammte Dichtung. Hast du zum Beispiel Das Tagebuch der Anne Frank gelesen? Das ist jedenfalls eine unglaubliche Geschichte. Aber sie ist die reine Wahrheit!!! (Believe me!) Und umgekehrt ist es genauso: Manche erfundenen Geschichten sind so alltäglich und langweilig, dass sie allein deshalb wie die Wahrheit aussehen. Aber sie können ebenso erdichtet sein wie wüste Weltraum-geschichten. Ich kenne mich da aus, wir haben nämlich ein saulangweiliges Englischbuch. »Mary is often on vacation in Norway usw.«, aber das ist sie nicht, denn es gibt sie ja gar nicht!

Ich weiß nicht, ob du von Peer Gynt gehört hast. Der hatte jedenfalls eine ziemlich lebhafte Fantasie. Was seiner Mutter nicht passte. »Peer, du lügst«, sagte sie und damit beginnt das Theaterstück. Sie beschimpft ihren Sohn immer wieder als »Lügner« und hat noch schlimmere Namen für ihn, nur, weil er so viel Fantasie hat. Und weißt du, was Peer macht? Er wirft seine Mutter auf das Mühlendach. Und da sitzt sie dann und schreit und zetert, während Peer auf eine Hochzeit geht und sich voll laufen lässt. Das Ganze endet damit, dass er die Braut entführt!!! (Danach geht es natürlich noch weiter, aber wir haben bisher nur den ersten Akt gelesen.)

Doch zurück zu Bibbi Bokken. Auch bei ihr müssen wir versuchen, zwischen Jux und Tatsachen zu unterscheiden. Ich werde es versuchen.

Jux: Bibbi Bokken heißt »eigentlich« Birte Bakken und hat mindestens zwei Morde begangen. Abgesehen davon, dass sie Bergsteigerin, Fallschirmspringerin und Kampf-fliegerin ist, interessiert sie sich vor allem für das Stehlen von Büchern. Sie ändert ihren Namen und zieht nach Fjærland, um weitere schwerwiegende Verbrechen zu

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vertuschen. Ansonsten ist die Polizei in Norwegen so doof, dass sie nicht mal ein Phantombild von ihr zeichnen kann. Aber egal – wen interessiert schon so ein kleiner Mord so dann und wann? (Der Tierarzt aus Ås hatte doch gesehen, dass sie die Mörderin war!)

TATSACHEN: Vor ziemlich kurzer Zeit ist eine seltsame Frau nach Fjærland gezogen, die sich Bibbi Bokken nennt. Sie läuft durch Buchläden und leckt sich die Lippen, weil die Bücher sie an Marzipan und Schokolade erinnern. (Quelle: Nils Bøyum Torgersen.) Sie sponsert außerdem ein Poesiealbum mit dem Bild des Sognefjords auf dem Umschlag mit einem Zehner (Quelle: Nils Bøyum Torgersen.) Sie bekommt einen unvorstellbar geheimnisvollen Brief von einer gewissen Siri. In diesem Brief steht etwas über ein Buch, das erst in einem Jahr erscheinen wird, das in einem Laden in Rom jedoch bereits vorrätig ist. Das Buch handelt vermutlich von einer »magischen Bibliothek« (Quelle: Berit Bøyum.) In den ersten Wochen nach Bibbi Bokkens Eintreffen in Fjærland waren aus ihrem Haus mitten in der Nacht geheimnisvolle Geräusche zu hören (Quelle: Hilde Mauritzen, Tochter des Parlamentsabgeordneten Sverre Mauritzen von den Konservativen.) Ansonsten hat sie gern ein altes Buch in der Handtasche und findet es ungeheuer interessant, was zwei Jugendliche tausend Meter über dem Meeresspiegel in ein Gästebuch schreiben.

Kommst du noch mit, Nils? Natürlich kann auch manches von dem, was unter »Jux« steht, eine Tatsache sein. ABER DAS WISSEN WIR NICHT! Und wenn wir richtige Detektivarbeit leisten wollen, dann müssen wir auf Dingen aufbauen, die wir wissen. Wir dürfen natürlich unsere Fantasie benutzen und verschiedene Theorien aufstellen.

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Aber wir müssen auch versuchen, die auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. (Ich meine, wir müssen echten Spuren folgen, nicht unseren Fantasiespuren. Denn dann landen wir zum Schluss im Traumland – und auf keinen Fall in Fjærland.)

Ich schlage eine dritte Regel für das Briefbuch vor:

3. Regel: Wir müssen alle Informationen über Bibbi Bokken prüfen, ehe wir auf ihnen neue Theorien aufbauen.

Bist du damit einverstanden, Nils? U. A. w. g. – um Antwort wird gebeten!

PS. Jetzt muss ich einfach noch ein paar Wörter über Freud und Leid des Privatlebens schreiben. Inzwischen hat auch hier die Schule wieder angefangen und es wimmelt nur so von kleinen Gören!!! Es ist zum Heulen, aber es gibt hier ganz einfach keine eigene Schule für meine Altersstufe. Ist das nicht nur noch schrecklich? Ich hatte mich so drauf gefreut, erwachsen zu werden und die Schule wechseln zu können. Mein einziger Trost ist, dass ich jetzt dieselbe Klasse besuche wie Leute aus der 8. und 9. Das nennt sich »zusammengefasste Klassenstufen«! Ich werde versuchen müssen, mir bei denen ein paar Freundschaften zu erschleimen. (Ich werde selber oft für eine aus der 9 gehalten, wirklich! Yes, Sir!)

Und jetzt sollte ich vielleicht die einzige Freude erwähnen, die ich hier bisher erlebt habe: Wir haben die Rektorin in Norwegisch! Und das nenne ich Freude? Jetzt hältst du mich sicher für verrückt. Aber die Frau ist einfach super! Sie heißt Asbjørg, hat lange, dunkle Zöpfe und sieht total aus wie eine Indianerin. Weißt du, was wir in der allerersten Norwegischstunde gemacht haben? Richtig! Wir haben das Stück über den Lügenbold

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gelesen, der seine Mutter aufs Mühlendach geworfen hat!

Du musst sofort schreiben. Mach’s gut und alles Gute für deinen Aufsatz.

Grüße von deiner vornehmen Kusine Berita Bø Yum.

Liebe Bø Yum! Pu! Was willst du eigentlich werden, wenn du groß bist?

Detektivin oder Philosophin? Dieser Brief jetzt war ungefähr das Stärkste, was ich je gelesen habe, und danach fühlte ich mich so klein mit Hut. Aber nur im ersten Moment. Dann habe ich nämlich nachgedacht. Was meine Spezialität ist. Ich kann sogar die Stirn runzeln und gleichzeitig mit den Ohren wackeln. Da hast du vielleicht noch etwas zu lernen, Berit. Aber, wie gesagt, ich dachte also so hart nach, wie ich nur konnte, und da kam ich zu der Erkenntnis, dass mit deinen Theorien etwas nicht stimmt. Bitte anschnallen, Bøyum! Hier kommen einige Gedanken von N. B. Torgersen!

TATSACHEN:

Ich habe im Telefonbuch nachgesehen und bei der Bokken AG angerufen. Dort erfuhr ich, dass sie keine Bibbi Bokken kennen. (Quelle: Bokken AG.) Danach habe ich einige »kindische« Theorien aufgestellt und einen Aufsatz über meinen Verdacht geschrieben. (Quelle: Nils Bøyum Torgersens Fantasie.)

Den Aufsatz habe ich Lehrer Bruun gegeben. (Quelle: Nils Bøyum Torgersen. Kann von Lehrer Bruun bestätigt werden.)

Jux (LÜGEN):

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Nils Bøyum Torgersen zieht sich zu viele Videos rein (Quelle: Berit Bøyum, die keine Ahnung hat, wovon sie da redet.) Nils Bøyum Torgersen hat nämlich gar kein Videogerät. (Quelle: Taxifahrer Trygve Torgersen und Kitschromanautorin Ingrid Bøyum.)

Bibbi Bokken läuft durch einen Buchladen in Sogndal und leckt sich die Lippen. (Quelle: Berit Bøyum, nicht Nils Bøyum Torgersen.)

Ich habe sie im Buchladen gesehen und ich habe geschrieben, dass sie sabberte, was etwas ganz anderes ist, als sich die Lippen zu lecken. Es ist irgendwie viel unheimlicher.

Also, nicht Buchregel Nr. 2 vergessen: Es ist verboten zu glauben, dass die Gegenseite lügt.

Regel 3 klingt vernünftig, aber wir müssen auch ein bisschen Fantasie anwenden dürfen. Wenn wir alles Mögliche erst überprüfen müssen, kommen wir keinen Schritt weiter.

Ein Autor namens Tor Åge Bringsværd hat ein Gedicht geschrieben, das kurz und gut ist:

Wer mit beiden Beinen auf dem Erdboden steht, steht still.

Ich finde, das sagt sehr viel über das Dichten und auch über das Lesen. Denn wenn ich ein Buch lese, das mir gefällt, dann scheint das, was ich lese, meine Gedanken aus dem Buch herausfliegen zu lassen. Das Buch besteht gewissermaßen nicht nur aus den Wörtern oder den Bildern auf dem Papier, sondern auch aus allem, was ich mir beim Lesen zusammendichte.

Im Moment lese ich Pu der Bär auf Englisch, um meine Sprachkenntnisse zu erweitern. Es gibt eine Szene, in der

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Klein-Ruh und Tiger auf einen Baum klettern und nicht wissen, wie sie wieder herunterkommen sollen. Tiger behauptet nämlich immer, alles ganz perfekt zu können, auch auf Bäume zu klettern. Aber er hat vergessen, dass er nur aufwärts klettern kann, nicht abwärts. Um ihnen vom Baum herunterzuhelfen, holt Pu die anderen Tiere zu einer Rettungsaktion zusammen.

Christopher Robin zieht seine Jacke aus, damit Klein-Ruh und Tiger sie als Sprungtuch benutzen können. Und dabei schreibt der Autor A. A. Milne über Ferkel und über Christopher Robins Hosenträger.

Ferkel hat Christopher Robins Hosenträger nämlich nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen und sie waren dermaßen blitzblau, dass es das niemals vergessen konnte. Ferkel regt sich schrecklich auf bei der Vorstellung, dass es sie wiedersehen wird. Gleichzeitig ist es schrecklich nervös; denn wenn die Hosenträger doch nicht so blitzblau sind was dann? Wenn sie nur von einem ganz normalen öden Blau sind, wie Ferkel es schon tausendmal gesehen hat? Christopher Robin zieht seine Jacke aus und Ferkel wird ganz schwach vor Glück. Die Hosenträger sind nämlich wirklich so blitzblau wie in seiner Erinnerung und es denkt, was für ein wunderschöner Tag.

Obwohl diese Geschichte von einem Paar Hosenträgern handelt, geht es in ihr eben auch noch um mehr. Ich musste dabei an das Bild eines Segelschiffs denken, das in einem Bauernhaus, wo wir früher einmal Ferien gemacht haben, an der Wand hing. Es war sicher ein ganz normaler Kahn, aber für mich war es das schönste Schiff der Welt. Jeden Abend erzählte meine Mutter mir Geschichten, in denen ich auf diesem Schiff um die Erde und in fremde Länder segelte.

Und dann ist mir noch etwas eingefallen und das hat mit dir zu tun, Berit.

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Weißt du noch, wie wir oben in der Flatbrehütte die Schokolade geteilt haben? Die Sonne strahlte vom Himmel, erinnerst du dich? Und wir waren total kaputt. Und dann haben wir uns die Schokolade in den Mund gestopft und du hast mich angelächelt.

Etwas schien in der Luft zu liegen, in deinem Lächeln, im Geschmack der Schokolade und in der Tatsache, dass wir endlich oben angekommen waren, und das alles ließ den Augenblick einfach fantastisch werden. Und dasselbe Gefühl hatte ich, als ich über Christopher Robins Hosenträger las.

Deshalb lese ich so gern. Ich werde dabei gewissermaßen selber zum Dichter.

Jetzt rede ich reichlich wild drauflos, aber ich habe das Gefühl, dass diese Geschichte von Bibbi Bokken auch meine Fantasie in Schwung gebracht hat, und das ist ein ziemlich schönes Gefühl.

Im nächsten Brief werde ich mich aber auf den Fall Bokken beschränken, das verspreche ich. Doch im Moment ist meine Hand so erschöpft, dass ich nicht mehr schreiben kann. Morgen bekommen wir die Aufsätze zurück. Ich befürchte das Schlimmste.

Viele Grüße, Literaturprofessor Nils B. Torgersen.

PS. Wie traurig, dass du von Zwergen umgeben bist. Aber sei zu den Winzlingen aus der 6 so nett, wie du nur kannst. Sie sind trotz allem doch auch eine Art Menschen. Neue Grüße vom Kleinen Nils, 6 b

PS 2:

Wer ist Anne Frank?

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Lieber kleiner Professor Tiefsinn, 6 b, danke für deinen Brief. Ich muss zugeben, dass ich einer

englischen Ausgabe von Pu der Bär niemals auch nur in die Nähe gekommen bin. Da hat der Kleine aus der 6 mich also gewaltig beeindruckt. Aber du hast schon Recht, dass sich beim Lesen in unseren Köpfen so allerhand abspielt, denn jetzt habe ich das Gefühl, dass auch ich Christopher Robins blitzblaue Hosenträger gesehen habe. Vielleicht sind irgendwo in unserem Gehirn alle Regenbogenfarben gespeichert. Und das gilt sicher auch für alle Gerüche und Geschmäcker. (SAFTIGE BIRNEN, Nils. Oder SAURE JOHANNISBEEREN. Da läuft mir das Wasser im Munde zusammen! Und dann muss doch zwischen den Buchstaben im ABC und unseren Geschmacksnerven irgendeine Verbindung bestehen!)

Ich finde den Satz auch völlig richtig: »Wer mit beiden Beinen auf festem Erdboden steht, steht still.« Abgesehen davon, dass die Erde an sich sich ja dreht. (Irgendwer hat gesagt, die Welt sei eine Bühne. Von mir aus gern, aber es muss eine Drehbühne sein!)

Weil du dieses Winzgedicht von Tor Åge Bringsværd geschickt hast, habe ich in den »Lyriksammlungen« meiner Mutter nach etwas »Kurzem und Gutem« für dich gesucht. Als sie das gesehen hat, hat sie sich so drüber gefreut, dass sie mir einen kompletten Einführungskurs in das Werk eines Dichters namens Jan Erik Vold verpasst hat. (Das ist ihr Lieblingsdichter, verstehst du? Und das war schon mein Leben lang so.) Vielleicht hast du ihn mal im Fernsehen gesehen? Er ist total verrückt und seine Gedichte sind es auch. Er kann ganz lange und komplizierte Gedichte über Alltagskram wie Weißbrotscheiben oder Straßenbahnschienen schreiben. Aber er hat auch winzig kleine Gedichtchen, die auf ihre Weise von der ganzen Welt handeln. Lies mal:

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der Tropfen hängt dort nicht

Was sagst du dazu, Nils? Sicherheitshalber kommt jetzt noch eine zutiefst persönliche Erklärung: Du hast doch sicher schon mal einen Tropfen an einer Regenrinne oder so gesehen. Und da hängt er dann, nicht wahr? Aber noch ehe du ihn genauer betrachten konntest, hängt er nicht mehr da. So ist es nach meiner und nach Jan Erik Volds Ansicht mit allem, denn alles verändert sich die ganze Zeit. Ich finde, dass dieses Gedicht von der ganzen Welt handelt. Aber es besteht nur aus fünf Wörtern!

Jetzt kommt das Wichtigste: Vor wenigen Stunden stand ich mit beiden Beinen auf der Fähre von Balestrand. (Und ich stand dabei nicht still.) Aber ich erzähle die ganze Geschichte, denn vielleicht ist sie SUPERWICHTIG!

Leider muss ich vielleicht mit meiner Zahnklammer anfangen. Keine Mitleidsbekundungen, bitte! Ich erwähne sie nur, weil ich auf der Heimfahrt vom Zahnarzt etwas absolut Wahnwitziges erlebt habe. Rat mal, über wen ich im Café auf der Fähre gestolpert bin! RICHTIG! Da saß Bibbi Bokken, sie beugte sich über ein dickes blaues Buch und nuckelte an einer Stummelpfeife. Ich sage, SIE NUCKELTE AN EINER STUMMELPFEIFE, aber das ist eigentlich gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie plötzlich ein Selbstgespräch anfing. Ich hatte mich ein ziemliches Stück hinter sie gesetzt und ich glaube nicht, dass sie mich gesehen hat. Plötzlich sagte sie:

»Wunderbar! Oh, wie ich Djuih liiiiiiebe!« Ich dachte, mir würden die Ohren vom Kopf fallen, denn

normalerweise halten die Leute doch keine Selbstgespräche, schon gar nicht hier am Sognefjord. Und man redet doch nicht so locker darüber, wen man liebt!

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Aber bald kam noch mehr, und zwar viel Schlimmeres. Sie sagte:.

»Dinosaurier … 567,9. Voll ins Schwarze! Röteln … 618,92. Abermals voll ins Schwarze!«

Gleich darauf drehte sie sich zu mir um, als habe sie Augen im Hinterkopf und wisse, dass ich hinter ihr saß. Sie zeigte auf das dicke Buch, das mindestens so blau war wie Christopher Robins Hosenträger, und sagte:

»Djuih hat nämlich jedem einzelnen kleinen Leckerbissen seinen bestimmten Platz in der Bib-Bib-Bibliothek gegeben.«

(Ich bin ganz sicher, dass sie beim Wort »Bibliothek« ins Stottern geraten ist.)

Ich kann nicht behaupten, dass diese Situation mir gefallen hätte. Ich fand es ganz einfach unangenehm, im selben Boot zu sitzen wie diese Buchfrau. Vielleicht habe ich auch ein wenig an deinen verrückten Schulaufsatz gedacht. Auf jeden Fall habe ich dann die Beine in die Hand genommen und bin aufs Sonnendeck gerannt. Als ich an ihr vorüberjagte, konnte ich noch ein geheimnisvolles Wort aufschnappen, das außen auf dem blauen Buch stand: »Dezimalklassifikation«.

Aber was zum Kuckuck ist eine »Dezimal-klassifikation«? Und wer ist »Djuih«? Das ist eine Herausforderung für dich, Nils. Du wohnst nun mal näher an der Zivilisation als ich. Hier bei uns ist Bibbi Bokken garantiert die Einzige, die sich in irgendeine »Dezimal-klassifikation« vertieft. (Vielleicht bin ich da auf eine wichtige Spur gestoßen, vielleicht auch nicht.)

PS. Anne Frank war ein Mädchen aus einer deutsch-jüdischen Familie. 1933 flohen sie aus Deutschland und ließen sich in Amsterdam nieder. Als die Deutschen dann

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die Niederlande besetzten, wurden auch von dort Juden in die Konzentrationslager verschleppt. (Die Deutschen wollten alle europäischen Juden umbringen. Bei sechs Millionen haben sie es geschafft!) Um ihr Leben zu retten, versteckte sich Anne Franks Familie in einigen kleinen Kammern hinter dem Geschäft, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Dort lebten sie zwei Jahre unentdeckt und Anne vertrieb sich die Zeit unter anderem mit Tagebuch schreiben. Sie träumte von einem Leben als Schrift-stellerin und hoffte, dass ihr Tagebuch nach dem Krieg veröffentlicht werden könnte. Aber dann kam die Katastrophe: Im August 1944 drangen die Nazis in das Versteck ein und Annes ganze Familie wurde in eins dieser grauenhaften KZs in Deutschland gebracht. Dort kam Anne nur zwei Monate vor Kriegsende ums Leben. (Als ich das Buch gelesen habe, war ich einige Male nur noch stocksauer. An anderen Stellen habe ich losgeheult. Jetzt heule ich …)

Zum Glück wurde Annes Tagebuch von ehrlichen Menschen gefunden, die gut darauf aufgepasst haben. Und nach dem Krieg wurde es in fast alle Sprachen der Welt übersetzt. Auf diese Weise ist Anne dann doch noch zur Schriftstellerin geworden. Sie hat eines der berühmtesten Bücher der Welt geschrieben. Aber ihren Ruhm hat sie niemals selber erleben dürfen. Ich könnte dir noch sehr viel mehr erzählen, aber wenn dich dieses Thema interessiert, dann kannst du dir das Buch aus der Bibliothek holen. Trotzdem kommt jetzt eine kleine Kostprobe. Annes Tagebuch geht vom 14. Juni 1942 bis zum 1. August 1944 (also drei Tage, ehe die Nazis das Versteck stürmten). Am 20. Juni 1942 (als sie genau so alt war wie ich jetzt) schrieb sie:

Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl,

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Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, daß ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, daß sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir alles mögliche gründlich von der Seele reden. Papier ist geduldiger als Menschen.

Was sagst du dazu, Nils? Und dann schreibt sie, dass sie keine Freundin hat, mit der sie zusammen sein könnte. Und deshalb soll das Tagebuch jetzt ihre Freundin sein.

Darum dieses Tagebuch. Um nun die Vorstellung der ersehnten Freundin in meiner Phantasie noch zu steigern, will ich nicht einfach Tatsachen in mein Tagebuch schreiben wie alle anderen, sondern ich will dieses Tagebuch die Freundin selbst sein lassen und diese Freundin heißt Kitty.

PPS. Heißt der Bär mit dem geringen Verstand auch auf Englisch Winnie der Pu? Und wie heißt Ferkel?

Viele Grüße

Berit schreibt nicht Liebe Djuih!

Ich

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schreibe jetzt sitze ich im Bett und schreibe

Heute haben wir die Aufsätze zurückbekommen und du hast richtig geraten, unser Lehrer platzte nicht gerade vor Begeisterung. Ganz unten hatte er mit Rot geschrieben:

»Du musst deine Fantasie zügeln, Nils.« Als er mir das Heft gegeben hatte, sagte er, ich sollte nach der Stunde noch einen Moment zu ihm kommen, und in diesem Moment entdeckte ich, dass ich auf einer wichtigen Spur war: Ein blindes Huhn kann nämlich auch mal ein Ei legen! Auch wenn das Huhn den Inhalt des Eis vor dem Legen nicht überprüft hat (hm, hm).

Um ganz sicher zu sein, dass ich jetzt nur TATSACHEN schreibe, habe ich versucht, die Begegnung von Bruun und Bøyum Torgersen so aufzuschreiben, wie sie sich abgespielt hat. Möglicherweise habe ich ein paar Wörter vergessen und schreibe nicht jeden Satz wortwörtlich auf, aber wenn die Atmosphäre und die wichtigsten Informa-tionen stimmen, dann handelt es sich doch trotzdem um TATSACHEN. Ja? Nein? Weiß nicht?

Unterredung zwischen Lehrer Bruun und Schüler Bøyum Torgersen

Schritte. Der letzte Schüler verlässt das Klassenzimmer. Die Tür wird geschlossen. Bøyum Torgersen (ab jetzt »Schüler« genannt) starrt die Tischplatte an. Lehrer Bruun (ab jetzt »Lehrer« genannt) geht langsam auf den Schüler zu. Pause.

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LEHRER: Hmm. (Pause) LEHRER (ernst): Na, Nils? Was sollen wir dazu sagen? SCHÜLER (nervös): Das weiß ich nicht, Herr Bruuns. LEHRER: Siehst du viele Videos? (noch eine Pause) SCHÜLER: Darf ich jetzt gehen, Herr Bruuns? (Schüler

erhebt sich halbwegs.) LEHRER: Moment noch, Nils. (Schüler setzt sich). SCHÜLER: Na gut. LEHRER: Hast du dir schon mal überlegt, dass es

gefährlich ist, Namen zu nennen, wenn man dermaßen blutrünstige Geschichten schreibt wie du? (Schüler wird rot.)

SCHÜLER: Was denn für Namen? LEHRER: Wenn ich eine Erzählung über einen

Massenmörder schriebe und der Nils Bøyum Torgersen hieße, dann würdest du das sicher nicht so komisch finden, oder?

SCHÜLER (leise): Doch. LEHRER: Was hast du gesagt? SCHÜLER: Nichts. LEHRER: Ist dir eigentlich klar, dass es wirklich eine

Bibbi Bokken gibt? (Schüler versucht seine Erregung zu verbergen und so

natürlich zu klingen, wie er nur kann.) SCHÜLER: Ach, wirklich? Das … das wusste ich gar

nicht. LEHRER: Sie ist eine Freundin … eine Bekannte meiner

Frau. SCHÜLER (heiser): Ach, wirklich?

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LEHRER: Ja, sie haben zusammen eine Bibliotheksausbildung gemacht.

SCHÜLER (aufgeregt): Als Bib … Bib … Bib … LEHRER: Ja. SCHÜLER: Zusammen mit Djuih? LEHRER: Wiewas? SCHÜLER: Hat Djuih nicht mit ihnen zusammen

studiert? LEHRER (buchstabiert Dewey ganz langsam). Meinst

du DEWEY? SCHÜLER: Ja, ich glaube, das ist der Name. LEHRER: Dewey hat nicht mit ihnen zusammen

studiert. Er hat ein Katalogisierungssystem für Bibliotheken entwickelt.

SCHÜLER (verwirrt): Ja, ganz richtig. LEHRER (gereizt): Was hat Dewey mit der Sache zu

tun? SCHÜLER (leise): Ja, das möchte ich auch gern wissen. LEHRER: Was hast du gesagt? SCHÜLER (rasch): Nichts. LEHRER: Bleiben wir doch bei deinem Aufsatz. SCHÜLER: Ja. LEHRER: Bist du sicher, dass du keine Bibbi Bokken

kennst? SCHÜLER (langsam): Ja … ich kenne sie nicht. LEHRER: Ja, ja. Nils. Ich wollte mit dir darüber

sprechen, um dir klar zu machen, dass man beim Erwähnen von Namen Vorsicht walten lassen soll. Man weiß nie, wo der Pfeil treffen kann, nicht wahr?

SCHÜLER: Welcher Pfeil?

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LEHRER: Ich wollte nur sagen, dass wir darauf achten müssen, dass wir niemanden verletzen. Stimmst du mir da nicht zu?

SCHÜLER: Doch, Herr Bruun. LEHRER: Vielleicht solltest du dir beim nächsten Mal

ein weniger blutrünstiges Thema aussuchen. SCHÜLER (täuscht Zustimmung vor): Ja, Herr Bruun. LEHRER (lächelt): Und, Nils … SCHÜLER: Ja? LEHRER: Es heißt nicht: Wer wagt, findet. SCHÜLER (verwirrt): Nein? LEHRER: Sondern: Wer wagt, gewinnt. SCHÜLER: Das werde ich mir merken, Herr Bruuns.

(Lehrer klopft Schüler auf die Schulter. Rechts ab. Lehrer merkt nicht, dass Schüler vor Spannung zittert.)

ENDE

Das sind die Tatsachen, Berit! Was sagst du? Langsam fügt sich alles zu einem Bild zusammen, nicht wahr? Bibbi Bokken hat eine Bibliotheksausbildung gemacht. Wie so eine Ausbildung genau aussieht, wissen wir noch nicht. Aber das können und werden wir überprüfen. Fest steht, dass sie eine ganz besondere Beziehung zu Bibliotheken und zu einem System hat, das von einem Kerl namens Dewey stammt. Wenn du dich darüber informierst, werde ich in Bokkens Vergangenheit hier in Oslo graben.

Sag Bescheid, wenn ich mich irre, aber mir scheint, wir stehen jetzt vor zwei Aufgaben:

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Wir versuchen die Wahrheit über die geheimnisvolle Bibbi Bokken zu ergründen.

Wir versuchen ein Buch zu finden, das erst in einem Jahr erscheinen wird.

Was Aufgabe 1 angeht, sind wir durchaus schon ein Stück weit gekommen. Bei Aufgabe 2 dagegen haben wir nicht den geringsten Schimmer.

Aber, Berit: Meine kranke Fantasie sagt mir, wenn wir diese beiden Aufgaben lösen, dann lösen wir zugleich eine dritte, die eigentliche Aufgabe nämlich, von der wir bisher rein gar nichts wissen.

Ich weiß, das klingt ziemlich abenteuerlich, aber abenteuerliche Gedanken haben uns schon einmal auf den richtigen Weg geführt, warum sollten sie das also nicht noch einmal tun?

Grüßchen von Nilschen

PS. Winnie der Pu heißt auf Englisch Winnie the Pooh. Ferkel heiß Piglet. Es ist ein gutes Buch, es ist wirklich einige Stunden deines jungen Lebens wert.

Hochwohlgeborener Nils Bøyum Torgersen,

ich bin beeindruckt. Ist dir überhaupt klar, dass du ein komplettes Schauspiel verfasst hast? Ich denke jetzt natürlich an »Unterredung zwischen Lehrer Bruun und Schüler Bøyum Torgersen«. Guter Titel übrigens! Dein Stück kann zwar vielleicht keinen ganzen Abend in einem Theater füllen, aber ein Sketch ist es auf jeden Fall. Das machst du wirklich gut, Nilschen. Die Frage ist noch, ob du nicht Dramatiker werden solltest, so wie Henrik Ibsen. Ich finde jedenfalls, dass dein Stück ein bisschen

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Ähnlichkeit mit Peer Gynt hat (Nils, du lügst!) – obwohl du deinen Lehrer nicht aufs Pult geworfen hast, als er meinte, du solltest deine Fantasie zügeln. Aber es zittert dennoch vor Spannung. Ich hatte schon Angst, er würde dir am Ende eine scheuern.

Ich bin auch beeindruckt davon, dass dein Aufsatz trotz allem etwas gebracht hat. Doch ich finde, du hast deinen Lehrer zu billig davonkommen lassen. Seine Frau kennt Bibbi Bokken ja schließlich!!!! Ich kann gut verstehen, dass du nicht zugeben wolltest, dass du selber einiges über sie weißt, aber du darfst dich jetzt nicht zufrieden geben. Vorschlag: Wenn du das nächste Mal mit diesem Bruun unter vier Augen redest, wiederhol einfach, dass du Bibbi Bokken nicht kennst … aber dann sag auch, dass du sie gern kennen lernen würdest. Nein, so geht das nicht … du musst sagen, dass du ihr durch Zufall einmal begegnet bist und sie dir so ausgeflippt vorkam, dass du gern mehr über sie wissen möchtest. So geht das! Wenn er dann Fragen stellt, musst du dir etwas aus den Fingern saugen. Aber wenn du eine echte TATSACHENSPUR hast, musst du ihr einfach folgen, bis zu »the bitter end«.

Ansonsten war ich vorhin in der Bibliothek. (Fjærland hat jetzt endlich im Erdgeschoss des Seniorenzentrums eine eigene kleine Bücherei bekommen.) Ich ging also hinein und schaute mir die Regale an. Zuerst hatte ich das schreckliche Gefühl, dass es viel zu viele Bücher gibt, die ich noch nicht gelesen habe. Aber dann überwand ich meine Panik und hatte stattdessen das schöne Gefühl, dass es ungeheuer viele spannende Bücher gibt, die nur darauf warten, von mir gelesen zu werden.

Ich glaube, es hat die Bibliothekarin beeindruckt, dass ich so lange vor den Gedichtbänden stand und in manchen herumblätterte. Was sie nicht wusste, war, dass ich nur in Bücher von Jan Erik Vold reingeguckt habe. Hier kommt

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eine kleine Kostprobe (ich habe schließlich immer Notizbuch und Stift bei mir). Halt dich fest!!!

Über die Kirwlichkeit

Kirwlichkeit sagst du, Kirwlichkeit

ist viel kirwlicher als Wirklichkeit, findest

du nicht? Sicher, das mag wohl so sein, antworte ich, aber

Wirklichkeit ist trotzdem wirklicher, jawohl. Du sagst: Was hilft das

gegen Kirwlichkeit, so kirwlich, wie die ist!

Was sagst du, Nilsi? Das ist doch ein klarer Fall von Aneinander-vorbei-Reden. Aber wenn Wirklichkeit und Kirwlichkeit einander berühren, dann lässt sich das vielleicht nicht vermeiden???

Und wenn Bibbi Bokken nun eine Spionin aus der Kirwlichkeit ist? Und überhaupt: Wenn die Kirwlichkeit in die Wirklichkeit einsickert, dann haben wir wirklich (!) ein Problem.

Aber zurück zur Bibliothek. Nach kurzer Zeit kam die Bibliothekarin zu mir und fragte, ob ich etwas Besonderes suche.

»Eigentlich nicht«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Habt ihr etwas von Djuih?« Sie lächelte viel sagend. Dann zog sie mich zu ihrem

Tisch und nahm ein dickes blaues Buch aus einer

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Schublade. UND ES WAR GENAU DAS GLEICHE BUCH WIE DAS, DAS BIBBI BOKKEN AUF DER FÄHRE BEI SICH HATTE. Und sein Titel lautet: Deweys Dezimalklassifikation.

ZUSAMMENFASSUNG DER HAUPTTABELLE 000 Allgemeine Schriften

010 Bibliografie 020 Bibliothekswesen und Informationswissenschaft 030 Allgemeine Enzyklopädien und Konversationslexika 040 (nicht in Gebrauch) 050 Periodika mit allgemeinem oder vermischtem Inhalt 060 Allgemeine Organisationen und Museumswesen 070 Journalistik, Verlagswesen, Zeitungen 080 Schriften von allgemeinem und vermischtem Inhalt

100 Philosophie und verwandte Fachbereiche 110 Metaphysik 120 Andere metaphysische Theorien 130 Übersinnliche Phänomene und verwandte Themen 140 Besondere philosophische Systeme 150 Psychologie 160 Logik 170 Ethik 180 Antike, mittelalterliche und fernöstliche Philosophie 190 Abendländische Philosophie der neueren Zeit

200 Religion 210 Naturreligionen

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220 Bibel 230 Christliche Theologie Christliche Dogmatik 240 Christliche Ethik und Erbauung Sakrale Kunst 250 Pastoraltheologie und Priesteramt Gemeindeleben 260 Die Kirche, ihr Wesen, ihre Institutionen und ihre

Arbeit 270 Historische und geographische Einteilung der

organisierten christlichen Kirchen (Kirchengeschichte) 280 Christliche Glaubensgemeinschaften und Sekten 290 Andere Religionen, Religionsgeschichte, Ver-

gleichende Religionswissenschaften

300 Gesellschaftswissenschaften 310 Statistik 320 Staatswissenschaften und Politik 330 Sozialökonomie (Volkswirtschaft) 340 Rechtswissenschaften 350 Öffentliche Verwaltung Exekutive Militärwesen 360 Gesellschaftsprobleme und Sozialfürsorge: Vereine 370 Pädagogik 380 Handel, Post und Fernmeldewesen, Verkehrswesen 390 Volkskunde und Ethnographie

400 Sprache und Sprachwissenschaften 410 Linguistik 420 Englisch und angelsächsische Sprachen 430 Germanische Sprachen Deutsch 440 Romanische Sprachen Französisch 450 Italienisch, Rumänisch, Rätoromanisch

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460 Spanisch und Portugiesisch 470 Italische Sprachen Latein 480 Griechische Sprachen 490 Andere Sprachen

500 Naturwissenschaften Mathematik 510 Mathematik 520 Astronomie und verwandte Wissenschaften 530 Physik 540 Chemie und verwandte Wissenschaften 550 Geowissenschaftliche Fächer 560 Paläonthologie 570 Biologische Fächer 580 Botanik 590 Zoologie

600 Angewandte Wissenschaften 610 Medizin 620 Technologie, Technik 630 Landwirtschaft und verwandte Wissenschaften 640 Haushaltsfächer und Familienalltag 650 Verwaltung und allgemeine Betriebsführung 660 Chemische Technologie, chemische Industrie,

Metallurgie 670 Industrie 680 Handwerk und diverse Industrien 690 Hausbau und Bauhandwerk

700 Kunst

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710 Umgebungsplanung und Landschaftsarchitektur 720 Architektur 730 Plastische Kunst: Skulptur 740 Zeichenkunst und Kunsthandwerk 750 Malerkunst 760 Grafische Kunstarten 770 Fotografie 780 Musik 790 Freizeitaktivitäten, Unterhaltung, Spiel und Sport

800 Schöne Literatur 810 Amerikanische Literatur (auf Englisch) 820 Englische und angelsächsische Literatur 830 Literatur der germanischen Sprachen: Deutsche

Literatur 840 Literatur der romanischen Sprachen: Französische

Literatur 850 Italienische, rumänische und rätoromanische

Literatur 860 Spanische und portugiesische Literatur 870 Literatur der italischen Sprachen: Lateinische

Literatur 880 Literatur der griechischen Sprachen: Klassische

griechische Literatur 890 Literatur anderer Sprachen

900 Geografie, Geschichte und deren Hilfswissenschaften 910 Geografie und Reisen 920 Biographie und Genealogie

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930 Antike Geschichte 940 Europäische Geschichte: Westeuropa 950 Geschichte Asiens: Orient, Ferner Osten 960 Geschichte Afrikas 970 Geschichte Nord- und Mittelamerikas 980 Geschichte Südamerikas 990 Geschichte der übrigen Erdteile und der außer-

irdischen Welten Pazifikinseln (Ozeanien) Australien

Dewey, Nils. Das war ein Typ, der irgendwann einmal ein ungeheuer kompliziertes System ausgeheckt hat, nach dem in Bibliotheken die Fachliteratur geordnet werden kann. Es geht darum, dass alle Bücher über bestimmte Themen eine bestimmte Zahl zwischen 0 und 999 bekommen. Dann gibt es Hauptgruppen und Abteilungen, die jedem Buch einen ganz festen Platz zuteilen. Ich bekam eine Liste der Hauptgruppen in Deweys System und die habe ich gerade ins Briefbuch eingeklebt. Aber zwischen diesen vielen Zahlen gibt es eine unendliche Anzahl von Abteilungen mit Kommas und Dezimalpunkten und noch viel schlimmerem Kleinkram. (Dieser Mr. Dewey war garantiert ein Mathefreak.)

Was du hier siehst, ist also nur eine Zusammenfassung. Das ganze komplizierte System füllt also das dicke blaue Buch, für das ich in meinem Regal jedenfalls keinen Platz habe. Aber schau dir mal die allerletzte Hauptgruppe an: 990, Geschichte der übrigen Erdteile und der außerirdischen Welten. Diese Bücher würde ich gern mal sehen. Vielleicht handeln die von Kirwlichkeit?

PS. Wenn du weiter in Bibbi Bokkens Vergangenheit herumwühlst, findest du vielleicht die Stelle, wo der Hund

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begraben liegt. Und pass auf, dass er dich nicht in die Nase beißt. Mehr sage ich nicht.

Viele Grüße, Berit Bib Liothek.

Nils ruft Berit: Das Netz zieht sich zusammen. Es gibt eine magische

Bibliothek. Und sie gehört Bibbi Bokken! Das weiß ich. Ich habe Lehrer Bruun angerufen, um unter vier Augen mit ihm zu sprechen, wie du vorgeschlagen hast, aber nicht er ging ans Telefon, sondern eine Frau.

