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Nr. 1 76 Februar/März 201 3 de. internationalism.org 1 ,30 Euro/2,50 SFr.

Proletarier al ler Länder, vereinigt euch!

WeltrevolutionZweimonatszeitung der Internationalen Kommunistischen Strömung in Deutschland und der Schweiz

Inhalt

EditorialGriechenlandSpanienDebattenwerkstattOpfer der KriseDie Frau in dermenschlichen Kultur1 933Gewerkschaft

Fortsetzung auf S.2

S. 1 /2S. 1 /2S. 2/3

S. 3S. 4/5/6

S. 6S. 8/7

Frankreichs Intervention in Mali :

Noch ein Krieg im Namen des FriedensAm 11 . Januar 201 3 gab der französische Präsident François Hollande denBefehl zur Operation „Serval“, um in Mali „Krieg gegen den Terrorismus“ zuführen. Flugzeuge, Panzer, LKW und bis an die Zähne bewaffnete Solda-ten sind seitdem im Süden der Sahel-Zone im Einsatz. Als diese Zeilenverfasst wurden, warfen Kampfflugzeuge ihre ersten Bomben ab, feuertenMaschinengewehr-Schützen ihre Salven ab und wurden die ersten Zivi l is-ten getötet.

Erneut übernimmt die französische Bour-geoisie in einem bewaffneten Konfl ikt inAfrika eine Führungsrol le. Und erneutrechtfertigt sie dies im Namen des Frie-dens. In Mali geht es angeblich um denKampf gegen den Terrorismus und um dieSicherheit der Völker. Natürl ich steht dieGrausamkeit der bewaffneten Banden, dieim Norden Malis die Bevölkerung terrori-sieren, außer Frage. Diese Warlords hin-terlassen viele Tote und verbreiten nurSchrecken. Doch das Motiv der französi-schen Intervention ist nicht die Verhinde-rung des Leids der einheimischen Bevöl-kerung. Der französische Staat wil l nurseine eigenen, schmutzigen imperial isti-schen Interessen schützen. In einigenStadtvierteln der malischen HauptstadtBamako haben die Einwohner Freuden-tänze aufgeführt und François Hollandeals Retter gefeiert. Dies sind die einzigenBilder des Krieges, die die Medien verbrei-ten: eine feiernde Bevölkerung, die dar-über erleichtert ist, dass der Vormarschder mafia-ähnl ichen Banden auf dieHauptstadt gestoppt worden ist. Aber die-se Freude wird nicht lange anhalten.Wenn eine „große Demokratie“ mit ihrenPanzern durchs Land rasselt, bleibt dasGras nicht mehr grün! Im Gegenteil : siehinterlässt Verwüstung, Chaos, Elend. EinBlick auf die Landkarte zeigt die Schau-plätze der Hauptkonfl ikte und Hungersnö-te auf, die in Afrika seit den 1 990er Jahrengewütet haben. Die Ergebnisse sind er-schreckend: Alle Kriege, die - wie in So-malia 1 992 oder in Ruanda 1 994 - oft un-ter dem Banner der „humanitären Hilfe“geführt wurden, haben katastrophale Nah-rungsmittelengpässe verursacht. Das Glei-

che steht Mali bevor. Dieser neue Kriegwird die ganze Region destabil isieren unddas Chaos vergrößern.

Ein imperial istischer Krieg„Wenn ich Präsident bin, wird das Systemdes ‚französisch beherrschten Afrikas‘aufhören“. Diese Riesenlüge von FrançoisHollande riefe nur ein müdes Lächeln her-vor, wenn sie nicht mit noch mehr Blutver-gießen einherginge. Die l inken Parteienbeschwören stets ihre „humanitären“ An-l iegen und verstecken so seit einem Jahr-hundert ihr wahres Wesen. Sie sind einebürgerl iche Fraktion, die genau wie alleanderen bereit ist, jedes nur denkbareVerbrechen zu begehen, um das Interes-se der Nation zu verteidigen. Denn genaudarum geht es auch in Mali : die strategi-schen Interessen Frankreichs zu schüt-zen. Wie François Mitterrand, der seiner-zeit ein mil itärisches Eingreifen im Tschad,Irak, im damaligen Jugoslawien, in Soma-l ia und Ruanda veranlasst hatte, beweistauch François Hollande, dass die „Sozia-l isten“ niemals zögern, ihre „Werte“ (d.h.die bürgerl ichen Interessen der französi-schen Nation) auch bewaffnet zu verteidi-gen.

Seit Beginn der Besetzung des Nordensdes Landes durch die Islamisten triebeninsbesondere Frankreich und die USAhinter den Kulissen die Länder dieser Zo-ne zu einem mil itärischen Eingreifen an;sie boten dazu finanziel le Unterstützungund logistische Hilfe an. Aber die USAschienen sich bei diesen Manipulationenund Ränkespielen um Bündnisse als dieÜberlegenen zu erweisen; ihr Einflussnahm in der Region zu. Für Frankreich

war es jedoch überhaupt nicht hinnehm-bar, dass man ihm in seinem Hinterhof denRang ablief; es musste reagieren und mitder Faust auf den Tisch schlagen: „AlsEntscheidungen anstanden, hat Frankreichreagiert und sich auf sein Vorrecht alsehemalige Kolonialmacht berufen. Malinäherte sich sicherl ich zu sehr den USA.Das ging sogar so weit, dass der halbamt-l iche Sitz von Africom, der vereinigten mi-l itärischen Kommandozentrale für Afrika,den George Bush 2007 einberufen hatteund seitdem von Barack Obama konsoli-diert wurde, in Mali eingerichtet wurde“(Courrier international, 1 7.1 . 201 3).

In Wirkl ichkeit sind in diesem Teil der Erdedie imperial istischen Bündnisse äußerstkomplex und sehr instabil . Die Verbünde-ten von heute können morgen schon Fein-de sein, wenn sie es nicht gar gleichzeitigsind. So pfeifen es die Spatzen von denDächern, dass Saudi-Arabien und Katar,die von Frankreich und den USA als „engeVerbündete“ bezeichnet werden, auch dieHauptgeldgeber der in der Sahel-Zoneagierenden islamistischen Gruppen sind.Deshalb überraschte es nicht, am 1 8. Ja-nuar in Le Monde zu lesen, dass der Pre-mierminister Katars sich gegen die Inter-vention Frankreichs in Mali aussprach unddie Operation „Serval“ ablehnte. Und wassoll man von den Supermächten USA undChina halten, die offiziel l Frankreich unter-stützen, um gleichzeitig hinter den Kulis-sen das Gegenteil zu tun und ihre eigenenFiguren in Stel lung zu bringen?

