Gavranidou Rosner 08

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Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge Maria Gavranidou 1 , Barbara Niemiec 2 , Birgit Magg 2 und Rita Rosner 2 1 Referat für Gesundheit und Umwelt, Landeshauptstadt München 2 Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München Zusammenfassung. Zur psychischen Belastung von Flɒchtlingskindern in Deutschland liegen nur wenige Studien vor. Die Studie er- fasst sowohl Lebensbedingungen als auch Symptome psychischer Belastung solcher Kinder. Untersucht wurden 55 Kinder und Ju- gendliche im Alter von elf bis 17 Jahren, die in Mɒnchner Flɒchtlingsunterkɒnften leben. Die Kinder und Jugendlichen wurden mittels eines halbstrukturierten Interviews ausfɒhrlich zu den Exilbedingungen sowie zu frɒheren Kriegs- und Fluchterfahrungen befragt. Psy- chische Belastung und Symptome posttraumatischer Belastung wurden mit dem Youth Self Report (YSR) und dem Screen for Child Anxiety Related Emotional Disorders untersucht und zu frɒheren traumatischen sowie aktuellen belastenden Erfahrungen in Bezie- hung gesetzt. Es zeigte sich, dass neben den vergangenen Belastungen auch die aktuellen Exil-Belastungen der Kinder und Jugend- lichen hoch sind und dass entsprechend viele Kinder und Jugendliche auffȨllige Werte auf den Symptomskalen erzielten. Exilbedingte familiȨre Belastungen korrelierten hoch mit aktuellen psychischen Problemen und AuffȨlligkeiten. Schlɒsselwçrter: Flɒchtlinge, Kinder, Jugendliche, Trauma, Asylbewerber Traumatic experiences, current living conditions, and psychological distress symptoms among adolescent refugees Abstract. Research on the mental health of refugee children in Germany is relatively rare. The present study aims at exploring current living conditions and psychological symptoms in young refugees. Thus 55 refugee children and adolescents aged 11– 17 years living in Munich shelters were interviewed. Information on war experiences in the home countries and current living conditions was obtained by means of semistructured interviews. Symptoms of general psychological distress were assessed with the Youth Self Report and trau- matic events and posttraumatic stress symptoms were measured with the respective items from the Screen for Child Anxiety Related Emotional Disorders. The connections between symptoms and traumatic experiences in the past and current living conditions were explored. Results show that young refugees) current as well as past living conditions are highly stressful. Accordingly, they report high numbers of emotional and behavioral symptoms. Significant correlations were found between exile-related family stressors and current psychological symptoms. Key words: refugees, children and adolescents, war trauma, asylum seeker, mental health Weltweit befinden sich ungefȨhr 40 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die HȨlfte davon sind Frauen und Kinder (UNHCR, 2007). Erwachsene wie Kinder haben im Herkunftsland direkt oder indirekt die Konsequenzen des Krieges erfahren. Sie haben auf der Flucht Gefahren und traumatische Ereignisse erlebt und werden auch im Aufnahmeland mit Belastungen und Ereignissen kon- frontiert, die traumatische Ausmaße annehmen kçnnen (Keilson, 1979). Auswirkungen von Krieg oder kriegsȨhnlichen Zu- stȨnden auf die Entwicklung und psychische Gesundheit von Kindern wurden fɒr verschiedene Kriegsgebiete un- tersucht. Alle Befunde weisen auf negative Konsequen- zen von Krieg, Vertreibung und Exil fɒr Kinder und Ju- gendliche hin (z.B. Gavranidou & Rosner, 2003; Jensen & Shaw, 1993; Weine et al., 1995). Posttraumatische Be- lastungsstçrungen (PTB) gehçren neben Depressionen, Ɛngsten und Entwicklungsproblemen zu den hȨufigen Stçrungen, die fɒr Flɒchtlingskinder und -jugendliche (Ehntholt & Yule, 2006) und ihre Eltern (GȨbel, Ruf, Schauer, Odenwald & Neuner, 2006) berichtet werden. UngefȨhr 40 % der jungen Flɒchtlinge leiden unter ernst- zunehmenden psychiatrischen Erkrankungen und bei Anwendung von strengen klinischen Kriterien in Inter- viewstudien werden PTB-Raten von 7 bis 17% ermittelt, bei Fragebogenstudien von 11 bis 50% (Ehntholt & Yule, 2006). Im Gegensatz zu anderen LȨndern wurde die Situation jugendlicher Flɒchtlinge und ihrer Familien in Deutsch- land insgesamt kaum systematisch untersucht. Die weni- gen existierenden Arbeiten beschȨftigen sich vor allem mit der sozialen und rechtlichen Situation dieser Gruppe, der Darstellung von EinzelfȨllen sowie der Situation von Flɒchtlingen in bestimmten Orten und Regionen (z. B. Adam, Ȕsterreicher, Asshauer & Riedesser, 2004; von Balluseck, 2003). Einige dieser Studien beziehen sich Kindheit und Entwicklung 17 (4), 224 – 231 # Hogrefe Verlag, Gçttingen 2008 DOI: 10.1026/0942-5403.17.4.224

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Traumatische Erfahrungen,aktuelle Lebensbedingungen im Exil undpsychische Belastung junger Flüchtlinge

Maria Gavranidou1, Barbara Niemiec2, Birgit Magg2 und Rita Rosner2

1 Referat für Gesundheit und Umwelt, Landeshauptstadt München2 Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München