»Bin ich da bei Bruun?«, fragte ich. »Ja«, sagte die Frau. »Kann ich mit Herrn Bruun sprechen?« »Nein«, sagte die Frau. »Er ist nicht zu Hause. Kann ich

etwas ausrichten?« »Mit wem spreche ich denn?«, fragte ich. »Aslaug Bruun. Ich bin mit Reinert verheiratet.« Einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte,

aber dann ging mir auf, dass ich die Quelle persönlich an der Strippe hatte. Ich zitterte gleich am ganzen Leib, doch ich versuchte so ruhig zu sprechen, wie ich nur konnte.

»Wir beide haben viel zu besprechen, Frau Bruun«, sagte ich eiskalt.

»Haben wir das?« »Jepp«, sagte ich. »Bibbi Bokken zum Beispiel.« »Was?« »Café Skalken heute Nachmittag um sechs. Ich habe

eine Blume im Knopfloch, damit Sie mich erkennen.« Dann legte ich auf. Ich merkte, dass ich rot wurde. Wie

du weißt, bin ich ziemlich schüchtern und versuche nicht oft, das hinter einem »Torgersen extra hart« zu verstecken.

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Und jetzt kam ich mir ziemlich blöd vor, aber zugleich auch wie ein Detektiv. Ich war auf der Spur. Aber würde der Fisch den Köder schlucken? Ich hatte meine Zweifel, aber ich fischte eine verwelkte Rose aus der Vase auf dem Wohnzimmertisch und machte mich auf den Weg zum Café.

Warst du schon mal im Skalken, Berit? Lass es lieber. Es muss eine der verkommensten Kneipen in ganz Europa sein. Ich bereute, dass ich sie ausgesucht hatte, sobald ich die Tür öffnete.

Drinnen war es fast ganz dunkel. Sicher aus Rücksicht auf die Gäste. Bestimmt können nicht viele von ihnen Tageslicht vertragen. Im Skalken gibt es nur drei oder vier Tische, und als ich kam, waren bis auf einen alle frei. Dort saß eine Zeitung. Es sah jedenfalls so aus, denn ich konnte nur die Zeitung sehen und nicht den Menschen dahinter. Das gelang mir erst später. Aber darauf werde ich noch zurückkommen.

In dem Moment kam ich mir nicht gerade wie ein Detektiv vor, sondern eher wie ein Rotzbengel mit einer lächerlichen Blume im Knopfloch. Ich versuchte, ganz unbeschwert auszusehen, und bestellte Zitronenlimonade, aber außer verschiedenen Biersorten gab es nur Malzbier und das finde ich zum Kotzen.

Ich hatte gerade beschlossen, dass Frau Bruun nicht kommen würde, als sie in der Tür stand.

»Hast du angerufen?«, fragte sie. Ich zog mir die Blume aus dem Knopfloch und reichte

sie ihr. »Was soll ich denn damit?« Sie musterte mich leicht überrascht, wirkte zugleich aber

seltsam fröhlich.

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»Ein Geschenk«, murmelte ich. »Zum Dank für Ihre Bemühungen.«

Jetzt lachte sie wirklich. Die Zeitung am Nebentisch raschelte.

»Das war doch keine Mühe. Worüber willst du also reden, mein Junge? Ist Bibbi irgendetwas passiert?«

Sie zwinkerte mir zu. Ich glaube, das gab den Ausschlag. Wenn ich etwas

reichlich satt habe, dann Erwachsene, die »mein Junge« sagen und mir zuzwinkern wie einem Baby.

»Nein«, sagte ich eiskalt. »Ich möchte nur kurz über sie reden.«

Ich nippte an dem lauwarmen Malzbier. »Es geht um die magische Bibliothek.« Sie hätte nicht überraschter aussehen können, wenn ich

behauptet hätte, aus sicherer Quelle zu wissen, dass Bibbi Bokken die Bank von Norwegen überfallen wolle.

»Die magische …« »Bibliothek«, sagte ich ruhig und registrierte, dass hinter

der Zeitung am Nebentisch ein kahler Kopf auftauchte. »Du hast davon gehört?«, fragte sie. »Ja«, sagte ich. »Und wir haben Grund zu der Annahme,

dass das Buch über die Bibliothek im kommenden Jahr erscheinen wird.«

»Wir?« Jetzt hätte ich natürlich sagen müssen, dass mit »wir«

die Angestellten der Detektei Bøyum & Bøyum gemeint seien. Aber ich nickte nur.

»Dann hat sie es also geschafft«, sagte Frau Bruun. »Während des Studiums hat sie immer wieder darüber

geklagt, dass in unseren Bibliotheken eine Abteilung fehlt.

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Und die nannte sie …« »Bibbi Bokkens magische Bibliothek«, flüsterte ich. Frau Bruun nickte.

Mehr konnte ich nicht aus ihr herausholen. Sie erzählte, dass sie Bibbi Bokken seit dem Examen nicht mehr gesehen hatte und dass damals alle sie ein wenig seltsam gefunden hatten. Wenn Bibbi Bokken gefragt wurde, von welcher magischen Bibliothek sie da rede, dann schüttelte sie nur den Kopf und sagte, das würden die anderen schon noch erfahren, wenn die Zeit reif sei. Aber sie habe einen großen Plan und wolle ihn für sich behalten, bis sie ihn in die Tat umsetzen könne.

Dann bezahlte Aslaug Bruun mein Malzbier und sagte, sie werde die Rose Reinert mit einem Gruß von einem feinen Jungen überreichen.

Sie ging und ich saß vor meinem halb vollen Glas. Das Briefbuch hatte ich mitgebracht. Jetzt zog ich es

hervor, um mein Gespräch mit Frau Bruun aufzu-schreiben, solange ich es noch in frischer Erinnerung hatte. Doch dann passierte etwas Seltsames und ziemlich Unheimliches. Der Mann am Nebentisch legte seine Zeitung beiseite und kam zu mir herüber.

Ich merkte, wie ich erstarrte. Der Kellner war in die Küche gegangen und ich war mit dem glatzköpfigen Mann allein im Lokal. Er beugte sich zu mir vor und, Berit, er lächelte. Aber es war kein freundliches Lächeln, es war eher so, als ob er die Mundwinkel nach oben gezogen hätte, um seine Zähne zu zeigen. Plötzlich hielt er mir ein Video mit dem Bild eines blutenden, von einem Messer durchstochenen Buches hin und sagte mit sanfter Stimme, die freundlich klingen sollte, ohne es zu schaffen:

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»Würdest du wohl dein Buch gegen dieses Video eintauschen?«

»Video …«, flüsterte ich heiser. »Ja, ›The Phantom of the Library‹. Das gefällt dir

bestimmt.« Aber jetzt reichte es mir, Berit. Ich stürzte aus dem Café Skalken und nahm die Beine in

die Hand. Ich rannte vorbei am Frognerpark, über die Majorstukreuzung, durch Bogstadvei und Vibes gate und dann nach Hause.

Ich weiß nicht, ob der lächelnde Glatzkopf mir gefolgt ist, aber er hat auf jeden Fall alles gehört, worüber Aslaug Bruun und ich gesprochen haben, und aus irgendeinem Grund wollte er unbedingt unser Briefbuch lesen.

Das ist ein Mysterium, und zwar ein reichlich unheimliches. Ich werde erleichtert aufatmen, wenn ich das Buch morgen abgeschickt habe.

Doch jetzt wissen wir, dass Bibbi Bokken schon während ihres Studiums von einer magischen Bibliothek geträumt hat.

Wir können fast annehmen, dass sie wirklich eine eingerichtet hat, und eins glaube ich sicher, Berit:

Wenn wir diese Bibliothek finden, dann können wir auch die Sache mit dem noch nicht veröffentlichten Buch klären.

Aber wo sollen wir suchen? Dieses Problem überlasse ich dir. Jetzt muss ich schlafen. Ich werde von einem blanken Schädel und einem schleimigen Lächeln träumen.

Viele Grüße, Hauptkommissar Torgersen

Hauptkommissar Torgersen, Buchüberwachung Bøyum & Bøyum!

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Ich bin geschockt! Da findet eine gewisse »Siri« in Rom ein Buch, dessen Titel etwas mit »magischer Bibliothek« zu tun hat. Das Problem ist nur, dass in dem Buch steht, dass es erst im kommenden Jahr erscheinen wird. Und dann hat Hauptkommissar Torgersen die Frechheit anzunehmen, dass diese »magische Bibliothek« – über die ein Buch geschrieben werden wird – Bibbi Bokken gehört. Er liefert einen miesen Aufsatz ab, was ihn zu einer gewissen Aslaug Bruun führt – und die kann bestätigen, dass Bibbi Bokken einen »großen Plan« gehegt hat, eben den einer magischen Bibliothek.

Voll ins Schwarze! Aber etwas hier ergibt keinen Sinn. Warum ist Siri denn

nicht auf die Idee gekommen, dass die magische Bibliothek etwas mit Bibbi Bokken zu tun haben könnte? Und wenn das Buch, das sie in der Hand gehalten hat, wirklich Bibbi Bokkens magische Bibliothek hieß, warum hat sie sich diesen Titel nicht merken können? Das kann doch nicht sein, Nils. Vielleicht hat Aslaug Bruun dir nur nach dem Mund geredet. Vielleicht hat sie dich für verrückt gehalten? Auf jeden Fall muss sie deinen schwachsinnigen Aufsatz gelesen haben, sonst hätte sie sich doch niemals mit dir im Café Skalken getroffen.

Wegen des unheimlichen »Smiley« brauchst du dir keine Gedanken zu machen, glaube ich. (Es ist doch bekannt, dass du bei helllichtem Tag Gespenster siehst.) Aber ich gebe zu, es war schon komisch, dass er das Briefbuch gegen ein Video tauschen wollte. Was wollte er bloß damit? Und ich bin sehr froh, dass du abgelehnt hast.

Und jetzt zu uns hier in der Ferne. Also … ich wage kaum, es zuzugeben, aber ich benutze jetzt Lippenstift.

Nur, damit du siehst, welche Farbe ich nehme, gebe ich dem Briefbuch einen kleinen KUSS:

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Was sagst du? Wenn du meinst, das mit dem Lippenstift hätte nichts

mit Bøyum & Bøyum zu tun, dann irrst du dich. Ich habe nämlich jetzt hier eine Art Freundin. Sie heißt Randi Mundal und geht in meine Klasse und ich bin nicht sicher, ob ich das auch ohne Lippenstift geschafft hätte. Randi wohnt im oberen Mundal und ist Bibbi Bokkens nächste Nachbarin. Das heißt nicht, dass sie dicht beieinander wohnen, denn hier bei uns gibt es für alle Platz genug. (Bibbi Bokken hat natürlich außerdem dafür gesorgt, dass sie »ungeniert« wohnen kann, wie man sagt.) Aber Randi hat immerhin genug von ihr gesehen, um zu wissen, dass sie knatschverrückt ist. Und Hauptkommissar Torgersen, merk dir Folgendes, ehe du wieder in den Busch gehst: Mehrmals hat Bibbi Bokken, wenn sie mit der letzten Fähre hier angekommen ist, einen schweren Koffer zu ihrem gelben Haus hochgeschleppt. Das Blöde an Koffern ist nun aber, dass wir nicht sehen können, was drinsteckt. Doch manchmal hat die Frau sich auch mit einem Netz zufrieden gegeben und Randi Mundal hat mehrere Male gesehen, dass diese Netze voll gestopft waren mit – na, eben mit Büchern! Sie ist also vielleicht eine Leseratte, die irgendwann einmal eine Million Kronen gewonnen hat und davon nun Lesestoff kauft. Aber sie schleppt nicht nur neue Bücher mit sich herum, verstehst du. Manche von ihnen sind uralt. (Wer weiß, ob es sich dabei nicht um echte Inkunabeln handelt?) Auf jeden Fall sieht es so aus,

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als ob sie sich eine richtige Bibliothek einrichtet. Gestern war ich zum ersten Mal zu Besuch bei Randi.

Und auf dem Heimweg begegnete mir natürlich Bibbi Bokken, die von der Fähre kam. In der Hand trug sie tatsächlich ein voll gestopftes Netz. ABER: In dem Netz steckten nur dicke Schreibhefte, wie wir sie in der Schule benutzen!!! (Noch nicht erschienene Bücher? Ich frage ja nur!)

Weißt du, was sie bei dieser Begegnung zu mir gesagt hat?

»Na?«, sagte sie und musterte mich forschend. »Wie geht’s euch denn?«

»Euch«? Wem denn genau? Und wieso wollte sie wissen, wie es uns geht? Meinte sie Randi und mich? Oder dachte sie an Bøyum & Bøyum?

Vielleicht dachte sie an das Briefbuch, Nils! Vielleicht wusste sie, dass du es gekauft hast, damit wir uns gegenseitig schreiben können. Aber woher konnte sie das wissen? Sie ist doch wohl keine Hellseherin?

»Ach, es geht so«, sagte ich und mehr wurde nicht geredet.

Aber das ist noch nicht alles. Das Allerbeste habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben:

DIE FRAU VERFÜGT ÜBER INTERNATIONALE KONTAKTE! Jetzt weißt du das! Aber da wir ja schließlich »Quellenforschung« betreiben, erzähle ich die ganze Geschichte.

Eine von denen, denen das Hotel gehört, heißt Billie und ist eigentlich Engländerin. (Das war die Frau, die vorgeschlagen hat, wir sollten uns in einem Briefbuch schreiben, das wir zwischen Oslo und Fjærland hin- und herschicken, kannst du dich jetzt an sie erinnern?) Ich

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kenne ihren Nachnamen nicht, deshalb nenne ich sie einfach immer Billie Holiday. (Beim ersten Mal hat sie gelacht, aber jetzt hat sie sich offenbar dran gewöhnt.) Nette Frau, hält gern ein Schwätzchen mit Zugezogenen, vor allem, wenn meine Mutter in der Küche steht und sechs Tage in der Woche viergängige Menüs kochen muss. Und also habe ich ziemlich diskret (das heißt doch so?) gefragt, ob sie weiß, welchen Beruf die Frau aus dem gelben Haus da oben hätte. Und weißt du, was sie geantwortet hat? Ich kann dir kein ganzes Schauspiel liefern, aber doch immerhin einen kleinen Monolog:

BILLIE HOLIDAY (in wildem Tempo mit freundlichem Lächeln): Das habe ich mich auch schon gefragt. Sie bekommt jedenfalls jede Menge Post. Pakete und Sendungen aus allen Winkeln der Welt. Ich glaube, das sind alles Bücher, Berit. Ich habe mir ihre Post einige Male in aller Heimlichkeit angesehen, verstehst du. Gestern bekam sie ein Paket aus Italien und von dort kriegt sie sehr viele. Der Absender heißt Bresani …

Was glaubst du, Nils? Als Hotelbetreiberin hat Billie Holiday natürlich mit dem Postamt viel zu tun und dieses Amt ist ja Bibbi Bokkens Fenster zur Welt. Ich glaube, sie sitzt oben in Mundal und schreibt Briefe an geheimnisvolle Antiquare in aller Welt.

Und deshalb wiederhole ich meine Frage: Was treibt diese Frau eigentlich an einem engen Fjordausläufer in Westnorwegen? Vielleicht ist hier die Rede vom allerabgelegensten Flecken in der ganzen Galaxis? Und vielleicht gerade deshalb …

Als ich deinen letzten Brief gelesen hatte, kam mir alles nur noch geheimnisvoller vor. Wenn ich mich getraut

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hätte, hätte ich mir ihr Haus vielleicht näher ansehen sollen. Aber bis auf weiteres können wir ja davon ausgehen, dass es dort von Büchern nur so wimmelt.

PS. Am Wochenende fahre ich zu meinem Vater nach Bergen. (Ich allein, wohlgemerkt. Ich glaube, meine Mutter und er können sich im Moment beide nicht riechen.) Und da ist mir eine Idee gekommen, die vielleicht nicht ganz dumm ist. Ja, verflixt. Das ist mir jetzt eingefallen. (Beim Schreiben kommen mir immer gute Ideen.)

Mein Vater ist in die Poms gate gezogen und protzt damit, dass gleich nebenan der berühmte Krimi-Autor Gunnar Staalesen wohnt. Und wir versuchen doch eine Art Kriminalgeschichte aufzuklären, und deshalb sind wir eine Art Detektive. Aber darüber wollte ich mit diesem Schriftsteller nun nicht gerade sprechen. Ich dachte nur, wenn wirklich im nächsten Jahr ein Buch über eine »magische Bibliothek« erscheint, dann muss doch auch irgendwo und in diesem Moment irgendjemand an diesem Buch schreiben. DENN EIN BUCH SCHREIBT SICH NICHT SELBER!!! Ich meine natürlich nicht, dass es von Gunnar Staalesen geschrieben wird, aber es ist doch nicht ganz unvorstellbar, dass Schriftsteller miteinander über die Bücher reden, an denen sie gerade arbeiten? Es gibt doch Schriftstellerverbände und so was …

Jetzt musst du ganz offen deine Meinung sagen, Nils! Wenn du sofort antwortest, ist das Briefbuch vielleicht schon wieder bei mir, bevor ich nach Bergen in See steche.

PPS. Apropos Gunnar Staalesen. Hast du seine beiden Bücher über den Wikingerschatz gelesen? (Das Geheimnis

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des Wikingerschatzes und Der Fluch des Wikinger-schatzes.) Ich kenne nur das erste. Das war so eine richtige Räubergeschichte im besten Indiana-Jones-Stil. Mit anderen Worten, etwas für dich – der sich im Café Skalken von einem glatzköpfigen Biertrinker bedroht fühlt.

Viele Grüße von der halben Bøyum & Bøyum.

Liebe Berit Lippum Røt!

Halt dich fest, Kusinchen: Am Freitag verreise ich! Frage: Wohin? Antwort: Nach Rom. Frage: Du fährst

nach Rom? Antwort: Ja. Frage: Wieso denn? Antwort: WEIL MEINE MUTTER BEI EINEM PREIS-

AUSSCHREIBEN UM DIE BESTE GESCHICHTE ZUM THEMA »DIE STADT MEINER JUGENDLIEBE« GEWONNEN HAT!

Weißt du noch, dass ich ihr eine Inspiration gegeben habe, als ich sie nach der Piazza Navona fragen wollte? (Vgl. Briefbuch S. 17)

Diese Inspiration hat sie zu einer Geschichte verarbeitet, die sie dann bei dem Wettbewerb eingereicht hat.

Der erste Preis war eine Reise in die Stadt, in der die Gewinnerin ihre erste Liebe erlebt hat, und meine Mutter hat darüber geschrieben, wie sie meinen Vater getroffen hat … rat mal, wo … auf der Piazza Navona!

Hörst du die Glöckchen bimmeln, Berit? B. B. erhält geheimnisvolle Buchpakete (?) aus Italien. Das geheimnis-volle Antiquariat, über das Siri schreibt, liegt in Rom.

Besteht hier ein Zusammenhang? Vielleicht kann ich dieses Rätsel in fünf Tagen lösen, wenn Mutter, Vater und Detektiv N. B. Torgersen in Rom eintreffen.

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Ich verspreche dir, dass ich dieses Antiquariat finden werde, und wenn ich jede Straße und jede Gasse um die Piazza Navona durchkämmen muss. Verlass dich auf mich!

Aber zurück zur Geschichte meiner Mutter, die schrecklich romantisch und glatt gelogen war. Meine Eltern waren beide noch nie in Rom. Sie haben sich im Taxi Nr. AB 604 von Grünerløkka nach Majorstua kennen gelernt. Ihre Geschichte ist also eine Lüge, und zwar eine richtige Lüge, denn sie gibt sie ja als Wahrheit aus und kassiert noch dazu einen Preis, weil die Leute von der Illustrierten sie auch für die Wahrheit halten. Aber vielleicht tun sie das gar nicht und geben ihr den Preis nur, weil sie glauben, dass die Leute, die die Geschichte später lesen, sie für wahr halten werden. Und wenn das stimmt, dann lügt nicht nur meine Mutter, sondern auch die Leute lügen, die die Geschichte drucken, und wenn die, die sie lesen, sie für wahr halten, werden sie betrogen, aber wenn es denen egal ist, ob sie wahr ist oder nicht, was sind sie dann? Kannst du mir das verraten? Ich weiß es nämlich nicht.

Doch jetzt ist nicht der richtige Moment für tiefsinnige Literaturtheorien. Halt dich an den Fall Bokken, Torgersen.

Liebe Berit mit dem roten Mund,

ich habe einen Vorschlag: Während ich in Rom nach dem Buch über die magische

Bibliothek fahnde, könntest du vielleicht nach der Bibliothek suchen, von der das Buch handelt. Aber ich fürchte, dass du dann eine »Begegnung der dritten Art« mit Frau Bokken nicht mehr vermeiden kannst. Stichwort: DAS GELBE HAUS! Du könntest zum Beispiel …

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Nein, vergiss es. Das wäre zu gefährlich. Lass es. Das ist nicht der richtige Auftrag für ein Mädchen. Auch wenn der Schlüssel zum Haus vielleicht der Schlüssel zu dem gesamten Mysterium ist.

Nein, halt dich bedeckt, bis ich zurückkomme, aber wenn du in Bergen Gunnar Staalesen triffst, dann grüß ihn von mir. Ich werde in Rom bei Henrik Ibsen anrufen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass er dort gewesen ist. Vielleicht ist er ja noch immer da. Wer weiß.

Il Nilso

PS. Wenn du aus irgendeinem Grund und obwohl ich dich gewarnt habe, doch in die Nähe von B. B. geraten solltest, dann halte Ausschau nach frisch gezimmerten Bücherregalen. Verstehst du?

PS 2: Ich lege eine Kopie von Mamas Geschichte bei, damit du siehst, wie leicht es ist, sich eine Auslandsreise zu erschleichen.

PS 3: Ich schicke auch ein Bild, das die Illustrierte von der ganzen Familie gemacht hat, dann kannst du sehen, wie viel ich seit dem Sommer gewachsen bin.

PS 4: Tausend Dank für den hervorragenden KUSS. Der macht in unserem Briefbuch wirklich was her.

DIE STADT MEINER JUGENDLIEBE

Erinnerst du dich an Rom, mein Geliebter? An Petersdom, Kolosseum, Pantheon, die Spanische Treppe und die Piazza Navona? Oder hast du alles vergessen? Ist unsere Liebe vergilbt, wie Fotos in einem alten Album? Siehst du

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Farben und Licht aus unserer Jugend nicht mehr, als die Liebe wie eine frische rote Rose aussah und das Leben kein Ende zu haben schien?

Ich sehe dich an, mein Geliebter, wie du da in deinem Schaukelstuhl sitzt, dein Blick geht ins Leere, du schaukelst vorsichtig hin und her wie ein Boot, das auf dem Fluss des Lebens auf das offene Meer zuhält. Ich sehe die blauen Adern in deinen Händen, die tiefen Furchen in deiner Stirn und deine goldgelben Haare, die zu Silber geworden sind. Ja, Gabriel, die Mittagshöhe unseres Lebens liegt schon längst hinter uns. Du bist fünfundachtzig, ich dreiundachtzig. Und dennoch, wenn die Sonne durch das Fenster scheint, so wie jetzt, und wenn ich die Umrisse deines Gesichts vor einem Hintergrund aus blühenden Apfelbäumen und blitzblauem Himmel sehe, dann scheinen deine Runzeln sich zu glätten und deine Haare nehmen die Farbe der goldenen Sonnenstrahlen an. Und dann sehe ich im Schaukelstuhl noch einmal meinen jungen Geliebten. Ich spüre, wie mich Gefühle aus dem seltsamen Raum zwischen Trauer und Freude erfüllen, und durch das Kaleidoskop der Tränen sehe ich Bilder jenes Tages, des Tages, des Tages …

»Verflixt«, sagte ich und betrachtete den zerrissenen Riemen. Und das ausgerechnet auf der Piazza Navona in Rom. Umgeben von Italienern, Engländern, Dänen und Gott weiß wem noch. Da stand ich nun ohne eine Lira in der Tasche und mit einer ruinierten Sandale in der Hand. Der dicke Deutsche hatte den Riemen mittendurch gerissen, als er mir auf den Fuß getreten war.

»Entschuldigung«, hatte er gesagt. Aber er hatte gut reden. Es war ja nicht seine Sandale. Und er war auch keine einundzwanzigjährige arme norwegische Kunst-studentin, die ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht hatte, um nach Rom fahren und in der Sixtinischen

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Kapelle Michelangelos fantastische Deckenmalereien bewundern zu können.

»Verflixt«, sagte ich ärgerlich noch einmal. Der Tag war ruiniert. Da konnte ich auch gleich nach Hause gehen, in die billige Herberge, in der ich für zwei Tage im Voraus bezahlt hatte.

»Verflixt! Verflixt! Verflixt!« »Haben Sie Probleme, junge Frau?« Die tiefe, sinnliche und ein wenig neckende Stimme ließ

mich herumwirbeln. Und da standst du. Das wusste ich damals natürlich

noch nicht, auch wenn mein Herz es vielleicht wusste. Denn das Herz hat seine eigene Weisheit und versteht das, was das Gehirn nicht erfassen kann.

»Ach nein, nichts«, sagte ich leicht verwirrt. Meine Stimme klang sicher noch immer gereizt. Ich hielt mir die Hand an die Stirn, denn du hattest die Sonne im Rücken.

»Sind Sie geblendet von meiner nordischen Schönheit?« sagtest du.

Ich musste lachen. »Eher wohl von der Sonne hinter Ihnen«, erwiderte ich. »Das ist nicht die Sonne. Das ist mein Heiligenschein.« Ich suchte nach einer beißenden, witzigen Antwort. Aber

du kamst mir zuvor. »Sie haben Probleme mit Ihrer Sandale, will mir

scheinen?« »Ja«, sagte ich. »Der Riemen ist gerissen.« Und du bücktest dich. Der Wind spielte in deinen

Haaren, als du zu meinen Füßen auf der Piazza Navona auf den Knien lagst.

Erinnerst du dich, Gabriel – oder hast du es vergessen?

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Ein barfüßiges Mädchen im Café Greco und danach auf dem Corso Vittorio Emanuele, auf der Tiberbrücke, beim Petersplatz. Erinnerst du dich an das Schuhgeschäft und den kleinen Fuß, der sich in eine nagelneue italienische Sandale hineinstahl, während du meine schwachen Proteste lachend abwehrtest? Erinnerst du dich an den KUSS? An den ersten? An den Abend, an dem wir unsere Münzen in die Fontana di Trevi warfen, mit dem Wunsch, einmal hierhin zurückzukehren? Erinnerst du dich an den Ring, den du im Kellerladen gekauft hast? An die lange Wanderung zum Hotel Siena, wo unser kleiner Herzensbrecher gezeugt wurde?

Ich sehe dich an, Gabriel. Deine Augen sind geschlossen. Du atmest regelmäßig. Ein kleines Lächeln umspielt deine Lippen und in meinem Herzen weiß ich, dass auch du dich nach Rom zurückträumst. In die Stadt unserer Jugendliebe.

Such dir einen einfachen und gut bezahlten Beruf. Werde Schriftstellerin.

Grüße von deinem kleinen Herzensbrecher.

Lieber Il Nilso Pava Rotti! Du Ratte! Da schreibe ich ein wenig stolz, dass ich allein

nach Bergen zu meinem Vater fahren – und vielleicht sogar ein vertrauliches Gespräch über den Gartenzaun mit dem überaus berühmten Kriminalschriftsteller Gunnar Staalesen führen werde. Und dann rührt Tante Ingrid eine richtige Kitschsuppe mit Rosinen zusammen und verschafft dir damit ein Gratiswochenende in Rom! Ich glaube, Alf Prøysen hat sich geirrt, als er das Lied über den verwöhnten Vetter in Gjøvik geschrieben hat. Ich glaube, die Vettern in Oslo sind noch viel verwöhnter.

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Und als Pflaster auf die Wunde werde ich fast dazu gezwungen, im oberen Mundal mein Leben aufs Spiel zu setzen, während du in irgendeinem Ristorante sitzt und Spaghetti schlürfst. Denn damit das sofort gesagt ist: ICH WAR DA!

Nur Geduld, ich erzähle ja alles. Ich beschloss als Allererstes, mir von einem jungen

Typen, der einen kräftigen Pubertätsschock erleidet, bloß weil seine Kusine jetzt Lippenstift nimmt (»Liebe Berit Lippum Røt«), keine Befehle erteilen zu lassen. Und dann schaute ich im Hotel Mundal vorbei, um in der Küche eine Frikadelle zu schnorren.

Und da passierte es dann. Ich entdeckte Bibbi Bokken, die gerade aus Mundal herunterkam. Mein einziger klarer Gedanke war, dass ich am nächsten Morgen nach Bergen fahren würde und dass es überhaupt nicht lustig wäre, das ganze Wochenende über ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich mich nicht getraut hatte, Frau Buch einen kleinen Besuch abzustatten. Ich dachte sicher auch, es wäre gar nicht schlecht, in den Ermittlungen einen kleinen Schritt weiterzukommen, ehe ich mich in Bergen mit dem bekannten Krimiautor traf …

Ich vergaß die Frikadelle und rannte zu dem gelben Haus hoch. Bibbi Bokken hatte unten schon die Hauptstraße erreicht. Das bloße Wissen, dass die Luft rein war, machte mich verrückt. Sie lebt doch allein, dachte ich …

Wieder ließ ich mich hinter die Mauer fallen (denn die Engel im Himmel sollten mich nicht sehen), dann schlich ich mich ins Haus. Vorsichtig fasste ich nach der Klinke – und die Tür war offen! Aber so seltsam war das vielleicht auch wieder nicht, denn viele hier in Fjærland schließen ihre Türen nicht ab. Doch die haben ja auch nicht viel zu verbergen …

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Ich schaute mich um und ging hinein, Nils. Und erst jetzt drehte ich wirklich durch: Ich glaube, ich bildete mir ein, dass Bibbi Bokken das Land verlassen wollte – so wie Herr Nils – und dass sie erst in einigen Tage zurückkehren würde. ALSO GING ICH HINEIN!

Ich betrat einen Flur, in dem in einer Ecke eine Menge Altpapier herumlag. Von dort aus schaute ich in die Küche, die deutlich verriet, dass Bibbi Bokken wohl kaum eine Haushaltshilfe eingestellt haben kann. Ich öffnete eine Tür, die in ein kleines Wohnzimmer führte.

Du bist jetzt sicher neugierig? Das war ich auch … Ich hatte mir ein dermaßen mit Büchern voll gestopftes

Zimmer vorgestellt, dass es mir den Atem verschlagen würde. Aber weißt du, was ich fand? Nicht ein einziges Buch, ja, nicht einmal eine Illustrierte.

Ich war so enttäuscht und zugleich so böse, dass ich das Haus wie wild durchsuchte, so wie ein schlampiger Ermittler, der es nicht einmal geschafft hat, sich einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen. Ich rannte von einem Zimmer zum andern – und dann hinauf in den ersten Stock. Und behaupte bloß nicht, ich hätte mich nicht sorgfältig genug umgesehen. Ich sah ein ungemachtes Bett mit rosa Bettzeug (!), ein Nachthemd von der allerleichtesten Sorte, einen himmelblauen Morgenrock und einen komischen Radiowecker. Das war Bibbi Bokkens Schlafzimmer. Im Badezimmer lag alles, was du dir an Cremes und Kosmetika überhaupt nur vorstellen kannst, die Badewanne war mit lauwarmem Badewasser gefüllt (!). Und fast in allen Zimmern standen Aschen-becher mit stinkenden Pfeifen.

ABER ICH FAND KEIN EINZIGES BUCH! Und das fiel mir natürlich am allermeisten auf. Sie ist nicht einmal Mitglied in irgendeinem Buchclub. Sie besitzt auch kein

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Lexikon, keine Bibel und kein Gesangbuch. Am Ende war ich so enttäuscht, dass ich sogar Schubladen und Schränke durchwühlte. (Vorsichtig, Nils. Du weißt, dass ich so etwas immer sehr behutsam mache.) Aber ich fand nicht einmal ein Notizbuch. Mir war richtig schwindlig, als ich mich die Treppe hinunterschlich.

Erst, als ich dann im Wohnzimmer stand, kam ich wieder zu mir. Aber nun war es zu spät. Durch das Fenster sah ich Bibbi Bokken auf das Haus zukommen. In der einen Hand trug sie eine Plastiktüte mit Lebensmitteln. In der anderen ein Postpaket.

Ich wusste, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab, und in einem solchen Moment schreit man entweder los – oder man hält Ausschau nach einem passenden Versteck. Ich entschied mich für Letzteres, denn Schreien hätte gewissermaßen keinen Sinn gehabt. Ich verkroch mich hinter einem altmodischen hohen Sofa und presste mich an die Wand. UND DANN BETRAT BIBBI BOKKEN DAS ZIMMER! Ich war im Grunde gefangen. Ich hatte mich selber eingesperrt – und musste mir jetzt strengstens das Atmen verbieten.

Bibbi Bokken kam ins Zimmer und legte das Paket auf den Wohnzimmertisch. Ich konnte natürlich nichts sehen, aber ich hörte, wie sie in einem irren Tempo das Papier abriss.

»Prachtvoll«, sagte sie vor sich hin. »Göttlich.« Eine Weile danach hörte ich, dass sie ging, und dann war

alles ganz still. Einige Minuten später hörte ich aus dem ersten Stock Schritte.

Rat mal, was ich dann gemacht habe? Richtig! Ich kroch hinter dem Sofa hervor und stand auf. Auf dem Esstisch lagen einige dicke Bücher, die sie eben erst aus vielen Lagen Packpapier ausgewickelt hatte. Doch ich nahm mir

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nicht die Zeit, sie mir näher anzusehen, ich nahm mir nicht einmal die Zeit, mir den Staub von den Kleidern zu wischen. Ich schlich mich auf den Flur und griff zur Klinke der Haustür. Und dann stand ich draußen auf dem Kiesweg …

Jetzt bist du vielleicht erleichtert? Das war ich auch! Aber noch war ich ja nicht zu Hause bei meiner Mama.

Als Allererstes musste ich mich unbemerkt von dem Haus entfernen – und das wagte ich nicht, Nils. Meine Knie zitterten dermaßen, dass ich sie einfach nicht bewegen konnte, sie waren wie aus Gelee. Und außerdem musste ich erst einmal tief durchatmen, um wieder Luft zu kriegen.

Und dann hörte ich hinter der Haustür ihre Schritte. Kannst du dir denken, was ich da gemacht habe? ICH HABE GEKLINGELT!

Das wirst du vielleicht niemals verstehen und vielleicht liegt es daran, dass du ein Junge bist. Ich hatte solche Angst, dass ich einfach nicht wagte loszurennen. Einfach abzuhauen wäre im Grunde das Geständnis gewesen, dass ich eine Einbrecherin war. Aber ich konnte doch auch nicht einfach stehen bleiben. Also klingelte ich an der Tür.

Sie machte sofort auf – und stand vor mir und maß mich mit einem unbeschreiblichen Blick. Dann sagte sie:

»Ach was, du bist’s?« Sie sah ungeheuer überrascht aus, aber ich habe den

Verdacht, dass sie das im Grunde gar nicht war. Ich trat von einem Fuß auf den andern. »Ich wollte nur …« »Ja, was wolltest du, Berit?« Berit! Sie hatte sich also unsere Namen gemerkt, als wir

uns ins Gästebuch der Flatbrehütte eintrugen. Ich glaube,

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dass sie uns auf irgendeine Weise im Auge behält. Wer beschattet hier wen?, meine ich. You see? Trotzdem fand ich es komisch, dass sie mich so einfach beim Namen nannte.

»Ich wollte nur fragen, ob Sie ein Los kaufen möchten«, sagte ich.

Sie antwortete ziemlich kurz: »Na ja – aber wofür wird die Lotterie veranstaltet?« Ich musste mir einfach eine Antwort aus den Fingern

saugen. »Für die Schulbibliothek«, murmelte ich. Und jetzt strahlte sie. »Was du nicht sagst, sieh an. Und die Preise?« »Das sind natürlich Bücher!« (Was hätte ich denn sonst sagen sollen?) Jetzt schnalzte sie zweimal mit der Zunge und leckte

sich ein- oder zweimal die Lippen. »Wunderbaaaarrrr«, sagte sie. Sie trat einen Schritt auf mich zu. Und dann sagte sie in

einem ein wenig bedrohlichen Tonfall: »Ich will alle Lose. Allesamt, ja. Ha, ha.« Sie hatte eine Hand ausgestreckt. Aber ich konnte nur

noch glotzen. Ich hatte ja schließlich keine Lose. ICH HATTE KEINE LOSE! Und weißt du was, Nils,

gerade in dem Moment habe ich dich gehasst. Ich sah vor mir einen kleinen Rotzbengel, der zusammen mit Mama und Papa in Roma Spaghetti spachtelt, und ich glaube, ich hoffte, dass irgendein Mafioso in der Spaghettischüssel eine Bombe untergebracht hatte.

Zuerst fasste ich mir in die Hosentaschen, dann streckte ich beide Hände aus. Ich sagte:

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»Oje … die habe ich ja ganz vergessen.« Frau Buch lächelte so süß wie eine böse Märchen-

königin. Sie sagte: »Ach, das hast du also. Schnell gedacht und schnell

vergessen …« Und dann habe ich es gesagt, Nils. »Ich dachte, ich hätte sie in der Tasche … aber vielleicht

hat Nils sie mitgenommen.« Sie schaute mir in die Augen. Wenn sie noch eine

Sekunde weitergemacht hätte, dann hätte sie wahrscheinlich ein Loch in mich hineingestarrt.

»Und jetzt sind die Lose also unterwegs nach Rom?«, fragte sie. »Warum auch nicht? Ja, warum nicht, Berit Bøyum?«

Sie wusste also, dass du in Rom bist. Ich wiederhole: BIBBI BOKKEN WEISS, DASS DU IN ROM BIST! Pass auf dich auf, Nils! (Das Problem ist nur, dass diese Warnung dich nicht rechtzeitig erreicht …)

Der Rest passierte ziemlich schnell. Bibbi Bokken kam mit energischen Schritten auf mich zu und hob eine Hand. Ich glaubte ganz fest, dass sie mich schlagen würde. Jetzt kriegst du sicher eine Gänsehaut, aber die sei dir gegönnt, denn ich hatte auch eine!

Und wenn sie doch nur zugeschlagen hätte! Das wäre im Grunde viel besser gewesen. Aber Bibbi Bokken strich nur ganz leicht über meinen Pullover und meine Jeans. Ich hielt sie für komplett verrückt. Ich meine: Was sollte denn dieses schleimige Gestreichel?