Frankreich verstrickt sich im Sa-hel für eine lange ZeitWie für die USA in Afghanistan besteht dasgroße Risiko, dass Frankreich im Morastdes neuen Kriegsschauplatzes steckenbleibt. Frankreich wird schnell im „mali-schen Sumpf“ und der angrenzenden Sa-hel-Zone versinken; und es sieht danachaus, dass dies lange andauern wird (Hol-lande sagt: die „notwendige Zeit“). „Auch

wenn die mil itärische Operation in Anbe-tracht der Gefahren gerechtfertigt ist, dendie terroristischen, gut bewaffneten undimmer fanatischer werdenden Gruppendarstel len, gibt es dennoch das Risiko,dass die Stabil ität in der ganzen west-afri-kanischen Region dauerhaft gefährdetwird und Frankreich in einen Sumpf gerät.Man muss die Lage mit Somalia verglei-chen. Die Gewalt, die sich nach den tragi-schen Ereignissen von Mogadischu An-fang der 1 990er Jahre ausbreitete, ist aufdas ganze Horn von Afrika übergesprun-gen, so dass nun 20 Jahre danach nochimmer keine Stabil ität erreicht werdenkonnte“ (A. Bourgi, Le Monde, 1 5. 1 .201 3).Hier haben wir das Ergebnis der angeb-l ich „humanitären“ und „antiterroristischen“Kriege. Wenn die „großen Demokratien“„zum Wohl des Volkes“, der „Moral“ unddes „Friedens“ die Kriegstrommel rühren,bleiben tatsächlich immer Ruinen und Lei-chengeruch zurück.

Von Libyen bis Mali , von der El-fenbeinküste bis Algerien - dasChaos breitet sich immer weiteraus„Man kommt nicht umhin festzustel len,dass der jüngste Staatsstreich in Mali einKollateralschaden der Aufstände im Nor-den ist, die wiederum die Folgen der De-stabil isierung Libyens durch eine westl i-che Koalition sind, die seltsamerweisekeine Gewissensbisse und Schuldgefühleverspürt. Ebenso muss man feststel len,dass dieser afrikanische Wind Harmattannun über Mali weht, nachdem er vorherdurch die Nachbarstaaten Elfenbeinküste,Guinea, Niger und Mauretanien gezogenist" (Courrier International, 1 1 .4.201 2).Tatsächlich kämpften viele bewaffneteGruppen an der Seite Gaddafis; sie übenheute ihr Handwerk in Mali aus, nachdemsie zuvor noch die geheimen Waffenlagerin Libyen geplündert hatten.

Fortsetzung auf S. 2

Griechenland

„Gesundung“ der Wirtschaft –Bedrohung der MenschenAm 1 5.Dezember 201 2 berichtete dieFrankfurter Allgemeine Zeitung von einerReise des deutschen TraumatherapeutenGeorg Pieper nach Griechenland.

"Griechenland sah im Oktober 201 2 für ihn(den Traumatherapeuten Georg Pieper)folgendermaßen aus: ‚HochschwangereFrauen eilen bettelnd von Krankenhaus zuKrankenhaus, doch weil sie weder eineKrankenversicherung noch genügendGeld haben, wil l niemand ihnen helfen, ihrKind zur Welt zu bringen. Menschen, dienoch vor kurzem zur Mittelschicht zählten,sammeln in einem Athener Vorort Obst-und Gemüsereste von der Straße (. . . ) Einalter Mann erzählt einem Reporter, dasser sich die Medikamente gegen seineHerzbeschwerden nicht mehr leisten kann.Seine Rente wurde wie die Rente vieleranderer um die Hälfte gekürzt. Mehr als

vierzig Jahre hat er gearbeitet; er dachte,er habe alles richtig gemacht, jetzt ver-steht er die Welt nicht mehr. Wer in einKrankenhaus geht, muss seine eigeneBettwäsche mitbringen, ebenso sein Es-sen. Seit das Putzpersonal entlassen wur-de, putzen Ärzte, Schwestern und Pfleger,die seit Monaten kein Gehalt mehr bezo-gen haben, die Toiletten. Es fehlt an Ein-weghandschuhen und Kathetern. Die Eu-ropäische Union warnt angesichts dertei lweise verheerenden hygienischen Be-dingungen vor der Gefahr einer Ausbrei-tung von Infektionskrankheiten."(1 5.1 2.201 2)

Zur gleichen Schlussfolgerung kam MarcSprenger, Leiter des Europäischen Zen-trums für die Prävention und Kontrol le vonKrankheiten (ECDC). Dieser warnte am 6.Dezember, der Zusammenbruch der Ge-

sundheitsversorgung und sogar der grund-legenden Hygiene in Griechenland könnein ganz Europa Pandemien in Gang set-zen. Es fehlt an Geld für Handschuhe, Kit-teln und Desinfektionstüchern, Wattebäu-schen, Kathetern und Papierunterlagen zurBedeckung von Untersuchungsbetten. Pa-tienten mit hochinfektiösen Erkrankungenwie Tuberkulose erhalten nicht die not-wendige Behandlung, das Risiko für dieAusbreitung resistenter Viren in Europasteigt.

Die Entwicklung in Griechenland führt unsden eklatanten Gegensatz vor Augen, derzwischen dem technisch Möglichen undder Wirkl ichkeit im Kapital ismus besteht.

Im 1 9. Jahrhundert starben oft bis zu ei-nem Drittel der Patienten aufgrund man-gelnder Hygiene in den Krankenhäusern,insbesondere Frauen bei der Entbindung.Was seinerzeit zu einem Großteil auf Un-wissenheit zurückzuführen war, dass näm-l ich viele Ärzte und das Pflegepersonalsich vor Eingriffen nicht die Hände wu-schen und oft mit blutverschmierten Kitteln

von einem Patienten zum anderen eilten,wurde durch neue Erkenntnisse (zumBeispiel durch Semmelweis oder Lister)zurückgedrängt. Neue Hygienemaßnah-men und Entdeckungen hinsichtl ich Kei-mübertragungen erlaubten eine deutl iche

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2 Weltrevolution Nr. 1 76

Krieg in Mali Gesundung der WirtschaftFortsetzung von Seite 1

Doch die „westl iche Koalition“ griff auch inLibyen angeblich nur ein, um Ordnung undRecht herzustel len und den Interessen desl ibyschen Volkes zu dienen. Heute leidendie Unterdrückten dieser Region unter dergleichen Barbarei und das Chaos sichweiter aus. Der Krieg in Mali wird auch Al-gerien destabil isieren. Am Donnerstag,den 1 7. Januar 201 3, nahm eine Einheitvon AQMI (al-Qaida in Mali) Hunderte vonBeschäftigten in einer Gasförderanlage inTagantourine als Geisel. Die algerischeArmee ging massiv gegen die Geiselneh-mer vor, auf beiden Seiten gab es vieleTote. Zu diesem Massaker hat Hollandewie jeder andere Kriegsherr, wie jeder An-gehöriger der herrschenden Klasse, derihre Interessen zu verteidigen sucht, er-klärt: „Ein Land wie Algerien hat, wie mirscheint, die beste Antwort gel iefert, dennman darf mit diesen Leuten nicht verhan-deln.“ Der Eintritt Algeriens in den Sahel-Krieg, der von dem französischen Staats-chef im Sinne der Logik des imperial isti-schen Krieges begrüßt wurde, zeigt denTeufelskreis auf, in dem der Kapital ismussteckt. „Die auf seinem Territorium bislangnicht dagewesene Eskalation treibt Algierein Stückchen weiter in einen Krieg, dendas Land um jeden Preis vermeiden woll-te, weil es die Konsequenzen im Landes-innern befürchten muss.“ (Le Monde, 1 8.1 . 201 3)