Zusammenfassung. Zur psychischen Belastung von Fl�chtlingskindern in Deutschland liegen nur wenige Studien vor. Die Studie er-fasst sowohl Lebensbedingungen als auch Symptome psychischer Belastung solcher Kinder. Untersucht wurden 55 Kinder und Ju-gendliche im Alter von elf bis 17 Jahren, die in M�nchner Fl�chtlingsunterk�nften leben. Die Kinder und Jugendlichen wurden mittelseines halbstrukturierten Interviews ausf�hrlich zu den Exilbedingungen sowie zu fr�heren Kriegs- und Fluchterfahrungen befragt. Psy-chische Belastung und Symptome posttraumatischer Belastung wurden mit dem Youth Self Report (YSR) und dem Screen for ChildAnxiety Related Emotional Disorders untersucht und zu fr�heren traumatischen sowie aktuellen belastenden Erfahrungen in Bezie-hung gesetzt. Es zeigte sich, dass neben den vergangenen Belastungen auch die aktuellen Exil-Belastungen der Kinder und Jugend-lichen hoch sind und dass entsprechend viele Kinder und Jugendliche auff�llige Werte auf den Symptomskalen erzielten. Exilbedingtefamili�re Belastungen korrelierten hoch mit aktuellen psychischen Problemen und Auff�lligkeiten.Schl�sselwçrter: Fl�chtlinge, Kinder, Jugendliche, Trauma, Asylbewerber

Traumatic experiences, current living conditions, and psychological distress symptoms among adolescent refugees

Abstract. Research on the mental health of refugee children in Germany is relatively rare. The present study aims at exploring currentliving conditions and psychological symptoms in young refugees. Thus 55 refugee children and adolescents aged 11– 17 years living inMunich shelters were interviewed. Information on war experiences in the home countries and current living conditions was obtained bymeans of semistructured interviews. Symptoms of general psychological distress were assessed with the Youth Self Report and trau-matic events and posttraumatic stress symptoms were measured with the respective items from the Screen for Child Anxiety RelatedEmotional Disorders. The connections between symptoms and traumatic experiences in the past and current living conditions wereexplored. Results show that young refugees� current as well as past living conditions are highly stressful. Accordingly, they report highnumbers of emotional and behavioral symptoms. Significant correlations were found between exile-related family stressors and currentpsychological symptoms.Key words: refugees, children and adolescents, war trauma, asylum seeker, mental health

Weltweit befinden sich ungef�hr 40 Millionen Menschenauf der Flucht, mehr als die H�lfte davon sind Frauen undKinder (UNHCR, 2007). Erwachsene wie Kinder habenim Herkunftsland direkt oder indirekt die Konsequenzendes Krieges erfahren. Sie haben auf der Flucht Gefahrenund traumatische Ereignisse erlebt und werden auch imAufnahmeland mit Belastungen und Ereignissen kon-frontiert, die traumatische Ausmaße annehmen kçnnen(Keilson, 1979).

Auswirkungen von Krieg oder kriegs�hnlichen Zu-st�nden auf die Entwicklung und psychische Gesundheitvon Kindern wurden f�r verschiedene Kriegsgebiete un-tersucht. Alle Befunde weisen auf negative Konsequen-zen von Krieg, Vertreibung und Exil f�r Kinder und Ju-gendliche hin (z. B. Gavranidou & Rosner, 2003; Jensen& Shaw, 1993; Weine et al., 1995). Posttraumatische Be-lastungsstçrungen (PTB) gehçren neben Depressionen,�ngsten und Entwicklungsproblemen zu den h�ufigen

Stçrungen, die f�r Fl�chtlingskinder und -jugendliche(Ehntholt & Yule, 2006) und ihre Eltern (G�bel, Ruf,Schauer, Odenwald & Neuner, 2006) berichtet werden.Ungef�hr 40% der jungen Fl�chtlinge leiden unter ernst-zunehmenden psychiatrischen Erkrankungen und beiAnwendung von strengen klinischen Kriterien in Inter-viewstudien werden PTB-Raten von 7 bis 17% ermittelt,bei Fragebogenstudien von 11 bis 50% (Ehntholt & Yule,2006).

Im Gegensatz zu anderen L�ndern wurde die Situationjugendlicher Fl�chtlinge und ihrer Familien in Deutsch-land insgesamt kaum systematisch untersucht. Die weni-gen existierenden Arbeiten besch�ftigen sich vor allemmit der sozialen und rechtlichen Situation dieser Gruppe,der Darstellung von Einzelf�llen sowie der Situation vonFl�chtlingen in bestimmten Orten und Regionen (z. B.Adam, �sterreicher, Asshauer & Riedesser, 2004; vonBalluseck, 2003). Einige dieser Studien beziehen sich

Kindheit und Entwicklung 17 (4), 224 – 231 � Hogrefe Verlag, Gçttingen 2008

DOI: 10.1026/0942-5403.17.4.224

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auf die Situation der unbegleiteten Minderj�hrigen wiez. B. die Arbeiten von Jordan (2000), Hauser (1996) undSadiri (1992). Die Symptombelastung der begleitetenMinderj�hrigen wird dagegen eher selten thematisiert.Empirische Studien zur PTB-H�ufigkeit bei Fl�chtlings-kindern und -jugendlichen in Deutschland liegen kaumvor. Eine neuere Arbeit weist jedoch mit 20% auf einehohe Pr�valenz von PTB bei jungen Fl�chtlingen hin(Ruf & Schauer, 2005).

Hauptziel der vorliegenden Studie ist es, die H�ufig-keiten von PTB und anderen psychischen Auff�lligkeitenbei jugendlichen Fl�chtlingen zu ermitteln und in Bezugzu direkten und indirekten Kriegsbelastungen und aktu-ellen Lebensbedingungen in Deutschland zu setzen.