Sie sagte: »Ich finde, du hast ein wenig Staub angesetzt, mein

Mädel. Und das gefällt mir nicht!« Worauf ich losstürzte. Ich rannte und rannte und heulte

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dabei wie aus Eimern. Und wovor ich weglief, das war eine hysterische Frau, die spöttisch hinter mir herlachte:

»Ha, ha! Jetzt hast du mich wirklich an der Nase herumgeführt! Ha, ha!«

Das ist gestern Nachmittag passiert und jetzt sitze ich (glücklicherweise) auf der Fähre. Ich habe die Nacht fast nicht geschlafen und deshalb höre ich jetzt auf und schicke das Briefbuch in Balestrand ab, ehe ich auf die nächste Fähre gehe. Ich habe einfach keine richtige Lust, es mit nach Bergen zu nehmen. Jetzt will ich meine Ruhe haben und mich mit meinem Vater amüsieren – ohne an Bibbi Bokken oder Il Nilso Pava Rotti denken zu müssen, der mit Mama und Papa auf eine Art Hochzeitsreise nach Rom gefahren ist.

Aber wenn wir jetzt eine Zusammenfassung brauchen, dann sieht die wohl ungefähr so aus:

Bibbi Bokken schleppt immer neue Bücher in ihr Haus.

Trotzdem ist in ihrem Haus kein einziges Buch zu sehen.

Schlussfolgerung: Bibbi Bokken macht etwas anderes mit ihren Büchern, als sie ins Regal zu stellen und sie zu lesen. Vielleicht benutzt sie sie als Heizmaterial. Und es ist auch nicht ganz unvorstellbar, dass sie sie aufisst. Vielleicht zermahlt sie die Bücher und mischt sie dann unter ihre Mahlzeiten? Ich weiß es nicht, aber ich bitte um Antwort.

Gruß von Berit Bøygt sich unters Sofa bei Bibbi Bokken.

PS. Ich weiß jetzt, woher Bibbi Bokken weiß, dass du in Rom bist. Aber du bist doch hoffentlich nicht derjenige, der ihr neuerdings Ansichtskarten schreibt?

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Liebe Berit,

vor einer Stunde bin ich nach Hause gekommen und da lag das Briefbuch und ich habe deinen Brief sofort gelesen. Das hier wird kurioser und kurioser. Und immer unheimlicher. Ich versuche, einen Zusammenhang zu finden und habe eine Art Theorie darüber, warum du in BBs Haus keine Bücher gefunden hast. Aber ich fürchte, mein Kopf ist zu klein.

Zum Glück sitzt in Fjærland ein messerscharfes Gehirn bereit (falls das Gehirn schon aus Bergen zurück ist).

Hier kommt der Bericht von »Nils Bøyum Torgersens seltsamer Reise«:

Wir kamen also am Freitagnachmittag in Rom an und gingen ins Hotel Mondial. Als meine Mutter unsere Pässe vorlegte, sah ich einen Mann, der in der Rezeption in einem Sessel saß. Er war klein und glatzköpfig, aber woran ich ihn erkannt habe, das war sein Lächeln. Er lächelte mich an, doch es war im Grunde kein echtes Lächeln. Es war auf eine Weise angespannt, die fast … unangenehm war. Ja, Berit. Er war es. Der Smiley aus dem Café Skalken.

Im letzten Jahr habe ich angefangen, unter den Armen zu schwitzen. Ich werde wohl zu einem »kleinen Mann«, wie mein Alter sagt. Jetzt schwitzte ich wie ein Schwein (aber schwitzen Schweine eigentlich?).

Was hatte der Smiley hier zu suchen? Hatte er mich verfolgt? Um das Briefbuch an sich zu reißen? Aber warum? Ich begriff gar nichts mehr, nur, dass ich eine Sterbensangst hatte und dass die Hammerschläge, die ich hörte, von meinem eigenen Herzen stammten.

Du hast in deinem Brief geschrieben, dass Bibbi Bokken von meiner Reise nach Rom weiß. Vielleicht hat sie ihn

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dorthin geschickt, aus Gründen, die wir noch nicht kennen? Daran habe ich im ersten Moment nicht gedacht, doch jetzt im Nachhinein, wo ich mir das alles überlege, scheint es die einzige Erklärung zu sein.

Da stand ich also und schwitzte und roch wie ein »kleiner Mann«, während Smiley lächelte und der Heini hinter dem Tresen meiner Mutter den Schlüssel und MIR EINEN BRIEF gab!

Ja, in der Rezeption lag ein Brief für mich! Ich kapierte gar nichts mehr, ich steckte ihn ganz schnell in die Tasche und lief hinter meinen Eltern her, die schon unterwegs zum Fahrstuhl waren. Sie waren dermaßen mit sich und ihrer »Liebesstadt« beschäftigt, dass sie den Brief überhaupt nicht bemerkt hatten.

Als wir auf unser Zimmer kamen, stürzte ich sofort ins Bad und zog den Brief hervor. Ich klebe ihn als Beweismaterial ins Buch:

In dieser Stadt wohnt ein alter Mann er ist zwar taub, doch nicht blind, seine Liebe ist jung und blank und neu, es leben tausend Bücher in seinem Sinn. Dante, Petrarca, Homer und Ovid sind Schätze im Haus am Tiberufer. Geh zur Piazza Navona. Lass dir Zeit am Samstag um zwölf. Hab keine Angst

Geh über die Via dei Coronari, bei der Ponte Umberto liegt das Bücherhaus und in einem Zimmer sitzt ein alter Mann. Reich ihm das hier, und wenn er glaubt, du scherzt dann sag, du kommst von, na, er weißt schon, um einen Schatz und ein Geheimnis zu holen

Das las ich und zuerst verstand ich nur Bahnhof, aber dann

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ging mir ein Licht auf. Das Gedicht war eine Art Code! Ein Code, der mich zum Antiquariat bei der Piazza Navona führen sollte. Aber wer hatte es geschrieben? Und warum? Ich begriff rein gar nichts, doch ich wusste, dass ich am nächsten Tag unbedingt zur Piazza Navona musste.

Am Samstagvormittag wollten wir in den Petersdom. Ich täuschte Kopfschmerzen vor und sagte, ich wolle lieber im Hotel bleiben und schlafen. Aus irgendeinem Grund gingen sie mir auf den Leim. Es hat seine Vorteile, ein »kleiner Mann« zu sein.

Als sie gegangen waren, wartete ich noch zehn Minuten, dann lief ich los, fand die Piazza Navona, überquerte die Via dei Coronari und sprintete zur Ponte Umberto über den Tiber und da fand ich ihn. In einer engen Seitenstraße gegenüber der Brücke lag ein kleiner Buchladen. Die Fenster waren eingestaubt und dahinter lagen Stapel von alten Büchern. An der Tür war ein kleines Messingschild mit der Aufschrift M. Bresani befestigt. Ja, du hast richtig gelesen. Das war der Name, der auch auf den Paketen an Bibbi Bokken gestanden hatte. Zittrig war jetzt nichts als mein Vorname!

Ich öffnete die Tür und ging hinein. Gleich darauf befand ich mich in einer Art Schatzkammer voller Bücher. Obwohl es dunkel und staubig war, schienen die Bücher zu leuchten. Ich kann das nur so erklären.

Das Zimmer war voll gestellt mit Büchern mit eleganten Ledereinbänden, Büchern mit Goldschrift, Büchern mit so schönen Zeichnungen, dass sie gar nicht gedruckt aussahen, sondern gleich aufs Papier gemalt schienen, Büchern mit Umschlägen, die mit winzig kleinen leuchtenden Perlen besetzt waren, Büchern mit so altertümlichen Schrifttypen, dass ich nicht einmal die Buchstaben deuten konnte, und Büchern, deren Papier aussah wie alte Tapeten und deren Buchstaben jeden

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Moment abblättern konnten. Ich kam mir vor wie in einem Feinkostladen für Bücher,

wenn du verstehst, was ich meine, und fast alle Bücher waren alt. Ich glaube, auch der Anblick einer Bibel, die vor Jesu Geburt gedruckt worden war, hätte mich nicht überrascht. Das sage ich, damit du ein Gefühl für die Stimmung in diesem Antiquariat bekommst.

Denn natürlich stand ich in unserem Antiquariat. In dem Antiquariat, das die geheimnisvolle Siri besucht hatte, ehe sie den Brief an Bibbi Bokken geschrieben hatte. Und da war ich selbst jetzt gelandet. Aufgrund eines geheimnis-vollen Briefes oder Gedichts. Ich stand unmittelbar vor der Lösung. Wenn das Buch, das erst in einem Jahr erscheinen sollte, existierte, dann musste sie sozusagen direkt vor mir liegen.

Abgesehen von mir und den Büchern war der Laden ganz leer. Kein(e) M. Bresani. Hinter dem Vorhang lag ein noch kleinerer Raum. Ganz hinten stand ein Tisch. Der war übersät von Papieren, Pinseln und Farbfläschchen. Das scharfe Licht einer Deckenlampe fiel auf den Tisch, und ein Mann saß mit dem Rücken zu mir und gesenktem Kopf da.

»M. Bresani?«, flüsterte ich, aber er reagierte nicht. »M. Bresani?«, sagte ich noch einmal. Er zeichnete un-

angefochten weiter. »M. Bresani«, brüllte ich, aber er rührte sich nicht. Ich

ging zu ihm und berührte seinen Rücken. Er drehte sich um und lächelte mich freundlich an.

»M. Bresani?«, fragte ich zum vierten Mal. Er gab keine Antwort und mir ging auf, dass er der

Taube aus dem Gedicht sein musste. Ich zog es hervor und reichte es ihm, ohne ein Wort zu sagen. Er sah es sich genau an, während ich den Atem anhielt. Dann lächelte er.

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Ein richtiges Lächeln. Er öffnete eine Schublade und zog einen dicken gelben Briefumschlag hervor.

Und dann kam das Seltsamste und Unheimlichste, was die ganze Zeit bis dahin passiert war.

Als M. Bresani mir gerade den gelben Briefumschlag geben wollte, erstarrte sein Arm mitten in der Bewegung und er starrte etwas hinter mir an.

Ich fuhr herum, und was glaubst du, wer dort stand? Natürlich Smiley in höchsteigener unheimlicher Person. Ich konnte nicht sehen, ob er lächelte, denn sein Gesicht war hinter einer Videokamera versteckt. Er filmte uns, Berit!

Dann ließ er die Kamera sinken und richtig: Er lächelte wie eine Schlange. (Können Schlangen lächeln?) Dann flüsterte er mit samtweicher Stimme:

»Ich glaube, dieser Umschlag gehört mir!« Fast hätte er die Zähne gefletscht. Ich weiß nicht, wie ich

sein Aussehen beschreiben soll, aber kennst du das Märchen von Rotkäppchen? Dann erinnerst du dich doch an den Wolf, der im Bett lag und versuchte auszusehen wie ihre Großmutter. So sah jetzt auch der Smiley aus; wie der Wolf im Bett der Großmutter, als Rotkäppchen Kuchen und Wein brachte. Beim bloßen Gedanken an ihn läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Ich hatte keine Ahnung, was da ablief, ich wusste nur, dass ich weg musste, und zwar sofort.

Ich riss den gelben Umschlag an mich, versetzte Smiley einen Stoß, durch den er die Videokamera fallen ließ, und wer weiß, Berit, vielleicht hat das mir das Leben gerettet. Er bückte sich und ich stürzte aus dem Antiquariat und über die Piazza Navona.

Erst in unserem Hotelzimmer blieb ich wieder stehen. Ich musste mich setzen und einmal tief durchatmen und

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dabei studierte ich die elegante Handschrift auf dem Briefumschlag. Dort stand: Bibbi Bokken, Postfach 85, 5855 Fjærland, Norvegia.

Und auf der Rückseite: M. Bresani, via dei Coronari 5, Roma, Italia.

Ich weiß, dass man fremde Briefe nicht lesen darf, aber in der Not sind alle Mittel erlaubt, und wenn ich jemals in Not war, dann wohl jetzt.

Ich öffnete den Briefumschlag. Darin steckten fünf Blätter. Auf jedem stand in unterschiedlicher Schrift »Bibbi Bokkens magische Bibliothek«.

Jetzt greife ich zu einem weiteren Mittel, das in der Not erlaubt ist. Ich schicke die Blätter nicht an Bibbi Bokken, sondern an dich, und du kannst überlegen, was sie bedeuten und was wir damit anfangen sollen. Ich verstehe nämlich immer weniger.

Ich versteckte den Briefumschlag in meinem Koffer und legte mich aufs Bett, wo ich liegen blieb, bis meine glücklichen und frisch verliebten Eltern kamen. Jetzt wollten sie in ein Restaurant gehen. Und ich musste mitkommen, obwohl ich nun wirklich Kopfschmerzen hatte und am liebsten bis zu unserer Abreise auf dem Zimmer geblieben wäre.

Zum Glück ließ Smiley sich nicht mehr blicken und am Sonntagnachmittag ging unser Flugzeug.

Jetzt ist es Montag, halb zwölf abends. Ich bin todmüde, doch ich habe noch etwas vergessen. Meine Theorie, ja. Du findest sie vielleicht ein bisschen schwach, aber ich habe keine andere.

Bibbi Bokken ist Buchschmugglerin. Sie gehört zu einem internationalen Ring, der seltene Bücher stiehlt und nach Fjærland schafft, von wo sie an reiche Buchsammler aus aller Welt verkauft werden. Der Deckname für diesen

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Ring ist Bibbi Bokkens magische Bibliothek. Bresani und Smiley gehören beide mit zum Ring und jetzt versuchen sie uns in ihr Netz zu ziehen. Zwei unschuldige Kinder! Ja, Berit. Es klingt entsetzlich, aber wir leben in entsetzlichen Zeiten. Die einen schmuggeln Drogen, die anderen Bücher.

Wenn das alles stimmt, dann wissen wir, warum Bibbi Bokken zu Hause keine Bücher hat. Aber dann musst du an einem andern Ort nachsehen, Berit. Denn was glaubst du wohl, wo die Buchsammler wohnen, wenn sie in Fjærland sind? Richtig. Im Hotel Mundal. Weißt du noch, dass wir auf dem Dachboden waren, wo früher die Zimmermädchen schlafen mussten? Vielleicht hat sie dort ihr Lager? Aber jetzt muss ich schlafen. Ich bin verwirrt, erschöpft und gequält von Schweiß und Pickeln.

Viele Grüße von Nils

Das Spiel ist aus, Nils. Wir haben ein kindisches Spiel angefangen und einer

Frau hinterherspioniert, weil sie sich ein wenig seltsam benommen hat. In einem anderen Sommer haben wir Detektiv gespielt und Autonummern notiert für den Fall, dass ein Verbrechen geschieht. Aber jetzt ist das Spiel aus!

Als ich deinen Brief gelesen hatte, habe ich einen langen Spaziergang gemacht, um mir alles zu überlegen. Ich ging vorbei am Gletschermuseum, über den Bøyafluss und bis hinauf zum Blåbærstøl. Es ist so schön, jetzt im Herbst, mit den vielen Vogelbeeren und den gelben Farben an den Bäumen …

Wer hatte das Gedicht in der Hotelrezeption hinterlegt? Irgendjemand, der von deiner Romreise gewusst hat. (Wie vielen hast du davon erzählt?) Folgende Personen kommen in Frage: Smiley (ich glaube nicht, dass er aus

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purem Zufall in Rom aufgetaucht ist), Bresani (der offensichtlich Besuch erwartete) und natürlich Bibbi Bokken (die wusste, dass du unterwegs nach Rom warst).

Alle diese geheimnisvollen Personen wussten, dass du nach Rom kommen würdest. ABER WOHER WUSSTEN SIE DAS?

Ich glaube, sie müssen allesamt irgendwie ihre Finger mit im Spiel haben. Aber in welchem Spiel?

Da Bibbi Bokken wusste, dass du nach Rom unterwegs warst, wusste sie sicher auch, in welchem Hotel du wohnen würdest. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie das Gedicht gemacht hätte, das dich zu Bresani geführt hat. Wir wissen ja schon, dass er einer ihrer internationalen Kontakte ist. (Du hast im Hotel Mondial gewohnt, Nils. Nicht im Hotel Mundal, meine ich. Ich wollte das nur kurz erwähnen. Zufall???)

Doch – bestimmt hat Frau Buch dich zu Bresani geschickt. Zu Bresani, aber nicht nach Rom! Das war doch eine Illustrierte! Nein, ich begreife das nicht.

Vielleicht solltest du versuchen, ein wenig mehr über dieses Preisausschreiben in Erfahrung zu bringen?

Ich weiß nicht, ob ich dir dafür danken soll, dass du diese seltsamen Bögen an mich geschickt hast und nicht an Bibbi Bokken. Am Ende habe ich sie in einen neuen Umschlag gesteckt, habe »Bibbi Bokken« draufgeschrieben und ihn von Billie Holiday zur Post bringen lassen. Ohne Briefmarke und Absender, aber darauf musste ich es ankommen lassen. (Ehe ich die Blätter losgeschickt habe, habe ich sie fotokopiert und die Kopien klebe ich jetzt ins Briefbuch.)

Ich glaube, die Bögen mit dem Text »BIBBI BOKKENS MAGISCHE BIBLIOTHEK« in verschiedenen Schriften können Vorschläge für verschiedene Titelseiten eines

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Buches sein, das nächstes Jahr erscheinen wird und das eben BIBI BOKKENS MAGISCHE BIBLIOTHEK heißen soll. (Aber das ist doch ein wenig seltsam, wenn Siri es schon in der Hand gehalten hat?) Wenn nicht, dann können sie ein Entwurf für ein Plakat sein, das in einer geheimnisvollen Bibliothek mit demselben Namen hängen soll.

Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit. Ich war noch mal in der Bibliothek und habe dort ein Verzeichnis von einer Reihe sehr unterschiedlicher Bücher gefunden, die zusammen »Thorvald Dahls Kulturbibliothek« genannt werden. Kann es sich bei »Bibbi Bokkens magischer Bibliothek« um etwas Ähnliches handeln – also um den Namen einer ganzen Buchserie? Vielleicht lebt Bibbi Bokken vom Herausgeben von Büchern? Vielleicht hat sie einen eigenen Verlag, der »Bibbi Bokkens magische Bibliothek« heißt?

Dass ein Schmugglerring »Bibbi Bokkens magische Bibliothek« heißt, kann ich nicht so recht glauben. Aber ausgeschlossen werden darf hier nichts, Mr Torgersen. Nur dürfen wir nicht zu rasch unsere Schlüsse ziehen.

Und dann zu Mr Smiley. (Das mit der Videokamera war wirklich gruselig!) Ich hoffe, er begegnet dir nie wieder, aber ich bin nicht sicher, ob du so billig davonkommen wirst. Er ist offensichtlich auf Jagd nach etwas und ich habe zwei Vorschläge. Entweder hat er es auf das geheimnisvolle Buch über die magische Bibliothek abgesehen. Oder auf die Bibliothek an sich. UND DANN IST ER MIT ANDEREN WORTEN AUF DERSELBEN JAGD WIE WIR! Und dann wollen wir doch mal sehen, wer den Südpol zuerst erreicht.

Weiter bin ich heute nicht gekommen. Aber immerhin habe ich noch eine tolle Neuigkeit für dich. ICH HATTE AM WOCHENENDE EINE SEHR INTERESSANTE

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UNTERREDUNG MIT GUNNAR STAALESEN! Jawohl, ich habe bei ihm geklingelt und mich als Fan seiner Bücher ausgegeben. Das konnte ich natürlich als Eintrittskarte verwenden. (Ich glaube, Schriftsteller sind ungeheuer ich-bezogen. Auf jeden Fall lieben sie Schmeicheleien …)

Worüber wir geredet haben? Ach, über dies und das. Über Gott und die Welt, heißt es nicht so?

Aber er hatte keine Ahnung, ob irgendwelche Schriftsteller gerade an einem Buch über irgendeine magische Bibliothek sitzen. Und Bibbi Bokken kannte er auch nicht. Doch er konnte erzählen, dass nächstes Jahr ein großes Jubiläum stattfinden wird. Und was mag das für ein Jubiläum sein? Dreimal darfst du raten! Es nennt sich NORWEGISCHES BUCHJAHR – und Ihre Königliche Hoheit Königin Sonja fungiert als Schirmherrin. (Und damit ist auch das Königshaus mit im Spiel.) Vor dreihundertfünfzig Jahren wurde nämlich in Norwegen das erste Buch gedruckt. Und das ist doch fast so gut wie eine Inkunabel. Zufall, Nils? Es wäre doch seltsam, wenn Bibbi Bokken nicht auch bei diesem »Buchjahr« ihre Finger mit im Spiel hätte …

Ansonsten konnte der honigsüße Kriminalschriftsteller von dem Buch erzählen, das er gerade schreibt. Auch das soll nämlich im kommenden Jahr erscheinen. Ich finde, ich bekomme langsam eine gewisse Übersicht über die Neuerscheinungen des kommenden Jahrs. Staalesens Buch handelt von einem Detektiv namens Varg Veum. Eigentlich lebt er in Bergen, aber aus Anlass des Buchjahrs reist er nach Oslo und schnüffelt in politischen Skandalen und Ähnlichem herum. Der Arbeitstitel des Buches lautet Begrabene Hunde beißen nicht.

Also wollen wir mal sehen, wo unser Hund begraben liegt. Oder ob er beißt. You see? (Haben wir nicht schon

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mal die Suche nach begrabenen Hunden erwähnt?) Ich könnte noch sehr viel mehr schreiben, denn ich habe

mit allerlei Leuten gesprochen. Doch im Moment passiert so viel auf einmal, dass ich das Briefbuch ganz schnell zurückschicken möchte. Aber eine Kleinigkeit muss ich doch noch erwähnen: im Postfach 85 liegen immer neue Pakete. Fast nie verschickt sie allerdings selber eins. (Billie Holiday hat das bei der Post in Erfahrung gebracht.) Ich glaube deshalb nicht, dass sie vom Weiterverkauf der Bücher lebt. Vielleicht ist sie eine Art Buchschmugglerin von wirklichem Format. Aber die Bücher bleiben hier in Fjærland. Auf jeden Fall verlieren sich hier ihre Spuren …

So long, Mr. Briefschmuggler! Gruß von Berit Bø (bist du jetzt erschrocken) Yum

PS. Das Wochenende mit meinem Vater war ganz toll. Er fehlt mir wirklich. Und ich finde es bescheuert, dass meine Eltern sich plötzlich in den Kopf gesetzt haben, sich nicht mehr zu lieben. Ich liebe sie doch beide!

PPS. Bist du ganz sicher, dass du keine Ahnung hast, woher BB von deiner Romreise gewusst haben kann?

PPPS: Mir kommt so langsam der scheußliche Verdacht, dass wir zu irgendetwas benutzt werden. Als ich deinen letzten Brief gelesen habe, kam ich mir so ungefähr vor wie ein Marker in einem Computerspiel.

BERIT!

Kennst du das Märchen von der Feder, die zu fünf Hühnern wurde? Es stammt von einem dänischen Schriftsteller namens H. C. (Hans Christian) Andersen.

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Und es handelt von einem Huhn, das sich ein Federchen ausrupft und losgackert.

»Weg ist sie. Je mehr ich ausrupfe, umso schöner werde ich.«

Ein anderes Huhn, das das sieht, flüstert dem Nachbarhuhn zu, dass sich das erste sämtliche Federn ausrupft, um beim Hahn Eindruck zu schinden. Eine Eule, die das hört, fliegt zu einer anderen Eule und erzählt es weiter, dann gelangt die Geschichte zu zwei Tauben und endlich zum Hahn, aber inzwischen hat sie sich sehr verändert und der Hahn kräht von drei Hühnern, die sich alle Federn ausgerissen und aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn erfroren sind. Dann wandert die Geschichte weiter und kommt endlich wieder bei dem Huhn an, das sich die eine Feder ausgerupft hat, und jetzt sieht sie so aus:

»Es waren einmal fünf Hühner und alle hatten sie sich die Federn ausgerissen, um zu zeigen, wer aus lauter unglücklicher Liebe zum Hahn am magersten geworden war. Und dann hackten sie einander blutig und fielen tot um, zu Scham und Schande für ihre Familien und zum großen Verlust ihres Besitzers.«

Das regt das erste Huhn so schrecklich auf, dass es die ganze Geschichte in die Zeitung setzen lässt, zur Abschreckung und zur Warnung. Und als es in der Zeitung steht, halten es natürlich alle für die Wahrheit. Denn die Zeitung lügt doch nicht, oder?

Es ist ein schönes Märchen und hat Ähnlichkeit mit der Geschichte, in die wir da reingerutscht sind, nur UMGEKEHRT.

Es ging damit los, dass du ein Federchen gefunden hast, nicht wahr? Siris Brief. Wir dachten, es gehe hier einfach nur um ein Huhn, nämlich Bibbi Bokken. In Wirklichkeit

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sind es mindestens fünf, zwei Hühner und drei Hähne, um genau zu sein. Nämlich Bibbi Bokken, M. Bresani, Smiley, Aslaug und Reinert Bruun. Und alle hacken auf uns herum, Berit!

Ja, du hast richtig gelesen. Auch Aslaug und Reinert Bruun gehören zu denen, die uns kontrollieren wollen. Was heute Nachmittag passiert ist, hat dein scheußliches Gefühl bestätigt, finde ich: Wir sind Marker, die in einem Spiel herumgeschoben werden, auf das wir keinen Einfluss haben.

Ich komme gerade von Aslaug und Reinert Bruuns, die zu Rosinenbrötchen und Limo geladen hatten.

Du kannst dir ja vorstellen, dass ich ziemlich nervös wurde, ich dachte natürlich, ich hätte irgendwas ausgefressen. Seit meiner Rückkehr aus Rom hatte Bruun sich nämlich ziemlich seltsam verhalten. Er scheint sich neuerdings ganz besonders für mich zu interessieren. Zweimal hat er mich auf dem Schulhof angehalten. Einmal wollte er wissen, ob ich wohl ein Referat über Rom halten würde. Ich sagte, ich hätte nichts gesehen, weil ich die ganze Zeit mit Kopfschmerzen im Hotel gelegen sei. Und er sah mich so an, als ob er mir nicht glaubte und etwas wüsste, von dem er weiß, dass ich es nicht weiß.

Beim zweiten Mal fragte er, ob ich ein Thema für den nächsten Aufsatz vorschlagen könnte. Ich war total überrascht und murmelte etwas davon, dass ich gerade versuchte, meine Fantasie zu zügeln. Und er sah fast traurig aus, fuhr mir über den Kopf und sagte:

»Tu das nicht, Nils. Die Fantasie ist dein wichtigstes Werkzeug.«

Ich kapierte nur 0,00 Millimeter, als er mich dann zu Limo und Rosinenbrötchen einlud, und dachte, hier muss

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wirklich die Hölle los sein, aber ich ging natürlich hin. Beide machten mir die Tür auf. Wir gingen ins Wohnzimmer und auf dem Tisch lag, dreimal darfst du raten, ein Stapel Bücher.

Ich schwieg den ganzen Abend, aber der Lehrer und Aslaug gestikulierten und redeten wie zwei Wasserfälle. (Können Wasserfälle eigentlich gestikulieren und reden?) Sie erzählten über Bücher. Und über den Unterschied zwischen Spannungsliteratur und Reiseberichten. Sie sprachen über Schauspiele, Gedichte und Prosa (Romane, Erzählungen und so).

Dann erzählten sie über verschiedene Schreibweisen, dass manche Schriftsteller zuerst ein Expose machen und die ganze Geschichte schon kennen, wenn sie mit Schreiben anfangen, während andere vielleicht nur einen Satz, einen Anfang oder einen Schluss im Kopf haben. Sie erzählten, dass der Autor die Personen wirklich vor sich sehen muss, über die er schreibt, ihre Kleidung, ihre Haarfarbe und alle möglichen seltsamen Details. Sie sagten, ich müsse daran denken, dass alle Menschen unterschiedlich reden und dass jede einzelne Person in einem Buch ihre ganz besondere Ausdrucksweise hat. Sie sagten auch, ich müsse beim Schreiben sehr genau sein und mit Adjektiven vorsichtig umgehen. Zum Beispiel meinten sie, wenn ich schreibe: »Die Blume sah einfach fantastisch aus«, dann sagt das gar nichts über die Blume. Es sei viel besser, wenn ich die Blume so beschreiben könnte, dass alle, die es lesen, selber vor sich sehen, was daran so fantastisch ist.

So machten sie weiter, bis ich fünf Rosinenbrötchen gegessen und zwei Flaschen Limo getrunken und fünfmal »ja« und siebenmal »genau« gesagt hatte.

Als sie fertig waren, zwinkerte Aslaug mir zu und sagte:

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»Na, Nils, hat dir das etwas gebracht?« »Himmel, ja«, murmelte ich und dachte, ich hätte

immerhin kapiert, dass die beiden knatschverrückt sind. Reinert schaute auf die Uhr und schien mich plötzlich

unbedingt loswerden zu wollen. Er brachte mich zur Tür und schob mich fast hinaus.

Ich war gerade losgegangen, als vor dem Haus der Bruuns ein Taxi hielt. Der Mann, der ausstieg, sah mich nicht, denn er ging sofort zur Tür und klingelte. Aber ich sah ihn. Halt dich fest, Berit!

ES WAR SMILEY! Smiley himself war auf dem Weg zu meinem Lehrer. Ich

kapiere ja nicht viel, aber ich kapiere immerhin, dass wir die Opfer einer unerklärlichen Verschwörung sind, bei der Bibbi Bokken eine Art unheimlicher Mittelpunkt ist.

Du hast schon Recht, wir sind Marker, und obwohl ich ziemlichen Schiss habe, meine ich doch, dass wir jetzt entscheiden müssen, was wir tun wollen:

Wir können das Briefbuch hiermit beenden und die ganze Angelegenheit vergessen. Oder wir können das Spiel an uns reißen und andere zu Markern machen.

Ich schlage Letzteres vor. Wir haben A gesagt. Jetzt müssen wir das ganze Alphabet sagen.

Ich schlage vor, dass du an den Ausgangspunkt zurück-kehrst: zur Flatbrehütte, wo wir Bibbi Bokken zum ersten Mal gesehen haben. Lies das Gästebuch. Such die Namen Bruun und Bresani. Vielleicht findest du einen Geheim-code oder eine Nachricht, die den Nebel zerreißen kann, denn ich tappe jedenfalls durch Nebel. Ich habe im Moment keine Theorie auf Lager, aber ich merke, dass ich jetzt wütend werde, und diese Wut will ich nutzen!

Nils.

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PS. Die Sache mit Gunnar Staalesens begrabenen Hunden habe ich nicht kapiert. Was haben die mit Bibbi Bokken zu tun? Meinst du, dass hier etwas begraben liegt? Aber was?

Bibbi Bokkens Bücher vielleicht? Aber warum um alles in der Welt sollte sie sich einen Haufen wertvoller Bücher zulegen, um sie dann zu begraben? Machst du dich über mich lustig oder was?

Lieber Schriftsteller,

du darfst es nicht so schwer nehmen, aber ich muss zugeben, dass ich nicht begreife, wieso du plötzlich zu den Brötchenbäckern Bruun eingeladen wirst, um einen Schriftstellerkurs über dich ergehen zu lassen! Ich meine – nach dem Aufsatz!!!

Ansonsten finde ich auch, dass uns niemand vorwerfen kann, aus einer Feder fünf Hühner zu machen. Wir haben Hähne und Hühner genug für eine ganze Hühnerfarm und diese Farm erstreckt sich offenbar bis nach Rom. Bald werden wir mehr als genug haben, um mit der ganzen Geschichte zu allen Zeitungen zu gehen – wie in dem Märchen. (Und dann werden wir mit der Gegenseite so manches Hühnchen rupfen!) Aber ich glaube, wir sollten noch etwas warten. Denn unsere Geschichte wächst doch immer weiter.

Das Briefbuch ist gestern Nachmittag hier angekommen und das war gut so, denn heute ist ein Samstag mit wunderschönem Herbstwetter. Ich habe dich also beim Wort genommen. Du meinst, dass es in der Flatbrehütte vielleicht wichtige Spuren gibt, und jetzt sitze ich hier. Ich habe sofort den Rucksack gepackt und bin losgezogen. Meine Mutter hat mich bis Øygarden gefahren.

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Es ist eine harte Tour, Nils, aber die Mühe hat sich in dem Moment gelohnt, wenn du den Gletscher erreichst und dazu noch den Superausblick auf den Fjærlandsfjord hast. In dem Moment war ich stolz darauf, dass ich hier geboren bin, und dachte solche eingebildeten Dinge wie, dass es auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort gibt.

Und jetzt sitze ich mutterseelenallein hier oben bei der Flatbrehütte und merke an meinen Beinen, dass ich von zehn auf tausend Meter über dem Meer gekrochen bin. Ich habe lange im Gästebuch geblättert. Pass auf:

Mittwoch, 12. Juli, an dem Tag waren wir hier und Bibbi Bokken hat ihren blöden Namen direkt unter unsere Unterschriften gequetscht. Aber: UNSER GEDICHT IST VERSCHWUNDEN, NILS! Irgendwer hat genau diese Seite aus dem Gästebuch gerissen. Warum? War es nicht gut genug? Oder gibt es wirklich Menschen, die sich von Kinderfantasie bedroht fühlen???

Ich war so wütend, dass ich das Gedicht ganz laut aufgesagt habe. Ich kann es nämlich auswendig und niemand soll es mir aus dem Gedächtnis reißen können:

Hier in unserem Sommerspaß

genießen wir ein Colaglas, Nils und Berit, das sind wir, verbringen unsre Ferien hier. Hier oben ist es wunderschön, wir mögen gar nicht wieder gehn.

Ansonsten war Bibbi Bokken einige Tage später noch einmal hier – und wieder musst du dich festhalten: Am Samstag, den 15. Juli, finde ich ihren Namen neben einer anderen Unterschrift. Der von Mario Bresani!

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Es hat mich ziemlich viele Kalorien gekostet, den Vornamen des tauben Buchhändlers ausfindig zu machen, aber du musst leider hinnehmen, dass die Familie Bruun durch Abwesenheit glänzt. Sie haben im Gästebuch der Flatbrehütte einfach keine Spuren hinterlassen, jedenfalls nicht in dieser Ausgabe (ab dem 26. Mai 1996).

Und dann haben wir den verrückten Glatzkopf, der dir immer wieder über den Weg läuft. (Wollen wir sagen, dass er dich beschattet?) Irgendwer hat am 3. August eine Sonne mit einem breiten Lächeln gezeichnet, doch ich glaube nicht, dass das Smiley war (oder?).

Das ist alles, Nils. Wenn du erwartet hast, dass ich hier ein riesiges Buchlager finden würde, dann muss ich dich enttäuschen. Natürlich ist es möglich, dass es in Fjærland eine versteckte Bibliothek gibt, aber die versteckt sich jedenfalls nicht in der Flatbrehütte. Ich habe Steine umgedreht und die Felswände untersucht. (Und du verlangst doch wohl nicht, dass ich in den Gletscherspalten nachsehen soll?)

Aber hier kommt noch etwas anderes. Wieder glaube ich, dass du ein blindes Huhn warst, das sich zu einem echten Goldkorn hingetappt hat: In deinem PS schreibst du:

»Meinst du, dass hier etwas begraben liegt? Aber was? Bibbi Bokkens Bücher vielleicht?« JA!!! Die Möglichkeit besteht auf jeden Fall, da es in ihrem Haus kein einziges Buch gibt. Ich glaube, dass Bibbi Bokken ihre Bücher irgendwo in Fjærland vergräbt! Ich glaube, dass sie eine unterirdische Bibliothek einrichtet.

UND ICH GLAUBE, DAS IST EINE MAGISCHE BIBLIOTHEK!

Diese Bibliothek müssen wir finden. Und dabei müssen wir Smiley zuvorkommen. You see? Aber ich glaube, wir

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müssen mit Maulwürfen zusammenarbeiten statt mit Bergsteigern und Gletscherwanderern.

Wenn ich wieder unten bin, schreibe ich weiter … Moment noch! Ich habe gerade einen Blick auf die

Zusammenfassung von Deweys Haupttabelle geworfen. Die endet also mit der Zahl 990 und der »Geschichte der außerirdischen Welten«. Die Zahl 1000 gibt es dort nicht, doch ich habe eine Theorie: Diese Hauptgruppe heißt vielleicht »Geschichte der unterirdischen Welten!!!« Ganz zu schweigen von »Geschichte der unterirdischen Bibliotheken«.

JETZT SEHE ICH NOCH MEHR: Deweys allererste Hauptgruppe heißt »010 Bibliografie«. Und Bibbi Bokken ist doch eine waschechte Bibliografin! (Quelle: Siri. Zitat: »Wenn es in Norwegen auch nur eine einzige wirkliche Bibliografin gibt, dann musst du das doch sein.«) Und die Flatbrehütte, wo wir mehrere Spuren gefunden haben, liegt genau tausend Meter über dem Meeresspiegel. Andererseits liegt Bibbi Bokkens Haus genau zehn Meter über dem Meeresspiegel. Von 10 auf 1000 – genau wie in Deweys System! Kann das eine Spur sein? Ich weiß nicht, ich weiß nicht!

Rezeption des Hotels Mundal

Ich zittere am ganzen Leib. Ich habe nämlich gerade erfahren, dass Frau Buch mir vor ich weiß nicht wie vielen Jahren schon einmal über den Weg gelaufen ist. Ich war damals erst sieben oder acht (Quelle: Billie Holiday). Aber darauf werde ich im nächsten Brief noch zurückkommen, denn die Post wird gleich geholt und ich muss auf jeden Fall noch zwei PS hinkritzeln.

Dein bis in den Tod, Berit

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PS. Das Bild auf dem Briefbuch gefällt mir inzwischen gar nicht mehr so gut. Es zeigt doch den Sognefjord, nicht wahr? Aber als ich von der Flatbrehütte herunterkam, fiel mir plötzlich etwas ein, was Siri in ihrem geheimnisvollen Brief aus Rom geschrieben hat: »Der Einband zeigte ein Bild von einigen hohen Bergen«, stand dort.!!!???!!!

Vielleicht hättest du doch das Buch mit dem Sonnenuntergang und dem roten Herzen nehmen sollen. (Aber dann hätte Bibbi Bokken sich vielleicht nicht an den Kosten beteiligt???)

PPS. Vielleicht gehören Bibbi Bokken und Bresani, Smiley und Familie Bruun allesamt einer Sekte an, die versucht, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Vielleicht wollen sie alle Kinder auf der Welt unter ihre Kontrolle bringen. Ich habe von solchen verrückten Sekten gehört, die versuchen, Kinder und Jugendliche zu indoktrinieren. (Indoktrinieren – schlag das mal im Wörterbuch nach!)