Seit Beginn der Krise in Mali betrieben dieMachthaber in Algier ein doppeltes Spiel:Einerseits „verhandelte“ Algier mit islamis-tischen Gruppen, von denen sich einigegar auf algerischem Territorium mit Benzinversorgen konnten, um die Eroberung derStadt Konna zu ermöglichen und ihrenVormarsch auf Bamako fortzusetzen. An-dererseits hat Algerien französischen Mil i-tärflugzeugen den algerischen Luftraumzur Verfügung gestel lt, damit sie dschiha-distische Gruppen im Norden Malis bom-bardieren. Diese widersprüchliche Positi-on und die Tatsache, dass die Kämpfervon AQMI so leicht auf die Gasförderanla-ge in diesem „sichersten Land“ vordringenkonnten, offenbart, wie weit der Staatsap-parat sowie die Gesellschaft Algeriens ins-gesamt verrottet sind. Wie schon die Ent-wicklung im Süden des Sahel wird derEintritt Algeriens in den Krieg den Zer-fal lsprozess in der Region beschleunigen.

All diese Kriege zeigen, dass der Kapita-l ismus einer äußerst gefährl ichen Spiraleanheimfäl lt, die das Überleben derMenschheit aufs Spiel setzt. Ganze Welt-regionen werden in Chaos und Barbareigestürzt. Immer mehr vermischen sich dieGräueltaten der Folterknechte vor Ort(Warlords, Clanführer, terroristische Ban-den. . . ) mit der Grausamkeit zweitrangigerImperial isten (kleine und mittlere Staaten)und der vernichtenden Gewalt der großenNationen. Jeder Beteil igte ist zu al lem be-reit, zu al len möglichen Intrigen, Manipu-lationen, Verbrechen, Attentaten. DieGrausamkeiten kennen keine Grenzen,wenn es darum geht, die eigenen Interes-sen zu verteidigen. Die ständigen Bünd-niswechsel vermitteln den Eindruck einesmakabren Tanzballs.

Dieses todgeweihte System wird weiter inGewalt versinken; die kriegerischen Kon-fl ikte werden sich weiter ausdehnen undimmer größere Gebiete verwüsten. Für ei-ne Seite Stel lung beziehen, um „das ge-ringere Übel“ zu verteidigen, heißt, sichdieser Dynamik zu unterwerfen, die keinen„Ausweg“ haben wird als noch mehr Todund die Zerstörung der Menschheit. Nureine Alternative ist real istisch, nur eineKraft kann uns aus diesem Teufelskreislaufhinausführen: der massive und internatio-nale Kampf der Ausgebeuteten auf derganzen Welt für eine Gesellschaft ohneKlasse und ohne Ausbeutung, ohne Elendund ohne Krieg.

Amina, 1 9.Januar 201 3

Reduzierung der Infektionsgefahren imKrankenhaus; mittlerweile gehören Hy-gienehandschuhe und Einmalbesteck inden Operationssälen zum Mindeststan-dard moderner Medizin. Doch im Gegen-satz zu den Zuständen im 1 9. Jahrhun-dert sind die jetzigen Gefahren, die in denKrankenhäusern in Griechenland erkenn-bar werden, kein Zeichen von Unwissen-heit, sondern ein Ausdruck der Bedro-hung der Menschheit durch einvollkommen überholtes, bankrottes Pro-duktionssystem.

Wenn heute in der einstigen Hochburgder Zivi l isation, Griechenland, die Ge-sundheit von Menschen aufgrund vonnicht bezahlbaren Hygienehandschuhenbedroht ist; wenn schwangere Frauen,die zur Geburt ins Krankenhaus kommen,abgewiesen werden, weil sie kein Geldoder keine Krankenversicherung haben;wenn herzkranke Menschen ihre lebens-erhaltenden Medikamente nicht mehr be-zahlen können, dann ist dies nicht ande-

res als ein vorsätzl icher und lebensge-fährl icher Angriff gegen die Menschen. DieTatsache, dass in einem Krankenhaus dasfür Hygiene unerlässl iche Reinigungsper-sonal nicht mehr bezahlt wird und Ärztesowie Pfleger, die selbst seit langem kei-nen Lohn mehr erhalten haben, die Putz-aufgaben übernehmen, wirft ein bezeich-nendes Licht auf die „Gesundung“ derWirtschaft, von der die herrschende Klas-se redet. Die „Gesundung" der Wirtschaft:eine Bedrohung für das Leben der Men-schen!

Aber nicht nur in Griechenland wird dasGesundheitssystem abgebaut, nicht nurdort geht es scheibchenweise zugrunde.Auch anderswo wird das Gesundheitswe-sen immer mehr demontiert, wie zum Bei-spiel in Spanien. In der alten Industrie-hochburg Barcelona wie auch in anderenStädten werden Notaufnahmestationenzum Teil nur stundenweise geöffnet, umKosten zu sparen. In Spanien, Portugalund Griechenland erhalten viele Apothe-ken wegen der Zahlungsunfähigkeit derPatienten bzw. wegen ihrer eigenen Insol-venz keine lebenswichtigen Medikamen-

te mehr. So liefert die deutsche Pharma-firma Merck nicht länger ihre Krebsarznei„Erbitux“ an griechische Krankenhäuser.Biotest, ein Unternehmen, das aus Blut-plasma Mittel zur Behandlung von Hämo-phil ie und Tetanus gewinnt, hatte seineLieferungen wegen unbezahlter Rechnun-gen schon im Juni eingestel lt.

Kannte man bislang solch eine desolatemedizinische Versorgung hauptsächlichaus afrikanischen Ländern oder aus vomKrieg zerrütteten Regionen, sorgt die Kri-se nun auch in den Industriezentren desWestens immer mehr dafür, dass lebens-wichtigen Bereiche wie die Gesundheits-versorgung auf dem Altar des Profits ge-opfert werden. Medizin also nicht nachdem medizinischen Möglichen, sondernnur nach Barzahlung! Griechenland ist le-digl ich der extreme Ausdruck dessen, wasauch im hiesigen Gesundheitssystemgängige Praxis ist: die Umwandlung derKrankenhäuser in „profit center“, die Me-tamorphose des Patienten zum „Kunden“und die Banalisierung des kostbaren Gu-tes der Gesundheit zu einer einfachenWare.