Methode

Durchführung

Die Befragung der jugendlichen Fl�chtlinge wurde inf�nf M�nchner Unterk�nften durchgef�hrt. Die Rekru-tierung der Stichprobe und die Interviews erfolgten inden jeweiligen Unterk�nften. Auswahlkriterien warenAlter (11 bis 18 Jahre) sowie gute Deutschkenntnisse.Als Interviewerinnen standen zwei Diplomandinnen zurVerf�gung, die bereits im Studium Erfahrungen im Um-gang mit traumatisierten Personen erworben hatten undin zwei der Unterk�nfte durch eine Teilzeitbesch�ftigungbekannt waren. Beide waren in der Durchf�hrung der In-terviews trainiert worden.

Eine Sch�digung der Teilnehmer durch die Befra-gung erschien unwahrscheinlich (Griffin, Resick, Wald-rop & Mechanic, 2003); um jedoch etwaige Fragen undBelastungen aufzufangen, erhielten die Befragten ein In-foblatt mit der Adresse der Trauma-Ambulanz der Uni-versit�t. Die Kollegen der Trauma-Ambulanz waren mitdem Studiendesign vertraut und standen f�r eventuellnotwendige Beratung und Therapie zur Verf�gung. Al-lerdings nahm niemand dieses Hilfsangebot in Anspruch.Die Teilnahme der Kinder und Jugendlichen erfolgtefreiwillig und nach vorheriger schriftlicher Aufkl�rungund Zustimmung der Eltern oder Erziehungsberechtig-ten. Da die Eltern im Gegensatz zu den Kindern in denmeisten F�llen nicht �ber ausreichende Deutschkenntnis-se verf�gten, wurde die Einverst�ndniserkl�rung bei Be-darf in der Sprache der Eltern ausgeh�ndigt (insgesamtin sechs Sprachen). Aufgrund der sprachlichen Problemewurde auf eine Befragung der Eltern verzichtet.

Die Ausschçpfungsquote variierte zwischen den Un-terk�nften. In einer st�dtischen Unterkunft konnten na-hezu alle jugendlichen Bewohner befragt werden (ca.90% der Kinder und Jugendlichen, die die Aufnahmekri-terien erf�llten; die Befragten aus dieser Unterkunft ent-

sprechen etwa einem Drittel der Gesamtstichprobe),w�hrend in den anderen Unterk�nften die Beteiligungniedriger war. W�hrend die Bereitschaft an der Befra-gung bei den Jugendlichen recht hoch war, waren die El-tern eher misstrauisch. Fl�chtlinge bringen oft Befragun-gen mit Asylverfahren und Behçrdeng�ngen in Verbin-dung und verweigern deshalb ihre Teilnahme an Unter-suchungen.

Stichprobe

An der vorliegenden Studie nahmen 32 m�nnliche und23 weibliche jugendliche Fl�chtlinge im Alter von elfbis 17 Jahren teil. 31 begleitete Jugendliche (18 Jungenund 13 M�dchen) und vier unbegleitete Minderj�hrigelebten zum Zeitpunkt der Datenerhebung in st�dtischenund 20 begleitete Jugendliche (jeweils zehn Jungen undM�dchen) in staatlichen M�nchner Unterk�nften. DasDurchschnittsalter betrug 13,4 Jahre. Die Aufenthalts-dauer in Deutschland schwankte zwischen zwei und 16Jahren und betrug durchschnittlich 7,6 Jahre. Die Kin-der und Jugendlichen stammen aus unterschiedlichenKriegsgebieten, wie Kosovo-Albanien (n = 20), Bosnien(n = 12), Afghanistan (n = 6), Irak (n = 5) sowie aus demLibanon, aus Kamerun, Togo, Syrien und Vietnam (je-weils n < 3).

Messinstrumente

Belastende und traumatische Ereignisse wurden mit ei-nem halbstrukturierten Interview erfasst, das im Rahmender vorliegenden Untersuchung entwickelt wurde. In of-fenen Fragen wurde nach kriegbezogenen, fluchtabh�n-gigen und exilbedingten Ereignissen gefragt. Letzterewurden in allgemein gesellschaftliche Belastungen (Auf-enthaltsstatus, Unterbringung, Diskriminierung) und fa-mili�re Belastungen (z. B. Aufgaben und Arbeiten derund f�r die Eltern �bernehmen, wie dolmetschen oderBehçrdeng�nge erledigen) unterschieden. Des Weiterenwurde derjenige Fragebogenteil des Screen for Child An-xiety Related Emotional Disorders (SCAS-RADS-D; Es-sau, Muris & Ederer, 2002) eingesetzt, der im ersten Teiltraumatische Ereignisse und im zweiten Teil damit zu-sammenh�ngende Symptome posttraumatischer Belas-tung erfragt. Letzterer enth�lt elf Fragen, die Erinne-rungs-, Vermeidungs- und psychophysiologische Symp-tome der �bererregung (entsprechend der DiagnosePTB nach DSM-IV) thematisieren.