PPPS. Du schreibst: »Wir haben A gesagt. Jetzt müssen wir das ganze Alphabet sagen.« Doch die Sache hier ist inzwischen so unheimlich, dass ich da meine Zweifel habe. Deshalb kommt hier ein kleines Gedicht von Jan Erik Vold:

Wer A sagt hat A gesagt

Verstehst du, was ich meine? Wenn du A gesagt hast – ja, dann hast du A gesagt und musst die Folgen auf dich nehmen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass du auch noch B sagen musst.

Viele Grüße, B

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Liebe Berit!

Ich glaube, jetzt bist du wirklich auf der richtigen Spur! Eine Sekte! Damit nimmst du mir gewissermaßen das Wort aus dem Mund. Wenn die Sache nicht noch viel schlimmer ist.

Hast du Hexen hexen von Roald Dahl gelesen? Tu es nicht. Es wird dir das Herz aus der Brust reißen, vor Angst, meine ich.

Das Buch handelt von einem Haufen Frauen, die sich ungeheuer kinderlieb stellen, aber das sind sie gar nicht. Sie sind nämlich Kinder hassende Hexen. Sie wollen alle Kinder auf der Welt ausrotten, indem sie sie in Mäuse verwandeln.

Stell dir mal vor, die ganze Bande bestünde in Wirklichkeit aus Hexen, die uns nicht in Mäuse verwandeln, sondern uns unsere Gedanken wegnehmen und sie durch ihre eigenen ersetzen wollen! Und stell dir vor, dass Bibbi Bokken unter dem Eis eine magische Bibliothek anlegt! Eine Bibliothek, die sie mit unseren Gedanken füllt! Das erklärt, warum es eine magische Bibliothek ist. Und ich glaube mehr und mehr, dass wir es wirklich mit Magie zu tun haben.

Warum, glaubst du wohl, haben Lehrer Bruun und seine Frau mich plötzlich zu Limo und Rosinenbrötchen eingeladen? Um nett zu sein? Ha, ha! O nein, du, sie wollten meine Gedanken unter Kontrolle bringen. Deshalb haben sie mir erzählt, wie Schriftsteller arbeiten, das ist doch klar. Aber das, was sie gesagt haben, stimmt gar nicht. Ich habe nämlich ziemlich viel gelesen und weiß, dass die Schriftsteller alle anders schreiben. Es gibt durchaus Bücher, in denen echte Schriftsteller schreiben: »Die Blume ist ganz fantastisch.« Es gibt nämlich keine

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Regeln dafür, wie jemand zu schreiben hat, und für das Denken gibt es auch keine. Aber Bibbi Bokken versucht, solche Regeln aufzustellen, damit wir alle Abziehbilder voneinander werden und sie wissen, was sie von uns erwarten können.

Unsere alten Gedanken stecken sie in eine magische Bibliothek unter dem Eis des Jostedalsbreen. Das ist die Wahrheit, Berit, und der müssen wir in die Augen sehen, sonst werden wir zu Robotern oder lebenden Leichnamen.

Ja, das waren nur einige schlichte Theorien, mit denen ich mich in letzter Zeit beschäftigt habe. Was mich auf die Spur gebracht hat, waren dein Brief und die Entdeckung, dass Lehrer Bruun Gedanken lesen kann.

Das ist mir gestern aufgegangen, als ich in der großen Pause mein Brot essen wollte. Lehrer Bruun hatte Aufsicht. Ich hatte meine Schultasche mit auf den Hof genommen, weil wir in der nächsten Stunde Sport hatten. Ich hatte auch das Briefbuch bei mir. Ich wage nicht, es auch nur eine Sekunde allein zu lassen. Als ich die Hand in die Schultasche steckte, um das Brot rauszuholen, wollte ich mich überzeugen, dass auch das Briefbuch noch da war. Es war da und ich atmete erleichtert auf. In diesem Moment kam Bruun zu mir herüber. Er lächelte (im Moment lächelt mich offenbar alle Welt an) und sagte:

»Na, Nils. Welche Geheimnisse verbergen sich denn in deiner Tasche?«

Ich sprang vor Schreck hundertvierzehn Meter hoch und behauptete, nur ein einziges Geheimnis zu wissen, nämlich, was meine Mutter mir auf meine Pausenbrote geschmiert habe.

»Ach was«, sagte Lehrer Bruun. »Bist du sicher, dass das alles ist?«

Mit zitternden Händen wickelte ich mein Brot aus. Ich

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begriff, dass er meine Gedanken gelesen hatte wie ein offenes Buch, um nicht zu sagen, Briefbuch.

»Nein«, murmelte ich. »Das ist nicht alles. Das ist Ziegenkäse.«

Dann lächelte ich verkniffen und biss in mein Brot. Es wuchs in meinem Mund zu einem riesigen Kloß. Ich konnte nicht schlucken, sondern kaute und kaute wie eine Kuh.

»Das ist aber eine witzige Antwort, mein Junge«, sagte der Lehrer. »Die solltest du dir merken. Solche Formulier-ungen wachsen nämlich nicht auf Bäumen.«

Dann ging er. Ich spuckte den Bissen aus und sah nach, ob das Briefbuch noch in meinem Ranzen steckte.

Jetzt sitze ich hier und versuche, meine Gedanken im Griff zu behalten. Das ist nicht immer ganz leicht, vor allem nicht, wenn dauernd irgendwer versucht sie zu stehlen.

Vielleicht sind diese vielen Fantasien nur Theorien in meinem Kopf, aber dann muss ich sagen, dass ich froh bin, überhaupt noch ein paar Fantasien zu haben.

Mach weiter mit deinen Untersuchungen, Berit. Du bist im Moment die von uns beiden, die die klügeren Gedanken denkt. Ich bin nur ein verwirrter Nils

PS. Übrigens habe ich auch eine Theorie über das gezeichnete Lächeln im Gästebuch. Ich glaube nämlich vielleicht, dass ein Lächeln das Geheimzeichen der Hexen sein kann.

Siehst du, wie unsicher ich bin? Entweder ich glaube oder ich glaube nicht. Kein Mensch glaubt »vielleicht«. Außer einem, der gerade dabei ist, seine Gedanken zu verlieren.

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HILFE!

Lieber Nils, ganz ruhig bleiben, Kumpel. Du kannst doch nicht

einfach zu dem letzten Buch greifen, das du gelesen hast, und dann glauben, dass es in Wirklichkeit auch so zugeht. Denn Literatur ist Literatur. Und Hexen wachsen nicht auf Bäumen. Aber du musst auch vorsichtig sein. Von jetzt an musst du gut auf das Briefbuch aufpassen und darfst nicht mehr in der Stadt herumflippen und vor Gott und aller Welt damit herumwedeln. Denn wir werden beschattet, lieber Vetter. Ob auch unsere Gedanken gelesen werden, kann ich nicht so recht entscheiden …

Ich habe dir also wichtige Dinge mitzuteilen, die ich mir im letzten Brief verkneifen musste. Ich bin Bibbi Bokken nämlich schon einmal begegnet – vor langer, langer Zeit. Damals war ich noch ganz klein. Und das kann vielleicht eine wichtige Spur sein. Ich weiß das alles von der Frau, die zusammen mit Billie Holiday das Hotel leitet. Sie heißt Marit Orheim Mauritzen.

Das Ganze ist in die Geschichte übergegangen. Also schnall dich an!

Es begab sich aber zu der Zeit, da ein Gebot ausging von Ex-Vizepräsident Walter Mondale, dass der große Fjærlandstunnel geöffnet werde. Diese Eröffnung trug sich am 17. Mai 1986 zu, als Ludvig Eikaas der künstlerische Häuptling der Region und für einen Großteil der Feierlich-keiten zuständig war. Damit die Worte der Propheten in Erfüllung gehen sollten, hatte er vor die Tunneleinfahrt ein großes Bild der Madonna gemalt. Sie wurde als »Tunnelgöttin« bezeichnet.

Und auch Berit Bøyum machte sich auf, aus der Stadt Bergen in Hordaland und zog gen Fjærland, denn sie war

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vom Geschlechte der Bøyum, und wollte sich einschreiben lassen im Gästebuch des Hotel Mundal, zusammen mit ihren Eltern, die damals verlobt (!) waren. Doch in der Herberge war kein Platz für sie und ihnen wurde eine kleine Hütte auf dem alten Hof meines Opas zugewiesen …

Kommst du noch mit, Nils? Der ganze Ort stand Kopf. Es wimmelte nur so von Einheimischen, Polizei und Presse. Schließlich sollte der ehemalige Vizepräsident der USA die Eröffnung vornehmen. ABER ICH WAR AUCH DABEI! Ich weiß nicht mehr viel von diesem Tag, aber jetzt sitze ich zusammen mit Ms Manager Marit Orheim Mauritzen in der Hotelrezeption. Wir haben im Gästebuch den Eröffnungstag nachgeschlagen und dort haben ich meinen Namen neben den vielen (den anderen) Berühmt-heiten gefunden. Sicher, ich protze seit Jahren damit, dass ich Walter Mondale getroffen habe. (Seine Großeltern kamen aus Mundal, hast du das gewusst? Daher der Name …) DOCH ICH HATTE KEINE AHNUNG DAVON, DASS AUCH BlBBI BOKKEN BEI DEN FEIERLICHKEITEN ZUGEGEN WAR!

Das ist wirklich wahr. Bei deinem nächsten Besuch kannst du dich selber davon überzeugen. Und Marit kann sich gut an sie erinnern. Niemand kannte sie damals, aber sie gab sich als Journalistin aus. UND SIE KANNTE WALTER MONDALE! Immer wieder stand sie neben ihm, um ihm Geheimnisse ins Ohr zu flüstern …

Ich rede hier über Fjærland, Nils. Da dieser Ort so langsam eine gewisse Berühmtheit erlangt, kommen hier noch weitere Informationen. Wenn du im Lexikon nachschlägst, dann steht dort:

Fjasrlandsfjord, ca. 25 km langer Arm des Sognefjord.

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Hinter Balestrand schlängelt F. sich zwischen mächtigen, mit Gletschern bedeckten Bergen weiter zum Jostedals-breen. Ganz hinten im Fjord, auf dem linken Ufer, liegen die Filialkirche von Fjærland und das Turisthotell Mundal. Von hier aus führen Wege hinauf zum Bøyums-breen und zum Suphellebreen, zwei Armen des Jostedals-breen. Der Ursprung des Namens Fjærland ist nicht sicher belegt.

Doch das war vor Mr Mondale & Co. – also ehe wir auf der Weltkarte gelandet sind. Das war überhaupt, ehe wir auf irgendeiner Karte gelandet sind, denn erst damals bekamen wir doch eine Straßenverbindung zur Umwelt. Und wieder bekommst du ein Stück (knochentrockene) Fachliteratur zum Verdauen. Das hier stammt aus einer Broschüre des Amtes für Straßenbau:

Nachdem Fjærland viele Jahre hindurch um eine Straße gekämpft hatte, gab das Parlament 1975 grünes Licht für den Bau einer Hauptstraße. Die Arbeitsgruppe »Straße nach Fjærland« entwickelte drei Alternativen: über Vetlefjord, Skei und Sogndal. Das Amt für Straßenbau wollte eine Straße nach Sogndal bauen, das Parlament war dagegen und beschloss 1976, den Weg über Skei zu nehmen.

Die Bauarbeiten begannen 1977 und Straße und Fjærlandstunnel wurden am 31. Mai 1986 offiziell dem Verkehr übergeben.

Die Straße Fjærland – Skei zieht sich vom Fähranleger Fjærland quer zur Hauptstraße 14 nach Skei in J0lster hin. Ihre Gesamtlänge beträgt 30 600 Meter.

Sie hat drei Tunnel mit einer Gesamtlänge von 7355 Metern. Der längste ist der Fjærlandstunnel mit 6381

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Metern. Die Bauarbeiten wurden im September 1977 aufge-

nommen, wobei die alte Straße am Kjøsnesfjord ausgebessert und vor Lawinen geschützt wurde. Mit den Arbeiten für den Fjærlandstunnel wurde 1981 begonnen. Es wurde rund um die Uhr und teilweise in zwei und drei Schichten gearbeitet.

Am 8. Mai 1985 kam der eigentliche Durchstich. Inzwischen waren von der Fjærlandseite 4463 und von der Skeiseite 1977 Meter weggesprengt worden.

Der Tunnel wurde geplant und gebaut unter Leitung des Amtes für Straßenbau.

Für den Abtransport der Steinmassen aus dem Tunnel wurden sämtliche Fuhrunternehmen der Region einge-setzt. Das gilt auch für die Sicherheitsvorkehrungen auf der Fjærlandseite, die elektrischen Installationen und die Überdachung.

Im Fjærlandstunnel wurden ca. 336000 m3 Gebirgsmasse weggesprengt. Dazu waren an die 638 Tonnen Sprengstoff vonnöten, es wurden knapp 609 km Bohrlöcher angelegt. Die Steinmassen aus dem Tunnel wurden für 84 km Straße auf der Fjærlandseite und 3,3 km auf der Lundeseite verbaut. Die restlichen Steinmassen sind in Bøyadalen gelagert, was in Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekt …

Bist du noch da, Nils? Oder hast du den Faden verloren? Ich möchte ganz privat noch hinzufügen, dass der Fjærlandstunnel unter dem Jostedalsbreen verläuft. VIELLEICHT REDEN WIR HIER VON DER IDEALEN MÖGLICHKEIT ZUR EINRICHTUNG EINER GEHEIMEN BIBLIOTHEK! Unter dem Jostedalsbreen,

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Nils – unter Europas größtem Gletscher also. Wir reden hier von einem Gebiet von über 1000 km2. Und dann soll unter diesem Gletscher plötzlich ein über sechs Kilometer langer Tunnel gebaut werden. Mit anderen Worten, eine Riesenanlage – »sämtliche Fuhrunternehmen der Region« waren nötig, um die »Steinmassen aus dem Tunnel« wegzuschaffen, und diese Massen wurden in Zusammen-arbeit mit einem Landschaftsarchitekten abgelagert. In einem nahezu menschenleeren Gebiet!!!

EINE SOLCHE BIBLIOTHEK KANN BIS ZUM JÜNGSTEN GERICHT ÜBERLEBEN!

Ich habe fast keine Zweifel mehr. Es muss einfach einen Zusammenhang geben zwischen diesen gewaltigen Tunnelarbeiten und Bibbi Bokkens geheimer Bibliothek.

Du selber schreibst in deinem letzten Brief – und wie üblich heftest du dabei mit verbundenen Augen dem Schwein (Bibbi Bokken) den Schwanz an: »Stell dir vor, dass Bibbi Bokken unter dem Eis eine magische Bibliothek anlegt!«

Das sind deine Worte. Aber dieses eine Mal mache ich sie zu meinen.

DENN DAS IST NOCH NICHT ALLES! Auf den Tag genau fünf Jahre nach Eröffnung des

Fjærlandstunnels wurde in Fjærland etwas anderes eröffnet. Und zwar am 31.5.1991. An diesem Tag wurde das Norwegische Gletschermuseum eingeweiht, und zwar von Königin Sonja. Richtig – von Königin Sonja, ja. Hast du schon mal von ihr gehört??? Sie ist nämlich auch die Schirmherrin des NORWEGISCHEN BUCHJAHRS! Und auch bei der Eröffnung des Gletschermuseums war Bibbi Bokken hier wieder zu Besuch. Es war ihr zweiter Aufenthalt in Fjærland. (Glaub mir nicht, Nils. Das ist nicht nötig. Du kannst auch ganz einfach im Hotel Mundal

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anrufen und dir das alles bestätigen lassen.) Einige Monate darauf kaufte Frau Buch das gelbe Haus oben in Mundal …

You see? Es spielt übrigens keine Rolle, denn mehr sage ich nicht.

Bisher sind folgende Instanzen in die Sache hineingezogen worden: eine weltbekannte Bibliografin (Bibbi Bokken) ein ehemaliger Vizepräsident der USA (Walter Mondale) das Königshaus (Königin Sonja) das Parlament (Abgeordneter Mauritzen) ein italienischer Buchmystiker (Mario Bresani) ein Glatzkopf, der überall auftaucht (Smiley) das Amt für Straßenbau (Abteilung des Verkehrsministeriums) das gemütlichste Hotel der Welt (eröffnet 1891, genau hundert Jahre früher als das Norwegische Gletschermuseum) der Fjærlandstunnel (eröffnet 31. 5.1986) das Norwegische Gletschermuseum (eröffnet 31.5.1991, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Fjærlandstunnel), der Jostedalsbreen (gegründet vor vielen Jahrtausenden)

Viele Grüße von (To be or not to be) Be Rit Bøyum

PS. Wo in diesem Brief schon so viel von Gletschern und dergleichen die Rede war, kommt jetzt noch ein Gedicht von Jan Erik Vold. Um es zu begreifen, musst du aber genau wissen, wie ein Diplomeis-Eskimo aussieht – der die eine Hand zu einem waschechten Eskimogruß hebt. Drei Zeilen, Nils – aber trotzdem ein ganzes Gedicht:

Auf dem Lieferwagen ein Diplomeis-Eskimo ich winkte zurück

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Als ich dieses Gedicht zum ersten Mal las, wurde ich fast verrückt. Es dauerte nicht lange, aber in der kurzen Zeit war ich total durchgedreht. Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe mit einer Hand gewunken – so, als wäre ich mutterseelenallein auf dem grönländischen Eis und begegnete plötzlich einem ebenso einsamen Diplomeis-Eskimo!

Mit diesen Worten winke ich auch dir zu. Winkst du zurück?

PSSSSSST! Jetzt passiert hier etwas … da ist Bibbi Bokken!!! Sie steht auf der Treppe von dem Hoteleingang. Ich schleiche mich durch den Hinterausgang davon … aber du wirst wieder von mir hören. PASS GUT AUF DAS BRIEFBUCH AUF!

Liebe Berit!

Mir wird schwindlig. Ist das Weiße Haus in Washington jetzt auch schon in die Sache verstrickt? Und Königin Sonja??

Danke dafür, dass du mich wieder auf festen Boden geholt hast, zumindest mit dem einen Bein. Ich finde auch, dass meine Hexentheorie vielleicht ein wenig an den Haaren herbeigezogen war, aber wir ziehen doch ohnehin alles Mögliche an uns heran.

Hier kommt noch ein Mysterium! Und dabei handelt es sich um keine Theorie. Sondern um Tatsachen!

Es fing gestern Nachmittag an. Ich ging über Karl Johan, du weißt schon, Oslos Prachtstraße. Und als ich an der Buchhandlung Tanum vorbeikam, wen hab ich da wohl entdeckt? Richtig – SMILEY.

Er stand im Laden und unterhielt sich mit einer

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Buchhändlerin. Ich blieb stehen, schaute durchs Fenster und gab vor, in den Anblick von Ibsens gesammelten Werken vertieft zu sein.

Als Smiley aus dem Laden kam, kehrte ich ihm den Rücken zu, er sollte mich ja nicht entdecken, und als er die Universitätsgate überquerte, lief ich hinterher.

Er ging vorbei am Nationaltheater, dann über die Stortingsgate und in ein Restaurant namens Theaterkafeen. Ich lief hinterher. Als der Türsteher mich fragte, ob ich einen Tisch bestellt hätte, sagte ich, ich sei mit meinem Vater verabredet, und der sei Reeder. Das war sicher ein blöder Spruch, aber der Türsteher ließ mich durch.

Und da saß Smiley an einem Fenstertisch und kannst du dir vorstellen, mit wem? Halt deinen Lippenstift fest, Berit! Er saß da zusammen mit Astrid Lindgren. Der Schriftstellerin, die die Bücher über Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist und Ronja Räubertochter geschrieben hat.

Obwohl viele sicher finden, das seien Bücher für kleine Kinder, sind sie doch auch noch ziemlich schön, wenn wir älter sind. Sie erinnern uns natürlich an Sachen, die wir vergessen haben. (So, wie die Geschichte mit den blauen Hosenträgern in Pu der Bär). Außerdem geben sie uns eine Art Geborgenheit in einer unruhigen Welt. Und wenn ich jetzt etwas brauche, dann ein wenig Geborgenheit. Sonst zerreiße ich ganz einfach in Fetzen.

Stell dir das doch bloß vor, Berit. Smiley und Astrid Lindgren! Ich ließ mich in ihrer Nähe an einen Tisch fallen, versteckte mich hinter einem Comic und bestellte eine Cola.

Ich saß so nah bei ihnen, dass ich ihnen in den Nacken hätte spucken können. Ich versuchte sie zu belauschen, aber an den anderen Tischen war so viel Krach, dass es

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unmöglich war. Sie redeten jedenfalls die ganze Zeit. Vor allem Smiley. Aber er lächelte nicht. Wer lächelte, war Astrid Lindgren, und ihr Lächeln war überhaupt nicht unheimlich. Sie lächelte ein gemütliches »Omalächeln«, wenn du verstehst, was ich meine.

Am Ende schüttelte sie den Kopf und erhob sich. Sie stand so dicht vor mir, ich hätte sie anfassen können. Ich hätte Astrid Lindgren anfassen können, Berit! Aber das tat ich nicht. Ich saß stocksteif hinter meinem Comic, und jetzt konnte ich immerhin hören, was sie sagte.

»Nein, ich glaube, das kann ich nicht. Das ist nicht mein Fach, fürchte ich.«

Dann ging sie. Smiley blieb eine Sekunde sitzen. Dann sprang er auf,

lief hinter ihr her und rief: »Aber warte doch, Astrid! Wir können doch wenigstens

darüber reden!« Dann rannte er hinter ihr her aus dem Lokal. Ich wollte

ihnen folgen, doch plötzlich sah ich auf dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, einen Briefumschlag. Weißt du, was darauf stand? Nein, das weißt du natürlich noch nicht. Oben in der linken Ecke saß ein Stempel: »Children’s Amüsement Consult«. Unter dem Stempel stand mit Filzstift: »Bibbi Bokkens magische Bibliothek«.

Jetzt weißt du’s. Vor mir drehte sich alles, Berit. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Die Garderobentür ging auf und Smiley kam auf mich zu.

Ich schnappte mir den Briefumschlag, ließ ihn unter meinem Pullover verschwinden und konnte mich auf irgendeine Weise an Smiley vorbei aus dem Restaurant retten. Ich habe mich seit neuestem offenbar zu einem begabten Briefdieb entwickelt.

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Ich stürmte nach Hause, riss den Briefumschlag auf und fand diese Blätter, die ich dir jetzt schicke. Vielleicht verstehst du davon ja mehr als ich.

Bibbi Bokkens magische Bibliothek

VIDEO/FILM 2. FASSUNG, 3. VON 5 SZENEN

1. DRAUSSEN. STRASSE ZUR KIRCHE V. FJÆRLAND. NACHT. HERBST. MUSIK. SCHICKSALSSYMPHONIE.

Berit und Nils gehen langsam auf dem Weg nach Mundalsdalen an der Kirche vorbei. Der Himmel ist dunkel. Wir hören gewaltigen DONNER. Ab und zu zerreißen weiße Blitze die Landschaft und sorgen für eine spukhafte Atmosphäre.

BERIT: Schneller, Nils.

NILS: Ich weiß nicht, ob ich mich traue. BERIT: Es muss sein! NILS: Ich habe Angst, Berit. BERIT (nimmt seine Hand): Ich auch, aber wir müssen

sie finden. Wir müssen sie finden … die Buchhexe!

Ein Blitz zerreißt den Himmel. Wir sehen die weißen, verängstigten Gesichter von Berit und Nils. Dann blicken wir mit ihnen zusammen die Straße hinab auf das gelbe Haus. Die MUSIK wird lauter.

Schwenk zu

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2. IM HAUS DER BUCHHEXE. ZUR SELBEN ZEIT. Wir blicken durch das Fenster auf die Straße, zusammen

mit der BUCHHEXE. Zwei kleine dunkle Gestalten kommen unten auf das Haus zu. Die Buchhexe LACHT leise und knipst die Wohnzimmerlampen aus. Dann schließt sie die Vorhänge.

Schwenk zu

3. DRAUSSEN. VOR DEM HAUS DER BUCHHEXE. GLEICH DANACH.

Die beiden Jugendlichen pressen sich an die Hauswand. Der Wind HEULT in den Bäumen. Es regnet jetzt heftig. Sie sind triefnass. Über ihnen sehen wir ein Fenster mit geschlossenen Vorhängen. Drinnen ist es dunkel. Die beiden unterhalten sich flüsternd:

NILS: Bist du sicher, dass sie schläft?

BERIT: Es ist doch halb zwei. NILS: Können wir nicht nach Hause gehen und es

morgen noch mal versuchen? BERIT: Wieso denn? NILS: Es ist so schreckliches Wetter. BERIT: Soll das ein Witz sein? NILS: Nein. BERIT: Komm!

Sie haben die Tür erreicht. Berit fasst nach der Klinke. Ein verrosteter Klagelaut ist zu hören, als die alte Tür aufgeht.

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Schwenk zu

4. DRINNEN. IM HAUS DER BUCHHEXE Berit und Nils tasten sich durch einen dunklen Gang. Sie

erreichen eine weitere Tür und öffnen sie. Wir folgen ihnen ins Wohnzimmer. Dort ist es stockfinster. Sie tasten sich über den Boden. Plötzlich wird das Licht eingeschaltet. Wir sehen ihre verängstigten Gesichter und ihre Augen, die sich noch nicht an das Licht gewöhnt haben. Dann sehen wir die BUCHHEXE, die mitten im Zimmer steht, aus ihrem Blickwinkel.

BUCHHEXE (seidenweich): Und was habt ihr beiden denn vor?

BERIT: Wir, wir …

Sie verstummt mitten im Satz. Sie bleiben vor Angst erstarrt stehen, während die Hexe mit langsamen, schweren Schritten auf sie zukommt.

Das war alles, Berit. Und es ist offenbar nur der Anfang von etwas, das zu einem Video über dich und mich werden soll!

Aber warum will Smiley über uns ein Video machen und was hat Astrid Lindgren damit zu tun?

Vielleicht hat der Kellner gesehen, dass ich den Briefumschlag eingesteckt habe? Wenn Smiley fragt, kann der Kellner den dünnen Dieb mit den strähnigen Haaren und den blauen Augen sicher gut beschreiben. Und dann … nein, daran wage ich nicht einmal zu denken. Hilfe! SOS! Gefahr! Was soll ich bloß machen?

Liebe Grüße, Nils der Dieb

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Lieber Nils,

du musst so schnell wie möglich nach Fjærland kommen. Ich flehe dich an, Nils. Du schwebst jetzt in größter Gefahr. Aber auch ich brauche dich hier. Ich komme gleich zur Sache … ich war mit dem Rad nach Bøyadalen hochgefahren, denn ich hatte so ein seltsames Gefühl, dass ich mir den Fjærlandstunnel genauer ansehen müsste. Der Weg nach oben kam mir gar nicht so lang und auch nicht so steil vor. Ich fühlte mich ungeheuer unternehmungslustig, ich schaute einmal zum Bøyabreen hoch, legte das Fahrrad am Tunneleingang ab und starrte dann erst mal in die Dunkelheit hinein.

Plötzlich glaubte ich, tief drinnen etwas zu hören. »Beeeriit«, sagte etwas.

Und ich wanderte los. Ich hatte das Gefühl, dass mir keine andere Wahl blieb. Ich wusste ja, dass es lebensgefährlich war, aber ich lief an dem Schild vorbei, auf dem stand, dass für Radfahrer und Fußgänger der Zutritt verboten ist.

Zweimal sausten Autos an mir vorbei, aber ich presste mich an die Felswand, und ich glaube nicht, dass die Fahrer mich gesehen haben. Ich trug meinen schwarzen Regenmantel.

Einmal glaubte ich wieder etwas zu hören. Es sagte: »Beeeriit …« Alles im Tunnel klang so hohl und

unwirklich. Ich hatte wirklich keine andere Wahl, so kam es mir vor.

So, als ob ich nichts mehr zu entscheiden hätte. Die Luft im Tunnel war scharf und kalt, aber mein weiteres Leben schien davon abzuhängen, ob ich mich tiefer in den dunklen Tunnel hineinwagen würde.

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Endlich entdeckte ich dann auf der rechten Seite eine riesige Brandschutztür. Sie hatte einen Eisenriegel als Klinke und war natürlich abgeschlossen. Verflixt, dachte ich.

Ich hatte eine Taschenlampe bei mir und es waren gerade keine Autos im Tunnel, deshalb schaltete ich sie ein. Ich entdeckte eine Art Ziffernschloss, eine runde Scheibe mit Zahlen, wie an einem Banksafe oder so.

Und jetzt passierte etwas Unerklärliches. Plötzlich schien ich den Code zu kennen! Ohne zu überlegen drehte ich das Schloss auf die Zahlen 5-8-5-5-8-5 und dann gab die Tür nach, als ich den riesigen Riegel verschob. Zum letzten Mal glaubte ich, die Stimme zu hören, die mich rief: »Beeriit …« Und jetzt kam die hohle Stimme von innen.

Ich ging durch die Brandschutztür – und dann fiel sie hinter mir ins Schloss. Es war stockfinster. Aber ich knipste die Taschenlampe an und sah, dass ich in einem engen Gang stand. Ich ließ den Lichtkegel vor mir herwandern und setzte mich in Bewegung. Bald stand ich vor einer neuen Tür. Sie war aus Holz und auch sie war verschlossen.

Bin ich jetzt im Berg unter dem Jostedalsbreen eingeschlossen?, fragte ich mich. Geht es jetzt weder vor noch zurück? Weder aus noch ein?

Plötzlich entdeckte ich eine kleine Blechdose, die auf einem Sims im Fels stand. Ich öffnete sie und fand einen Schlüssel. Den steckte ich in die Tür, drehte ihn um – und jetzt öffnete sich die Tür.

Dann soll ich wohl weitergehen, dachte ich. Aber zuerst musste ich mir sechs Zahlen merken. Woher ich die wusste? Aus irgendeinem Grund wusste ich sie eben. Ich glaube, ich dachte, ich sei zur Hellseherin geworden. Ja,

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zur Hellseherin, Nils. Ich fand das schon seltsam, aber noch seltsamer kommt es mir jetzt vor …

Ich leuchtete in einen kleinen Raum hinein und dort gab es viele hunderte, vielleicht tausende winzige Holz-schubladen, vom Boden bis zur Decke. Ich zog eine auf. Sie war voll gestopft mit Karteikarten. Ich zog eine hoch und las: HJORTH, VIGDIS: Tilla liebt Philip, Oslo, 1984.

Ich begriff, dass ich in einem riesigen Karteiraum stand und dass die Bibliothek, auf die die vielen Karten sich bezogen, riesengroß sein musste. Ich hatte jedenfalls noch nie eine so große Kartei gesehen, aber ich war auch noch nie in einer Universitätsbibliothek.

Ich dachte natürlich an Bibbi Bokken und begriff, dass ich ihre geheime Bibliothek gefunden hatte. Denn es gab noch eine Tür und die war nicht verschlossen.

Ich trat auf die Tür zu und leuchtete ein kleines Plakat an, das genau darüber hing. Darauf stand:

NICHT FÜR ALLE WELT

Du gehörst zu den wenigen Auserwählten, die Zutritt zu diesen heiligen Hallen haben. Hier findest du alle Bücher, die in der gesamten Geschichte der Menschheit geschrieben worden sind. Derzeit füllen wir die Regale mit Büchern, die erst noch geschrieben werden.

VORSICHT BEWAHREN!

Ich wusste nicht, wer das alles zusammengetragen hatte, Nils, aber ich wusste doch von einer beteiligten Person. Denn hier mussten ja endlos viele Leute zusammen-gearbeitet haben. Sie allein hätte niemals auch nur einen der Räume, in denen ich bereits gewesen war, aus dem Fels sprengen können.

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Ich dachte daran, wie viele Jahre der Bau des Fjærlandstunnels in Anspruch genommen hatte. Aber in aller Heimlichkeit war tief im Berg auch noch eine geheime Bibliothek eingerichtet worden. Eine Bibliothek, in der alle Bücher der Welt Platz hatten. Und jetzt – jetzt stand ich hier!

Es ist peinlich, das zugeben zu müssen, aber ich habe eigentlich nicht an dich gedacht. Das hier war das größte Geheimnis in meinem Leben und im Moment gehörte es mir ganz allein.

Ich öffnete die Tür und sah einen Raum von der Größe eines Klassenzimmers. Hier hing unter der Decke eine schwache Glühbirne. Alle Wände waren von oben bis unten mit Büchern bedeckt und auf dem Boden war in großen roten Buchstaben etwas geschrieben, nämlich ÄGYPTEN.

Ich wagte nicht, eins der Bücher anzufassen, aber ich entdeckte auf mehreren Buchrücken Krähenfüße. Sie sahen aus wie Kinderzeichnungen von Dingen aus der Natur – von Vögeln, Stierhörnern und Menschenfiguren. Werden solche Zeichen nicht Hieroglyphen genannt?

Andere Türen gab es nicht. Doch von diesem Raum aus führten Öffnungen in andere Säle. Du kannst dich sicher daran erinnern, wie ich im vergangenen Jahr bei dir in Oslo war und mein Vater uns ins Naturhistorische Museum geschleift hat. Dort gab es auch Säle mit solchen Öffnungen dazwischen. Ich lief los. Ich glaube nicht, dass ich Angst hatte, Nils. Im Gegenteil, ich fühlte mich plötzlich so leicht und frei wie seit meiner Kindheit nicht mehr.

Auch im nächsten Saal stand etwas auf dem Boden, ich glaube, MESOPOTAMIEN. Aber ich rannte einfach weiter. Und jetzt kann ich mich an die Reihenfolge der

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Zimmer nicht mehr erinnern. Überall gab es trübe Glühbirnen an der Decke, aber ich hatte doch eine starke Taschenlampe und je dunkler ein Zimmer ist, umso mehr Licht scheint so eine Taschenlampe zu geben. Ich weiß noch, dass ich las: CHINA, INDIEN, GRIECHENLAND, ROM …

Einige Male blieb ich stehen und leuchtete einige Buchrücken an. Denn ich wagte noch immer nicht, sie zu berühren, obwohl ich doch ganz allein war. Und das Allerseltsamste, was ich dabei erlebt habe, das kommt jetzt:

Immer, wenn ich einen Buchrücken anleuchtete, stand darauf etwas, das ich schon wusste. Als ich den Saal ISRAEL erreicht hatte, schaute ich ein kleines Buch namens Genesis an. Und ich wusste ja schon, dass so das 1. Buch Mose heißt, das haben wir in der Schule gelernt. Im griechischen Zimmer las ich den Namen »Homer«, und von dem habe ich immerhin gehört. Im römischen Raum las ich »Caesar« und ein anderes Buch hieß Homo sapiens. Zufällig weiß ich, dass das Mensch bedeutet. Und so ging es weiter!

Kannst du dir vorstellen, was das für ein seltsames Gefühl war, Nils? Ich war umgeben von tausenden, vielleicht von Millionen oder sogar Milliarden Büchern. Aber jedes Mal, wenn ich ein Buch anleuchtete, hatte ich schon von diesem Buch oder seinem Autor gehört. Und ich kenne doch nicht so viele alte Bücher oder Schriftsteller …

Von jetzt an lief ich immer schneller, von Raum zu Raum, von Gang zu Gang, von Saal zu Saal. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich mich an alle Bücher erinnern kann, die ich angesehen habe, doch jedes Buch, das ich sah, kam mir bekannt vor. ABER WARUM HABE ICH IMMER BÜCHER ANGELEUTET, VON DENEN ICH

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ZUFÄLLIG SCHON GEHÖRT HATTE? Ich will nur einige Beispiele bringen, an die ich mich

noch genau erinnere. Im deutschen Raum leuchtete ich »Grimm« und »Goethe« an. Im englischen Raum waren es »Shakespeare«, »C. S. Lewis: Narnia« und »A. A. Milne«. Im schwedischen Raum fand ich »Astrid Lindgren«. Aber keiner dieser vielen Namen war mir neu. Ich hatte das Gefühl, alles zu wissen, was die gesamte Menschheit wusste.

Und etwas war noch seltsamer. Denn jetzt fällt mir ein, dass ich »Astrid Lindgren« las, denn ich kannte doch ihren Vor- und ihren Nachnamen. Aber ich las nur »A. A. Milne«. Das ist der, der die Bücher über Pu den Bären geschrieben hat, doch ich habe keine Ahnung, wofür A. A. steht. Und deshalb war auf dem Buch auch nicht mehr zu lesen!!!

Das hat mir keine Angst gemacht, Nils. Ich war einfach nur froh, nur erleichtert. Wir wissen doch immer nur das, was wir wissen. Es wäre entsetzlich, wenn wir plötzlich mehr wüssten. Denn woher sollten wir das haben?

Ich lief weiter von Raum zu Raum. Aber ich ging nicht immer in dieselbe Richtung, jeder Raum hatte immer mehrere Ausgänge. Das Ganze kam mir vor wie ein gewaltiges Labyrinth. Vielleicht gab es auch mehrere Etagen, denn ich musste auch einige Treppen hinauf- und hinabgehen.

Und dann kam ich in den Raum, wo auf dem Boden NORWEGEN stand. Erst jetzt wagte ich ein Buch aus dem Regal zu nehmen, denn das war für mich doch sozusagen ein Heimspiel. Ich versuchte Bücher zu nehmen, ohne die Rücken zu lesen. Ich wollte kein Buch erwischen, das ich schon kannte. Allein in diesem Raum standen viele, viele tausend Bände.

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Ich nahm das Buch in die Hände und schlug es an irgendeiner Stelle auf. Und las:

DIE AMEISE

Klein?

Ich? Nichts da.

Ich bin gerade groß genug. Fülle mich selber aus und zwar in allen Richtungen von

oben bis unten. Bis du denn etwa größer als du selber?

Ich stellte das Buch ganz schnell wieder ins Regal. ICH HATTE DAS GEFÜHL, MICH VERBRANNT ZU HABEN! Denn dieses Gedicht kannte ich doch schon. Es stammt von Inger Hagerup und ich habe es letztes Jahr auf der Schulabschlussfeier aufgesagt!!!! Sonst kann ich kein Gedicht auswendig, kein einziges (abgesehen von denen von Jan Erik Vold natürlich).

Ich machte noch einen Versuch und öffnete ein Buch ganz vorn. Ich las: »Åse: ›Peer, du lügst.‹ Peer: ›Nein, ich lüge nicht.‹ Åse: ›Na, dann schwöre mir, dass das wahr ist‹ …« Auch dieses Buch stellte ich ganz schnell zurück, denn es enthielt doch das Stück von Henrik Ibsen, das wir gerade in der Schule durchgenommen haben!

Ich rannte wieder los und glaubte noch einmal die Stimme rufen zu hören: »Beeriit …«

Und dann passierte es: Ich lief in einen Saal, der fast so groß war wie ein Fußballplatz. Aber hier gab es fast keine Bücher. Alle Wände waren mit Regalen bedeckt, aber es

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standen nur zwei Bücher drin. Auf dem Boden stand: ANGEHENDE BÜCHER.