Fortsetzung von Seite 1

Nichts ist praktischer als eine gute TheorieWir haben eine Einladung zur Teilnahme an einer „Werkstatt für empörteBeschäftigte“ erhalten, die von der Asamblearios-TIA veranstaltet wird.Wir unterstützen und beteil igen uns aktiv an dieser Initiative.

Wir sind der Ansicht, dass solcheWerkstätten einem wirkl ichen Interessean der Klärung von wesentl ichen Fragendes politischen Verständnisses desKapital ismus und der Suche nachAlternativen zu demselben dienen. Vonden konkreten und unmittelbarenKämpfen ausgehend haben dieGenossInnen die Schlussfolgerunggezogen, dass es notwendig ist, dieWirkl ichkeit tiefgreifend zu verstehen, umdie revolutionäre Theorie zu verstärken.Wir unterstützen diese Initiativeenthusiastisch, weil damit eineGelegenheit zu Diskussionen geschaffenwird, in denen wir al le die Wirkl ichkeitgenauer erfassen und über Mitteldiskutieren können, diese umzuwälzen.

Natürl ich verfügen wir über kein Rezeptund keine magische Formel, um dieaufgeworfenen Fragen zu lösen. Aber wirsind davon überzeugt, dass es notwendigist, in den Kämpfen zu intervenieren.Dabei müssen wir uns auf ein tieferesVerständnis stützen, auch um nicht in dieFallen des Gegners zu laufen und umDemoralisierung und Frustration zuvermeiden.

Was ein wundervolles Spinnennetz vonder Arbeit eines Architektenunterscheidet, ist die Tatsache, dass derMensch, bevor er solch ein Projekterstel lt, einen Plan in seinem Gehirn unddie Mittel zur Umsetzung dieses Plansentwickelt.

Diese Fähigkeit, gemeinsam ein Ziel zuverfolgen oder ein Vorhaben anzupacken,das sich auf unser Verständnis derRealität stützt, ist das, was man „Theorie“nennt. Die Theorie hat wesentl ich zurEntwicklung der Menschheit mitbeigetragen. Ohne die Fähigkeit zurAnalyse, Schlussfolgerungen zu ziehenund in Übereinstimmung mit unserenNotwendigkeiten und den angestrebtenZielen zu handeln, würden wir sicherl ichweiterhin in primitiven Jäger- undSammlergesellschaften leben.

Die Theorie ist keinesfal ls – und aus derSicht der Arbeiterklasse noch weniger –das Ergebnis eines abstraktenDenkprozesses, der von der Praxis oderden unmittelbaren Bedürfnissen losgelöstist. Die Theorie ist im GegenteilBestandtei l derselben Praxis derRevolutionäre. Ohne Theorie kann es

keine revolutionäre Praxis geben.

Der Kapital ismus ist die Gesellschaft, in dersich die Warenwirtschaft ausgebreitet hat,in welcher der Tauschwert in Geldverwandelt wurde, das die menschlichenBeziehungen bestimmt, auch im Bereichder Gefühle und Emotionen. Infolgedessenentspricht die gesellschaftl iche Produktionden Notwendigkeiten derWarengesellschaft, anstatt die Bedürfnisseder Menschen zu befriedigen, so dassdiese materiel le Wirkl ichkeit der Produktioneine herrschende Ideologie bestimmt, dieals „gesunder Menschenverstand“betrachtet wird. Jegl iche Infragestel lung derkapital istischen Gesellschaft erfordert dieUntersuchung und Kritik des herrschenden„gesunden Menschenverstandes“, der inWirkl ichkeit nichts anderes als der Versuchder herrschenden Klasse ist, eineDenkweise aufzuzwingen, die denAnschein erweckt, eine „natürl iche“ unddie einzig mögliche und gültige zu sein.Ohne einen gründlichen Denkprozess ist

diese Infragestel lung des Kapitals nichtmöglich.

Aber die „Theorie“ ist auch nicht das Werkvon begnadeten Genies oder einesdogmatischen Katechismus. Im Gegenteil ,die revolutionäre Theorie kann nur daskollektive und historische Werk einerausgebeuteten Klasse sein, die in ihremWesen schon Trägerin einer zukünftigen,ausbeutungsfreien Gesellschaft ist. Diesetheoretische Erarbeitung kann nur dasWerk einer gemeinsamen Kultur desNachdenkens und der Debatte sein, diedazu in der Lage ist, den „gesundenMenschenverstand“ der herrschendenKlasse in Frage zu stel len und eineTheorie zu erarbeiten, die uns ermöglicht,mit der Ausbeutung der Mehrheit durcheine Minderheit aufzuräumen.

Die Bewegung des 1 5M (1 5.Mai 2011 )war eine spontane Bewegung, die dieUnzufriedenheit und die Empörung derAusgebeuteten zum Ausdruck brachte;zudem hob sie die Notwendigkeit, den

Kampf massiv zu führen, auf eine neueStufe. Nach dem 1 5M und ähnlichenAusdrücken in anderen Ländern sindGruppen entstanden, die sich derNotwendigkeit bewusst sind, dass mantiefergehend nachdenken muss DiePraxis hat es schon bewiesen: Wenn esan Theorie mangelt, kann man leicht indie Fallen laufen, die der Staatsapparataufstel lt, um uns dazu bewegen, uns fürdie Interessen des Feindes zu opfern.Diese kleinen Gruppen sind sich bewusst,dass der revolutionäre Kampf eine„theoretische Dimension“ erfordert; esentstehen Diskussionsforen, auf denendiskutiert wird, wie und wofür wirkämpfen. Solche Fragen zu stel len isteine Notwendigkeit der revolutionärenPraxis.

Wie die Asembalearios-TIA schreiben, istdie Selbstorganisierung der Beschäftigtender einzige Weg, um unser Schicksal indie eigenen Hände zu nehmen. DieSystematisierung der Diskussionen, indenen wir al le die politischen Fragen desKampfes zu klären versuchen, ist dieForm der notwendigenSelbstorganisierung in diesen Zeiten der„latenten“ Kämpfe.

Die Krise des Kapital ismus zeigt zumeinen auf, wie wir immer mehr in Armut,Barbarei und Zerstörung des Planetenabrutschen, zum anderen wird dieSchwierigkeit ersichtl ich, eine alternativeGesellschaft zu errichten, in der al l dieWidersprüche des kapital istischenSystems überwunden sind. DieHerausforderung ist sehr groß. Deshalbist es unverzichtbar, dem Kampf einehistorische und internationale Perspektivezu verleihen, wodurch wir die Mittel undunser Ziel in der Tiefe begreifen können.Die Schaffung von wirkl ichenDiskussionsräumen und Orten desNachdenkens ist die Aufgabe der Stundefür die zukünftigen KämpferInnen. Wirermutigen die Minderheiten, die überal lauf der Welt entstehen, dass sie dieseDiskussionsräume und Orte desNachdenkens schaffen und sich dierevolutionäre Theorie aneignen, dieunerlässl ich ist für die Überwindung desKapital ismus und die Errichtung einerneuen Gesellschaft.