Psychische Auff�lligkeiten wurden aus Sicht der Kin-der und Jugendlichen mittels der deutschen Fassung desYouth Self Report (YSR; Dçpfner et al., 1998 b) gemes-sen. Weil die YSR nicht in allen Landessprachen vorlag(insgesamt neun Nationalit�ten) und die Befragten ausrei-

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chende Deutschkenntnisse besaßen, wurde die deutscheVersion verwendet. Die Erzieher und Erzieherinnen inden Unterk�nften beurteilten anhand der deutschen Ver-sion der Teacher�s Report Form (TRF; Dçpfner, Berner& Lehmkuhl, 1997) psychische Symptome. Im ersten Teilder Instrumente werden aus Jugendlichen- oder Erzieher-sicht Kompetenzen und Aktivit�ten, im zweiten Teil Ver-haltensauff�lligkeiten und emotionale Probleme erhoben.Die Fragen des zweiten Teils sind acht Symptomskalenzugeordnet, die sich wiederum zu den drei �bergeord-neten Skalen: „Internale Auff�lligkeiten“, „ExternaleAuff�lligkeiten“ und „Gemischte Auff�lligkeiten“ zu-sammenfassen lassen. Die 20 Fragen, die keiner dieser�bergeordneten Skalen zugeordnet werden kçnnen, ge-hen als „Andere Probleme“ in den 101 Fragen umfassen-den „Gesamtbelastungswert“ ein. Bei der Datenanalyseder vorliegenden Arbeit wurden die Skalen „Aktivit�tenund soziale Kompetenz“, sowie „Gemischte Auff�lligkei-ten“ und „Andere Probleme“ nicht ber�cksichtigt.

Mittelwertsvergleiche wurden mit t-tests oder Va-rianzanalysen vorgenommen, Zusammenh�nge mittelsPearson-Korrelationskoeffizienten gesch�tzt. Die Ver-gleiche mit den Referenzstichproben (klinisch-psychi-atrische und ostdeutsche Stichprobe) wurden anhand des

Kolmogorov-Smirnov-Test durchgef�hrt, der die Zuge-hçrigkeit zweier Stichproben zur gleichen Verteilung tes-tet. Hierbei dienten die Mittelwerte und Standardabwei-chungen der Referenzstichproben als Richtwerte.

Ergebnisse

Belastende und traumatische Erfahrungen

Die Kinder und Jugendlichen berichteten im Interview ei-ne Vielzahl belastender und traumatischer Ereignissew�hrend des Krieges, der Flucht und im Exil (sieheTab. 1). Die Zahlen in der Tabelle geben wieder, wie vieleder Befragten jeweils eine bestimmte Erfahrung angaben.

Direkte Kriegserlebnisse und indirekte Kriegserleb-nisse. Knapp die H�lfte der Befragten (n = 24) waren un-mittelbar mit Kriegshandlungen konfrontiert, wobei sieim Schnitt sechs Kriegserlebnisse berichteten. Etwasmehr (n = 32) berichteten von indirekten Erlebnissen, indem Sinne, dass Familienangehçrige unmittelbar vomKriegsgeschehen betroffen waren. Im Schnitt werdendrei derartige Erlebnisse berichtet.

Tabelle 1. Stressoren im Krieg, auf der Flucht und im Exil (N = 55)

Unmittelbar von Krieg betroffen (n = 24) Indirekt vom Krieg betroffen (n = 32)

Ereignisse n Ereignisse n

Angst um die FamilieAngriffe und �berf�lle erlebtAngst um eigenes LebenZeugen von Verletzungen/MisshandlungenBombenangriffe erlebtBedrohung durch WaffenMenschen sterben sehen

2114121111

75

Ein Verwandter im Krieg umgekommenVerwandte im Krieg gek�mpftVater im Krieg gek�mpftMisshandlung/Verletzung der ElternMehrere Verwandte im Krieg umgekommenVater im Krieg umgekommen

231312763

Eigene Fluchterlebnisse (n = 55) Gesellschaftliche Belastungen im Exil (n = 55)

Nahe Verwandte in Heimat zur�ckgebliebenFreunde in der Heimat zur�ckgebliebenAbschied von den Freunden nicht mçglichAbschied von Verwandten nicht mçglichFamilie ohne Vater auf der FluchtReisedauer bis zu einer WocheAlleine auf der FluchtReisedauer ca. ein MonatReisedauer bis sechs Monate

4746362317

9522

Kein eigenes ZimmerErzwungene Arbeitslosigkeit der ElternDiskriminierungserfahrungenGemeinsame sanit�re AnlagenUnsicherer AufenthaltGemeinsame K�chenTeilen eines Zimmers mit den Eltern/Familie

4726242320209

Famili�re Belastungen im Exil (n = 43)

�bersetzen f�r ElternErledigen von amtlicher PostH�ufige Konflikte mit den ElternVater keine BezugspersonMutter keine BezugspersonKeine Unterst�tzung von den Eltern

43191735338

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Fluchterlebnisse. Flucht war wie erwartet mit Tren-nungen von Familienangehçrigen und Freunden verbun-den. Von den Jugendlichen, die von belastenden Ereig-nissen im Zusammenhang mit der Flucht berichteten(n = 47) wurden im Schnitt drei solche belastendenAspekte genannt. Die Fluchtdauer war bei den befragtenJugendlichen eher kurz, nur vier der Befragten gabenan, einen Monat oder l�nger auf der Flucht gewesen zusein.

Belastungen im Exil. Die 55 Befragten gaben imSchnitt f�nf exilspezifische gesellschaftliche Belastun-gen an, in einer Sammelunterkunft waren gem�ß der Re-krutierung alle untergebracht. Weitere Problemfelder er-gaben sich f�r die jungen Fl�chtlinge aus den exilspezi-fischen Belastungen innerhalb der Familie. So sch�tzten38 Jugendliche die Deutschkenntnisse ihrer V�ter und 43Jugendliche die ihrer M�tter als schlecht ein. Dement-sprechend gaben sie an, dass sie von den Eltern zu Behçr-den mitgenommen und als Dolmetscher eingesetzt wer-den (24 Jugendliche). Insgesamt berichteten 43 Jugend-liche davon, dass sie sehr oft oder immer f�r ihre Elterndolmetschen mussten und dies als belastend erleben. Zuweiteren Belastungen gehçrt das Erledigen der amtlichenKorrespondenz (19 Jugendliche). �ber die H�lfte derKinder berichteten von belastenden Ver�nderungen derFamilienstrukturen und Umkehrung der traditionellenRollenverteilung innerhalb der Familie (Beispiele inTab. 1).