Ich stürzte zu den beiden vorhandenen hinüber und leuchtete ihre Rücken an. Auf dem einen stand: GUNNAR STAALESEN: Begrabene Hunde beißen nicht. Auf dem andern Buch, Nils, und jetzt musst du dich einfach festhalten, auf dem andern Buch stand: Bibbi Bokkens magische Bibliothek.

Ich hätte fast losgeheult, aber ich konnte mich noch zusammenreißen. Ich klappte das Buch wieder zu und stellte es ins Regal.

Dann hörte ich aus einem weit entfernten Zimmer Schritte. Ich rannte los, um ihnen zu entkommen, aber obwohl ich verzweifelt von diesen Schritten fortlief, klangen sie immer näher, wenn ich stehen blieb und horchte.

Bald stand ich wieder in dem großen Saal der angehenden Bücher und hörte jetzt die Schritte im Nebenzimmer.

UND DANN KAM SIE, NILS! Bibbi Bokken schritt ins Zimmer und lächelte wieder ihr besserwisserisches Lächeln.

»Ach was, du bist das«, sagte sie mit ihrer zuckersüßen Marzipanstimme – als fände sie es ganz normal, dass ich hier war.

Sie kam mit langen, energischen Schritten auf mich zu. Sie hob eine Hand und sagte:

»Jetzt hast du mich wieder ausgetrickst, Berit. Und das gefällt mir nun mal nicht!«

Und dann wurde ich wach, Nils. Denn das alles war nur ein Traum. Ich setzte mich im Bett auf und brüllte los. Und bald stand meine Mutter neben mir. Du weißt sicher,

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wie das ist. Ich legte die Arme um ihren Hals und weinte. »Was hast du denn geträumt?«, fragte sie. Ich konnte erst nach langer Zeit antworten. Endlich

schluchzte ich: »Die Buchhexe, Mama. Ich habe von der bösen

Buchhexe geträumt …« Jetzt wurde getröstet und gekuschelt und gestreichelt. Es

gab sogar heißen Johannisbeersaft, obwohl es doch mitten in der Nacht war. Aber ich fand, ich hätte das alles verdient. Denn auf irgendeine Weise hatte ich ja Mut bewiesen und eine richtig gefährliche Tat begangen.

Am nächsten Tag musste ich gleich nach der Schule natürlich wirklich nach Bøyadalen hochfahren. Ich legte das Fahrrad am Tunneleingang ab und hier sitze ich nun mit dem Briefbuch in der Hand.

Ich denke daran, was sich vielleicht im Berg befindet. Denn noch immer steckt der Traum mir im Kopf. Ich habe das Gefühl, eine andere Wirklichkeit aufgesucht zu haben. Meine Seele scheint sich in einer Art Fantasiewelt aufgehalten zu haben, die irgendwo neben der Welt liegt, in der mein Körper wohnt.

Ich habe so viele seltsame Gedanken, aber jetzt glaube ich, du musst das Briefbuch möglichst schnell bekommen, und deshalb fahre ich wieder los und gebe es auf. (Ich schicke es per Einschreiben, obwohl das viel teurer ist.) Und außerdem habe ich für morgen schrecklich viele Hausaufgaben zu machen.

Vielleicht hat dein Brief mich in den Berg unter dem Jostedalsbreen gejagt. Aber jetzt ist es ernst, Nils. DU MUSST SO SCHNELL WIE MÖGLICH HER-KOMMEN!

Ab Montag haben wir eine Woche Herbstferien. Wie

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sieht es bei euch aus? Schwänz doch einfach am Freitag. Deine für immer mit dir verschworene Berit, der

Waghals von Bøyadalen.

PS. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Astrid Lindgren in düstere Geschäfte verwickelt ist. Vielleicht wollte Smiley sie anwerben, wo sie doch mit so vielen Kindern zu tun hat. Und sie hat abgelehnt: »Das ist nicht mein Fach.«

PPS. Vielleicht hat Bibbi Bokken das Filmdrehbuch geschrieben. Auf jeden Fall stammt es von jemandem, der sich in Fjærland auskennt.

Liebe Berit,

wenn du das hier liest, bin ich schon, wie du weißt, in Fjærland. Ich schreibe trotzdem, ich habe nämlich das Gefühl, besser denken zu können, wenn ich schreibe, als wenn ich rede. Dein letzter Brief war einfach fantastisch. Genau wie ein Märchen. Du solltest ihn an eine Illustrierte schicken, denn wenn meine Mutter für »Die Stadt meiner Jugendliebe« eine Reise nach Rom gewinnen konnte, müsstest du doch zumindest eine Reise um die Erde herausschlagen können. Du hast so geschrieben, dass ich es für ein Märchen aus der Wirklichkeit hielt, aber dann war es ein Traummärchen. Doch, Berit: Ich glaube, es war trotzdem wahr. Denn alles, was du geträumt hast, stammte aus der Wirklichkeit: die Schriftsteller, Bibbi Bokken, der Tunnel. Du wusstest von allem, aber vor dem Einschlafen konntest du keinen Zusammenhang entdecken. Und danach fügte sich alles zusammen wie die Teile in einem Puzzlespiel. Und du hattest Bibbi Bokkens magische Bibliothek vor dir. Aber das wichtigste Buch dort konntest du nicht einmal im Traum lesen, denn das Puzzlespiel, das

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es öffnet, haben wir noch nicht gefunden. Aber zurück zur Wirklichkeit, Berit. Jetzt sitze ich in

Flåm am Anleger und schreibe diesen Brief, während ich auf die Fähre warte. Es war eine unglaubliche Bahnreise.

Ich stieg also in den Zug, zog meinen Schlafanzug an und legte mich schlafen.

Meine Mutter hat mir in Rom einen neuen Schlafanzug gekauft. Einen roten mit Knöpfen und weißen Punkten. Ziemlich schick, doch das ist eine andere Geschichte.

Also gut. Ich war todmüde und brauchte dringend eine »große Mütze voll Schlaf«, wie mein Vater immer sagt.

Aber glaubst du, ich konnte einschlafen? Nicht doch. Nils Bøyum Torgersen schläft nie! Vor allem nicht, wenn im Bett über ihm ein dicker Mann liegt, der wie eine Motorsäge schnarcht.

Ich wälzte mich eine Stunde lang von einer Seite auf die andere, dann gab ich auf, zog mich an und ging hinaus auf den Gang. Ich hatte ein Buch eingesteckt, »Die Brüder Löwenherz« von Astrid Lindgren. Sicher hatte das Kind in mir dieses Buch ausgesucht. Außerdem komme ich mir gerade vor wie eine Art Bruder. Denn ich habe zwar keinen großen Bruder wie Jonas Löwenherz, aber ich habe doch immerhin eine große Kusine, Berit (hi, hi).

Ich ging durch den Gang und suchte ein Abteil mit Sitzplätzen. Im nächsten Wagen gab es ein Raucherabteil. Ich schaute durch die Glastür und fuhr dermaßen heftig zurück, dass ich fast das Fenster hinter mir zerbrochen hätte.

Nicht die beiden Kartenspielerinnen machten mir Angst. Und auch nicht der alte Pfeifenraucher, der seinen Hut nicht abgenommen hatte.

Nein, was mich fast umgeworfen hätte, war der kleine

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Glatzkopf, der am Fenster seine Zigarette paffte. Das war nämlich SMILEY.

Jetzt war guter Rat teuer und dringendst nötig. Was hatte er in diesem Zug zu suchen? Konnte das ein Zufall sein? Nein, bestimmt nicht. Ich habe in letzter Zeit so viele »Zufälle« erlebt, dass ich einen echten bestimmt erkennen würde. Und dieser Zufall war ebenso falsch wie Reinert Bruuns Freundlichkeit.

Smiley fuhr mit diesem Zug, weil ich es auch tat. Er hatte seine Mission. Seine Mission als Spion. Aber jetzt hatten wir die Rollen getauscht. Jetzt hatte Nils B. T. die Kontrolle. Vorsichtig schaute ich wieder ins Abteil. Smiley zog seine Zigarettenpackung hervor. Die war leer. Er stand auf.

Geistesgegenwärtig, wie ich bin, verschwand ich auf dem Klo. Die Tür ließ ich angelehnt. Smiley kam. Er blieb vor der Tür stehen und einen entsetzlich unheimlichen und grausamen Moment lang glaubte ich, er müsse. Aber zum Glück ging er schließlich weiter. Ich atmete lautlos auf, öffnete vorsichtig die Tür und schlich hinter ihm her. Das war ziemlich riskant, aber ich ließ es drauf ankommen und er drehte sich nicht um.

Er ging ins Schlafabteil Nr. 61, 62, 63 und ich blieb am Ende des Gangs stehen und wartete. Wie ein Panther auf der Fährte. Ob meine Theorie wohl stimmte? Ich klammerte mich am Buch fest.

Er kam sofort wieder heraus. Meine Annahmen waren genau richtig gewesen. Er hatte sich neue Zigaretten holen wollen.

Swisch! Bang! Gleich darauf stand Nils Bøyum Torgersen wieder auf dem Klo. Bleich, aber gefasst. Ich hörte Smileys widerliche Schritte, als er vorüberging.

Ich wartete fünf Sekunden. Vielleicht zehn. Dann ging

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ich ruhig über den Gang und ins Schlafabteil 61,62,63. Mein Plan stand fest. Wenn jemand dort lag, würde ich

behaupten, ich hätte mich in der Tür geirrt und damit wäre der Fall erledigt. Aber das Abteil war leer.

Ich schaute mich rasch um. Sein Koffer stand auf dem Boden. Das Nummernschloss sah ich sofort. Daran konnte ich nichts ändern. Das unterste Bett war zerwühlt. Ich war wohl nicht der Einzige, der in dieser Nacht nicht schlafen konnte. Auf dem zerknüllten Laken lag ein Brief. Ich legte das Buch auf das Kopfkissen, nahm den Brief und las:

Marcus! Finger weg von Fjærland. Hab ein bisschen Geduld und überlass mir die Sache. Bibbi.

Ganz plötzlich ging mir auf, dass ich (wir) Recht habe(n) mit meinen (unseren) Theorien. Bibbi Bokken und Smiley (der offenbar Marcus heißt) arbeiten zusammen und haben irgendeinen Plan mit uns.

Sie wissen, dass wir bald alle beide in Fjærland sein werden, aber er hat weniger Geduld als sie. Er hat irgendetwas mit uns vor, doch sie will die Sache selber schmeißen.

Ich habe das Gefühl, dass wir uns dem letzten Kapitel in diesem Mysterium nähern, und ich bin nicht so sicher, ob wir dieses Kapitel besonders witzig finden werden.

Nachdem ich den Brief gelesen hatte, ging ich in mein Abteil zurück. Ich legte mich aufs Bett und Wunder über Wunder: Ich schlief ein.

Als ich vom Schaffner geweckt wurde und alles wieder in meinem Koffer verstauen wollte, machte ich eine Entdeckung – und war sofort hellwach. Ich hatte das Buch von Astrid Lindgren in Smileys Abteil vergessen.

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Und es wäre doch unmöglich gewesen, es einfach holen zu gehen. Sollte es bleiben, wo es war. Eine Runde gute Literatur würde Smiley sicher gut tun.

Jetzt sitze ich also hier in Flåm in einer von Nebel verhüllten Landschaft.

Obwohl ich Angst habe, ist es eine schöne Vorstellung, dass wir bald zu zweit sein werden. Im Moment bin ich sogar ziemlich ruhig. Hier ist es so still. So, als ob nichts Gefährliches passieren könnte. Aber jetzt höre ich Schritte. Offenbar kommt jemand. Und zwar Smiley. Er …

DIE NAIVEN TROTTEL SIND VOLL IN DIE FALLE GETAPPT! DER AUGENBLICK DER WAHRHEIT RÜCKT NÄHER! ZU SETZEN IN SABON 12/14 PKT (NILS) UND BERKELEY OLD STYLE 12/14 PKT (BERIT). M. B. H.

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TEIL 2 Die Bibliothek

Wir tappten voll in die Falle, und das hätten wir vorhersehen müssen. Aber auch ein blindes Huhn landet manchmal im Käfig.

Er hatte ja ins Briefbuch geschrieben, dass wir beide in 12/14 pkt gesetzt werden sollten. Es dauerte noch einige wenige Tage und jetzt sitzen wir hier.

Ich schaue zu Nils hinüber, der mir gegenüber an dem riesigen Tisch sitzt. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und isst so nach und nach seinen Bleistift auf. Ich selber kaue inzwischen Nägel.

Immer wieder hören wir im anderen Zimmer Telefone klingeln und draußen auf dem Gang eilige Schritte. Nur hier bei uns ist alles still.

Ab und zu schaut ein lächelndes Gesicht zu uns herein und erkundigt sich nach unserem Befinden. Vor einer halben Stunde hat die Frau uns einige Brote gebracht. Besser, wir legen los. Nils fängt an.

Ich saß auf einer Bank im Bahnhof von Flåm, als ich die Schritte hörte. Ich schaute auf und blickte in Smileys verzerrtes Gesicht. Ich weiß nicht, ob es wirklich verzerrt war, aber mir kam es so vor. Er stand vor mir wie ein düsterer Schatten und sagte mit leiser, weicher Stimme:

»Ich habe etwas, dass dir gehört, mein Junge, und umgekehrt ist das auch der Fall.«

Das Drehbuch, dachte ich. Er will das Drehbuch zurückhaben.

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»Kein Problem«, flüsterte ich. »Wir können tauschen.« Er lächelte und trat einen Schritt auf mich zu. Und ich rannte los. Weg von Smiley, Sonnenaufgang,

Briefbuch, von allem. Die Fähre hatte gerade angelegt. Ich stürmte an Bord, vorbei an den Autos, die gerade herunterfuhren, und schloss mich auf dem Klo ein. Ich wusste ja, dass Smiley hinter mir her war, und deshalb blieb ich dort, bis ich auf eine neue Fähre und in ein neues Klo überwechseln musste. Zum Glück ging alles gut.

Als wir in Fjærland angekommen waren, ging ich erst an Land, als ich sicher war, dass außer mir kein Fahrgast mehr an Bord war.

Im Hafen war alles leer. Berit hatte das Warten sicher längst aufgegeben. Ich ging langsam zum Hotel hoch.

Meine Tante hat nicht viel Platz, deshalb hatte sie dort für mich ein Zimmer genommen. Was mir nur recht war. Es bedeutete für die Detektei Bøyum & Bøyum ein richtiges Büro. Obwohl ich mir in dem Moment nicht gerade wie ein Detektiv vorkam, sondern nur wie ein dummer, verlegener und total verängstigter Zwölfjähriger. Dumm, weil ich das Drehbuch gestohlen hatte. Verlegen, weil ich das Briefbuch verloren, nein, schlimmer noch, weil ich es in die schmutzigen Hände des Feindes hatte fallen lassen. Verängstigt, weil ich davon ausgehen musste, dass er hier in Fjærland war und jederzeit seine Zähne in mich schlagen konnte, oder wie das nun heißt.

Endlich erreichte ich die Hotelrezeption, mein Kinn hing mir inzwischen bis aufs Knie. Ich murmelte meinen Namen, bekam einen Schlüssel und wollte mich gerade die Treppe hochschleppen, als etwas mich in den Rücken stach. Ich hörte eine undeutliche Stimme, die befahl:

»Hände hoch!« Ich weiß, dass meine Fantasie ab und zu ihre eigenen

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Wege geht, und ich kann mir Dinge einbilden, die hunderte Meilen von der Wirklichkeit entfernt sind. Aber diesmal hatte ich jede Menge gute Gründe für meine Reaktion. Ich hatte ohnehin schon arge Angst und wartete nur darauf, dass Smiley hinter einer Vase oder einer Tür auftauchte, um den Diebstahl des Drehbuchs zu rächen. Also handelte ich ganz instinktiv, genau wie Phantom oder Batman, wenn sie von hinten angegriffen werden. Ich wirbelte herum, zog den Kopf ein und rammte ihn dem Menschen hinter mir in den Bauch.

»Auuuuuuu! Aiiiiiii! Spinnst du? Ooooooh!« Es war nicht Smiley. Es war Berit. Sie presste die Hände

auf den Bauch und sah mich mit einem Blick an, der zu fünfzig Prozent aus Wut und zu fünfzig Prozent aus Überraschung bestand.

Ich lag auf dem Bauch und starrte sie dämlich an. »Verzeihung. Ich wusste doch nicht, dass du das bist.« »Natürlich nicht. Rammst du nur allen andern den Kopf

in den Bauch?« »Du hast mir Angst gemacht!« »Ja, und das werde ich nie wieder tun.« Plötzlich lächelte sie. Sie hatte Lippenstift und

Wimperntusche aufgetragen und sah ziemlich gut aus für eine Kusine. Aus irgendeinem Grund kam ich mir vor wie zehn Jahre alt.

»Hast du das Briefbuch?« Ich schluckte und merkte, dass ich rot wurde. Der

Tollpatsch aus der Vibes gate schlägt wieder zu. »Das ist es ja gerade«, stammelte ich, aber Berit fiel mir

ins Wort. »Du, im Salon sitzt einer, der mit uns reden will.« Vom Gong gerettet, dachte ich und folgte Berit ins

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Kaminzimmer. Sie redete die ganze Zeit weiter. »Er behauptet, einen Vertrag für uns zu haben. Und dich

zu kennen und …« Ich packte ihren Arm und drückte zu. Der Mann saß

hinten im Salon und schaute aus dem Fenster. Obwohl er uns den Rücken zudrehte, konnte ich durch seinen blanken Schädel hindurch sein schleimiges Lächeln sehen. Berit jammerte.

»Au, was soll denn …« Ich hielt ihr den Mund zu und zog sie in die Rezeption. Ziemlich profihaft für einen so jungen Detektiv wie

mich, wenn du mich fragst. »Smiley«, flüsterte ich. »Das ist Smiley.« Berit riss die Augen auf und starrte mich an. »Wenn ich jetzt loslasse, schreist du dann?«, fragte ich.

Eine Frage, wie sie vor mir schon Millionen Detektive gestellt hatten. Sie schüttelte den Kopf.

»Zu dir oder zu mir?«, fragte ich leise. »Zu dir, du Trottel«, flüsterte sie und lief die Treppe

hoch. Ich lief hinterher. Eine halbe Stunde später hatte ich ihr die ganze Geschichte erzählt. Ich war nicht so hart, wie ich vorgegeben hatte, und jetzt saß ich auf einem blauen Holzstuhl und zitterte und merkte, wie mir die Tränen kamen.

»Was machen wir bloß?«, fragte ich.

»Was machen wir bloß?« Es fiel mir nicht schwer, diese Frage zu beantworten.

Kaum war Nils in Fjærland angekommen, da rammte er mir auch schon den Kopf in den Bauch, was mir fast den Atem verschlug. Gleich darauf hielt er mir den Mund zu

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und hätte mich fast erwürgt. Das Schlimmste war natürlich, dass er das Briefbuch

verloren hatte. Er hatte es in Flåm auf eine Bank und damit fast in Smileys Arme geworfen. Ich hätte vor Wut platzen können. Jetzt musste er sehen, wie er es zurückstehlen konnte.

Smiley hatte sich im Hotel ein Zimmer genommen und das noch dazu auf demselben Flur, auf dem Nils’ kleiner Schlupfwinkel lag. Ich hatte schon mit ihm gesprochen, war aber nicht auf die Idee gekommen, er könne Smiley sein. Ihm klebte zwar die ganze Zeit ein selbstsicheres Grinsen auf dem Mund, aber das ist doch bei vielen der Fall.

Schon vor seinem Eintreffen hatte ich gehört, dass er unbedingt in der einzigen Suite des Hotels wohnen wollte – mit riesigem Balkon und wunderbarem Blick auf Fjord und Gletscher. Vielleicht war er ein reicher Geschäftsmann?

Ich sah ihn zum ersten Mal im Billardraum, der zugleich als Hotelbibliothek dient. Während ich auf Nils wartete und mir nichts Böses dachte, spielte ich mit den Billardkugeln. Ich bin in Geometrie gar nicht schlecht und Billard ist irgendwie genau dasselbe. Im Grunde geht es darum, Winkel zu berechnen.

Und dann stand er da, der neue Hotelgast – der, über den schon Gerüchte in Umlauf waren, weil er um jeden Preis im teuersten Zimmer wohnen wollte. Ich wusste, dass er es sein musste, denn an diesem Nachmittag wurden nur zwei neue Gäste erwartet. (Abends dagegen sollten wohl auch noch einige Lehrer eintreffen.) Der andere war ein Italiener, der mit der vorigen Fähre gekommen war und kein Wort in irgendeiner anderen Sprache als seiner eigenen verstand. Das hatte schon einige Probleme

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gemacht, denn Italienisch ist so ungefähr die einzige Sprache, die im Hotel Mundal wirklich niemand beherrscht. Aber sie hatten immerhin bald verstanden, dass er eine Art Sonderling sein musste. Er wollte zum Beispiel sofort das Gletschermuseum besuchen und deshalb auf das Essen verzichten.

Der Mann mit dem selbstsicheren Lächeln zog Bücher aus den Regalen und ich weiß noch, dass ich fand, er sollte mich lieber zu einer Billardpartie auffordern.

Er stellte einen Prachtband über den Jostedalsbreen zurück ins Regal, drehte sich zu mir um und sagte:

»Schöne Bibliothek …« Irgendwo in mir muss ein Glöckchen gebimmelt haben,

aber eins, das so weit hinten im Kopf hing, dass ich es erst hörte, als er hinzufügte:

»Das Hotel hat viele interessante Bücher. Schade, dass sie so systemlos wild durcheinander stehen.«

In meiner Verwirrung sagte ich: »Dann sollten Sie mal in die Stadtbücherei gehen. Da

wird Dewey benutzt.« Er lächelte die ganze Zeit und hob jetzt die

Augenbrauen. Ich musste mir die Sache gut überlegen, ließ alles drauf ankommen und sagte:

»Wenn Sie sich vor allem für Berge, Täler und so weiter interessieren, dann finden Sie das zwischen 550 und 559.«

Die ganze Situation kam mir ein bisschen vor wie ein Fernsehquiz. Erst einige Tage später ging mir auf, dass er das ganze Gespräch angeleiert hatte, um mir meinen Namen zu entlocken. Er sagte:

»Du beeindruckst mich, mein Mädel. Sag mal … hast du gehört, ob es hier noch eine andere Bibliothek gibt?«

Es gefiel mir nicht, dass er mich »mein Mädel« nannte.

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Es gefiel mir auch nicht, dass er eine andere Bibliothek erwähnte. Ich starrte den Billardtisch an und schickte die schwarze Marmorkugel über das Filztuch. Sie stieß gegen die beiden weißen.

Ich dachte natürlich an Bibbi Bokken. Aber ich kam einfach nicht auf die Idee, dass Smiley vor mir stehen könnte. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, dass er unterwegs nach Fjærland war. Außerdem hatte ich ihn mir um einiges schleimiger vorgestellt.

Aber ich sprach hier mit jemandem, der etwas gehört haben musste, das mit Bibbi Bokken zu tun hatte.

»Wir haben eine kleine Schulbücherei«, sagte ich. Irgendetwas huschte wie ein Blitz über sein Gesicht.

Entweder war er böse, oder wenn nicht, dann war sein Interesse geweckt. Seine Augen schienen zu sagen: »Spiel kein Theater mit mir!« Aber sein Mund sagte:

»Das wäre ja auch noch schöner!« Dann schwiegen wir eine Weile. Ich fand dieses

Schweigen so schrecklich, dass ich sagte: »Aber die ist jetzt geschlossen. Wir haben eine Woche

Herbstferien.« Er grunzte: »Ich bleibe nur bis morgen. Doch wenn du mir ein

bisschen hilfst … dann soll das wirklich nicht dein Schaden sein.«

Ich wäre gern weggelaufen, denn es gefiel mir auch nicht, dass ein wildfremder Mensch mir solche Angebote machte. Dass er vielleicht ein reicher Geschäftsmann war, machte die Sache nicht besser. Aber ich ahnte schon, worum es ihm ging. Ich dachte an Bibbi Bokkens viele Bücher …

»Ich habe einen Vertrag«, sagte er. »Einen für dich und

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einen für Nils. Und wir brauchen doch nicht noch andere als uns drei hineinzuziehen … verstehst du?«

Das hätte ich natürlich tun sollen, aber ich kapierte rein gar nichts. Woher kannte er Nils? Und was sollte das für ein »Vertrag« sein? Wofür denn?

Was mich rettete, war, dass Billie Holiday hereinkam und sagte, sie wolle im Büro mit mir reden. Als wir das Billardzimmer verließen, sagte der reiche Geschäftsmann:

»Wir sprechen uns noch.« Als wir durch den Salon gingen, fragte Billie, ob ich ihm

schon einmal begegnet sei. Ich schüttelte nur den Kopf. Dann fragte sie, ob ich mir vorstellen könnte, im Speisesaal beim Servieren auszuhelfen.

Obwohl ich wusste, dass Nils unterwegs war, sagte ich ja. Das war das zweite Mal an diesem Nachmittag, dass mir eine Verdienstmöglichkeit angeboten wurde. Ich hatte das Gefühl, dass ich das richtige Angebot angenommen hatte.

Dann kam Nils, in gefährlich guter Form vor der Herbstjagd. Als ich erfuhr, was in Flåm geschehen war, wusste ich genau, wie meine Antwort auf seine Frage, was wir jetzt machen sollten, aussehen würde.

»Du hast das Briefbuch verschusselt«, sagte ich. »Jetzt schussele es gefälligst wieder herbei.«

Und ich sagte noch mehr: »Die Vorstellung, dass Smiley alles lesen wird, was wir

geschrieben haben, ist unerträglich.« Das hatte er natürlich schon getan. Bestimmt hatte er

deshalb von einer »anderen« Bibliothek gesprochen. Das alles wusste er aus dem Briefbuch.

Wir stellten fest, dass er sich als Marcus Buur Hansen ins Gästebuch eingetragen hatte und auf Zimmer 115

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wohnte. Dann verabredeten wir, dass Nils sich während des Essens ins Zimmer schleichen sollte. Ich würde von einem Zimmermädchen den Schlüssel besorgen.

Ich selber musste ja servieren. Auf diese Weise konnte ich immerhin dafür sorgen, dass Smiley nicht plötzlich den Tisch verließ …

Meine liebe Kusine hatte natürlich Recht. Es war meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das Briefbuch zurückzuholen. Ich schlich die Treppe hoch und dann über den Flur zu Smileys Zimmer. Der Schlüssel, den Berit besorgt hatte, lag schweißnass in meiner Hand. Obwohl ich wusste, dass Herr Smiley Marcus Buur Hansen unten im Speisesaal saß und sich mit Lammbraten und Preiselbeeren voll stopfte, schienen meine Beine aus Pudding zu sein und meine Hand zitterte wie Espenlaub im Orkan, als ich versuchte, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Der dritte Versuch gelang dann. Langsam öffnete ich die Tür. Ich glaube eigentlich nicht, dass sie richtig laut knirschte, aber mir kam es vor, als kämpften im Türspalt zwei Katzen um ihr Leben. Ich ließ die Tür angelehnt und ging hinein.

Zimmer 115 war das schönste Zimmer im Hotel und Berit hatte mir von allen Berühmtheiten erzählt, die dort schon logiert hatten. Aber für mich hätte es sich auch um eine Gefängniszelle oder eine Waldhütte handeln können. Ich schaute mich um und … das Glück stand mir Tüchtigem bei … da lag es! Mitten auf Smileys Nachttisch! Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus. Es hörte sich an wie ein Dröhnen. Ich presste die Lippen aufeinander und griff nach dem Buch. Es war auf der letzten Seite aufgeschlagen und ich konnte meine eigene Handschrift lesen:

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»Hier ist es so still. So, als ob nichts Gefährliches passieren könnte. Aber jetzt höre ich Schritte. Offenbar kommt jemand. Und zwar Smiley. Er …«

Alles schien in Ordnung zu sein. Ich blätterte zur nächsten Seite weiter und spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf strömte. Oben auf der Seite stand in einer Handschrift, die weder meine noch Berits war:

Die naiven Trottel sind voll in die Falle getappt! Der Augenblick der Wahrheit rückt näher! Zu setzen in Sabon 12/14 pkt (Nils) und Berkeley Old Style 12/14 pkt (Berit). M. B. H.

Ich musste mich aufs Bett setzen, Ich versuchte die Klaue zu lösen, die mein Herz gepackt hielt. Aber es gelang mir nicht. Was war der Augenblick der Wahrheit? Wohin sollten wir gesetzt werden? Wer oder was waren Sabon und Berkeley Old Style? Ich begriff gar nichts mehr, aber ich war ganz sicher, dass wir wirklich in Gefahr schwebten. Die alte Hexentheorie jagte mir durch den Kopf. Wenn Smiley und Bibbi Bokken nun wirklich …

Vor mir drehte sich alles. Ich sah mich selber vor einem grausigen Sabon mit gelben Zähnen und flammenden Augen sitzen.

»Na, Nils«, fauchte Sabon. »Jetzt ist der Augenblick der Wahrheit!«

Ich hätte schreien mögen und ich hätte es vielleicht auch getan, wenn die Wirklichkeit mich nicht aus meinen düsteren Fantasien gerissen hätte. Aber die Wirklichkeit war leider auch kein Scherz. Sie bestand nämlich aus eiligen Schritten draußen auf dem Flur. Die immer näher kamen.

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Ich muss sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie ich dorthin gelangt bin, doch im selben Moment stand ich auf einem riesigen Balkon vor Nr. 115 und hörte Smiley Selbstgespräche führen, denn die Balkontür stand offen, aber immerhin hatte ich die Vorhänge zugezogen.

»Komisch«, murmelte er. »Ich war ganz sicher, dass ich die Tür abgeschlossen hatte, als ich …«

Dann war es ganz still und dann brüllte Smiley etwas, das ich nicht gedruckt sehen möchte. Aber ich kann immerhin sagen, dass er sehr aufgeregt war. Und dann stellte ich fest, dass ich das Briefbuch in der Hand hielt. Ich hatte es mitgenommen, ohne es zu merken. Was war ich doch für ein Idiot! Ein Amateurdetektiv, dem man nicht einmal ein Vergrößerungsglas anvertrauen dürfte! Ich hätte es natürlich liegen lassen müssen. Smiley war sicher heraufgekommen, weil er etwas vergessen hatte. Wenn ich das Buch nicht weggenommen hätte, wäre er sicher wieder nach unten gegangen und der Rest wäre ein Kinderspiel gewesen. Aber jetzt war das anders. Jetzt würde er suchen und früher oder später auf dem Balkon nachsehen und dann …

Ich schaute nach unten und fragte mich, ob ich springen sollte, als ich Smileys Stimme hörte. Er telefonierte und das, was er sagte, ließ meine Ohren so groß wie Kohlblätter werden.

»Bibbi. Hier ist Marcus. Jetzt reicht es.« (PAUSE.) »Ja, das schon, und ich halte es für mehr als genug. Es gibt Grenzen, wie viel Saft man aus zwei Zitronen herausquetschen kann.« (PAUSE.) »Versuch das ja nicht, Bibbi. Ich kann keine Ewigkeit mehr warten.« (PAUSE.) »Dann muss ich die Sache eben in meine eigenen Hände nehmen.«

Dann legte er auf und lief aus dem Zimmer. Wieder

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seufzte ich. Nein, ich stöhnte, und diesmal nicht vor Erleichterung, sondern vor Angst. Offenbar glaubte Smiley, Bibbi Bokken hätte unser Briefbuch. Und deshalb war er offenbar wütend. Aber warum? Was bedeuteten die privaten Briefe für ihn und was für sie? Er hatte sich fast so aufgeregt, als stehe sein eigenes Leben auf dem Spiel. Und jetzt wollte er die Sache in die eigenen Hände nehmen.

Aber welche Sache? Waren Berit und ich diese Sache? Und wie stellte er es sich vor, uns in »seine eigenen Hände« zu nehmen? Er würde uns sicher nicht mit Samthandschuhen anfassen. Da war ich mir sicher.

Irgendetwas Unheimliches braute sich zusammen und ich ging davon aus, dass Marcus Buur Hansen unterwegs zu Bibbi Bokken war, um die Sache in seine widerlichen Pfoten zu nehmen.

Plötzlich merkte ich, dass ich eiskalt wurde. Oder um es anders auszudrücken: Ich wurde wütend. Was bildeten die sich eigentlich ein? Was für ein Spiel spielten sie mit Berit und mir? Wir hatten ihnen doch nichts getan! Es war unser Briefbuch. Ich wollte es zurückhaben. Ich hatte geheimnisvolle Spuren, geheime Bibliotheken und kahlköpfige lächelnde Buchdiebe einfach satt. Ich wollte das Briefbuch zurückhaben und ich wollte meine Herbstferien genießen!

Ich ging zurück in Zimmer 115 und trat einen Stuhl um, über den Smiley seine Jacke gehängt hatte. Dann lief ich über den Flur und die Wendeltreppe hinunter, die zur Küche führte. Ich ging in den Speisesaal und dann zu Berit, die gerade einem amerikanischen Ehepaar Rosinen-pudding servierte. Ich knallte so heftig das Buch auf den Tisch, dass das Wasser aus der Karaffe hochschwappte.

»Jetzt reicht es«, rief ich. »Der Augenblick der Wahrheit

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ist da!« »Young man, I must say …«, begann der Amerikaner,

aber ich sah ihn nicht einmal an. Ich würdigte ihn keines Blickes, heißt das wohl.

»Hier ist das Briefbuch«, sagte ich. Berit sah aus wie fünf Ausrufezeichen und acht

Fragezeichen. Ich nahm ihre Hand. »Jetzt holen wir uns Bibbi Bokken.« Damit zog ich sie aus dem Speisesaal, noch ehe sie ein

Wort sagen konnte. Als Letztes hörte ich die Stimme des Amerikaners:

»Can anybody tell me what’s happening here?« Ich erzählte Berit die ganze Geschichte, über das

Telefongespräch, die Drohungen und alles andere. Sie hörte mir wortlos zu. Als ich fertig war, sah ich ihr todernstes Gesicht.

»Ja«, sagte sie. »Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen.«

Aber als ich das sagte, machte ich mir so meine Gedanken … Vor ein paar Stunden war ich plötzlich von einer Köchinnentochter zur Serviererin befördert worden. Es war nicht nur meine erste bezahlte Stelle, ich servierte auch zum ersten Mal eine vollständige Mahlzeit. Und ich begriff dabei, dass es auch das letzte Mal war, zumindest hier im Hotel Mundal.

Anfangs ging alles noch ziemlich gut. Es wurde jedenfalls kein »Suppe-auf-dem-Schoß«- und »Lammbraten-im-Haar«-Einsatz. Das einzige Problem war, dass ich auch Smiley bedienen musste. Ich tat so, als ob ich ihn noch nie gesehen hätte.

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Als er seine Blumenkohlsuppe verzehrt und ich ihm gerade eine Flasche Mineralwasser gebracht hatte, erstarrte er plötzlich zur Salzsäule. Er schien ein Fünf-kronenstück verschluckt zu haben. Und das erinnerte mich an unsere Reise nach Teneriffa, als meiner Mutter plötzlich eingefallen war, dass sie auf der Heizung einen Bikini vergessen hatte. Das Problem war, dass wir uns mehr als zehntausend Meter über Gibraltar befanden, als sie das merkte.

»Wir müssen umkehren«, rief sie. Näher an eine Karriere als Flugzeugentführerin ist meine Mutter nie herangekommen.

Smiley sah jetzt genau so aus, aber das hielt nicht lange vor. Gleich darauf sprang er auf und lief durch den Speisesaal.

Ich dachte in wildem Tempo nach: Natürlich wollte er auf sein Zimmer. Aber wenn er auf der Heizung einen Bikini vergessen hatte, dann war Nils doch jetzt oben, und wenn etwas angesengt roch, würde er sich darum kümmern.

Ich stürzte hinter Smiley her und erwischte ihn, als er den Speisesaal gerade verlassen wollte.

»Sie haben … Ihren Braten noch nicht bekommen«, sagte ich und packte seinen Jackenärmel. »Sie glauben doch wohl nicht, dass der angebrannt ist?«

Ich sagte das so laut, dass der halbe Speisesaal es gehört haben muss. Doch Smiley riss sich einfach los und rannte weiter.

Ich lief ins Musikzimmer, denn ich wusste, dass es genau unter Smileys Suite lag. Ich schnappte mir ein paar CDs mit Griegs Romanzen und warf sie an die Decke. Das war das Mindeste, was ich für Nils tun konnte, aber auch das Einzige.

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Ich richtete mich auf und ging zurück in den Speisesaal. Alle Gäste glotzten mich an und Billie Holiday schaute hinter dem Büfett hervor. Ihr Blick hätte mich töten können.

Und es wurde noch schlimmer, als Smiley dann einige Minuten später zurückkehrte. Er kochte vor Wut, sein Gesicht erinnerte an eine gebratene Tomate, denn es war nicht nur knallrot, es war noch dazu vollständig verzerrt.

»Berit«, sagte er, als sei ich seine Tochter oder noch Schlimmeres. »Mein Essen!«

Die anderen Gäste waren mit ihrem Rosinenpudding beschäftigt und wieder schauten sie auf von dem, was eine friedliche Mahlzeit im gemütlichsten Hotel der Welt hätte sein sollen. Ich holte die Schüssel mit dem Lammbraten vom Büfett und stellte sie auf seinen Tisch. Er knallte einige Scheiben auf seinen Teller und brauchte eine Minute oder so, um sie hinunterzuwürgen. Dann stürzte er wieder davon. Ohne Rosinenpudding, ohne seinen Rot-wein auszutrinken, den Billie ihm gebracht hatte, weil ich unter achtzehn bin und keinen Alkohol servieren darf.

Ich war nicht ganz sicher, ob er Nils schon umgebracht hatte, aber ich glaubte felsenfest, dass er ihn eingesperrt hatte. Deshalb war ich ziemlich baff, als Nils aus der Hotelküche in den Speisesaal gestürzt kam. Er sah aus wie ein zahmer Tiger, der gerade beschlossen hat, wieder wild zu werden.

Der Ölingenieur aus Seattle war so ein Typ, der eine unkontrollierte Eruption sicher mit größter Gemütsruhe hingenommen hätte. Aber er schaute ziemlich erschüttert aus der Wäsche, als Nils das Briefbuch auf den Tisch knallte und der Busen der Frau Ölingenieurin mit Gletscherwasser besprengt wurde.

»Young man«, sagte er. »I must say you are a little out

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of control.« Als ich sagte: »Der Augenblick der Wahrheit ist

gekommen«, dachte ich nicht nur an Bibbi Bokken. Ich dachte auch an meine eigene Zukunft hier in Fjærland. Ich dachte auch an meine Mutter, die noch immer in der Küche stand.