Nachfolgend stel len wir den Aufruf derGenossInnen vor. Wir wünschen einefruchtbare Debatte!

IKS 27.1 2.201 2

"Ohne Theorie kann eskeine revolutionärePraxis geben."

Spanien

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3Weltrevolution Nr. 1 76

Spanien

Werkstätten für empörte BeschäftigteAlles, was ihr schon immer über denArbeiterkampf diskutieren wolltet,aber nie gewagt habt zu tun.Alicante 201 3

Wer sind wir?Wir sind Beschäftigte, Arbeitslose,StudentInnen. . . wie du. Menschen, dieunter diesem Ausbeutungssystem leiden.Wir haben uns in einer Gruppe organisiert,die sowohl handeln als auch diskutierenmöchte. Unsere Gruppe nennt sich„Asamblearias-TIA“ (Empörte undselbstorganisierte Beschäftigte).

Was steckt hinter denWerkstätten?Mit den Werkstätten, die wir organisierenwerden, wollen wir einen Ort desNachdenkens und desZusammenkommens schaffen, in denenwir unsere Erfahrung, unser Wissenaustauschen. Unter den gegenwärtigenBedingungen, wo wir aufgrund dertagtägl ichen Angriffe des Kapitals in dieEnge getrieben werden, halten wir dieSchaffung von Orten des Nachdenkens fürnötig, die dazu dienen, besservoranzukommen bei der Umsetzungunserer Ziele.

Welche Ziele verfolgen wir?Es war immer unser Anliegen, die Analysezu vertiefen und unsere Wirkl ichkeit mit dergeschichtl ichen Erfahrung der Bewegungder Ausgebeuteten zu verbinden. Wirglauben an die Notwendigkeittheoretischer, historischer Anstrengungenals eine Waffe, um die Welt zu ändern;eine Waffe, die uns aus den Händengerissen und in die Hände unseres„Feindes“ gelegt wurde. Diese Werkstättensollen einen Beitrag in diesem Sinneleisten. Ihr Inhalt und ihre Form drehensich um die Bewegung der Leute von„Unten“; sie gehen von dieser Bewegungaus und beteil igen sich an ihr. Es gehtnicht um irgendwelche Vorlesungen, dieirgendein schlauer Professor hält, sondernes geht darum, die Geschichte und eineTheorie zu ergründen, um die Welt zuverändern. Nicht mehr und nicht weniger.

Hinsichtl ich des Inhaltes und der Methodewollen wir uns bemühen, die Sachen tieferzu verstehen; wir wollen zu Aktionenanregen, die sich auf einen Denkprozessstützen, und wir wollen unsere Geschichteund unsere Sprache wiederentdecken. Wirsind ambitiös, weil wir wissen, dass wirobwohl zahlenmäßig wenig, nicht al leinedastehen.

Wie werden wir vorgehen?Wir wollen uns um Jahre 201 3 monatl ichzu den Werkstätten treffen, mit Ausnahmeder Monate Jul i und August. Dievorgeschlagene Methode setzt die

Beteil igung der Teilnehmer voraus, womitwir sicherstel len wollen, dass alleStandpunkte mit eingebracht werdenkönnen. Wir werden an die Teilnehmerzum entsprechenden ThemaVorbereitungstexte schicken; wir wollenjeweils Einleitungen zum Thema machen,die auf die Vorbereitungstexte eingehen.Dann wollen wir in die Debatte einsteigen.

In der Debatte werden wir auf Begriffe undWörter stoßen, von denen wir ein Glossarerstel len wollen. Das Glossar wird al l dieseBegriffe definieren, die uns für die Debattewichtig erscheinen; dabei wollen wir aufal le möglichen Bedeutungen eingehen.

Worüber wollen wir reden undwann?- 1 1 . Januar: „Vorstel lung der Werkstätten“

- 25. Januar: „Was ist eine Krise und wiedagegen kämpfen?

- 1 5. Februar: „Der Klassenkampf“

- 1 5. März: „Selbstorganisierung undArbeiterautonomie“

- 1 2. Apri l : „Internationalismus“

- 1 7. Mai: „Soziale Revolution“

- 1 4. Juni: „Was meinen wir mitNationalismus?“

- 20. September: „Demokratie undBefreiung“

- 1 8. Oktober: „Selbstverwaltung“

- 1 5. November „Syndikal ismus“

- 1 3. Dezember: „Parlamentarismus“

Wie kannst du dich betei l igenund wo finden die Werkstättenstatt?Um teilzunehmen, melde dich an unter:inscripcion.tal leres.tia@gmail .com

Schicke uns deinen Namen, dieWerkstätten, an denen du dich betei l igenwil lst (eine, mehrere, al le) und eineKontakt-Mailadresse. Wir werden mit al lenTeilnehmerInnen eineEinführungsveranstaltung machen, um unszu organisieren und kennenzulernen. Siefindet am 11 . Januar in den Räumen desASIA statt.

Muss man etwas zahlen?Um den Raum (und die dort stattfindendenAktivitäten) zu finanzieren, müssen wir fünfEuro Teilnehmerkosten erheben. Um esdeutl ich zu sagen, al le eingesammeltenGelder werden für die Selbstverwaltungdes ASIA verwendet (Selbstverwalteteganzheitl iche medizinische Hilfe). Wirwarten auf Euch. Für weitereKontaktaufnahmen:inscripcion.tal leres.tia@gmail .com

Eine Übersicht über dieWerkstätten11 . Januar: „Vorstel lung der Werkstätten“

Wir verschaffen uns einen Überblick undtei len uns die Themen auf, besprechenMethode und Inhalt, gehen auf Vorschlägeund mögliche Änderungsvorschläge ein.Wir wollen auch über die Themenauswahlund die Namensbezeichnung reden.

25. Januar: „Was ist eine Krise und wiekämpft man dagegen?“

Was ist eine Krise? Ist sieWesensbestandtei l des Kapital ismus?Welche Theorien über die Krise gibt es?„Krise“ ist der am häufigsten verwendeteBegriff, die Krise rechtfertigt al les. DerKapital ismus scheint in der Krise zustecken. Handelt es sich um eineNiedergangskrise? Wenn dies der Fall ist,erfordert dies, auf eine revolutionäreUmwälzung als einziger Ausweg für dieMenschheit hinzuarbeiten?

1 5. Februar: „Der Klassenkampf“

Was ist Klassenkampf? Gibt es ihn heutenoch? Ist der Kampf „zentral“, der Dreh-und Angelpunkt? Was versteht man unterArbeiterklasse? Warum sprechen wir vonKlasse? Sind nur Beschäftigte im„Blaumann“ ArbeiterInnen? Gegenüberdem angeblich „modernen“ Staatsbürgerals gesellschaftl iche Kraft wollen wir aufdas historische Subjekt par excellencezurückkommen: die Arbeiterklasse, dasProletariat, die Ausgebeuteten.