Psychische Auffälligkeiten derFlüchtlingskinder und -jugendlichen

Psychische Auff�lligkeiten im Selbsturteil (YSR). Diepsychische Gesamtauff�lligkeit der jugendlichen Fl�cht-linge gemessen mit dem YSR f�llt insgesamt hoch aus.Bei Anwendung des von Dçpfner et al. (1998 b) vor-geschlagenen Cut-off-Werts f�r klinische Relevanz derYSR-Symptome weist fast die H�lfte der befragten Kin-der und Jugendlichen (n = 23) relevante Werte im Ge-samtbelastungswert des YSR auf. Davon erreichen elfder Befragten klinisch bedeutsame Werte und weiterezwçlf Werte, die im Grenzbereich zur klinischen Auff�l-ligkeit liegen.

Um die Ergebnisse besser einordnen zu kçnnen, wur-de ein Vergleich mit den Stichproben zweier anderer Stu-dien vorgenommen. Ausgew�hlt wurde daf�r eine Studiemit klinisch-psychiatrisch auff�lligen Kindern und Ju-gendlichen in Deutschland (vgl. Dçpfner, Berner &Lehmkuhl, 1995) und eine Stichprobe von Jugendlichenaus den neuen Bundesl�ndern (vgl. Dçpfner et al.,1998a). Letztere Gruppe erschien besonders unter demPunkt Anpassung an neue gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen interessant. Der Vergleich der Skalenwerteder YSR zwischen den Stichproben weist auf eine Anf�l-

ligkeit der jungen Fl�chtlinge hin und wurde getrenntnach Geschlechtern anhand des Kolmogorov-Smirnov-Tests durchgef�hrt. Signifikante Ergebnisse deuten alsoauf eine Abweichung unserer Stichprobe zu den Ver-gleichsstichproben hin. Es ergab sich folgendes Bild:M�dchen berichteten genauso viele Aufmerksamkeits-probleme, kçrperliche Beschwerden und aggressive Ver-haltensweisen wie die jugendpsychiatrische Stichprobe.Die m�nnlichen Fl�chtlinge beschreiben sich im Bereichder kçrperlichen Beschwerden, aggressiven Verhaltens�hnlich pathologisch wie die jugendpsychiatrischen Pa-tienten (siehe Tab. 2).

Im Vergleich mit der Gruppe der Kinder und Jugend-lichen aus den neuen Bundesl�ndern, f�r die mehr psy-chosoziale Belastungen aufgrund der Wiedervereinigungangenommen wurden, beschreiben sich die jungenFl�chtlinge als emotional labiler und psychisch auff�l-liger. Die m�nnlichen Fl�chtlinge zeigen im Vergleichzu den Jungen aus den neuen Bundesl�ndern mit Aus-nahme der Skalen Dissoziales Verhalten und ExternaleAuff�lligkeiten insgesamt mehr Symptome. Die Gruppeder weiblichen Fl�chtlinge unterscheidet sich von denM�dchen aus den neuen Bundesl�ndern lediglich bez�g-lich kçrperlicher Beschwerden und Aufmerksamkeits-probleme sowie im Gesamtbelastungswert. Im Selbst-urteil erscheinen die Fl�chtlingskinder im Vergleich zurklinisch-psychiatrischen und ostdeutschen Stichprobeninsgesamt auff�llig, mit Gesamtbelastungswerten, dien�her an der klinischen Stichprobe liegen als die der ost-deutschen Stichprobe.

Psychische Auff�lligkeiten im Urteil der Erzieher/innen (TRF). Das Selbsturteil der Jugendlichen f�llt inder Mehrheit der Symptomskalen tendenziell patholo-gischer aus als die Erziehereinsch�tzung, mit Ausnah-me der Skalen „Sozialer R�ckzug“ und „Aufmerksam-keitsprobleme“, die hçhere Werte im TRF aufweisen(Unterschiede nicht signifikant). In der Symptomskala„Aufmerksamkeitsprobleme“ sind im Erzieherurteil dieM�dchen (M = 9,82; SD = 3,1 vs. M = 5,62; SD = 4,0;t(20,9) = – 2,47; p = .02) und die unter 14-J�hrigen(M = 8,88; SD = 4,7 vs. M = 4,29; SD = 1,9; t(22) = 3,41;p = .03) auff�lliger. Erzieher beschrieben j�ngere Kin-der auff�lliger als �ltere Jugendliche im Gesamtbelas-tungswert (M = 29,89; SD = 20,2 vs. M = 16,57;SD = 7,7; t(23,8) = 2,43; p = .02) und auf der �berge-ordneten Skala externale Auff�lligkeiten (M = 12,53;SD = 10,1 vs. M = 6,43; SD = 4,7; t(22,4) = 2,10; p =.05).