»Can anybody tell me what’s happening here?«

Draußen war es so hell oder so dunkel, wie es das eine Viertelstunde vor Einbruch der vollständigen Finsternis eben ist. Und als wir die Kirche erreicht hatten, fing es noch dazu an zu regnen.

»Regenmäntel?«, fragte ich.

Aber Nils schüttelte nur den Kopf. »Jetzt oder nie«, sagte er. »Denn jetzt ist Torgersen

wütend und das kann sich bezahlt machen.« Gleich darauf hörten wir aus der Ferne einen Donnerhall.

Er klang wie ein Echo auf Nils’ Wut. Ich weiß noch, es gefiel mir, dass er ein wenig Temperament hatte.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich. »Nichts Besonderes. Ich glaube, er will Bibbi Bokken

umbringen.« Wir gingen in Richtung Mundalsdalen weiter. »Ich will aber kein Köder für eine bibliophile Frau sein«,

sagte Nils. »Oder für einen lächelnden Buchdieb, der sich die Hilfe meiner Kusine kaufen will.«

Ich nickte, doch ich glaube nicht, dass Nils das sehen konnte. Dann sagte ich:

»Auf jeden Fall sind wir mitten in der Schusslinie zwischen zwei Verrückten gelandet. Meinst du, wir sollten

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einfach klingeln und … fragen, wie es geht oder so?« Wieder hörten wir ein Donnergrollen und diesmal ließ

das Grummeln Nils anhalten, obwohl der Regen weiterhin strömte und meine Wimperntusche sich vermutlich über mein halbes Gesicht verteilt hatte.

»Das habe ich schon einmal erlebt«, sagte er. »Was denn?« »Das hier! Dass wir hier gehen, dass es regnet … ich bin

ganz sicher.« »Meine Güte, du machst mir Angst.« »Ja, vielleicht, aber auch das wäre nicht das erste Mal.« »Machen wir kehrt?«, fragte ich. »Nichts da«, sagte er und setzte sich wieder in

Bewegung. »Mach schon, Berit.« Ich hatte trotz allem mehr mit Bibbi Bokken zu tun

gehabt als er und deshalb sagte ich: »Ich weiß nicht, ob ich mich traue.« »Wir haben keine andere Wahl«, sagte Nils. »Aber ich habe wirklich Angst.« »Ich auch.«

Als wir Tor und Mauer erreicht hatten, sahen wir die Lichter in Bibbi Bokkens gelbem Haus. Wir waren triefnass. Aber Nils Torgersen war jetzt einfach nicht aufzuhalten. Ich überlegte mir, dass ihm die Sache vielleicht noch wichtiger war als mir, weil er Smiley häufiger getroffen hatte. Außerdem machte er nur Herbst-ferien in Fjærland. Ich wohne hier.

Ehe ich mich’s versah, hatten wir an der Tür geschellt. Ich war seit dem Tag, an dem ich mich ins Haus geschlichen und danach behauptet hatte, ich wolle Lose

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für die Schulbücherei verkaufen, nicht mehr da gewesen. Was jetzt passierte, heißt Antiklimax, glaube ich. Wir

hatten uns doch vorgestellt, dass Smiley oder Bibbi die Tür öffnen und über uns herfallen würden. Ich hatte mir auch überlegt, dass Smiley Bibbi Bokken als Geisel genommen haben könnte. Ich dachte, er werde ihr mit einer Hand den Mund zuhalten und mit der andern eine Pistole schwenken. Aber was passierte, war, dass niemand aufmachte. Wir klingelten noch einige Male, doch im Haus blieb alles still.

Ich griff vorsichtig nach der Klinke – wie beim ersten Mal – und auch jetzt war die Tür unverschlossen.

Wir schlichen ins Haus. Viele Minuten lang standen wir mäuschenstill da und lauschten. Aber wir hörten rein gar nichts.

»Vielleicht schläft sie«, flüsterte ich. Nils zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht ist sie …« Er sagte nicht mehr, aber ich glaube, ich wusste, was er

meinte. Jetzt machten wir etwas ziemlich Verrücktes. Wir zogen

die Schuhe aus. Entweder weil wir so leise wie möglich sein wollten oder weil unsere Turnschuhe triefnass waren. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall schlichen wir uns auf Socken ins Wohnzimmer.

»Ich war schon einmal in allen Zimmern«, flüsterte ich. Bei Nils war das nicht der Fall. Er schaute sich um und

staunte offenkundig, dass nicht ein einziges Bücherregal zu sehen war.

»Glaubst du, es gibt noch ein Untergeschoss?«, fragte er. »Jaaa«, flüsterte ich. »Sie hat unten noch ein Zimmer

ausheben lassen.«

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Erst in diesem Moment ging mir auf, welche Geräusche Hilde Mauritzen aus diesem Haus gehört hatte, nachdem Bibbi Bokken hier eingezogen war. Ich wusste jetzt auch, wo Bibbi Bokkens viele Bücher steckten.

Wir fingen an, das Haus zu durchsuchen, und jetzt starrten wir fast nur noch den Boden an. Schon bald hatten wir die Luke mit dem Messingring entdeckt. Wir fanden sie unter dem Wohnzimmertisch, auf dem Bibbi Bokken ein Paket mit neuen Büchern ausgepackt hatte, während ich hinter dem Sofa auf dem staubigen Boden lag.

Ich glaubte, aus dem ersten Stock ein Rascheln zu hören, hielt mir einen Finger an den Mund und blieb stocksteif stehen.

Nils schüttelte den Kopf. »Das ist nur der Wind«, flüsterte er. »Die sitzen sicher in

der Hotelbar. Wenn sie nicht zur Flatbrehütte unterwegs sind.«

Ich steckte zwei Finger in den Messingring und zog die Klappe hoch. Wir starrten in ein Loch, das schwärzer war als draußen die Nacht, aber Nils hatte mehr Krimis gelesen als ich. Jetzt zog er jedenfalls eine Taschenlampe hervor und leuchtete einige steile Treppenstufen an.

Es war nur natürlich, dass er zuerst losging. Bald stand er auf einem Kellerboden und ließ seinen Lichtkegel wandern. Noch ehe ich selber festen Boden unter den Füßen hatte, hörte ich ihn sagen:

»Die Bib … bib … bibliothek, Berit.«

»Das ist nur der Wind«, flüsterte ich und versuchte meine Sterbensangst zu verbergen. Aber sie war vorhanden. Ich fühlte mich ganz matt, bemühte mich jedoch, meine Stimme so natürlich klingen zu lassen wie möglich.

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»Die sitzen sicher in der Hotelbar«, sagte ich. Das hörte sich idiotisch an, aber tapfer redete ich weiter: »Wenn sie nicht zur Flatbrehütte unterwegs sind.«

Ich biss mir auf die Zunge und schaute zu Berit hinüber. Sie packte den Messingring und zog die Klappe hoch. Ich hielt den Atem an. Ich wäre am liebsten weggelaufen, aber meine Füße waren wie am Boden angeleimt. Wir schauten in ein schwarzes Loch hinunter.

Ich griff in meine Jackentasche und zog die Taschenlampe heraus, die ich vor meiner Abreise in Oslo gekauft hatte. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass ich sie vielleicht brauchen würde, und das stimmte ja auch. Der Augenblick war da. Ich war durchnässt und wusste nicht, was Regenwasser war und was Schweiß. Ich schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete in das schwarze Loch hinab. Eine alte Wendeltreppe aus Holz führte nach unten. Berit stand dicht hinter mir.

Ich wusste, dass irgendwer zuerst die Treppe hinuntergehen musste, und ich wusste, dass sie das nicht sein würde. Ich hätte am liebsten kehrtgemacht, aber jetzt war es zu spät. Ich wurde von einer unsichtbaren Kraft die Treppe hinuntergezogen. So wie ich mich von Brückengeländern oder Abgründen angezogen fühle, eben weil ich an Höhenangst leide.

Hinter mir hörte ich Berits Schritte. Ich brauchte sicher nur zwei Sekunden, um die Treppe hinter mich zu bringen, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Ich stand in einem großen Raum, der für einen Keller seltsam trockene Luft hatte. Ich ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über die Wände wandern. Und dann spürte ich, wie das Blut aus meinem Kopf verschwand, und hörte meine eigene Stimme:

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»Die Bib … bib … bibliothek, Berit.« Wir hatten sie gefunden! Bibbi Bokkens magische

Bibliothek! Ich spürte es, nein, ich wusste es! Nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper. Ich zitterte vor Spannung und war zugleich seltsam ruhig, so als sei ich nach einer langen Reise wieder zu Hause angekommen.

Wir befanden uns in einer Art Schatzkammer voller Bücher. Obwohl es dunkel im Keller war, schienen die Bücher zu leuchten, und ich hatte das verwirrte und zugleich beglückende Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.

In diesem Moment hörte ich ein leises Klicken, gedämpftes Licht füllte den Raum und Millionen kleiner Staubpartikel funkelten um uns herum wie Sterne.

Jetzt bin ich ein Teil des Universums, dachte ich. Ich habe keine Ahnung warum, aber obwohl wir uns in

einem Keller in einem kleinen Haus in einem kleinen Ort in einem kleinen Land befanden, kam dieser Raum uns so groß vor wie die gesamte Welt draußen.

Die Wände waren bedeckt von Regalen und Schränken voller Bücher. Ich dachte, es müsse Millionen davon geben, und wenn ich sie öffnete, dann würde ich Bücher mit Goldschrift sehen, Bücher, so schön, dass sie nicht einmal gedruckt aussahen, sondern wie bemaltes Papier, Bücher mit Umschlägen, die mit winzigen Perlen besetzt waren, Bücher mit so altmodischen Schrifttypen, dass ich sie nicht lesen könnte, und Bücher, deren Papier aussah wie alte Tapeten, von denen die Buchstaben abzublättern drohten.

Das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben, wurde immer stärker, und als ich den Mann sah, der hinten im Zimmer an einem Tisch saß und uns den Rücken zukehrte, war ich seltsamerweise nicht im Geringsten

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überrascht. Berit hatte ihn schon entdeckt. Sie stand hinter ihm. »Hallo«, sagte sie. Er reagierte nicht. »Verzeihen Sie«, sagte sie. Er reagierte noch immer nicht. Er schien zu schreiben. »Wir suchen Bibbi Bokken«, rief sie. Er schrieb und schrieb. Ich ging zu Berit, legte ihr die Hand auf den Arm und

flüsterte:

»In dieser Stadt wohnt ein alter Mann er ist zwar taub, doch nicht blind seine Liebe ist jung und blank und neu es leben tausend Bücher in seinem Sinn.«

Berit blickte mich verwirrt an, dann ging ihr ein Licht auf.

»Mario Bresani!« Ich nickte. »Er ist taub.« Wieder nickte ich. »Er hat Bibbi Bokken bei ihrer magischen Bibliothek

geholfen. Er …« Berit beendete den Satz. »… hat selber eine.« Ich nickte und nickte. »Dante, Petrarca, Homer und Ovid sind Schätze im Haus

am Tiberufer«, sagte Berit. Plötzlich lächelte sie. Ich habe ihr das noch nie gesagt,

aber sie hat wirklich ein tolles Lächeln.

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Ich ließ ihren Arm los und tippte Bresani leicht auf die Schulter. Er fuhr nicht zusammen, sondern setzte sich gerade, drehte sich um und erwiderte Berits Lächeln. Er schien uns erwartet zu haben.

In Rom war alles so schnell gegangen, dass ich mir sein Gesicht gar nicht angesehen hatte. Das tat ich jetzt. Das Seltsame war, dass es ein Gesicht ohne Alter war.

Mario Bresani konnte fünfzig oder achtzig sein. Es war unmöglich zu sagen. Seine Haare waren weiß, doch voll und dicht wie bei einem jungen Mann. Tausend winzige Runzeln auf seiner Stirn und um seine Augen erzählten von einem Menschen, der ein langes Leben gelebt hatte. Sein Blick war offen und neugierig wie das eines Kindes. Seine Zähne waren kreideweiß, sein Lächeln munter und ein wenig neckisch wie das eines Jungen. Und jetzt lächelte er Berit an.

»Buon giorno, signorina Berit«, sagte er und sah ihren Mund an, als sie langsam und deutlich antwortete:

»Buon giorno, signore Bresani.«

»Buon giorno«, antwortete ich. Ich konnte mir ja denken, dass das »guten Tag« bedeutete.

Ich hatte sofort begriffen, dass Mario Bresani der Italiener sein musste, von dem im Hotel die Rede gewesen war. Der kein Essen hatte haben wollen … warum war ich nicht gleich auf die Idee gekommen?

Ich starrte in ein kluges, schönes und warmes Gesicht. Wer war dieser Mensch? Warum war er hier – und

warum war er so schön? Ich glaube, ich dachte, dass Taubheit vielleicht ein schönes Gesicht macht – oder vielleicht kommt das auch vom vielen Bücherlesen. Seine braunen Augen vibrierten leicht und nicht er schlug zuerst

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den Blick nieder. Er schien mein ganzes Gesicht zu lesen, nicht nur meine Lippen. Erst als ich zur Seite schaute, erhob er sich. Er klopfte uns beiden auf die Schultern und sagte:

»Benvenuti alla biblioteca!« Er war nicht viel größer als Nils – und einen halben

Kopf kleiner als ich. Jetzt lugte er zu mir hoch, entweder um zu sehen, ob ich ihn verstanden hatte, oder um meine Antwort zu lesen.

»Willkommen in der Bibliothek«, riet ich. Er nickte. »Si, si!« »In Bibbi Bokkens magischer Bibliothek«, sagte Nils. Bresani drehte sich zu ihm um und breitete resigniert die

Arme aus. Er hatte nicht gesehen, was Nils gesagt hatte. »Ich glaube, das ist eine magische Bibliothek«, sprach

Nils weiter. Diesmal sagte er es viel lauter, als sei es von großer Bedeutung.

Der kleine Italiener lachte. »Naturalmente, signore … una biblioteca magica … e

molto segreta!« Er hielt sich den Finger vor den Mund, als habe er

versprochen, das Geheimnis nicht zu verraten. Ich hatte ein Gefühl, das dem in meinem Traum über die

große Bibliothek unter dem Jostedalsbreen ein wenig ähnelte. Dort hatte ich gewissermaßen alle Bücher und alle Schriftsteller auf der ganzen Welt gekannt. Jetzt verstand ich plötzlich Italienisch!

»Natürlich, mein Herr«, hatte Bresani gesagt. »Eine magische Bibliothek … und eine sehr geheime.«

Er breitete die Arme aus und schien auf die gesamte

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Bibliothek zu zeigen. Dann warf er einen Blick auf das Briefbuch, das Nils in der Hand hielt. Er redete weiter – die ganze Zeit sehr langsam.

»Signore e signorina! Questo è il centro … del loro labirinto grande … e molto misterioso …«

Nun versuchte Nils sich als Übersetzer. »Ich glaube, er sagt, wir befinden uns in einem

mysteriösen Labyrinth.« Bresani zeigte seine weißen Zähne. Dann klatschte er in

die Hände. »Bravo!« Erst jetzt schaute ich mich um. Das Zimmer war so groß

wie ein geräumiges Wohnzimmer, die Wände waren jedoch viel niedriger. Mitten im Zimmer stand ein Tisch mit vier Stühlen. Alle vier Wände waren mit Büchern bedeckt und es gab nicht nur Bücherregale. Ich sah auch Bücherkisten in unterschiedlichen Farben. Zwischen den Regalen standen außerdem prachtvolle Bücherschränke mit Glastüren.

Ich sah nicht ein einziges Paperback oder Taschenbuch. Viele Bücher waren sehr alt, aber es gab auch allerlei neue. Und alle Bücher waren unglaublich schön.

Ich musste an die Glasmalereien in großen Kathedralen denken – an Mosaiken, die nichts Besonderes darstellen sollen, die aber ein schönes Bild ergeben, weil die Farben so gut zusammenpassen. Ungefähr so kam es mir vor, als ich in Bibbi Bokkens Bibliothek stand und die vielen braunen, schwarzen, roten und weißen Buchrücken musterte. Vor allem gab es viele unterschiedliche braune Lederfarbtöne. Dass viele Bücher in echtes Leder gebunden waren, ließ sie fast lebendig wirken …

Die ganze Atmosphäre in der unterirdischen Bibliothek

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und die Begegnung mit dem alten Mann waren so feierlich und so friedlich, so fern von allem Lärm im Hotel – dass ich schon vergessen hatte, mit wie großer Angst wir uns ins Haus geschlichen hatten. Wenn ich etwas ganz sicher wusste, dann, dass dieser alte Mann uns nie im Leben etwas antun würde.

Aber was war mit Nils? Fürchtete er sich noch immer? Bei seiner letzten Begegnung mit Mario Bresani war plötzlich Smiley hereingestürzt und hatte alles ruiniert. Und zwar an einem Ort wie diesem hier …

Woher wusste ich das? Ich war doch noch nie in Rom gewesen. Doch ich wusste es trotzdem, weil Nils darüber geschrieben hatte. Und deshalb war ich auf gewisse Weise ebenfalls im Antiquariat Bresani gewesen. Nur fast natürlich, aber trotzdem …

Plötzlich hörten wir im Stockwerk über uns Schritte. Wer war das? Konnte das Smiley sein? Oder war es Bibbi Bokken?

Und dann schritt sie die Treppe zu ihrer unterirdischen Bibliothek herunter. Zuerst sah ich ihre hochhackigen Schuhe, dann kam das lange rote Kleid die Wendeltreppe herab – fast wie ein Fallschirm, der sich langsam zu Boden senkt.

Es war Bibbi Bokken. Sie war nicht dünn, aber auch nicht dick. Sie war wohl das, was wir als »gut aussehend« bezeichnen. Bisher hatte ich oft an sie als an die »Buchhexe« gedacht. Aber wenn die Frau in dem roten Kleid eine Hexe war, dann hatte sie mehr Verwandtschaft mit Madam Mim oder Gundel Gaukeley.

Warum habe ich mich so vor ihr gefürchtet, fragte ich mich. Ob ich das bald erfahren würde? Aber von dem Moment an, in dem sie durch den Keller auf mich zukam, wusste ich, dass wir uns geirrt hatten. Sie war schon ein

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seltsamer Mensch – das musste sie einfach sein –, aber sie hatte keine einzige böse Seite.

»Nils und Berit«, sagte sie mit einem warmen Lächeln, dann schaute sie das Buch an, das Nils in der Hand hielt.

»Ich freue mich wirklich, euch zu sehen.« Ich hatte den Eindruck, dass sie sich ehrlich für uns

interessierte – fast als seien wir viele Tage vermisst gewesen, weil wir uns im Gebirge verlaufen hatten, und endlich nach langen Irrwanderungen durch Nebel und Unwetter gerettet worden. Aber das stimmte ja auch irgendwie, wir waren im Dunkeln getappt, wir hatten nicht klar gesehen.

Jetzt machte Bibbi Bokken mit der einen Hand eine stolze Bewegung.

»Wie gefällt euch meine Bibliothek?«, fragte sie. »Die ist Spitze«, sagte Nils. »Sie ist wunderbar«, sagte ich. »Si, si«, sagte Mario Bresani. »Bellissima!« Er lächelte und machte eine Verbeugung. Dann ging er

zurück an seinen Schreibtisch, so leise, wie er vorhin aufgestanden war. Auf dem Schreibtisch wimmelte es nur so von schwarzen und roten Tintenfässern, Federn, Pinseln und Papier.

Bibbi Bokken nickte zu ihm hinüber. »Und ihr habt euch schon miteinander bekannt

gemacht?«, fragte sie. »O ja«, sagte ich. »Wir haben schon sehr viel geredet.«

Bibbi Bokken ging zu einer Wand hinüber und drückte auf einen Schalter. Sofort leuchteten über Bücherschränken und -regalen viele Lämpchen auf.

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»Ooooh«, rief ich, denn jetzt war der Kellerraum noch schöner. Die Farben der Bücher wurden besser hervorgehoben und das Licht kam mir vor wie auf der Kirmes.

»Das ist einfach unglaublich, Berit«, sagte Nils. Dann drehte er sich zu Bibbi Bokken um.

»Wie kommt jemand dazu … auf diese Weise Bücher zu sammeln?«, stammelte er.

Sie lachte. »Wie kommt jemand dazu, sich im Keller ein

Schwimmbecken zu bauen? Meine kleine Bibliothek kostet auch nicht mehr, Nils. Ich sammle schon seit vielen Jahren Bücher. Aber ich passe gut auf sie auf. Und ich habe jedes sorgfältig an seinen Platz im großen Zusammenhang gestellt.«

»Nach Dewey?«, fragte ich. »Ja, alle Sachbücher sind nach Deweys System geordnet.

Ich lieeeebe Dewey ganz einfach. Und da bin ich nicht die Einzige. Seit er seine Dezimalklassifikation entwickelt hat, sind mehr als hundert Jahre vergangen. Aber sie erfreut sich noch immer des besten Wohlergehens.«

Sie zeigte auf die vier Wände und erklärte, dass zwei davon Sachbücher zu allen möglichen Themen enthielten.

Und alle waren nach Deweys Tabelle von 100 bis 990 geordnet.

Nils zeigte auf die übrigen Wände. »Und was sind das für Bücher?«, fragte er. »Belletristik«, erklärte Bibbi. »Aber wie ihr seht, ist die

in drei Gruppen eingeteilt. Zuerst kommt die Abteilung für Prosa …«

»Romane und Novellen und so«, sagte Nils, als säße er in der Schule im Norwegischunterricht.

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Wieder nickte Bibbi Bokken. »Ganz oben an der vierten Wand seht ihr, dass Mario für

mich ein wunderschönes L für Lyrik gemalt hat. Darunter stehen meine Gedichtsammlungen.«

Ich zeigte wieder an den Regalen hoch. »Und da ist ein ebenso schönes S«, sagte ich. »Denn da stehen die Schauspiele – oder die Dramatik.« »Peer Gynt«, sagte ich. Bibbi Bokken strahlte. »Zum Beispiel Peer Gynt, ja. Da habe ich die

Erstausgabe von 1867. Ein geliebter Besitz, Berit.« Nils zeigte auf einen kleinen Schrank mit vielen

winzigen Schubladen. »Die Kartei?« »Oder die Karteien«, berichtigte Bibbi Bokken. »Jedes

Buch in der Bibliothek hat mindestens drei verschiedene Karteikarten. Und das ergibt dann auch drei verschiedene Karteien. In der einen sind die Karten alphabetisch nach den Autorennamen geordnet. In der zweiten nach dem Buchtitel. Und die dritte Kartei ist ein Stichwortregister. Die Karten sind nach den Themen der Bücher sortiert. Wenn ich zum Beispiel mehr über Astronomie wissen will, dann gehe ich zu dieser Kartei und sehe nach, welche Bücher ich über den Weltraum habe. Und dabei finde ich Fachbücher und Belletristik zu diesem Thema.«

»Wie raffiniert«, sagte Nils. »Es ist wahrscheinlich unheimlich wichtig, Ordnung im System zu haben. Hm …«

Bibbi Bokken schnaubte: »Man kann die Bücher doch nicht nach Lust und Laune

ins Regal stopfen! Ein Briefmarkensammler würde seine Marken doch auch nicht alle in eine einzige große

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Schublade packen! Wie sollte er dann eine bestimmte mittelrosa Zweieinhalb-Schilling-Marke von 1882 finden? Und wie sollte ich die Erstausgabe von Peer Gynt ausfindig machen? Kannst du mir das verraten?«

Nils wollte diese Diskussion nicht führen. »Hast du dir das ganze raffinierte System selber

ausgedacht?«, fragte er. Bibbi Bokken lachte heiser. »Nein, die findest du in Bibliotheken in aller Welt. Na ja

… einige Unterschiede gibt es schon. Und die meisten Bibliotheken sind inzwischen auch auf Computerregistrierung umgestiegen …«

»Also echt«, sagte ich. Ich weiß nicht, warum ich das sagte, es rutschte einfach

so aus mir heraus.

Nils hatte in einem großen Bücherschrank etwas entdeckt. Er ging hinüber und zeigte auf drei übereinander liegende Bücher. Sie waren ungefähr so lang und so breit wie zwei nebeneinander liegende Telefonbücher. Sie waren außerdem so dick wie ein Telefonbuch. Alle drei Bücher sahen sehr alt aus.

»W … was ist das?«, fragte Nils. »Pssst!«, flüsterte Bibbi Bokken, als handele es sich um

drei kleine Kinder, die nicht geweckt werden durften. Sie machte ein feierliches Gesicht, wie ein Priester, der eine überaus heilige Handlung durchführen will.

»Junger Mann, du stehst hier vor drei quicklebendigen Inkunabeln!«

»Oder Büchern, die in der Kindheit der Buchdruckerkunst gedruckt wurden«, sagte ich. »Vor dem Jahr 1500 …«

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Bibbi Bokken klatschte in die Hände. »Was ihr nicht alles gelernt habt!« Wenige Sekunden darauf fing ein dicker Gedankenbrei

an, sich durch meinen Kopf zu wälzen. Und ich glaube, Nils passierte etwas Ähnliches. »Was ihr nicht alles gelernt habt!«

Ich dachte an Siris Brief, an das Briefbuch, das Nils die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, an Bibbi Bokkens magische Bibliothek, an Smiley, der im Billardzimmer von etwas gesprochen hatte, das »unser Schade nicht sein« würde, an das Gedicht, das Nils und ich auf der Hütte ins Gästebuch geschrieben hatten – und noch an vieles andere. Ich hatte das Gefühl, dass ich zwei solide Kartei-schubladen und einen langen Nachmittag brauchen würde, um unsere vielen Erlebnisse der letzten Wochen zu begreifen.

Ich wollte Bibbi Bokken gerade nach dem Brief von Siri fragen – denn jetzt fand ich es nicht mehr so schrecklich zugeben zu müssen, dass ich ihn gefunden und gelesen hatte –, aber da nahm Bibbi Bokken eine der schweren Inkunabeln aus dem Bücherregal und legte sie auf den Tisch, der mitten im Zimmer stand. Sie sah dabei aus wie eine Königin, die eine mit Diamanten und Edelsteinen besetzte Goldkrone hochhebt.

»Setzt euch«, sagte sie – ungefähr wie eine Lehrerin, die das Klassenzimmer betritt.

Also setzten wir uns alle drei. Als Bresani entdeckte, dass Bibbi Bokken das alte Buch in den Händen hielt, sagte er:

»Prudente, Bibbi! Prudente!« Sie lachte: »Er sagt, wir sollen vorsichtig sein.«

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Das große Buch war in solide Bretter eingebunden. An drei Holzplatten waren goldene, ineinander verhakte Schnallen befestigt. Bibbi Bokken öffnete die Schnallen, schlug das alte Buch sehr vorsichtig auf – und sagte:

»So wird ein Buch wirklich geöffnet. Vor langer Zeit war das einmal eine ungeheuer feierliche Handlung …«

Die gelben Blätter in dem riesigen Buch sahen aus wie dicke Pappe.

»Was für dickes Papier«, sagte ich. Bibbi Bokken lächelte viel sagend. »Das wird ›Lumpenpapier‹ genannt und besteht aus

Baumwolle und Leinen, die zerhackt und mit Schweineleim verkocht werden. Aber die alte Mischung hat sich gut gehalten, findet ihr nicht? Dieses Buch wurde vor über fünfhundert Jahren in Mailand gedruckt. Nicht viele der Bücher von heute werden so lange leben.«

»Wie groß es ist«, sagte Nils. »Wir reden hier von Folioformat. Es ist eine Ausgabe

der Werke des italienischen Dichters Petrarca. Es ist ein Geschenk von Mario, und wie viele Millionen Lire er dafür bezahlt hat, soll sein eigenes kleines Geheimnis bleiben.«

Wir betrachteten die Seiten im Buch. Der erste Buchstabe auf jeder Seite war riesengroß und außerdem in Rot und Blau ausgemalt.

»Handgemalt?«, fragte Nils. Bibbi Bokken nickte. »In der Kindheit der Buchdruckerkunst war das

Büchermachen noch immer ein geheimnisumwobenes Handwerk. Damals hatten die Leute noch Zeit. Aber jetzt versucht Mario, diese alte Kunst wieder zum Leben zu erwecken. Er gilt als einer der bedeutendsten Kalligrafen

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der ganzen Welt.« Nils schüttelte den Kopf: »Kalli …« »Ein Kalligraf ist ein ›Schönschreiber‹«, erklärte Bibbi

Bokken. »Ich darf mich vielleicht dafür bedanken, dass du aus Rom einige schöne Bögen mitgebracht hast?«

Nils lief knallrot an. »Hast du das Gedicht geschrieben?« Sie lächelte geheimnisvoll, beantwortete seine Frage

aber nicht. »Eins nach dem anderen, Nils. Alle eure Fragen werden

beantwortet, aber wir müssen uns eine nach der anderen vornehmen … und dann können wir auch gleich mit dem Anfang anfangen.«

Sie klappte das Buch wieder zu und ließ die goldenen Schnallen zuschnappen. Dann beugte sie sich über den Tisch und sah abwechselnd Nils und dann mich an. Sie fragte:

»Habt ihr euch je überlegt, dass wir Menschen die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten – ja, vielleicht im ganzen Universum – sind, die miteinander Gedanken, Gefühle und Erfahrungen austauschen können?«

Ich glaube, Nils und ich, wir schüttelten beide nur den Kopf.

»Wir können das schon seit vielen Jahrhundert-tausenden. Aber dann – vor fünf- bis sechstausend Jahren – haben wir Schreiben gelernt. Und das gab der Sprache ganz neue Möglichkeiten. Jetzt konnten wir unsere Erfahrungen nämlich mit Menschen teilen, die viele hundert Meilen von uns entfernt lebten – oder auch mit Menschen, die erst viele hundert oder tausend Jahre nach uns leben würden. Die ersten Schriftsprachen benutzten

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eine Bilderschrift. Die Schriftstücke damals hatten Ähnlichkeit mit heutigen Comics. Aber ganz langsam entwickelte sich dann eine besondere Schrift, die alle Wörter einer Sprache mit nur wenigen Buchstaben ausdrücken konnte …«

Nils hatte sich auf seinem Stuhl vorgebeugt. Er sah aus wie ein Krachschläger in der Klasse, der plötzlich beschlossen hat, sich zum Musterschüler zu entwickeln. Und zwar, weil die Lehrerin etwas gesagt hat, das ihn interessiert. Er sagte:

»Obwohl es nur sechsundzwanzig verschiedene Buchstaben gibt, können sie Bibliotheken füllen …«

Sie nickte. »Hier habe ich ja trotz allem begrenzten Platz. Ich

musste einen ganzen neuen Keller aus den Felsen sprengen …«

»Die Nachtwache im Hotel hat gedacht, es sei ein Erdbeben«, sagte ich. »Fast hätten sie die Polizei alarmiert!«

Bibbi Bokken lächelte breit: »Aber wo wir schon vom Alphabet reden. Das war die

erste große Revolution in der Geschichte der Schriftkultur. Mehrere Jahrtausende hindurch wurde auf Steinen und Papyros, auf Holzstücken und Schildkrötenpanzern, auf Tontafeln und Topfscherben, auf Tierhäuten und Wachstafeln geschrieben – ja, auf allem, in das einige Krähenfüße eingeritzt werden konnten. Es war, als sei plötzlich eine globale Fieberkrankheit ausgebrochen. Im Lauf der Zeit wurden ganze Bücher aus Pergament und Papier hergestellt. Doch jedes einzelne Exemplar musste mit der Hand geschrieben werden. Deshalb waren Bücher teuer und für die meisten Menschen unerreichbar. An mehreren Orten auf der Welt wurden Versuche unter-

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nommen, Buchstaben in Holzplatten einzuritzen, sodass eine Seite mehrmals hintereinander gedruckt werden konnte. Auf diese Weise wurde die edle Kunst der Vervielfältigung entwickelt. Aber auch dieser ›Blockdruck‹ war ein arg Zeit raubender und kostbarer Prozess.«

»Dann kam Gutenberg«, sagte ich. Bibbi Bokken nickte. »Um das Jahr 1450, ja. Und erst jetzt können wir von

Buchdruckerkunst sprechen, und sie war die zweite große Revolution der Schriftkultur. Gutenberg benutzte aus Blei gegossene bewegliche Lettern. Ursprünglich war er Goldschmied, aber so wie er aus Gold oder Silber Schmuckstücke gießen konnte, konnte er auch die Buchstaben des Alphabets gießen. Damit konnte er dann ganze Buchseiten zusammensetzen, und die beweglichen Buchstaben oder Lettern ließen sich immer wieder verwenden. Sie bildeten die Atome und Moleküle in der Welt der Bücher.«

Nils räusperte sich. Dann sagte er: »So, wie Atome und Moleküle zu einem Bären werden

können, können die Buchstaben im Alphabet zu einer Geschichte über Pu den Bären werden.«

Bibbi zwinkerte ihm schelmisch zu. »Zum Beispiel über Pu den Bären, ja. Schon vor

neunhundert Jahren wurden in China solche beweglichen Drucktypen benutzt. Aber dort gab es kein Alphabet. Und es bringt ja nicht viel, bewegliche Typen zu gießen, wenn die Sprache viele tausend unterschiedliche Schriftzeichen aufweist. Europas Schriftkultur ist also sowohl von dem einfachen Alphabet als auch von den beweglichen Lettern geschaffen worden.«

»Was für Bücher hat Gutenberg denn gedruckt?«, fragte

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ich. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Ich

glaube, ich hätte Bibbi Bokken jegliche Frage stellen können, die mit Büchern zu tun hatte, und sie hätte sofort geantwortet.

»Als Erstes hat Gutenberg natürlich die Bibel gedruckt. Noch heute sind mehrere Exemplare davon erhalten. Ab und zu wird eine komplette Ausgabe verkauft, aber sie kostet dann natürlich auch viele Millionen Kronen.«

»Dann muss ich erst noch eine Runde sparen, bis ich mir eine kaufen kann«, sagte Nils.

Bibbi Bokken hob das große und schwere Buch mit Petrarcas Werken hoch und legte es ins Bücherregal. Als sie zum Tisch zurückkam, drehte Marco Bresani sich um.

»Bravo«, sagte er.

Die Frau in dem roten Kleid setzte sich wieder und warf einen Blick auf das Buch, das Nils auf dem Schoß liegen hatte. Ich glaube, sie hätte auch gern einen Blick hineingeworfen. Ob sie wohl ahnte, dass Nils und ich es als Briefbuch benutzt hatten? Aber sie hätte bestimmt nicht erraten können, dass unsere Briefe von ihr handelten …

Mein Kopf brodelte nur so von unbeantworteten Fragen. »Du kommst nicht aus Fjærland«, sagte ich. »Wieso bist

du hergezogen, warum hast du deine Bibliothek ausgerechnet hier eingerichtet?«

Wieder lächelte sie ihr geheimnisvolles Lächeln. Als sie nicht sofort antwortete, stellte ich gleich noch eine Frage:

»Hatte das vielleicht etwas mit Walter Mondale zu tun?« Diese Frage überrumpelte sie. Bisher hatte sie

gewissermaßen die Kontrolle über das ganze Gespräch

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gehabt. Aber diese Frage warf sie einfach vom Stängel. Wieder schaute sie zum Briefbuch hinüber – aber sie

wagte nicht, etwas dazu zu sagen, jetzt jedenfalls noch nicht. Sie fragte:

»Aber Berit – woher weißt du das denn?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich war doch auch hier. Alle waren hier, als Mondale

den Fjærlandstunnel eröffnet hat.« Bibbi Bokken schüttelte resigniert den Kopf. Plötzlich

hatte die Lage sich auf den Kopf gestellt. Ich glaube nicht, dass es ihr gefiel, dass ich mehr wusste, als sie gewusst hatte.

Nach einer Weile redete sie dann weiter: »Ich war wirklich 1986, als Walter Mondale den

Fjærlandstunnel eröffnet hat, zum ersten Mal in Fjærland. Ich wollte damals den ehemaligen Vizepräsidenten treffen, der ein alter Bekannter von mir ist, aus der Zeit, als ich in den USA Bibliothekswissenschaften studiert habe …«

Nils glotzte. »Voll ins Schwarze, Berit«, sagte er. Er machte Bibbi ein Zeichen weiterzureden. »Damals arbeitete ich mit an der Planung eines großen

Magazins für die Nationalbibliothek. Wir sollten ein Lager für alle norwegischen Bücher und Zeitschriften einrichten. Um sicherzugehen, dass alles für die Nachwelt aufbewahrt wurde, musste es in einem großen Berg gelagert werden.«

»Wieder voll ins Schwarze«, sagte Nils, offenbar war er beeindruckt von meinen detektivischen Leistungen hier in Fjærland.

»In Norwegen wurde eifrig darüber diskutiert, wo dieses Bergmagazin angelegt werden könnte«, erzählte Frau Buch. »Als ich nach Fjærland kam, ging mir auf, dass es

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eine großartige Idee sein musste, dieses Lager unter dem Jostedalsbreen zu bauen … wo ohnehin gerade ein langer Tunnel gegraben worden war.«

»Be … Be … Berits Träume werden wahr«, rutschte es aus meinem armen Vetter heraus und jetzt brach auch mir der Schweiß aus. Als Bibbi unsere Erregung sah, fügte sie ganz schnell hinzu:

»Aber alles kam anders. 1989 beschloss das Parlament, das Lager in Mo i Rana zu bauen. Und dort sind bisher zwei riesige Höhlen ins Gebirge gesprengt worden. In der einen Höhle wurde ein vierstöckiges Haus gebaut, das erst vor wenigen Monaten zur Benutzung eröffnet worden ist. Darin gibt es die so genannten ›Kompaktmagazine‹, die alle Bücher, Zeitschriften, Bilder, Spielfilme und Tonbänder enthalten. Und außerdem gibt es dort alle Radio- und Fernsehsendungen des norwegischen Rundfunks.«

Nils schnappte nach Luft: »Gibt es also wirklich so einen Riesenladen?«

»Aber was ist in der anderen Höhle?«, fragte ich. »Die soll mit den Büchern der Zukunft gefüllt werden.

Auf diese Weise wird die Schriftkultur unserer Zeit aufgehoben und bewahrt, sodass die Menschen nach uns auch das, was wir geschrieben haben, kennen lernen können. Vielleicht wird es dieses Lager noch in vielen Jahrtausenden geben.«

»Also gibt es wirklich so eine unterirdische Bibliothek«, sagte Nils.