1 5. März: „Selbstorganisierung undArbeiterautonomie“

Was ist Selbstorganisierung? Warum istsie so notwendig? Wie können wir sieerreichen? An wen müssen wir unswenden? Wir bestehen auf derSelbstorganisierung der Versammlungen,auf der Autonomie der Arbeiterklasse. DieGeschichte zeigt uns, dassSelbstorganisierung und Autonomiewesentl iche Bestandtei le für dieEntwicklung der Arbeiterbewegung waren.„Die Befreiung der Arbeiterklasse mussdas Werk der Arbeiterklasse selbst sein“(Marx und Engels, MEW 1 9, S. 1 65, 1 879).

1 2. Apri l : „Internationalismus“

Was ist Internationalismus? Kann es einenInternationalismus geben, der keinproletarischer ist? Warum ist er für dieArbeiterbewegung so grundlegend? Wiehat er sich in der Geschichte entwickelt?Der Internationalismus ist für dieEntwicklung einer wirkl ichen Bewegungder Ausgebeuteten von grundsätzl icherBedeutung. Die Befreiung derArbeiterInnen kann nur weltweit erfolgen.

1 7. Mai: „Soziale Revolution“

Was ist eine Revolution? Was ist eineRevolution der Arbeiterklasse? Ist dieRevolution möglich? Ist sie unvermeidbar?Welche Gesellschaft wollen wir errichten?

Wir al le meinen, dass dieses Systemunhaltbar ist, und viele denken darübernach, was wir ändern müssen, um ineiner Gesellschaft zu leben, die dieBedürfnisse der Menschheit befriedigt.

1 4. Juni: „Was meinen wir mitNationalismus?“

Was ist der Nationalismus? WessenKlasseninteresse spiegelt dienationalistische Ideologie wider? Gibt eseine Verbindung zwischen Nationalismusund Internationalismus? Dienationalistischen Konfl ikte nehmen immermehr an Schärfe zu (vor al lem in Zeitender „Krise“). Wir müssen einenKlassenstandpunkt gegenüber dieserFrage einnehmen, die dieimperial istischen Konfl ikte immer mehraufstachelt.

20. September: „Demokratie undBefreiung“

Was ist Demokratie? War oder ist derDemokratismus eineBefreiungsbewegung der Menschheit?Warum verwendet man diesen BegriffDemokratie so häufig? Wirkl icheDemokratie, partizipative Demokratie,direkte Demokratie. . . In Anbetracht dervielen Verwendungen und Missbräuchedes Begriffs der „Demokratie“ müssen wirklären: Was ist die Demokratie und wemdient sie? Was meinen wir in Wirkl ichkeit,wenn wir von Demokratie reden undwarum benutzen wir diesen Begriff nicht?

1 8. Oktober: „Selbstverwaltung“

Was ist Selbstverwaltung? Warum gibt essolch unterschiedl iche Definitionen? IstSelbstverwaltung das gleiche wieSelbstorganisierung? Ist dieSelbstverwaltung eine revolutionäreWaffe für die Arbeiter?

1 5. November: „Syndikal ismus“

Was ist der Syndikal ismus? Wieentwickelte er sich in der Arbeiterklasse?Ist er für die Arbeiterklasse weiterhin eineWaffe? Wenn nicht, warum ist das so?Worin unterscheiden sichSelbstorganisierung/Arbeiterautonomieund Syndikal ismus? Zwar werden dieGewerkschaften häufig intuitiv von denArbeiterInnen kritisiert, dennoch habensie immer noch einen großen Einfluss inder Arbeiterklasse. Die Gewerkschaftensind nicht mehr nützl ich, sie führen unsin die Niederlage. Warum ist das so?

1 3. Dezember: Parlamentarismus“

Wie entstand der Parlamentarismus? Ister heute zu etwas nützl ich? WelcheEntscheidungen werden im Parlamentgetroffen? Kann der Parlamentarismusreformiert werden? Ebenso wie derSyndikal ismus werden heute die Politikerund Wahlen ernsthaft von derBevölkerung infrage gestel lt. Diesezunehmende Infragestel lung hat einetiefere Bedeutung, die wir ergründenmüssen.

Griechenland

Die Schuldenkrise und ihre OpferD ie Krise im Euro-Raum nimmt immerdramatischere Züge an. Griechenland,das einst zu den Ländern mit denniedrigsten Selbstmordraten weltweitzählte, erlebt zurzeit eine Welle vonSelbstmorden. Allein 2011 ist – laut derZeitung „Ta Nea“ - die Selbstmordrate um45 Prozent gegenüber dem Vorjahrgestiegen. In vielen Abschiedsbriefen wirdausdrücklich die Krise als Grund für denFreitod angegeben, etl iche Selbstmordewerden „öffentl ich inszeniert, um auf dieschlechte Lage aufmerksam zu machen“(SPIEGEL online, 1 5.4.1 2). Doch diesesPhänomen ist nicht nur eine Reaktion aufdie Krise und auf die mit ihreinhergehende Verarmung undVerelendung weiter Teile der Bevölkerung.Vollständig erklären lässt es sich nur,wenn man noch einen weiteren Faktordabei berücksichtigt. Die Selbstmordwellein Griechenland und anderswo wirft einSchlagl icht auf die akute

Perspektivlosigkeit, die derzeit beileibenicht nur in der griechischenArbeiterklasse grassiert. Im Gegensatz zuden Arbeitergenerationen des 1 9.Jahrhunderts, deren Kämpfe noch vomStreben nach einer besseren Gesellschaftbeseelt gewesen waren, hat unsereKlasse heute ihren Glauben amKommunismus verloren bzw. noch nichtwiederentdeckt. Auf Dauer reicht esjedoch nicht aus zu wissen, wogegen mankämpft; erst wenn sich die Ausgebeutetenauch bewusst sind, wofür sie kämpfen,erst wenn sie überzeugt sind, dass derKommunismus nicht nur notwendig,sondern auch möglich ist, wird ihrWiderstand jene moralische Kraft

erlangen, die unerlässl ich ist, um dieMutlosigkeit und Depression zu vertreiben,die sich derzeit in wachsenden Teilen derArbeiterklasse breitmachen.

Noch eine andere Zahl lässt aufhorchen:Seit Ausbruch der Krise haben sich inI tal ien al lein rund sechzig mittelständischeUnternehmer das Leben genommen. Sieverzweifelten an säumige Schuldner, dieselbst pleite sind, und an Banken, dienicht mehr bereit sind, Kredite zuvergeben. Ihr Freitod ist der krassesteAusdruck für den Bankrott derherrschenden Klasse, für dieAusweglosigkeit der Lage derkapital istischen Klasse, die – anders alsim oben geschilderten Fall der

Arbeiterklasse – nicht nur eine gefühlte,sondern auch eine faktischeAusweglosigkeit ist. Die Bourgeoisie, vomkleinen Famil ienunternehmer bis hin zumarrivierten Großkapital, ist eine Klasse,deren Uhr abgelaufen ist, die nur dank derSchwäche der Ausgebeuteten dieser Weltnoch nicht von der historischen Bühneabgetreten ist.