Symptome posttraumatischer Belastunggemäß SCAS-RADS-D

Im SCAS-RADS-D wird allgemein danach gefragt, objemand etwas „wirklich Schlimmes oder Traumatisches“

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erlebt hat. Kriegserlebnisse sind von den Kindern und Ju-gendlichen mit 15 Nennungen am h�ufigsten angegebenworden, gefolgt von nicht kriegsbedingtem Tod in derFamilie (n = 7), Verlust der Eltern w�hrend des Krieges(n = 3), schwerwiegenden Problemen in der Familie(n = 3), Zeuge zu sein von Unf�llen/Angriffen und eige-nen Unf�llen/Angriffen (n = 2). Insgesamt gaben nurknapp zwei Drittel der Befragten (n = 33) im Fragebogenan, ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Die PTB-Symptome wurden zu einem PTB-Gesamtbelastungs-wert addiert. Aufgrund fehlender Referenzwerte wurdendie Rohwerte der Stichprobe auf dem PTB-Gesamtbelas-tungswert in drei Kategorien aufgeteilt: das untere unauf-f�llige Viertel der Stichprobe (0– 14 Punkte, n = 9), dasobere auff�llige Viertel der Stichprobe (23 – 33 Punkte,n = 9) und den Bereich der mittleren Auspr�gung (15 – 22Punkte, n = 15). Die YSR-Werte der drei Gruppen wur-den mittels einer einfaktoriellen Variazanalyse (ANOVA)mit dem Faktor PTB-Gesamtbelastungswert hoch, mittelbzw. niedrig und anschließenden multiplen Vergleichs-tests nach Bonferroni verglichen. Die Kinder und Ju-gendlichen mit einer hohen Auspr�gung auf dem PTB-Gesamtbelastungswert (16% der Stichprobe) beschrei-ben sich signifikant pathologischer auf den Symptom-skalen �ngstlich-Depressiv (F = 5,208; df = 2; p = .01),Schizoid-Zwanghaft (F = 3,841; df = 2, p = .03), Aggres-sives Verhalten (F = 3,050; df = 2, p = .02), InternaleAuff�lligkeiten (F = 2,643; df = 2, p = .02) und im Ge-samtbelastungswert des YSR (F = 5,185; df = 2, p = .01).Tendenziell signifikant wurden die Unterschiede auf denSkalen Externale Auff�lligkeiten (F = 2,643; df = 2,p = .09) und Kçrperliche Beschwerden (F = 3,083; df = 2;p = .06) (siehe Tab. 3).

Traumatische Ereignisse und psychischeAuffälligkeiten

Zur �berpr�fung der Annahmen, dass Jugendliche miteiner hçheren Zahl an direkten und indirekten Kriegs-erlebnissen hçhere YSR-Werte aufweisen, wurden ge-trennt nach Geschlecht und Altersgruppe das Ausmaßder direkten und indirekten Kriegserlebnisse und dieYSR-Werte korreliert (Pearson Koeffizienten). Die bei-den Variablen wurden jeweils aus der Summe aller ge-nannten direkten bzw. indirekten Kriegserfahrungen ge-bildet (s. Tab. 1).

Direkte Kriegserlebnisse korrelieren nicht signifikantmit den einzelnen Skalen des YSR. Dies gilt f�r beideGeschlechter und unabh�ngig von der Altersgruppe. Dieindirekten Kriegsbelastungen korrelieren bei Jungen sig-nifikant positiv mit den Symptomskalen Schizoid-Zwanghaft (r = .56; p = .001), Aggressives Verhalten(r = .38; p = .03) und der �bergeordneten Skala externaleAuff�lligkeiten (r = .35; p = .05); innerhalb der �lterenJugendlichen (14 Jahre und �lter) sind positive Korrela-tionen zwischen indirekten Kriegserlebnissen und denSkalen Schizoid-Zwanghaft (r = .70; p = .002), Dissozia-les Verhalten (r = .46; p = .07), Aggressives Verhalten(r = .61; p = .01) sowie der �bergeordneten Skala exter-nale Auff�lligkeiten (r = .60; p = .01) und dem Gesamt-belastungswert (r = .51; p = .04) zu verzeichnen. DerSummenwert gesellschaftliche Belastungen im Exil kor-reliert bei M�dchen negativ mit der Skala DissozialesVerhalten (r = – .43; p = .04). F�r die �lteren Jugend-lichen besteht ein positiver Zusammenhang mit der YSR-Skala Aufmerksamkeitsprobleme (r = .62; p = .01).

Tabelle 2. Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der YSR-Skalen der Fl�chtlingskinder und Vergleichswerteeiner klinischen Stichprobe und einer nicht-klinischen Stichprobe aus den neuen Bundesl�ndern

YSR-Skalen Jungen M�dchen

Fl�chtlinge Klinisch (a) Ostdeutsch (b) Fl�chtlinge Klinisch (a) Ostdeutsch (b)

M (SD) M (SD) M (SD) M (SD) M (SD) M (SD)

Sozialer R�ckzug 3,4 (2,1) 4,0 (2,5)* 2,1 (2,1)** 3,6 (1,7) 4,9 (2,8)* 3,1 (2,5)

Kçrperliche Beschwerden 2,9 (1,9) 2,9 (3,1) 1,1 (1,5)** 3,4 (2,1) 3,7 (3,5) 2,1 (2,3)*

�ngstlich-Depressiv 6,6 (4,6) 7,7 (5,2) 3,5 (3,1)** 6,8 (4,6) 10,4 (6,5)* 5,8 (4,5)

Soziale Probleme 2,6 (2,2) 4,3 (2,9)** 1,7 (1,9)* 2,5 (2,4) 4,0 (3,1)* 2,1 (2,3)

Schizoid-Zwanghaft 1,3 (1,9) 1,6 (2,0)* 0,5 (1,1)** 1,3 (1,7) 2,2 (2,3)* 0,7 (1,1)

Aufmerksamkeitsprobleme 5,0 (2,4) 7,1 (3,8)** 3,5 (3,0)** 5,7 (3,1) 5,9 (3,3) 4,0 (2,8)*