Bibbi nickte. »Sie ist soeben zur Benutzung freigegeben worden. Sie

ist feuer- und atombombensicher – und außerdem gegen alle vorstellbaren Naturschäden gesichert.«

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Wieder musste ich an meinen seltsamen Traum denken. »Kannst du nicht genauer erzählen, wie es dort

aussieht«, bat ich. »Wenn du dort ankommst, stehst du zuerst vor einem

Gittertor und einem Stahlvorhang. Dahinter liegt ein sechzig Meter langer Tunnel, der in den Berg führt. Er ist groß genug für Lastzüge und führt zu dem vierstöckigen Gebäude. Der Bau an sich ist fast hundert Meter lang und enthält insgesamt über vierzig Kilometer Bücherregale. Es hat konstante Temperatur und Feuchtigkeit, damit die Bücher so gut wie möglich aufbewahrt werden können … obwohl nicht alle Bücher, die heute gedruckt werden, so solide sind wie die alten Inkunabeln, wird also gut für sie gesorgt.«

Ich dachte eine Weile nach. Dann fragte ich: »Und als du mit deinem Vorschlag nicht durchkamst,

das Lager in Fjærland zu bauen, hast du dir dann hier ein Haus gekauft und dir selber eine unterirdische Bibliothek angelegt?«

Bibbi Bokken lächelte breit: »So kannst du es sagen. Nachdem ich 1986 zum ersten

Mal hier gewesen war, bin ich immer wieder nach Fjærland zurückgekehrt. Es gefiel mir gut hier und deshalb habe ich dann eines Tages dieses Haus gekauft. Meine Bücher sind zu wertvoll, finde ich, als dass ich in einem Holzhaus wohnen könnte, das jederzeit in Flammen aufgehen kann. Und da ich nie das Gefühl gehabt habe, einen Swimming-Pool im Keller zu brauchen, hatte ich hier unten doch die Möglichkeit. Manchmal setze ich mich hier zum Lesen und Arbeiten hin. Aber manchmal hole ich mir auch ein Buch nach oben ins Wohnzimmer. Und es kommt auch vor, dass ich einfach in der Bibliothek umherwandere und die Buchrücken lese …«

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Bei diesen Worten sprang Bibbi Bokken auf und tat genau das, was sie gesagt hatte. Sie ging an den Wänden entlang und holte dann ein Büchlein aus einem Regal. Es stammte von einem gewissen Simen Skjønsberg und hieß Der grausame Genuss – Texte über die Geheimnisse des Lesens. Dann bat sie Nils, den Klappentext vorzulesen. Er räusperte sich zweimal und las schließlich:

Ich gehe an den Regalen in der Bibliothek vorbei. Die Bücher kehren mir den Rücken zu. Nicht wie Menschen, um mich abzuweisen, sondern einladend, um sich vorzustellen. Buchmeter um Buchmeter, die ich niemals werde lesen können. Und ich weiß: Was sich hier anbietet, das ist Leben, das sind Zusätze zu meinem eigenen Leben, die darauf warten, in Gebrauch genommen zu werden. Aber so rasch, wie die Tage verfliegen, bleiben die Möglichkeiten liegen – verlassen. Eines dieser Bücher könnte ausreichen, um mein Leben ganz und gar zu verändern. Wer bin ich jetzt? Wer wäre ich dann?

»Ich kann ja gut verstehen, dass du Bücher liebst«, sagte ich.

»Aber hast du denn keinen Beruf … und keinen Mann?«

Bibbi legte den Kopf in den Nacken und lachte herzlich. Mario Bresani hatte sich offenbar soeben umgedreht, denn er schaute uns an und lachte ebenfalls.

Sie sagte: »Das waren zwei Fragen auf einmal. Ich bin von Beruf

Bibliografin, Berit. Das heißt, ich bin eine Art Expertin für Bücher und Bibliotheken. Und davon lebe ich. Ich übernehme Aufträge hier in Norwegen und in vielen

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anderen Ländern. Das bedeutet, dass ich viel auf Reisen bin. Und gerade deshalb soll meine Bibliothek besonders gut geschützt sein. Manchmal bin ich in Rom … und manchmal kommt Mario nach Norwegen. Aber ich fühle mich auch wohl in meiner eigenen Gesellschaft – und in der meiner vielen Bücher. Irgendwer hat einmal gesagt: ›Ein Buch ist der beste Freund.‹ Jemand anders hat das ähnlich ausgedrückt: ›Wer seine Bücher richtig aussucht, befindet sich in der allerbesten Gesellschaft. Dort haben wir es mit den klügsten, geistreichsten und edelsten Charakteren zu tun, mit denen, die Stolz und Zierde der Menschheit ausmachen.‹«

Während sie das sagte, erhob sie sich und ging zu Mario Bresani hinüber. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Nils und ich gingen hinterher, und als wir uns über seinen Rücken beugten, sahen wir, dass er mit schwarzer und roter Tusche einige schöne und reich verzierte Buchstaben gemalt hatte. Wieder konnten wir etwas lesen, was wir schon einmal gelesen hatten. Dort stand: Bibbi Bokkens magische Bibliothek.

Und wieder dachte ich an Siris Brief, aber ich mochte nicht zugeben, dass ich den kannte. Deshalb sagte ich:

»Gibt es ein Buch, das … das Bibbi Bokkens magische Bibliothek heißt?«

Mario richtete seinen Blick auf mich, als ich es sagte. »Si, si«, rief er. »La biblioteca magica de Bibbi

Bokken!« »Und dieses Buch … das … das erscheint vielleicht im

nächsten Jahr?« Ich bereute sofort, es gesagt zu haben. Ich glaube, ich

biss mir auf die Lippe. Würde Bibbi jetzt begreifen, dass ich Siris Brief kennen musste?

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Wieder wanderte ein rätselhaftes Lächeln über ihr Gesicht. Als sie keine Antwort gab, meldete Nils sich zu Wort. Er fragte ganz direkt:

»Hast du dieses geheimnisvolle Buch hier?« Ich weiß noch, dass das bei Bibbi Bokken ein fast

hysterisches Gelächter auslöste. Als sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie:

»Nein, also wirklich! Ich finde, jetzt geht ihr wirklich zu weit!«

Nur dieses eine Mal fragte ich mich, ob wir vielleicht doch Grund haben könnten, uns vor Bibbi Bokken zu fürchten. Vielleicht waren wir ja doch hier unten eine Art Gefangene …

Aber dann sagte sie: »Sie sollten euch in der Schule beibringen, weniger

ungeduldig zu sein. Ihr könnt einfach nicht verlangen, dass ihr alles auf einmal erfahrt. Eine Lüge ist in der Regel leicht zu durchschauen, ihr Lieben. Die Wahrheit im Blick zu behalten, ist nicht immer ganz so leicht, denn oft hat sie viele Seiten. Deshalb lässt die Wahrheit sich auch nicht im Handumdrehen in Worte fassen. Und …«

Wir schauten beide zu ihr hoch. »… ihr habt die magische Bibliothek ja noch nicht

gesehen.«

Als ich zusammen mit Berit, Bibbi Bokken und Mario Bresani im Keller stand, erlebte ich ein Wunder. Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was ein Buch ist. Ein Buch ist eine magische Welt voller kleiner Zeichen, die die Toten zum Leben erwecken und den Lebenden das ewige Leben schenken können. Es ist unfassbar, fantastisch und »magisch«, dass die sechsundzwanzig

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Buchstaben in unserem Alphabet auf so viele Weisen zusammengesetzt werden können, dass sie riesige Regale mit Büchern füllen und uns in eine Welt führen, die niemals ein Ende nimmt, sondern die wachsen und wachsen wird, solange es auf dieser Erde Menschen gibt.

Ich schaute an den Wänden hoch und einen Moment lang schienen alle Bücher mich ihrerseits anzustarren. Ja, als ob sie lebten, und sie riefen:

»Komm zu uns! Hab keine Angst! Komm her!« Plötzlich hatte ich schrecklichen Hunger. Nicht nach

einer Mahlzeit, sondern nach allen Wörtern, die sich in diesen Regalen versteckten. Aber ich wusste: Egal, wie viel ich in meinem Leben auch lesen könnte, niemals würde ich auch nur ein Milliardstel aller Sätze lesen, die geschrieben worden sind. Denn es gibt auf der Welt ebenso viele Sätze, wie es am Himmel Sterne gibt. Und es werden immer mehr und sie erweitern sich die ganze Zeit wie ein unendlicher Raum.

Doch zugleich wusste ich, dass ich immer, wenn ich ein Buch öffne, einen Zipfel des Himmels sehen werde, und immer, wenn ich einen neuen Satz lese, werde ich ein wenig mehr wissen als zuvor. Und alles, was ich lese, macht die Welt größer und erweitert zugleich mich selber. Für einen Moment hatte ich in die fantastische und magische Welt der Bücher hineingeschaut.

Deshalb war ich ziemlich baff, als Bibbi Bokken sagte: »Ihr habt die magische Bibliothek ja noch nicht

gesehen!« »Doch«, platzte es aus mir heraus. »Gerade eben.

Tausend Dank.« Sie lächelte mich an. »Das war nur der äußere Raum, mein Junge. Der Raum

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für das, was geschaffen ist.« »Gibt es noch andere Räume?«, fragten Berit und ich

wie aus einem Mund. »Ja«, sagte Bibbi Bokken und musterte uns mit

neugierigem und zugleich ein wenig traurigem Blick. Sie schien unsere Gedanken lesen zu wollen und traurig zu sein, weil ihr das nicht gelang. »Es gibt einen inneren Raum. Einen Raum für das, was noch geschaffen werden soll. Den Raum der Möglichkeiten.«

Berit sah fast so aus, als ob sie es verstanden hätte. »Soll das heißen, dass …« Bibbi Bokken nickte. Dann gab sie Mario Bresani ein

Zeichen. Der erhob sich und ging zu dem riesigen Bücherschrank hinter dem Schreibtisch hinüber. Der Schrank hatte keine Glastüren. Mario zog einen Schlüssel hervor und schloss auf. Und dann war es gar kein Schrank, sondern ein Eingang. Ein Eingang zu dem innersten Raum.

»Kommt«, sagte Bibbi Bokken. »Jetzt gehen wir hinein.«

Mario Bresani hatte sich wieder gesetzt. Er nickte uns zu und zeichnete weiter, während wir BIBBI BOKKENS MAGISCHE BIBLIOTHEK betraten.

Zuerst war ich fast enttäuscht. Das scharfe, weiße Licht, das uns entgegenströmte, war alles andere als magisch und das innere Zimmer war viel kleiner als die fantastische Bibliothek, die wir soeben verlassen hatten. Hier gab es keine schönen Bücher. Keine Inkunabeln, keine Goldschrift, keine verschnörkelten Schrifttypen, es gab einfach nur das wilde Durcheinander.

Die Wände waren von normalen Bücherregalen bedeckt, die aussahen wie von IKEA oder aus einem ähnlichen

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Laden. Sie waren voll gestopft mit Pappkartons, Plastikordnern und Schreibheften. Auf einem riesigen Tisch mitten im Zimmer lagen Stapel von Papieren, Zeitschriften und Zeichnungen, die nicht gerade von Edvard Munch zu stammen schienen.

»Na, was sagt ihr?«, fragte Bibbi Bokken stolz. »Große Klasse«, antwortete ich und versuchte so zu

klingen, als sei das ehrlich gemeint. Ich schaute verstohlen zu Berit hinüber und sie sah

überhaupt nicht enttäuscht aus. Sie lächelte Bibbi Bokken an und die lächelte zurück. Die beiden schienen ein gemeinsames Geheimnis zu haben. Ich fühlte mich ziemlich ausgeschlossen.

»Ja, das ist wirklich ein beeindruckendes Zimmer«, sagte ich und versuchte nicht mehr, meine Enttäuschung zu verhehlen.

Bibbi Bokken lachte. Ich fand ihr Lachen widerlich. Dass Berit auch lachte, machte die Sache nicht besser.

»Verstehst du nicht, was das da ist, Nilschen?«, fragte sie.

»Nein, stell dir vor, das kapier ich nicht«, murmelte ich. »Bei dir sieht das ja vielleicht anders aus?«

»Das sind Bücher, die noch nicht geschrieben worden sind«, sagte Berit. »Nicht wahr, Bibbi?«

Jetzt waren sie also schon bei »Bibbi« und »Nilschen« angekommen! »Bibbi« nickte.

»Natürlich«, sagte sie. »Shakespeare hat geschrieben, dass das Kind der Vater des Mannes ist.«

»Oder die Mutter«, sagte Berit. »Oder die Mutter«, wiederholte Bibbi Bokken. »Und mit

jeder Sekunde wird das gesammelte Wissen auf der Erde größer. Die ganze Zeit entstehen bei neuen Menschen

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neue Gedanken, neue Wörter und neue Sätze. Auf der ganzen Welt erschaffen in diesem Moment Millionen von Kindern die Sprache von morgen. Manche behalten alles für sich, andere dagegen schreiben es auf. Unfertige Gedichte, angefangene Geschichten, Sätze, wie sie noch nie geschrieben worden sind. Sie sind von einem Wissen erfüllt und wissen nicht einmal, dass sie dieses Wissen besitzen. Sie … ihr habt dieses Erbe aus der Vergangenheit mitgebracht und tragt zugleich die Möglichkeiten der Zukunft in euch.«

»Das ist also der ›Raum der Möglichkeiten‹«, sagte ich. Ich fühlte mich nicht mehr ausgeschlossen, sondern

aufgenommen. Bibbi Bokken nickte. »Sind die Bäume im Frühling nicht am schönsten?« Wieder sah sie fast traurig aus. »Die magische Bibliothek ist gefüllt von Möglichkeiten,

aus denen irgendwann Bücher entstehen werden. In einigen Jahrhunderten werden aus der in diesem Zimmer gesammelten Fantasie wertvolle Inkunabeln geworden sein. Die Wörter werden dann bestimmt auf eine andere Weise aneinander gefügt werden. Sicher werden nicht dieselben Sätze benutzt. Aber hier steht die Wiege zu etwas, das die Sprache der Zukunft werden soll. So sieht die neugeborene Literatur aus. Und das wirklich Magische in unserem Leben ist die Geburt.«

Sie griff zu einem Blatt Papier und las vor:

Die Schlingpflanzen wachsen und wachsen aus dem Raum hinaus. Und hinauf zum Mond um die Apollo 13 wieder auf die Erde zu holen. Und dann kommt ein entsetzliches Regenwetter und die lange Schlingpflanze schrumpft in

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der Wäsche und kriecht wieder ins Fenster und schläft ein.

Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Nicht, weil das Gedicht so fantastisch war, sondern weil ich wusste, dass ich genau solche Gedichte auch selber schreiben könnte, und Bibbi Bokken könnte das nicht, obwohl sie sicher tausendmal klüger war als ich. Ich schnappte mir ein Heft und las:

Vor langer Zeit lebte einmal eine Frau, die ungeheuer faul war. Sie war hässlich, fett und reich. Eines Tages beschloss sie einkaufen zu gehen. Als sie vor dem Laden stand, passte sie nicht durch die Tür. Sie dachte, das sie abnehmen müsste, und dann hatte es auch keinen Zweck, Süßigkeiten oder Lebensmittel zu kaufen. Sie hatte keinen Mann und lebte ganz allein. Eines Tages wollte sie in die Stadt gehen und feststellen, ob sie schon abgenommen hätte. In der Stadt sah sie einen Mann, der ihr so richtig gut gefiel. »Kennen Sie den Weg zum Goldschmied?«, fragte sie.

»Ja«, sagte der Mann. Dann erklärte er ihr den Weg. »Tausend Dank für Ihre Hilfe«, sagte sie und ging zufrieden ihrer Wege. Auf diese Weise kam sie zum Goldschmied und kaufte sich ein Schmuckstück. Danach lebte sie glücklich allein weiter. Sie war noch genauso fett, genauso reich, genauso hässlich und genauso faul. Und ihr Haus war schmutzig. Da kam eine Maus und das Märchen ist aus.

»Ja«, sagte Bibbi Bokken. »So kann’s gehen.«

Berit stand vor einem Regal und lachte.

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Es spukt in der Kuventræ-Schule, sagte sie und las vor:

Ich und Thomas gingen in die Klasse. Da war niemand zu sehen, aber wir hörten, dass ein Stuhl bewegt wurde. Und wir hörten Schritte, aber Thomas trat einfach los und er spürte, dass er getroffen hatte und ein Fenster zerbrach. Wir hatten den Stuhl für unsichtbar gehalten, aber es war eine Falle, die Grete uns gestellt hatte.

Bibbi Bokken nickte tiefsinnig.

»Grete scheint ein Mädchen mit viel Fantasie zu sein«, sagte sie.

Wir schwiegen. Berit las dann eine Geschichte über einen Jungen namens Arne vor, der mit einem Drachen ein Wettlesen veranstaltet.

Ich hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es schien aus einem Buch herausgerissen worden zu sein. Und auf dem Blatt stand:

Hier in unserem Sommerspaß genießen wir ein Colaglas, Nils und Berit, das sind wir, verbringen unsre Ferien hier. Hier oben ist es wunderschön, wir mögen gar nicht wieder gehn.

»Hast du das aus dem Gästebuch gerissen?«, fragte ich. Bibbi Bokken wurde rot, aber nur ganz wenig.

»Ein relativ geringes Verbrechen«, sagte sie.

Berit hatte Arne und den Drachen wieder in den Ordner gesteckt. Jetzt kam sie zu uns herüber.

»Das hier ist vielleicht noch nicht ganz fertig«, sagte sie.

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»Nein«, sagte Bibbi Bokken. »Das ist nur die Einleitung. Denn als ihr dann gegangen seid, hat es wirklich angefangen, nicht wahr?«

Ich hatte plötzlich das Gefühl, fast etwas zu verstehen, was mir noch nicht ganz aufgegangen war. Ich sagte das Erste, was mir einfiel. Und das ist oft das Klügste.

»Wir haben Bibbi Bokkens magische Bibliothek gesehen. Jetzt will ich das Buch über Bibbi Bokkens magische Bibliothek sehen.«

»Dann komm mit«, sagte Bibbi Bokken.

Ich beugte mich über das Gedicht, das Nils und ich ins Gästebuch der Hütte geschrieben hatten. Warum hatte Bibbi Bokken es herausgerissen? Weil sie sich dafür interessierte, was junge Menschen schreiben? Oder hatte sie noch ein anderes Ziel verfolgt? Ich hatte das eitle Gefühl, dass sie bestimmt ausführlich über unser Gedicht nachgedacht hatte. Deshalb sagte ich:

»Es ist vielleicht noch nicht ganz fertig …« Sie blieb stehen und schaute auf mich herunter. Sie

schien zu denken: Na los, Berit. Dann sagte sie: »Nein, das ist nur die Einleitung. Denn als ihr dann

gegangen seid, hat es wirklich angefangen, nicht wahr?« Und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Denn

danach war Nils nach Hause gefahren und Billie Holiday hatte vorgeschlagen, dass wir ein Briefbuch schreiben und es zwischen Oslo und Fjærland hin- und herschicken könnten.

Wir folgten Bibbi aus der magischen Bibliothek, wo es nur so wimmelte von halb fertigen Geschichten und Gedichten, die Kinder geschrieben hatten.

Als wir durch den Schrank das andere Zimmer betraten,

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schaute Mario Bresani fröhlich zu uns hoch. Er warf einen Blick auf das Buch, das Nils in der Hand hielt, und sagte:

»Il momento di verita!« Dann ging er hinter uns her die Wendeltreppe zum

Wohnzimmer hoch. »Was hat er gesagt?« »Er hat gesagt, dass wir uns dem Augenblick der

Wahrheit nähern«, sagte Bibbi Bokken lächelnd. Dem Augenblick der Wahrheit, dachte ich. Hatte ich

nicht etwas Ähnliches gesagt? Oben hatte Bibbi den großen Tisch mit Tellern,

Kaffeetassen und Cola gedeckt. In der Mitte standen ein halber Mandelkranz und eine große Schüssel mit selbst gebackenen Rosinenbrötchen.

Nils hatte offenbar Hunger, denn er setzte sich sofort an den Tisch. Sicherheitshalber legte er das Briefbuch unter seine Untertasse. Hatte er denn noch immer Angst, es könnte gestohlen werden? Oder hatte er Angst, Bibbi Bokken könnte plötzlich ihre zehn Kronen zurückfordern?

»Dann lasst uns doch alle Platz nehmen«, sagte Bibbi Bokken. »Bitte, greift zu.«

Gleich darauf schien ihr auf dem Tisch etwas aufzufallen und dabei handelte es sich nicht um das Briefbuch unter Nils’ Untertasse.

»Seltsam«, sagte sie. »Ich war ganz sicher, dass es viel mehr Rosinenbrötchen waren …«

Ich fühlte mich nicht angesprochen, denn Bibbi Bokken hatte den Tisch gedeckt, nachdem Nils und ich in die Bibliothek gegangen waren.

Sie ging in die Küche und holte die Kaffeekanne. Als sie sich gesetzt hatte, biss Nils erst in ein Brötchen. Dann sagte er:

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»Leckere Brötchen, Bibbi! Aber wenn das hier der ›Augenblick der Wahrheit‹ sein soll, dann könnten wir uns vielleicht auch das schöne Buch ansehen, das nächstes Jahr erscheinen wird.«

Bibbi lachte und auch Mario Bresani stimmte ein. Ich lachte nicht, denn jetzt hatte ich alles verstanden. Ich konnte nur nicht begreifen, wie sie das geschafft hatte …

Sie schaute zu Mario Bresani hinüber und schnippte mit den Fingern. Der schweigsame Italiener schob langsam eine Hand in seine Jackentasche. Dann legte er zwischen Nils und mich ein winzig kleines Buch. Es war kaum größer als eine Streichholzschachtel, hatte ein Bild von einem roten Löwen auf dem Deckel und sah sehr alt aus. Auf dem Umschlag stand in fast unlesbaren Buchstaben etwas gedruckt:

»Almanach«, las ich. Bibbi Bokken nickte. Nils’ Augen sahen aus, als könnten sie jederzeit über den

Tisch kullern. »Ist das das Buch über die magische Bibliothek?«, fragte

er. Bibbi amüsierte sich. »Dieser alte Almanach wurde herausgegeben, als es

noch längst keine Bibbi Bokken gab. Es ist ein Kalender aus dem 17. Jahrhundert. Im kommenden Jahr ist es genau dreihundertfünfzig Jahre her, dass er gedruckt wurde …«

»Das Buchjahr!«, rief ich. »Wo Königin Sonja als Schirmherrin fungiert. Der Almanach war das allererste Buch, das in Norwegen gedruckt worden ist.«

Bibbi strahlte: »Das hast du also auch gewusst, Berit?« Ich zuckte mit den Schultern.

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»Ich kenne einen Schriftsteller«, sagte ich. »Der weiß, wo solche Hunde begraben sind.«

Nils hatte das Büchlein an sich gerissen und blätterte jetzt darin herum. Er hatte den ganzen Mund voller Rosinenbrötchen, als er sagte:

»Das ist ein Hexenbuch, Berit. Ganz sicher! Es enthält solche geheimnisvollen Zeichen … alte Symbole für Sterne und Planeten …«

Er beugte sich über das Buch und versuchte die alten Buchstaben zu lesen.

»Welcher träumbt oder vernimbt, dasz ein Zahn fällt heraus, verlieret in Wahrheit ein gutten Freund …«

Er schaute mich an und nickte energisch: »Ein Hexenbuch, ja.« Er schien jeden Moment aufspringen und davonstürzen

zu wollen. Aber Bibbi sagte: »Oder eben ein alter Almanach. Und du hast schon

Recht, er besteht aus einer wüsten Mischung von Wissenschaft und altem Aberglauben. Aber er ist ja auch dreihundertfünfzig Jahre alt.«

Nils war nicht zufrieden. Seine Gesichtsfarbe erinnerte jetzt an die roten Tomaten, die ein wenig früher an diesem Abend in den Speisesaal des Hotels gerollt waren.

»Dann kannst du uns vielleicht erzählen, was dieses Buch mit Berit und mir zu tun hat«, sagte er. »Oder auch mit der magischen Bibliothek überhaupt.«

Mario Bresani warf Bibbi einen strengen Blick zu. »Vuota il sacco!«, sagte er. Ich schaute zu ihr hoch. »Er sagt, ich soll auspacken«, erklärte sie. »Genau«, rief Nils.

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Er war jetzt gewissermaßen nicht mehr Hauptkommissar Torgersen von der Detektei Bøyum & Bøyum. Jetzt war er nur noch Nils.

»Ich will jetzt sofort eine Antwort«, sagte er. »Sonst gehe ich ins Hotel und rede mit Smiley. Gibt es ein Buch über Bibbi Bokkens magische Bibliothek oder gibt es das nicht?«

Ich lachte. Und Bibbi Bokken lachte auch. »Das liegt unter deiner Untertasse, Nils«, sagte sie. Nils’ Gesicht war wie eine einzige lange Pantomime. Ich konnte nur ahnen, welche Gedanken und Fragen ihm

durch den Kopf gingen. Am Ende sagte er: »Jetzt komme ich so langsam …« »Darf ich das Buch mal sehen?«, fragte Bibbi Bokken. »Ihr könnt euch doch sicher denken, dass ich sehr

neugierig bin.« Nils sah mich an. Ich nickte. Dann hob er seine Untertasse hoch und schob Bibbi

Bokken das Briefbuch hin. Sie lächelte breit und fing sofort an zu blättern. Nils nahm sich noch ein Rosinenbrötchen, obwohl doch noch ein halbes auf seinem Teller lag. Ich fing an, mit Mario Bresani zu flirten. Er nickte zu Nils hinüber und flüsterte:

»Molto temperamento!« Und da konnte ich ihm ja nur zustimmen. Erst nach einer ganzen Zeit meldete sich Nils wieder zu

Wort. Er hatte offenbar gründlich nachgedacht. »Und das Briefbuch … das wird also nächstes Jahr

veröffentlicht?« Bibbi nickte und jetzt drehte mein armer Vetter richtig

durch. Er keuchte auf:

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»Wir … wir haben zusammen ein Buch geschrieben, Berit! Wir haben eine ganze Geschichte gedichtet.«

»Über Bibbi Bokkens magische Bibliothek«, sagte ich. »So soll es heißen.« Er aber kam auf einen neuen Gedanken: »Aber was hat unser Briefbuch mit diesem alten

Almanach zu tun?« Bibbi Bokken erhob sich und nahm von einer Kommode

eine dünne Pfeife. Die stopfte sie und zündete sie mit einem Streichholz an. Während sie noch mitten im Zimmer stand und dicke Qualmwolken blies, sagte sie:

»Das ist eine lange Geschichte … die wie gesagt vor dreihundertfünfzig Jahren begann, als dieser alte Almanach als allererstes norwegisches Buch in Christiania gedruckt wurde. Findet ihr nicht, dass das ein Grund zum Feiern ist?«

»Von mir aus gern«, sagte Nils. »Ich begreife bloß nicht, was das mit Berit und mir zu tun hat.«

Bibbi Bokken erzählte weiter: »Vor einigen Monaten kam eine Anfrage vom Organisationskomitee für das norwegische Buchjahr. Sie wollten ein Buch haben, das gratis an alle sechsten Klassen in Norwegen verteilt wird. Und sie fragten, ob ich mir wohl vorstellen könnte, ein solches Buch zu schreiben.«

Nils zuckte nur mit den Schultern und die Pfeife rauchende Frau in dem roten Kleid redete weiter. Jetzt lief sie im Raum hin und her.

»Ich sagte zu«, erzählte sie. »Aber ich hielt es für eine bessere Idee, dieses Buch von jungen Menschen schreiben zu lassen. Und als ich euer Gedicht im Gästebuch der Flatbrehütte sah, beschloss ich, mit euch einen Versuch zu machen. Euer Gedicht hat mir wirklich gefallen.«

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Mario Bresani nickte energisch – und dabei hatte er doch das, was Bibbi gesagt hatte, weder gehört noch gesehen.

»›Mit uns einen Versuch zu machen‹?«, äffte ich sie nach.

»Aber wie denn? Ich verstehe einfach nicht, wie du uns dazu gebracht hast.«

Bibbi Bokken ging zum Tisch und hob das Buch mit dem Bild des Sognefjords hoch. Dann sagte sie:

»Hier liegt die ganze Erklärung. Wenn ich es richtig verstanden habe, habt ihr die ganze Geschichte schon selber fast aufgeklärt.«

Danach las sie laut aus dem Briefbuch vor, während sie darin herumblätterte.

»Schön, dass wir uns in diesem Sommer gesehen haben. Das war wirklich toll … Kannst du dich an diese seltsame Frau erinnern? Die mit den Telleraugen und dem zerfetzten Buch in der Handtasche? … dass sie in mir las wie in einem offenen Buch …«

Sie schaute zu Nils hinüber und sagte: »Gut gemacht, Nils. Das ist der eigentliche Einstieg.

Und nun zu Berit …« Sie beugte sich wieder über das Briefbuch und las einige

Sätze vor. »Als sie die Haustür aufschloss, flatterte plötzlich etwas

aus ihrer Handtasche … Ich habe einen kleinen Briefumschlag an mich gerissen und mich dann wieder hinter die Mauer fallen lassen …«

Wieder schaute Bibbi hoch – und las weiter: »Und dann kommt der Brief von Siri. ›Liebe Bibbi, ich

bin den ganzen Vormittag durch die Stadt gewandert, aber dieses seltsame Antiquariat kann ich einfach nicht wiederfinden … Der Einband zeigte ein Bild von einigen

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hohen Bergen … Wichtig ist, wann das Buch in Oslo erschienen ist! Irgendwann im nächsten Jahr also … Dieser eine Band ist kostbarer als die allerwertvollste Inkunabel …‹«

Ich setzte mich gerade. »Herr Bresani hat also bei allem mitgemacht? Er hat

versucht, Siri einzureden, er hätte ein Buch, das erst im nächsten Jahr erscheint?«

Bibbi Bokken blieb einfach stehen und starrte mir in die Augen. Dann sagte sie:

»Siri?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, denn jetzt

begann mir langsam etwas aufzugehen. Was, wenn es gar keine Siri gab? Was, wenn dieser

Brief eine Fälschung war? Dann waren wir wirklich auf den Leim gekrochen …

»Du meinst, es gibt gar keine Siri?«, fragte ich. »Und nicht sie hat den Brief geschrieben, den du aus deiner Handtasche verloren hast?«

Sie starrte mich noch immer an. »Verloren?« Ich hätte nicht mehr sagen müssen, denn selbst Nils

stöhnte jetzt laut. Trotzdem sagte ich: »Ich glaube, du hast auch hinten Augen.« Sie lächelte viel sagend. »Wer viele Bücher gelesen hat, entwickelt an den

seltsamsten Stellen Augen.« Nils stellte seine Colaflasche ein wenig härter auf den

Tisch, als es unbedingt nötig gewesen wäre. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Das ergibt doch keinen Sinn!«

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Bibbi drehte sich zu ihm um und Nils erklärte: »Du hast gesehen, wie wir das Gedicht in das Gästebuch

schrieben. Aber das war uns die ganze Zeit über bekannt. Dabei hast du uns also nicht ausgetrickst. Dann habe ich in Sogndal ein Poesiealbum gekauft und ich habe durchaus nicht vergessen, dass ich dir einen Zehner schulde. Aber dass Berit und ich das Buch als Briefbuch benutzen sollten, war nicht deine Idee.«

Bibbi Bokken blies einige Rauchringe über den Tisch. »Wessen Idee war es also?« Ich holte tief Luft und schlug mir eine Hand vor den

Mund. »Billie Holidays«, flüsterte ich. Bibbi schnalzte zufrieden mit der Zunge. »Erfinderische Dame.« »Oder hast du …« »Sie auf die Idee gebracht? Ja. Ich habe ihr eine Idee

eingepflanzt. Manchmal blühen dann solche Ideen – manchmal auch nicht.«

»Pfui Spinne!«, rief ich. Bibbi erzählte weiter: »Billie und ich begegnen uns manchmal auf der Post. Ab

und zu reden wir dann ein bisschen. Ich glaube, sie staunte darüber, dass ich so viele Pakete aus Italien bekomme.«

Nils räusperte sich. Ich glaube, das Stichwort war Italien. »Und natürlich hast du das Gedicht an das Hotel in Rom

geschickt … um mich ins Antiquariat zu locken. Aber woher hast du gewusst, dass ich nach Rom fahren würde?«

»Ich habe eben auch hinten Augen, Nils. Ich habe fast überall Augen. Bücher lesen macht klug.«

»Sicher, sicher«, sagte Nils. »Falls wir hier nicht lieber

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von Spionage reden wollen. Denn nicht du hast mich nach Rom geschickt.«

»O doch!« Nils sprang auf. »Unfug!«, sagte er. »Wir sind nach Rom gefahren, weil

meine Mutter bei einem blödsinnigen Wettbewerb eine Romreise gewonnen hatte. Du weißt vielleicht nicht, dass sie Schriftstellerin ist und …«

Bibbi Bokken blieb stehen und schaute vor sich hin. Dann sagte sie:

»Erinnerst du dich an Rom, mein Geliebter? An Petersdom, Kolosseum, Pantheon, die Spanische Treppe und die Piazza Navona? Oder hast du alles vergessen? Ist unsere Liebe vergilbt …«

»Das reicht«, seufzte Nils. »Soll Berit doch versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen, ich gebe auf. Diese Geschichte ist nämlich noch nicht gedruckt worden.«

Ich schaute sie an. »Du arbeitest nicht zufällig auch für diese Illustrierte?«,

fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Aber bei diesem Preisausschreiben war ich in der Jury.

Es ist wichtig, dass die Leute schreiben, Berit! Frau Bøyums Geschichte war auch nicht schlechter als die anderen … deshalb hat sie gewonnen. Ich fand es toll und als ich dann hörte, dass die Familie nach Rom fahren würde, habe ich mich gleich nach dem Hotel erkundigt. Nils bekam mein Gedicht und hat den Weg zu Mario gefunden. Und der hat Nils die Bögen gegeben, die er nach Norwegen mitnehmen sollte. Er sollte ihn eigentlich in seinem schönen Antiquariat herumführen … um ihm Stoff zum Schreiben zu geben. Aber ich weiß ja, dass das

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nicht geklappt hat …« Nils schaute sie an und sagte: »Wegen eines gewissen Marcus Buur Hansen …« Erst nickte sie. Dann schüttelte sie energisch den Kopf

und vollendete Nils’ Satz: »… der für das Buchjahr offenbar ganz andere Pläne hat

als wir.« Sie hatte inzwischen mehrere Male auf die Uhr geschaut.

Jetzt tat sie es wieder. Sie beugte sich zu dem tauben Italiener vor und sagte:

»Tazze e piattini, per favore.« Er erhob sich und ging in die Küche. Bibbi ging zur

Kommode und streifte Asche von ihrer Pfeife. Dann versuchte sie alles zusammenzufassen:

»Mir waren zwei Kinder aufgefallen, die in der Flatbrehütte ein witziges Gedicht geschrieben hatten. Danach brachte ich Billie auf die Idee, dass ihr beiden euch vielleicht gegenseitig Briefe schreiben könntet, die zwischen Oslo und Fjærland hin- und hergeschickt würden. Als ich im Buchladen Nils getroffen habe, fand ich, ich könnte mich an den Ausgaben beteiligen. Na ja – ich habe wohl durchaus auch die Geheimnisvolle gespielt, damit ihr etwas hattet, worüber ihr schreiben konntet. Ich habe mich zum Beispiel auf die Fähre gesetzt und von Deweys Dezimalklassifikation geschwärmt. Ihr solltet doch auf die Spur gebracht werden. Den Brief von Siri habe ich auf einer anderen Fährtour geschrieben und ich hatte das Gefühl, dass mir auf dem ganzen Weg durch Mundsdalen etwas in den Nacken hauchte. Ansonsten ist es leicht, Dinge aus einer Handtasche zu verlieren, wenn man gerade eine Haustür aufschließt. Ein andermal lässt man dann vielleicht die Tür offen stehen – damit ungebetene Gäste nicht einbrechen müssen. Wenn es doch

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nichts zu finden gibt, meine ich. Aber ich hätte natürlich unter dem Sofa etwas gründlicher Staub saugen sollen, das schon. Das ist aber auch schon alles. Das Buch über Bibbi Bokkens magische Bibliothek habt ihr selber geschrieben. Ich habe nur in der Nacht einige Laternen angezündet und schon flogen die beiden Nachtschwärmer ins Licht. Und …«

Ich fiel ihr ins Wort. »Das war ziemlich unverschämt. Du hast uns doch die

ganze Zeit an der Nase herumgeführt.« Entweder war sie jetzt sauer oder sie stellte sich nur so.

Bei Bibbi Bokken war das nicht leicht zu entscheiden. Sie sagte: »Ist es nicht auch ein wenig unverschämt, hinter einem

alten Bibliothekar herzuspionieren, der … ein wenig anders ist? Oder gemeine Geschichten über Mord und Verbrechen zu schreiben?«

Mario kam aus der Küche und stellte zwei Tassen und zwei Untertassen auf den Tisch. Gleich darauf läutete es an der Haustür.

Nils fuhr zusammen. »Smiley!«, sagte er. Bibbi Bokken lief in die Diele und riss die Tür auf. Ich

sah zwei nicht mehr ganz junge Menschen, die ich garantiert noch nie gesehen hatte.

Ich drehte mich zu Nils um – und in diesem Moment wurde er im Gesicht kreideweiß und ratschte von seinem Stuhl. Seine Augen waren groß und blank wie Fünf-kronenstücke.

»Setz dich wieder hin«, sagte ich streng – fast so streng, wie seine Mutter es gesagt hätte.

Dann flüsterte ich:

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»Weißt du, wer das ist?« Er nickte verwirrt. Mir fiel ein, dass er nun schon zum

zweiten Mal an diesem Tag Menschen erkannte, die mir in meinem Leben noch nicht begegnet waren.

»Das sind Aslaug und Reinert Bruun«, stöhnte er. In diesem Moment fiel mir das Lehrerehepaar ein, das mit der letzten Fähre im Hotel erwartet wurde. Und nun stöhnte auch ich.

Bald standen die beiden im Wohnzimmer.

»Wie nett, dich zu sehen, Nils! Bist wohl auf Herbstferien, wie mir scheint …«

»Und du musst Berit sein. Nett, dich kennen zu lernen.« »Wohl bekomm’s«, sagte ich. Einen Moment fragte ich mich, ob Nils vielleicht Recht

haben könnte mit seiner wilden Theorie, dass sie sich allesamt in einer religiösen Sekte kennen gelernt hatten, die die Fantasie von Kindern missbrauchen und für ihre verrückten Zwecke ausnutzen wollte.

Bald saßen wir zu sechst um den Tisch. Bibbi hatte noch eine Kanne Kaffee gekocht. Sie holte auch die zweite Hälfte des Mandelkranzes und Mario Bresani brachte neue Cola.

»Ich bin ganz sicher, dass ich viel mehr Rosinenbrötchen gebacken habe«, sagte Bibbi Bokken zu sich.