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Weltrevolution Nr. 1 764

Die Rolle der Frau bei der Entstehungder menschlichen Kultur

Warum heute über den primitiven Kommunismus schreiben?Der abrupte Sturz in eine katastrophale Wirtschaftskrise unddie Ausbreitung von Kämpfen auf der Welt stel len neueProbleme für die Arbeiterklasse auf; dunkle Wolken ballen sichüber die Zukunft des Kapital ismus zusammen, al ldieweil dieHoffnung auf eine bessere Welt sich offensichtl ich nichtdurchsetzen kann. Ist es wirkl ich an der Zeit, dieGesellschaftsgeschichte unserer Spezies in der Periode ihrerEntstehung etwa 200.000 Jahre vor Beginn der NeolithischenRevolution (vor etwa 1 0.000 Jahren) zu untersuchen? (1 ) Wasuns selbst betrifft, so sind wir davon überzeugt, dass die Fragefür die heutigen Kommunisten mindestens genauso wichtig istwie für Marx und Engels im 1 9. Jahrhundert, sowohl auswissenschaftl ichem Interesse als auch als ein Element inunserem Verständnis der Menschheit und ihrer Geschichteund für unser Verständnis der Perspektiven und Möglichkeiteneiner künftigen kommunistischen Gesellschaft, die in der Lageist, den todgeweihten Kapital ismus zu ersetzen.

Aus diesem Grund können wir die Veröf-fentl ichung eines Buches mit dem Titel LeCommunisme primitif n’est plus ce qu’i létait („Der primitive Kommunismus ist nichtdas, was er war“) von Christophe Darman-geat im Jahr 2009 nur begrüßen; und inder Tat ist es noch ermutigender, dass dasBuch bereits seine zweite Auflage erlebt,was deutl ich ein öffentl iches Interesse andiesem Thema signalisiert. (2) Dieser Arti-kel wird in einer kritischen Rückschau ver-suchen, zu den Problemen zurückzukeh-ren, die sich angesichts der erstenmenschlichen Gesellschaften stel lten; wirwerden dabei von der Gelegenheit profi-tieren, die Ideen zu erkunden, die vor rundzwanzig Jahren von Chris Knight (3) inseinem Buch Blood Relations vorgestel ltworden waren. (4)

Ehe wir ans Eingemachte gehen, sol lteeins klar sein: Die Frage des primitivenKommunismus und der „menschlichen Art“sind wissenschaftl iche Fragen, nicht poli-tische. In diesem Sinn ist es für eine poli-tische Organisation indiskutabel, sich zumBeispiel eine „Position“ über die mensch-l iche Natur anzumaßen. Wir sind davonüberzeugt, dass eine kommunistische Or-ganisation solche Debatten und den Durstihrer Mitgl ieder nach wissenschaftl ichenErkenntnissen und, al lgemeiner, in der Ar-beiterklasse anregen sollte, doch das Zielhier ist es, die Entwicklung einer materia-l istischen und wissenschaftl ichen Sicht-weise der Welt auf der Grundlage der mo-dernen wissenschaftl ichen Theorie zuermutigen, zumindest soweit dies möglichist für Nicht-Wissenschaftler, die die meis-ten von uns sind. Die vorgestel lten Ideenkönnen daher nicht als „Positionen“ derIKS betrachtet werden: Sie l iegen allein inder Verantwortung des Autors resp. derAutorin. (5)

Warum ist die Frage nach unserenUrsprüngen so wichtig?Warum ist schl ießlich die Frage nach demUrsprung unserer Spezies und nach denersten menschlichen Gesellschaften einewichtige für Kommunisten? Die Begriffl ich-keit des Problems hat sich seit dem 1 9.Jahrhundert geändert, als Marx und En-gels mit Begeisterung das Werk des ame-rikanischen Anthropologen Lewis Morganentdeckt hatten. 1 884, als Engels Die Ur-sprünge der Famil ie, des Privateigentumsund des Staates veröffentl ichte, war dieWissenschaft gerade erst den Fängen ei-ner Epoche entkommen, in der die Schät-zungen des Alters des Planeten oder dermenschlichen Gesellschaft auf den bibl i-schen Berechnungen des Bischofs Ussherberuhten. (6) Wie Engels in seinem Vor-wort von 1 891 schrieb: „Bis zum Anfangder sechziger Jahre kann von einer Ge-schichte der Famil ie nicht die Rede sein.Die historische Wissenschaft stand aufdiesem Gebiet noch ganz unter dem Ein-flusse der fünf Bücher Mosis. Die darinausführl icher als anderswo geschildertepatriarchalische Famil ienform wurde nichtnur ohne weiteres als die älteste ange-nommen, sondern auch – nach Abzug derVielweiberei – mit der heutigen bürgerl i-chen Famil ie identifiziert, so daß eigentl ichdie Famil ie überhaupt keine geschichtl icheEntwicklung durchgemacht hatte[“ (7)Dasselbe traf auf den Eigentumsbegriff zu;die Bourgeoisie konnte gegenüber demkommunistischen Programm der Arbeiter-klasse immer noch einwenden, dass das„Privateigentum“ der menschlichen Gesell-schaft immanent ist. Die Idee einer Exis-tenz von gesellschaftl ichen Bedingungenfür den primitiven Kommunismus waren1 847 derart unbekannt, dass das Kommu-nistische Manifest mit den Worten begann:

„Die Geschichte al ler bisherigen Gesell-schaft ist die Geschichte von Klassen-kämpfen“ (eine Erklärung, die Engels miteiner Bemerkung 1 884 zu korrigierenmeinte).

Morgans Buch Ancient Society war einegroßartige Hilfe bei der Demontage derahistorischen Sichtweise einer menschli-chen Gesellschaft, die auf Privateigentumberuht, auch wenn sein Beitrag von der of-fiziel len Anthropologie oft versteckt odermit Schweigen übergangen wurde, beson-ders in Großbritannien. Wie Engels eben-fal ls in seinem Vorwort anmerkte: „[machte Morgan das Maß übervoll , indemer nicht nur die Zivi l isation, die Gesell-schaft der Warenproduktion, die Grund-form unserer heutigen Gesellschaft, in ei-ner Weise kritisierte, die an Fouriererinnert, sondern von einer künftigen Um-gestaltung dieser Gesellschaft in Wortenspricht, die Karl Marx gesagt haben könn-te“.