Dissoziales Verhalten 3,7 (2,7) 4,5 (3,1)** 2,8 (2,7) 2,8 (2,1) 4,1 (3,5)* 2,7 (2,3)

Aggressives Verhalten 9,1 (5,8) 10,4 (6,3) 6,8 (5,4)* 7,9 (4,8) 8,3 (5,2) 6,7 (4,6)

Int. Auff�lligkeiten 12,4 (6,8) 14,1 (8,3) 6,6 (5,4)** 13,5 (6,8) 18,1 (10,6)* 10,5 (7,5)

Ext. Auff�lligkeiten 12,8 (8,1) 14,9 (8,6) 9,7 (7,6) 11,9 (6,3) 12,4 (7,9) 9,6 (6,4)

Gesamtbelastung 39,3 (19,0) 58,1 (21,3)** 24,9 (17,1)** 39,4 (18,0) 59,9 (21,2)** 30,5 (18,2)*

Anmerkungen: * p < .05; ** p < .01; (a) Dçpfner, Berner & Lehmkuhl (1995); (b) Dçpfner et al. (1998a).

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Um die famili�re Belastung abzubilden, wurde einIndex aus den Einzelfragen zur famili�ren Belastungwie etwa der �bernahme elterlicher Aufgaben (z. B. Dol-metschen, Behçrdeng�nge und Erledigung der Korres-pondenz) und Ablehnung der Eltern als Vorbild gebildet.Eine Auswahl der im Index enthaltenen Merkmale findetsich in Tabelle 1. Kinder und Jugendliche, die von vielenfamili�ren Belastungen berichten, beschreiben sich ge-schlechts- und altersunabh�ngig auf fast allen YSR-Ska-len als pathologischer (siehe Tab. 4).

Diskussion

Die meisten der hier untersuchten Fl�chtlingskinder und-jugendlichen haben nicht nur ein einmaliges schreck-liches Ereignis erlebt, sondern sind �ber einen l�ngerenZeitraum – in der Heimat und im Exil – immer wiederneuen Belastungen ausgesetzt gewesen. Die Ergebnisseder Studie zeigen, dass die Gruppe der jungen Fl�chtlin-ge hoch auff�llig ist. Im SCAS-RADS-D berichten 60%der Befragten traumatische Ereignisse und 16% zeigenerhçhte Werte in der PTB-Symptomatik. Zum Vergleich:In einer repr�sentativen deutschen Stichprobe berichte-ten anhand des gleichen Instruments nur 22,5% der Ju-gendlichen traumatische Ereignisse und von diesen zeig-ten wiederum nur 7,3% eine PTBS-Symptomatik (Essau,Conradt & Petermann, 1999). Die hier gefundenen Zah-len korrespondieren gut mit Befunden von Studien ausKriegsgebieten (Ehntholt & Yule, 2006). Dabei erscheintdie Zahl, dass „nur“ 60% der Kinder und Jugendlichentraumatische Ereignisse angegeben haben, auf dem Hin-tergrund der Stichprobe erstaunlich gering. Dies d�rfte

jedoch eher an der Form der Erhebung im SCAS-RADS-D liegen. Im halbstrukturierten Interview gabenallein 24 Befragte an, in irgendeiner Form unmittelbarmit Krieg konfrontiert worden zu sein. Mçglicherweisewerden die eigenen Erlebnisse in Relation zu den schlim-meren Erfahrungen anderer Betroffener gesetzt (z. B. mitjenen, die verletzt wurden oder im Kampfeinsatz waren)und so anders bewertet, als es eigentlich dem heutigenVerst�ndnis des A-Kriteriums einer PTB-Diagnose nachDSM-IV-TR entspricht.

Die vorliegende Studie weist jedoch auch darauf hin,dass mçglicherweise weniger die unmittelbaren traumati-schen Kriegserfahrungen vor der Flucht, sondern viel-mehr die gesellschaftlichen und famili�ren Exilbelastun-gen mit psychischen Auff�lligkeiten verkn�pft sind.Fl�chtlingskinder und -jugendliche, die �ber viele belas-tende famili�re Ereignisse berichteten, gehçrten zurGruppe mit den hçchsten Werten auf den YSR-Skalen.Diese Ergebnisse entsprechen Aussagen und Befundenaus der fr�hen Kriegs- und Fluchtliteratur (z. B. Keilson,1979), die die Bedeutung des Exils bei der Traumatisie-rung von Fl�chtlingen hervorheben. Die traumatischenKriegs- und Fluchterfahrungen liegen bei den meistenhier untersuchten Kindern und Jugendlichen lange zu-r�ck. Sie werden mçglicherweise durch die aktuellen Be-lastungen �berlagert. So gewinnen die exilspezifischengesellschaftlichen und famili�ren Belastungen an Bedeu-tung und f�hren insbesondere auf dem Hintergrund fr�-herer Traumatisierungen zu Verhaltensstçrungen undAuff�lligkeiten.