Ich glaube nicht, dass außer mir noch jemand es gehört hatte. Und nun kam ich auf einen Gedanken: Wollte sie damit sagen, dass ungebetene Gäste im Haus gewesen waren? Natürlich wollte sie das. Während wir uns unten in der magischen Bibliothek aufgehalten hatten, hatte Smiley hier oben vielleicht das Haus nach dem Briefbuch durchwühlt. Aber was hatte er damit vor? Und wieso

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glaubte Bibbi Bokken, Smiley habe für das Buchjahr andere Pläne als sie?

Als wir endlich alle Nettigkeiten ausgetauscht hatten, fragte Nils ganz offen:

»Ist das hier eine Verschwörung?« Diese Frage brachte alle zum Lachen, abgesehen von

Nils und mir. Am allerherzlichsten lachte der taube Mann, der Nils’ Frage nicht verstanden hatte. Aber es ist ja durchaus möglich, über ein verwirrtes Gesicht zu lachen, auch wenn man nicht hören kann, welche verwirrten Reden aus seinem Mund kommen.

»Lacht ihr nur«, sagte Nils. »Aber wenn das hier eine Verschwörung ist, dann werde ich die ganze Geschichte unserem Schulleiter melden.«

Wieder lachten die andern. »Wenn überhaupt, dann muss es eine Rosinen-

brötchenverschwörung sein«, sagte Aslaug. »Es ist ja noch gar nicht lange her, dass wir zuletzt zusammen Rosinen-brötchen gegessen haben. Viel gemütlicher, als im Café Skalken zu sitzen …«

Nils fand das alles überhaupt nicht komisch. Er tat mir ein wenig Leid, deshalb wollte ich ihm helfen, indem ich Bibbi Bokken eine Frage stellte:

»Hat Nils’ Lehrer auch etwas mit diesem ›Buchjahr‹ zu tun?«

»Eigentlich nicht«, sagte sie. »Aber Nils hat doch einen witzigen Aufsatz geschrieben und da …«

Haben Lehrer denn keine Schweigepflicht, fragte ich mich. Sie dürfen doch wohl nicht aller Welt die Aufsätze ihrer Schüler zeigen?

Reinert Bruun räusperte sich. »Nils ist ein Junge mit sehr viel Fantasie. Im Herbst hat

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er einen … na ja … fantasievollen Aufsatz abgeliefert, der von einer gewissen Bibbi Bokken handelte. Ich wusste, dass diese Bibbi Bokken früher mit Aslaug zusammen auf der Universität gewesen war. Aslaug hatte den Namen ab und zu erwähnt. Ich habe meiner Frau den Aufsatz gezeigt … und das war dann eigentlich alles.«

»Aber ich hatte Bibbi schon sehr lange nicht mehr getroffen«, fügte Aslaug jetzt hinzu. »Nils’ Aufsatz hat dann dafür gesorgt, dass ich mich ans Telefon gesetzt habe. Ich wollte sie fragen, ob sie eine Ahnung hätte, woher einer von Reinerts Schülern ihren Namen kennen und sogar in einem Aufsatz schreiben kann, dass sie … na ja, dass sie nach Fjærland umgezogen ist.«

»Ich habe wirklich gelacht«, gab Bibbi zu. »Ich habe sicher auch einige Worte über das Buchprojekt verloren. Ich glaube, ich habe vorgeschlagen, dass du Nils einmal einlädst … und mit ihm ein wenig über das Schreiben redest.«

Aslaug sah Nils an und sagte: »Und als du dann angerufen hast und dich mit mir im

Café treffen wolltest, fand ich, ich müsste Bibbi zu Liebe hingehen. Sie war so ungeheuer gespannt darauf, was ihr alles machtet.«

Nils glotzte. »Dann war es zumindest eine Mini-Verschwörung«,

sagte er. Seine Laune schien sich jetzt zu bessern. Vielleicht, weil

er das Gefühl hatte, sein eigenes Leben wieder zu begreifen. Das hielt jedoch nicht lange vor, denn jetzt kam er auf einen ganz neuen Gedanken.

»Aber da ist doch noch einer«, sagte er. Ich glaube, Bibbi Bokken hatte als Einzige verstanden,

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an wen er dachte. Er sagte: »Und zwar ein unheimlicher Typ, der in diesem Herbst

überall aufgetaucht ist, wo ich auch war. Er war auch zu Hause bei Aslaug und Reinert – und heißt Markus ›Smiley‹ Buur Hansen. Ist er auch an diesem ›Buchjahr‹ beteiligt? Dann steige ich aus.«

Alle am Tisch verstummten. »U. A. w. g. – um Antwort wird gebeten«, sagte Nils. Zum ersten Mal an diesem Abend machte Bibbi Bokken

ein besorgtes Gesicht. »Leider«, sagte sie. »Leider haben sie gerade diesen

Mann zu einer Art Verkaufsleiter für das Buchjahr ernannt. Ich verstehe nicht, warum …«

Viel mehr wurde nicht gesagt. Aber wir redeten noch eine Weile über das Briefbuch, das Nils und ich geschrieben hatten. Bibbi, Aslaug und Reinert mussten es der Reihe nach lesen. Und sie ließen es nicht an Lobesworten fehlen.

Bibbi sagte, dass wir am folgenden Morgen mit dem Buch nach Oslo fahren würden. Der Verlag hatte die Reise schon bezahlt. Und für das Buch würden wir einen Haufen Geld bekommen, wir hatten es ja schließlich geschrieben – auch wenn Bibbi Bokken uns den Stoff geliefert hatte.

»Aber es ist noch nicht ganz fertig«, sagte sie schließlich.

»In Oslo müsst ihr noch die Lösung des Rätsels dazuschreiben. Wenn nicht, enttäuscht ihr euer Publikum zu sehr. Erst, wenn ihr die Lösung habt, seid ihr am Ziel. Und das Ziel ist die Geschichte über den Weg zum Ziel.«

Kaum hatte sie das gesagt, da hörten wir aus dem Stockwerk über uns ein seltsames Scheppern. Alle außer

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Mario Bresani zuckten zusammen. Bibbi Bokken drehte sich zu mir um und sagte:

»Genau das hatte ich befürchtet. Ich zähle schließlich immer, wie viele Rosinenbrötchen ich backe.«

Ich nickte. »Er hatte ja keine Zeit, im Hotel zu essen.« Bibbi Bokken rannte die Treppe hoch. Nils sah mich an

und flüsterte: »Smiley?« Aus dem ersten Stockwerk hörten wir wütende Stimmen: »Das geht nun wirklich zu weit, Marcus! Ich glaube, ich

werde dich wegen Diebstahls anzeigen.« »Tu das. Aber ich will dieses Buch haben und ich will es

jetzt!« »Unsinn!« »Du glaubst doch wohl kein Wort von dem, was sie

geschrieben haben? Mich haben sie als Schurken hingestellt!«

»Ja, sie verfügen über eine scharfe Beobachtungsgabe.« Es hörte sich fast an, als fielen sie beide die Treppe

hinunter. Als sie in der Diele standen, schaute Smiley nur kurz ins Wohnzimmer und jetzt lächelte er nicht. Als er das Briefbuch auf dem Tisch sah, sagte er:

»Da liegt es ja!« Reinert bedeckte das Buch mit der Hand und Aslaug

wandte sich ab. Es war ganz deutlich, dass wir sechs gegen einen waren. Vielleicht wagte Nils deshalb aufzuspringen und zu sagen:

»Und nicht Bibbi hat es aus deinem Zimmer geholt, Smiley. Sondern ich. Ich saß auf dem Balkon, als du sie angerufen hast. Ich … hm … hätte mich fast totgelacht.«

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Smiley starrte anklagend auf Bibbi Bokken. Er sah aus, als wäre er um ein ganzes Sonnensystem betrogen worden.

Sie nickte. »Und es war ja schließlich sein Buch. Würdest du jetzt

freundlicherweise dieses Haus verlassen?« Er machte auf dem Absatz kehrt und stürzte davon. Aber

vorher sagte er noch schnell: »Das wirst du bereuen, Bibbi.« Als er die Tür hinter sich ins Schloss geknallt hatte und

Bibbi Bokken wieder im Zimmer stand, lächelte sie übers ganze Gesicht.

»Dieser Mann hat von Anfang an gegen das Jubiläumsbuch gearbeitet«, sagte sie.

Bald darauf wanderten alle, die im Hotel wohnten, durch Mundalsdalen. Und das waren alle außer Bibbi Bokken. Als wir gehen wollten, sagte sie noch ungeheuer viel auf Italienisch zu Mario Bresani. Aber so wie Aschenbrödels Zauber um Mitternacht verflogen war, hatte ich plötzlich die Fähigkeit verloren, diese Sprache zu verstehen.

Das Gewitter war vorübergezogen. Zwischen den hohen Bergen funkelten die Sterne und wir konnten weit in den Weltraum blicken.

Auf diesem Planeten wurde einst ein Almanach gedruckt.

Ich beneidete Berit nicht um die Aufgabe, des Rätsels Lösung schreiben zu müssen. Wir hatten kein Tonband oder so und Bibbi Bokken hatte uns nicht wenige Fäden aufgeriffelt. Aber wir fanden beide, dass Berit das übernehmen müsste. Sie hat ihre Gedanken einfach besser im Griff als ich. Außerdem ist Bibbi eine großartige Lektorin. Eine Lektorin hat die Aufgabe, zu kritisieren,

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anzuleiten und den Autoren knifflige Fragen zu stellen. Das haben wir gelernt. Wir arbeiten jetzt nämlich in der Buchbranche.

Aber einen wichtigen Faden hat sie mir überlassen. Dieser Faden heißt Marcus »Smiley« Buur Hansen und von ihm haben wir keine Hilfe zu erwarten. Er ist nämlich der Schurke in diesem Buch und Schurken sind meine Spezialität. Also weiterlesen!

Ich hatte ziemliche Angst, als wir zum Hotel hinuntergingen. Schließlich hatte ich das Briefbuch bei mir und ich war mir sicher, dass Smiley schon wusste, auf welchem Zimmer ich wohnte, und dass er nur darauf wartete, dass ich allein wäre, um sich dann über mich herzumachen und das Buch noch einmal zu stehlen. Ich spielte mit dem Gedanken, es Berit zu geben, aber das wollte ich dann doch nicht. Meine Probleme wehrlosen Frauen (Mädchen) zu überlassen, ist nicht meine Art.

Ich ließ mir nichts anmerken und kam mir ebenso tapfer vor wie Ferkel, als Eules Haus vom Sturm umgeweht wurde und das ängstliche kleine Schwein an dem dünnen Bindfaden zum Briefschlitz hochkletterte, um Hilfe zu holen.

Als wir in der Rezeption standen und Reinert und Aslaug Bruun Gute Nacht gesagt hatten, fiel mir auf, dass die Nachtwache Berit anstarrte wie eine Hotelterroristin, aber sie sagte nichts. Ich bat um meinen Schlüssel und überlegte mir einen ziemlich guten Schluss für unser Buch:

»Der junge Held, Nils Bøyum Torgersen, kommt bei dem heroischen Versuch ums Leben, das Buch zu retten, an dem er selber mitgeschrieben hat. Ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, opfert er sich für die

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Meinungsfreiheit.« Ich lugte zu Berit und Bresani hinüber und Bresani

gestikulierte eifrig und zeigte dabei auf mich. Für einen verzweifelten Moment fragte ich mich, ob das auch geplant sein könnte. Vielleicht versuchte Bresani, Berit zu erklären, dass es ein wunderbarer Buchschluss wäre, wenn eine der Hauptpersonen im Kampf gegen den Schurken ums Leben käme. Aber dann fiel mir ein, dass es ja kein Buch geben würde, wenn Smiley es in die Finger kriegte. Jedenfalls kein Buch mit Smiley als Schurken.

Ich lächelte schwach und wollte gerade den Schlüssel nehmen, um die Treppe hochzugehen und mich meinem düsteren Schicksal zu stellen, als Berit sagte:

»Du darfst nicht mit dem Briefbuch auf dein Zimmer gehen. Denn dann kommt sicher Smiley. Er weiß ganz bestimmt, wo du wohnst.«

»Ich habe schon mit schlimmeren Gespenstern gekämpft«, sagte ich und merkte, dass ich zitterte.

Berit lachte. »Du bist von innen aber gar nicht so hart wie von außen,

stimmt’s, Nilschen?« Sie hatte mich durchschaut. Mädchen tun das häufiger. »Was also soll ich machen?«, fragte ich leicht verärgert. »Du sollst mit Mario Zimmer tauschen.« Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als

mir auch schon aufging, dass dieser Plan ebenso einfach wie genial war. Wenn Smiley angeschlichen käme, um das Briefbuch zu holen, würde er im Bett keinen kleinen norwegischen Jungen finden, sondern einen kleinen italienisehen Mann. Aber wenn er im Bett des kleinen norwegischen Jungen einen kleinen italienischen Mann fand, was sollte dann aus dem kleinen …

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»Und was ist mit Mario?«, fragte ich. Er schaute meinen Mund an. Denn obwohl Mario

Bresani kein Norwegisch sprechen konnte, war doch klar, dass er mehrere Sprachen »las«, nicht nur Italienisch. Plötzlich streckte er die Hand nach mir aus und im nächsten Moment schien ich zu fliegen. Ich legte einen eleganten Salto mortale hin, der von Mario Bresanis behaartem Arm kontrolliert wurde.

Ich war sicher, dass ich mit der Nase auf den Boden knallen würde, aber er fing mich elegant mit beiden Armen auf. Und da lag ich dann wie ein kleines Kind. Es war ein bisschen peinlich.

Er stellte mich wieder auf den Boden und lächelte mit kreideweißen Zähnen.

»Judo«, sagte er. Ich war erschüttert und erleichtert zugleich. Wir

tauschten Schlüssel und Gepäck. Ich sagte Berit Gute Nacht, ging aufs Zimmer und war fast sofort eingeschlafen.

Ich träumte, dass ich beim Finale der Judoweltmeisterschaften gegen Smiley kämpfte. Es ging hart her und Smiley schrie und brüllte jedes Mal, wenn ich ihn auf die Matte legte. Ich wurde von etwas geweckt, das ich für den Pfiff des Schiedsrichters hielt, aber es war Berit, die anrief und sagte, ich müsse sofort aufstehen, wenn ich Frühstück haben wollte. Die Fähre ginge schon in einer Stunde.

Als ich an Zimmer 151 vorüber kam, wurde von innen wütend geklopft.

»Bresani!«, rief ich. Ich war noch nicht ganz wach und hatte vergessen, dass er taub war. Aber der Mann hinter der Tür war nicht Bresani. Das Klopfen verstummte und die schleimige Stimme, die versuchte sich freundlich

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anzuhören, war einfach unverkennbar. »Ach, du bist das, Nils?«, sagte sie. »Bitte, mach die Tür

auf. Ich möchte dir ein Angebot machen.« »Ein Angebot, das mein Schaden nicht sein wird, was?«,

rief ich. »Genau«, antwortete Smiley mit butterweicher Stimme.

(Ich mag keine Butter.) »Leider«, sagte ich, »bin ich jetzt mit dem Buch über

Bibbi Bokkens magische Bibliothek auf dem Weg zum Verlag.«

Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen. Etwas Blöderes hätte ich ja wohl kaum sagen können. Jetzt wusste er, wohin wir wollten, aber ich hatte ja zumindest nicht die Adresse des Verlages verraten.

Ich rannte über den Flur und hörte gewaltiges Dröhnen und Poltern, als Smiley sich gegen die verschlossene Tür warf.

Berit und Bresani saßen im Speisesaal. Ich hatte keinen besonderen Appetit.

»Smiley«, sagte ich und zeigte zur Decke. Bresani nahm sich ein Ei und warf es in die Luft. Er fing

es auf und knallte es auf den Tisch, sodass die Schale platzte. Es sah ein bisschen unheimlich aus, aber ich wusste ja, dass er Smiley nicht den Schädel eingeschlagen hatte.

»Judo?«, fragte ich. Bresani nickte, zog einen Schlüssel hervor und hielt ihn

uns hin. Worte waren überflüssig. Er schaute auf die Uhr und erhob sich.

»E adesso, avanti, amici miei!«, sagte er. Wir begriffen, dass es Zeit war, den Tatort zu verlassen.

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Bresani begleitete uns zur Fähre. Als wir an Bord gehen wollten, kam Smiley angerannt. Er hatte also die Tür aufbrechen können. Er sah nicht gerade gut aus. Seine Haare waren zerzaust und ein Arm hing schlaff nach unten.

»Avanti«, rief Bresani noch einmal. »Forza!« Wir rannten auf die Fähre. Als wir uns umschauten, hatte Bresani sich umgedreht.

Er stand mit offenen Armen da, wie um den Mann, der da gelaufen kam, herzlich an seine Brust zu ziehen. Smiley blieb zehn Meter vor dem italienischen Kalligrafen und Judo-Experten stehen. Berit winkte ihm zu.

»Leinen los«, rief sie. »Spinnst du«, flüsterte ich, aber sie lachte nur. »Der kommt doch nicht«, sagte sie. Sie hatte Recht. Wie so oft. Smiley stand stocksteif da

und starrte Bresani an. Obwohl er so weit weg war, dass wir ihn nicht hören konnten, bin ich ganz sicher, dass er fauchte. Bresani ging einen Schritt auf ihn zu.

Smiley sprang hoch, wirbelte herum und galoppierte zum Hotel zurück.

Bresani drehte sich um und winkte uns zu. Wir winkten zurück, während die Fähre den Anleger von Fjærland verließ und auf das letzte Kapitel zuhielt.

Als der Zug in Oslo eintraf, war es zu spät, um noch in den Verlag zu gehen, aber nachdem Berit zur großen Begeisterung meiner Eltern bei uns übernachtet hatte, bestellten wir am andern Morgen ein Taxi.

Ich war noch nie in einem Verlag gewesen, doch ich hatte mir eine Art Märchenhaus vorgestellt, mit dunklen Zimmern und langen Gängen, wo Männer mit Cordhosen

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und Hornbrillen und Frauen mit flatternden Umhängen und Baskenmützen murmelnd hin und her wandeln, vertieft in dicke Bücher. Die Wirklichkeit sah ein wenig anders aus.

Wir fanden die Adresse, die Bibbi Bokken uns gegeben hatte, und wurden vor einem riesigen Gebäude mitten in der Stadt abgesetzt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich getippt, dass dort eine Versicherungs-gesellschaft untergebracht sei, kein Verlag. Aber in gewisser Hinsicht stimmte das ja auch. Denn ein Verlag soll uns dagegen versichern, dass unser Gehirn austrocknet.

Unser erstes Problem war, den Eingang zu finden. Wir gingen zweimal um das Haus herum, fanden aber nur allerlei Hintertüren. Und die waren natürlich alle verschlossen. Am Ende erkundigten wir uns am Taxistand um die Ecke, und ein dicker, sympathischer Taxifahrer, der ganz hinten in der Schlange stand, brachte uns zu der einzigen Tür, die wir noch nicht ausprobiert hatten.

Wir betraten eine Art Rezeption, wo eine Frau uns aus einem Glaskasten heraus anschaute. Ich kam mir vor wie im Kino.

»Zwei Kinder für den Verlag«, sagte ich. »Ich verstehe nicht so ganz.« »Wir haben ein Buch geschrieben«, sagte Berit. »Ein Buch?« Berit nickte. »Seid ihr da ganz sicher?«, fragte die Frau und schien

losprusten zu wollen. »Nicht so ganz«, murmelte ich. »Doch«, sagte Berit tapfer. »Ganz sicher. Wir …« Zum Glück blieben ihr weitere Erklärungen erspart,

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denn in diesem Moment tauchte aus dem Fahrstuhl eine muntere kleine Frau auf.

»Berit Bøyum und Nils Torgersen Bøyum?«, fragte sie. Wir nickten stumm. Die Frau streckte die Hand aus und lächelte zufrieden. »Wir warten schon auf euch«, sagte sie. »Ich heiße

Gerda Lothe und bin die Programmchefin hier.« Sie führte uns in den Fahrstuhl, der dann in den sechsten

Stock fuhr. Dort oben gab es eine Kantine und einige Gänge, die zu

allerlei Büros führten. »Mein Büro ist da hinten«, sagte sie und zeigte auf einen

Gang. »Wenn ihr irgendetwas braucht, dann kommt einfach zu mir. Er wartet schon auf euch. Zweite Tür links. Ihr könnt gleich hineingehen.«

Sie zeigte auf einen anderen Gang. »Möchtet ihr eine Cola?« »Er?« Ich begriff gar nichts mehr. »Ja, bitte«, sagte Berit. Mit unseren Colas in der Hand gingen wir auf die Tür

zu, auf die Frau Lothe gezeigt hatte. »Eins, zwei, drei«, sagte Berit. »Jetzt gehen wir rein.« Sie öffnete die Tür. Der Mann hinter dem Schreibtisch

erhob sich lächelnd. Und ich bin in meinem ganzen Leben einer Ohnmacht aus purem Entsetzen noch nie so nah gewesen.

ES WAR SMILEY! Wir wollten sofort wieder hinausstürzen, aber er war

schneller als wir. Mit einem Tigersprung hatte er die Tür erreicht, lehnte

sich dagegen und flüsterte:

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»So sehen wir uns also wieder, meine lieben kleinen Freunde.«

Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn triumphierend vor uns hin. Ich glaubte schon, er wolle ihn verschlucken. Meine Hose zitterte dermaßen, dass ich sicher wie ein Fallschirmspringer ausgesehen habe, Berit dagegen schien eiskalt zu sein.

»Was macht denn der Arm, Buur Hansen?«, fragte sie. »In letzter Zeit ein wenig mit dem Judotraining über-trieben, was?«

Ich war so beeindruckt, dass ich trotz aller Angst fast applaudiert hätte. Smiley kniff die Augen zusammen.

»Ach, kommst du mir so«, fauchte er. »Ja«, murmelte ich. »So kommen wir beide.« »Halt die Fresse, Knabe«, fauchte Smiley. Ich hielt die Fresse. Ab und zu bin ich ein Knabe

weniger Worte. Er streckte die Hand aus. »Das Buch«, sagte er. Ich weiß, ich hätte »nur über meine Leiche« sagen

müssen, aber ich hielt noch immer die Fresse. Berit schüttelte den Kopf.

»Das gehört mir«, sagte Smiley. »Nein«, sagte Berit. »Es gehört uns und dem Verlag. Es

soll im Buchjahr erscheinen und an Kinder im ganzen Land verteilt werden.«

»Da haben Sie’s«, sagte ich ein wenig dumm. Und Smiley lachte. Ich hörte ihn zum ersten Mal lachen

und ein angenehmes Lachen war das wahrlich nicht. Er hörte sich an wie ein erkältetes Krokodil.

»Hat Frau Bokken nicht erzählt, dass ich vom Verlag als

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Verkaufsleiter für euer Buch angestellt worden bin?« Das hatte sie und deshalb konnten wir nur stumm

nicken. »Also her damit!« Die Tür war abgeschlossen und er war viel größer und

stärker als Berit und ich zusammen. Uns blieb also keine andere Wahl.

Ich reichte ihm das Buch und er setzte sich hinter den Schreibtisch und fing an zu lesen. Das heißt, er gab vor zu lesen. In Wirklichkeit kannte er doch schon alles, was wir geschrieben hatten. Er blätterte sich durch das Buch hindurch. Und nahm immer zehn Seiten auf einmal. Mindestens.

»Leider. Das ist nicht gut genug.« Er legte die zukünftige Inkunabel auf den Tisch, faltete

vor seiner Brust die Hände und starrte uns mit einem Lächeln an, das traurig aussehen sollte.

»Es tut mir weh, das sagen zu müssen, aber das ist einfach nicht gut genug.«

Diese Behauptung war ebenso falsch wie der Mann selber und das wussten wir, aber was hätten wir schon tun können? Außer Berit und mir hatte bloß Smiley und sonst niemand, nicht einmal Bibbi Bokken, das ganze Buch gelesen. Sie war nur ganz sicher gewesen, dass wir es schaffen würden, und sie hatte Recht gehabt. Wir wussten das, Smiley wusste es auch. Aber er war ein Erwachsener, wir waren Kinder, und wer glaubt schon das, was Kinder sagen?

»Was haben Sie damit vor?«, flüsterte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

»Ich werde es für euch aufbewahren«, sagte Smiley und lächelte.

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Mir rutschte das Herz bis zu meinen Knien und ich glaube, ich kann das auch von Berit behaupten.

Wir starrten stumm den Tisch an, wo das Buch neben einem Pappbecher voll Kaffee und einer Telefonanlage lag. Die Anlage war mit Nummern beschriftet und neben jeder Nummer stand ein Name.

Und Berit tat etwas, was mir in diesem Moment als ungeheure Dummheit erschien. In Wirklichkeit war es das Klügste, was irgendwer von uns bisher getan hatte, und wenn sie nicht auf diese Idee gekommen wäre, wäre dieses Buch niemals erschienen.

Sie warf sich über den Tisch, griff nach dem Briefbuch und rief:

»Das gehört uns! Und du kriegst es nicht, zum Henker!« Sie packte das Briefbuch und warf es mir zu. »Lauf,

Nils«, rief sie. Das kam mir ziemlich lächerlich vor, denn wo hätte ich

denn hinlaufen sollen? Die Tür war abgeschlossen und ich hatte wenig Lust, aus dem Fenster im sechsten Stock zu springen. Also blieb ich mitten im Zimmer stehen, mit dem Buch in der Hand. Smiley machte sich sofort über mich her. Ich bin kein Judoexperte und er brauchte nur anderthalb Sekunden, um es mir zu entreißen.

Berit hatte keinen Finger gerührt, um mir zu helfen. Im Gegenteil. Sie schien sich überhaupt nicht mehr für mich zu interessieren, sie stand weiterhin vor dem Schreibtisch und kehrte mir den Rücken zu.

Als Smiley mit dem Buch hinter den Schreibtisch zurückging, drehte sie sich um und zwinkerte mir zu. Ich schaute sie sauer an.

»Jetzt ist es aus mit dem Spiel«, sagte Smiley. »Sieht so aus«, sagte Berit langsam. »Ich habe nur noch

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eine Frage. Warum ist Ihnen unser Buch so verhasst? Sie wissen doch, dass es nicht so schlecht ist, wie Sie behaupten.«

Erst schien er keine Antwort geben zu wollen, aber dann überlegte er sich die Sache offenbar anders. Er lächelte das bekannte Lächeln und sagte mit seiner Butterstimme:

»Nicht doch, mein Mädel. Es ist gar nicht schlecht, ich meine, als Produkt von zwei Drecks … kindern.«

Ich wollte schon etwas sagen, was ich nachher vielleicht bereut hätte, aber Berit kniff mich in den Arm.

»Genau das«, sagte sie laut und deutlich. »Und deshalb möchten wir wissen, warum Sie es nicht veröffentlichen wollen. Sie sind doch angestellt worden, damit sie es vermarkten. Liegt es daran, dass wir Sie als Schurken darstellen?«

Wieder hustete das Krokodil. »Das spielt keine Rolle, mein Mädel«, sagte er. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Berit. »Denn

wenn Sie Nils wirklich bespitzelt hätten, weil unsere Arbeit Sie interessierte, dann wären Sie ja doch kein Schurke.«

Smiley schien die Lage voll auszukosten und ich hatte das Gefühl, dass Berit genau das erreichen wollte.

»Nun ja«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee. Ein brauner Tropfen lief ihm übers Kinn. »Ich kann es euch ja ruhig erzählen. Es ist ganz einfach. Habt ihr vom ›Children’s Amüsement Consult‹ gehört?«

Ich nickte. »Aber wir wissen nicht, was das ist«, murmelte ich. »Das ist eine kleine Firma, die Videounterhaltung für

Kinder herstellt. Ich bin der Hauptaktionär.« »Erzählen Sie mehr«, sagte Berit. Ich schaute zu ihr

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hinüber. Sie machte ein beeindrucktes Gesicht. Ich kapierte gar nichts mehr.

»Wir sind doch eine Art Konkurrenz der Buchbranche«, sagte Smiley. »Viele haben das noch nicht begriffen, aber die Zeit des Buches ist vorbei. Und deshalb war ich von Anfang an gegen dieses Buchprojekt.«

»Aber warum um alles in der Welt hat der Verlag Sie denn dann als Verkaufsleiter für das Jubiläumsbuch eingestellt?«, fragte ich.

»Ich bin ein anpassungsfähiger Mann«, sagte Smiley. »Ich habe viele Jahre in der Buchbranche gearbeitet. Ich

habe mein Fachwissen zur Verfügung gestellt, um es mal so zu sagen. Ich konnte interessante Vorschläge für die Lancierung des Buches machen. Ich habe sogar mit den Arbeiten an einem Werbevideo begonnen, für den Fall, dass ich dieses Projekt nicht aufhalten und durch mein eigenes ersetzen könnte.«

»Astrid Lindgren«, rief ich. »Deshalb haben Sie mit Astrid Lindgren gesprochen, sie sollte Ihnen bei dem Video helfen.«

Smiley nickte. »Ja, aber sie meinte, das sei nicht ihr Fach, und damit

hatte sie natürlich Recht.« »Was verstehen Sie unter Ihrem eigenen Projekt?«,

fragte Berit. Smiley rieb sich die Hände. »Mein Projekt sah vor, das Buch durch einen Film zur

Feier des Buchjahrs zu ersetzen. Durch einen witzigen Zeichentrickfilm, der die Entwicklung von der Buchdruckerkunst zur modernen Videoproduktion zeigt. Der Arbeitstitel war: Vom Buchstaben zum Band. Ich habe schon Kontakt zu einem italienischen Comiczeichner

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aufgenommen.« Mir ging ein Licht nach dem anderen auf. »Deshalb waren Sie also in Italien!« »Ja, aber der Grund, weshalb ich gleichzeitig mit dir dort

war, war ein anderer. Als ich in der Illustrierten über eine gewisse Ingrid Bøyum und ihre Familie gelesen hatte, ging mir auf, dass ich dort zwei Fliegen mit einer Klappe erledigen könnte. Ich hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass du das Briefbuch mitnehmen würdest. Vielleicht könnte ich es an mich bringen – und zum Beispiel dann das Pech haben, es zu verlieren.«

»Sie haben mich beschattet!« »Ich würde lieber sagen, dass ich dich im Auge behalten

habe.« »Was für eine Beziehung haben Sie eigentlich zu Bibbi

Bokken?«, fragte Berit. Es hörte sich fast an wie ein Verhör, aber Smiley schien

das nicht zu merken. »Bibbi Bokken«, sagte er langsam, »ist ein Fossil. Ich

kenne sie aus unserer Studienzeit. Sie besuchte die Bibliothekshochschule, ich studierte Volkswirtschaft. Wir waren einmal befreundet …«

Er verstummte mitten im Satz. »Aber das ist jetzt vorbei«, sagte Berit. »Richtig, unsere Ansichten gingen zu weit auseinander.

Sie war genauso dagegen, dass ich für dieses Buch als Verkaufsleiter angestellt werden sollte, wie ich mich darüber ärgerte, dass sie die Verantwortung für den Text übertragen bekam.«

»Was ist mit dem Café Skalken?«, fragte ich. »Woher wussten Sie, dass wir dorthin wollten?«

»Das war ein Problem. Ich hatte natürlich Kontakt zu

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deinem Lehrer aufgenommen, um mich nach den Fortschritten des jungen Autors zu erkundigen. Aslaug Bruun erzählte dann, wo ihr euch treffen wolltet. Also ging ich auch hin und versteckte mich …«

»… hinter einer Zeitung«, sagte ich. »Genau.« »Und deshalb haben Sie an dem Tag, als ich bei den

Bruuns war, sie auch besucht?« »Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst, mein

Junge. Ich habe so getan, als sei es mir eine Herzensangelegenheit, dass das Buch so gut wie möglich würde. Und ich habe gefragt, ob du gut schreibst.«

»Was hat Herr Bruun gesagt?«, fragte ich. »Er sagte, du seist gar nicht schlecht, hättest aber deine

Fantasie noch nicht richtig im Griff.« Er machte plötzlich ein wütendes Gesicht. »Es war blöd von euch«, sagte Smiley, »dass ihr euch

das Angebot, das ich euch in Fjærland machen wollte, nicht angehört habt.«

»Welches Angebot?« Berit starrte ihn an. »Ich wollte vorschlagen, dass ihr mir für ein Prozent des

Videoverkaufs sämtliche Rechte an eurem Buch überlasst. Aber jetzt ist es leider zu spät.«

Er ließ sich behaglich in seinen Schreibtischsessel zurücksinken und schaute zur Decke hoch.

»Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Berit. »Nein«, sagte Smiley. »Wer hier fertig ist, das seid ihr.« »Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Berit. Smiley wollte schon antworten, doch in diesem Moment

hörten wir von draußen eilige Schritte. Die Tür wurde aufgeschlossen und vor uns stand Gerda Lothe zusammen

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mit einem ziemlich wütend aussehenden Mann. Smiley versuchte das Briefbuch an sich zu reißen, aber

Gerda Lothe kam ihm blitzschnell zuvor. »Ich gehe davon aus, dass das hier das Buch ist«, sagte

sie und lächelte uns an. »Das hier ist der Verlagsdirektor. Er möchte euch kennen lernen.«

Der Verlagsdirektor sah überhaupt nicht mehr wütend aus, als er uns die Hand reichte.

»Das war wirklich clever«, sagte er. »Wer von euch ist denn auf diese Idee gekommen?«

»Ich glaube, ich«, sagte Berit und versuchte bescheiden auszusehen.

Smiley war während der letzten Sekunden das Kinn auf die Knie geklappt. Jetzt blickte er Berit verwirrt an.

»Was für ’ne Idee?« Berit lächelte süß. »Als Sie sich auf Nils gestürzt haben, um ihm das Buch

wegzunehmen, habe ich auf einen Knopf auf dem Telefon gedrückt. Daneben stand ›Gerda Lothe‹. Und das war doch gar nicht so blöd, oder?«

»Nein«, sagte Gerda Lothe. »Das war ein hochinteressantes Gespräch.«

Berit zwinkerte mir zu. Ich hätte sie küssen können.

Und hier sitzen wir nun. In Smileys Arbeitszimmer. Wo er steckt, weiß ich wirklich nicht. Es interessiert mich auch nicht so richtig. Vielleicht ist er nach Italien gefahren und versucht dort, die Buchdruckerkunst auszurotten. Und wenn ja, dann hat er in Mario Bresani einen würdigen Gegner.

Wir schreiben und schreiben, mithilfe von Bibbi

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Bokken, an unserem Briefbuch. Sie hilft uns beim Finden der richtigen Formulierungen und sagt uns, wie manche Dinge heißen. Sie hilft den Autoren aber auch bei der Rechtschreibung. Und das ist oft nötig. Vor allem bei dem hier beteiligten Autor.

Was die Sprache angeht, so verlässt sich Bibbi wohl doch nicht so ganz auf uns. Obwohl wir Kinder sind, meine ich. Sie sagt, wir hätten viel zu lernen, aber sie habe genauso viel von uns zu lernen. So ist Bibbi Bokken. Eine echte Buchliebhaberin.

Und mehr habe ich jetzt nicht zu sagen. Wir müssen machen, dass wir fertig werden. Es ist schon Ende Oktober und im April soll das Buch erscheinen.

Vorher muss noch ein Zeichner gefunden werden, der das Umschlagbild macht. Und der Hersteller muss Buchformat und Schrifttyp festlegen. (Sabon und Berkely Old Style sind in Wirklichkeit ganz harmlose Schrifttypen und nicht die Ungeheuer, für die ich sie gehalten hatte. Das war bloß Smileys Vorschlag für den Fall gewesen, dass das Buch gegen seinen Willen doch veröffentlicht würde. Und das ist ja auch passiert, aber jetzt soll es in Palatino 11/13 pkt gesetzt werden.)

Unser Buch wird schließlich an eine Setzerin gegeben, die den Text am Computer in der richtigen Schriftart und -größe erfasst. Dann wird er mit einem Laserdrucker ausgedruckt und an den Korrektor geschickt, der die beim Eingeben in den Computer entstandenen Fehler verbessert. Auch Autorin und Autor gehen alles noch ein letztes Mal durch. Dann schickt der Verlag die fertigen Seiten an die Druckerei.

Und jetzt werden wir dieses Buch beenden. Das kommt mir ein wenig traurig vor, aber nur ein wenig. Ich glaube, Berit heckt irgendetwas aus. Immer wieder macht sie sich

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Notizen auf ihrem Block. Vielleicht wird sie eines Tages ein Buch darüber schreiben, wie sie und ich ein Buch über Bibbi Bokken geschrieben haben, oder sie wird sich Marcus Buur Hansens neue Verbrechen ausdenken oder einen geheimnisvollen Schatz unter dem Jøstedalsbreen erfinden oder die wahre Mörderin aus der Fleischstadt entlarven. Nein, das nicht, das ist schließlich meine Geschichte. Wenn sie darüber schreibt, werde ich sie wegen dieses Ideenklaus anzeigen. So was nennt sich Plagiat und ist verboten.

Ich glaube übrigens nicht, dass ich später Schriftsteller werde. Ich wäre lieber ein Fußballprofi, der mit dreißig Jahren seine eigene Autobiografie schreibt. Nein! Ich werde sie nicht schreiben. Ich werde mein Leben Berit erzählen und sie dann schreiben lassen. Ich glaube, das würde ihr gefallen. Aber jetzt rede ich wirres Zeug. Ich weiß doch nichts über die Zukunft und darüber bin ich eigentlich froh. Ich weiß nur, dass die meisten Bücher noch nicht geschrieben worden sind und dass sich in sechsundzwanzig Buchstaben mehr versteckt als im Kopf irgendeines Menschen auf der Welt. Was ein schöner Gedanke ist. Und wer weiß, vielleicht fällt gerade in dieser Sekunde einer geheimnisvollen Frau in Rot ein Brief aus der Tasche? Und vielleicht hebt ein Mädchen den Brief auf und spürt am ganzen Leib ein seltsam zitterndes Gefühl?

Und dieses Gefühl kenne ich. Es heißt INSPIRATION!

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Literaturliste

Das Tagebuch der Anne Frank, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 1992, aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler Tor Åge Bringsværd: Den som har begge beina på jorda står stille, Gyldendal, Oslo, 1974

Elevtekster fra LES 91, Universitetsforlaget, Oslo, 1992 Inger Hagerup: Den sommeren, Aschehoug, Oslo, 1992 Henrik Ibsen: Peer Gynt, Reclam, Stuttgart, 1953,

übersetzt von Hermann Stock A. A. Milne: Pu der Bär, Cecilie Dressler Verlag, Berlin, o. J., übersetzt von E. L. Schiffer Simen Skjonsberg: Den grufulle nytelse – epistier om lesningens mysterier, Gyldendal, Oslo, 1990

Jan Erik Vold: Dikt, Gyldendal, Oslo, 1966 ders.: kykelipi, Gyldendal, Oslo, 1969 ders.: spor, snø, Gyldendal, Oslo, 1970