Bei der Interpretation der Ergebnisse m�ssen aller-dings eine Reihe kritischer Punkte ber�cksichtigt wer-den: Es konnten nur solche Kinder und Jugendlichen be-

Tabelle 3. Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der YSR-Skalen in Abh�ngigkeit der Schwere der PTB-Symptome

PTB-Symptomatik

Skalen des YSR Niedrig Mittel Hoch

M (SD) M (SD) M (SD)

Sozialer R�ckzug 3,22 (1,2) 3,47 (2,1) 3,8 (1,6)

Kçrperliche Beschwerden 2,33 (1,6) 3,13 (1,9) 4,6 (2,2)+

�ngstlich-Depressiv 5,89 (2,6) 5,93 (4,4) 11,1 (4,7)**

Soziale Probleme 2,56 (2,4) 2,33 (2,7) 3,3 (2,0)

Schizoid-Zwanghaft 0,78 (0,8) 1,20 (1,4) 3,0 (2,9)*

Aufmerksamkeitsprobleme 4,33 (1,7) 4,53 (2,7) 6,9 (2,6)+

Dissoziales Verhalten 2,56 (1,9) 3,33 (2,1) 4,6 (3,7)

Aggressives Verhalten 6,89 (2,5) 7,80 (5,7) 12,9 (7,6)+

Int. Auff�lligkeiten 11,22 (4,3) 12,20 (6,5) 18,9 (6,3)**

Ext. Auff�lligkeiten 9,44 (4,2) 11,13 (7,6) 17,4 (10,8)+

Gesamtbelastung 32,89 (8,5) 36,87 (18,6) 41,3 (21,7)**

Anmerkungen: + p < .10; * p < .05; ** p < .01

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fragt werden, die ausreichend gute Deutschkenntnisseaufwiesen und nur in einer der ausgew�hlten Unterk�nftewar die Teilnahmebereitschaft hoch. Somit ist die Repr�-sentativit�t der Ergebnisse eingeschr�nkt. Ein weitererkritischer Punkt ist, dass nur Kinder und Jugendliche, so-wie Lehrer und Erzieher befragt wurden. Die Perspektiveder Eltern fehlt also und weitere Studien in diesem Be-reich sollten unbedingt auch die Eltern ber�cksichtigen.

Letzter und gewichtigster Punkt einer kritischen Dis-kussion ist die Frage, ob man „westliche“ Konzepte psy-chischer Erkrankung und Belastungsfaktoren auf Men-schen anderer Kulturen �bertragen kann. Die Diskussionzu diesem Thema ist so umfangreich, dass sie hier nichtzusammengefasst werden kann (siehe Rosner & Gavrani-dou, 2007; Hudnall Stamm & Friedman, 2000; DeJong,2001; und f�r eine dezidiert kritische Stellungnahme:Summerfield, 1999). F�r die hier untersuchte Stichprobeist allerdings anzumerken, dass die Jugendlichen im Mi-nimum zwei Jahre in Deutschland waren (im Durch-schnitt �ber 7 Jahre) und durch die Beschulung auchden direkten Vergleich mit deutschen Kindern und Ju-gendlichen haben. Es ist also davon auszugehen, dasssie durchaus eine bikulturelle Identit�t aufweisen und ih-ren Lebensalltag und die eigene Befindlichkeit dement-sprechend vergleichend bewerten.

Kritisch muss allerdings weiter bemerkt werden, dassdie hier vorliegende Studie methodische Schw�chen undGrenzen aufweist; die dargestellten Ergebnisse erlaubenkeine kausalen Schl�sse: Es handelt sich um Selbstaus-sagen einer kleinen Gruppe von freiwillig an der Studiebeteiligten Kindern und Jugendlichen in M�nchen. Esliegen weder Informationen von den Eltern zu Kriegs-

belastungen noch strukturiert erhobene klinische Diag-nosen zur Psychopathologie der Kinder und Jugend-lichen vor. Es w�re daher zu fordern, dass in weiterenUntersuchungen unter Einbeziehung von Eltern, Erzie-hern/Lehrern sowie Fachkr�ften die seelische und nachMçglichkeit auch die kçrperliche Gesundheit vonFl�chtlingskindern untersucht wird.

Angesichts der aktuellen Diskussion zu Jugendlichenmit Migrationshintergrund ist zu fordern, dass man sichverst�rkt mit Migrantenkindern und ihren aktuellen Le-bensbedingungen auseinandersetzt. Die starke Gewich-tung, die zumindest in dieser Studie den aktuellen Le-bensbedingungen zukommt, kann man durchaus auchals Ressource und positives Ergebnis sehen, n�mlich indem Sinne, dass sich psychische Belastung verringernkçnnte, wenn sich die aktuellen Lebensbedingungen ver-bessern.

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Tabelle 4. Zusammenh�nge zwischen den YSR-Skalen und der Summe famili�rer Belastungen

Summe famili�rer Belastungen

Skalen des YSR Pearson-Koeffizienten (r)

Jungen M�dchen 11 – 14 J. 15 J. und �lter

Sozialer R�ckzug .14 .23 .21 .12

Kçrperliche Beschwerden .49** .41* .44** .30

�ngstlich-Depressiv .57*** .54** .55** .37

Soziale Probleme .45** .49** .45** .27

Schizoid-Zwanghaft .43* .51** .48** .62**

Aufmerksamkeitsprobleme .54** .66*** .60*** .53*

Dissoziales Verhalten .38* .35+ .28+ .61**

Aggressives Verhalten .51** .40* .38** .64**

Int. Auff�lligkeiten .55*** .50** .51*** .39

Ext. Auff�lligkeiten .50** .41* .37* .66**

Gesamtbelastung .63*** .64*** .59*** .66**

Anmerkungen: + p < .10; * p < .05; ** p < .01; *** p < .001

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Dr. phil. Maria Gavranidou, Dipl.-Psych.

Referat f�r Gesundheit und UmweltLandeshauptstadt M�nchenBayerstraße 28 a80335 M�nchenE-Mail: [email protected]

Barbara Niemiec, Dipl.-Psych.Birgit Magg, Dipl.-Psych.Prof. Dr. phil. Rita Rosner

Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universit�tLeopoldstraße 1380802 M�nchenE-Mail: [email protected]

[email protected]@psy.uni-muenchen.de

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