Heute, im Jahr 201 2, ist die Situation eineganz andere. Eine Reihe von Entdeckun-gen haben den Ursprung des Menschenimmer weiter in die Vergangenheit gerückt,so dass wir heute nicht nur wissen, dassdas Privateigentum keinesfal ls von Anbe-ginn zum gesellschaftl ichen Fundamentdes Menschen gehörte, sondern im Ge-gentei l auch, dass es eine verhältnismä-ßig junge Erfindung ist, da die Landwirt-schaft und somit das Privateigentum sowiedie Spaltung der Gesellschaft in Klassenerst etwa 1 0.000 Jahre alt sind. Sicherl ichhat die Bildung von Reichtum und Klas-sen, wie Alain Testart in seinem Werk Leschasseurs-cueil leurs des inégalités ge-zeigt hatte, nicht über Nacht stattgefun-den; es muss eine lange Zeit bis zur Ent-stehung einer vollentwickeltenLandwirtschaft verstrichen sein, in der dieEntwicklung von Lagerungstechniken zurEntstehung einer ungleichen Vertei lungdes angehäuften Reichtums ermunterthatte. Nichtsdestotrotz ist heute klar, dassder bei weitem längste Abschnitt dermenschlichen Geschichte nicht vom Klas-senkampf beherrscht war, sondern einerGesellschaft ohne Klassen vorbehaltenwar: einer Gesellschaft, die wir zu rechtprimitiven Kommunismus nennen können.

Heute wird gegenüber der Idee des Kom-munismus nicht mehr eingewendet, dasser das ewige Prinzip des Privateigentumsvergewaltige, sondern dass er angeblichder „menschlichen Natur“ zuwiderlaufe.„Man kann die menschliche Natur nichtändern“, wird uns erzählt, und damit ist dieangeblich gewalttätige, wetteifernde undegozentrische Natur des Menschen ge-meint. Die kapital istische Ordnung ist alsonicht mehr ewig, sondern ledigl ich das lo-gische und unvermeidl iche Resultat einerunveränderl ichen Natur. Dieses Argument

ist beileibe nicht auf rechte Ideologien be-schränkt. Humanistische Wissenschaftler,die, wie sie glauben, derselben Logik ei-ner genetisch vorbestimmten menschli-chen Natur folgen, kommen zu ähnlichenSchlussfolgerungen. Die New York Reviewof Books (ein tendenziel l l inkes Intel lektu-el lenblatt) gibt uns in ihrer Ausgabe vomOktober 2011 ein Beispiel für dieses Rä-sonieren: „Menschen wetteifern um Res-sourcen, Lebensräume, Partner, gesell-schaftl ichen Status und um fast al lesandere. Jeder lebende Mensch ist derGipfel eines Geschlechts erfolgreicherWettbewerber, das bis zu den Ursprüngendes Lebens zurückreicht. Wir sind nichtsanderes als fein abgestimmte Konkurren-ten. Der Zwang zu konkurrieren hat fast inal lem, was wir tun, Einzug gehalten, ob wirdies anerkennen oder nicht. Und die bes-ten Wettbewerber unter uns sind oftmalsjene, die am meisten belohnt werden. Manmuss nicht weiter schauen als bis zur WallStreet, um ein besonders krasses Beispieldafür zu nennen ([) Das menschliche Di-lemma der Überbevölkerung und derÜberausbeutung der Ressourcen wird imWesentl ichen durch die ursprünglichenImpulse angetrieben, die einst unsere Ur-ahnen dazu getrieben haben, einen über-durchschnittl ichen Reproduktionserfolg zuerzielen.“ (8)

Dieses Argument scheint auf dem erstenBlick unwiderlegbar zu sein: Man muss inder Tat nicht weit schauen, um endloseBeispiele der Habgier, der Gewalt, derGrausamkeit und des Egoismus in derheutigen Gesellschaft und in der Ge-schichte zu finden. Aber folgt daraus, dassdiese Defekte genetisch vorbestimmt sind– wie wir heute sagen würden? Nichtskönnte zweifelhafter sein. Um eine Analo-gie zu bemühen: Ein Baum, der an einerwindumtosten Stel le steht, wächst verbo-gen und verkrüppelt. Dennoch steht diesnicht in seinen Genen geschrieben; unterbesseren Bedingungen würde der Baumgerade und hoch wachsen.

Können wir dasselbe über diemenschlichen Wesen sagen?Es ist eine in unseren Artikeln häufig an-zutreffende Binsenweisheit, dass der Wi-derstand des Weltproletariats gegen dieKrise des Kapital ismus nicht der Gewalt-samkeit der Angriffe entspricht, denen esausgesetzt ist. Die kommunistische Revo-lution war viel leicht niemals notwendigerund trotzdem gleichzeitig so schwierig wieheute. Einer der Gründe hierfür ist sicher-l ich – aus unserer Sicht -, dass die Arbei-terInnen nicht nur in ihrer eigenen Kraft,sondern auch in der Möglichkeit des Kom-munismus ein mangelndes Vertrauen ha-ben. „Es ist eine schöne Idee“, sagen dieMenschen uns, „aber weißt du, diemenschliche Natur[“

Um sein Selbstvertrauen wiederzuerlan-gen, muss sich das Proletariat nicht nurden unmittelbaren Problemen des Kamp-fes stel len; es muss sich auch den größe-ren historischen Problemen widmen, diesich durch seine potenziel l revolutionäreKonfrontation mit der herrschenden Klas-sen stel len. Unter diesen Problemen gibtes genau jenes der „menschlichen Natur“,und dieses Problem kann nur im wissen-schaftl ichen Geist erforscht werden. Wirhaben kein Interesse an der „Beweisfüh-rung“, dass der Mensch „gut“ ist. Wir hof-fen zu einem besseren Verständnis des-sen zu gelangen, was der Mensch ist, umdiese Erkenntnis in das politische Projektdes Kommunismus zu integrieren. Daskommunistische Ziel hängt nicht vom „Gu-ten“ im Menschen ab: Die Notwendigkeitdes Kommunismus als einzige Lösung dergesellschaftl ichen Blockade ist in den Ge-gebenheiten der kapital istischen Gesell-schaft angelegt, die uns zweifel los in einekatastrophale Zukunft führen wird, wennder Kapital ismus nicht einer kommunisti-schen Revolution Platz macht.Wissen-schaftl iche Methode

Bevor wir fortfahren, möchten wir uns kurzder Frage der wissenschaftl ichen Metho-de widmen, besonders ihrer Anwendungauf die Untersuchung der menschlichenGeschichte und des menschlichen Verhal-tens. Eine Passage zu Beginn des Buchesvon Knight scheint uns die Frage, welchenPlatz die Anthropologie in den Wissen-schaften einnimmt, sehr gut zu schildern:„Mehr als jedes Gebiet der Erkenntnisüberbrückt die Anthropologie, als Ganzesgenommen, die Kluft, die traditionel lerwei-se die Naturwissenschaften von denGeisteswissenschaften trennt. Dahernimmt sie potenziel l , wenn auch nicht im-mer in der Praxis, eine zentrale Stel lungunter den Wissenschaften insgesamt ein.Der ausschlaggebende Faden, der dieNaturwissenschaften mit den Geisteswis-senschaften verknüpfen könnte, müsstemehr als durch jedes andere Gebiet durchdie Anthropologie verlaufen. Hier kommendie Enden zusammen – hier, wo das Stu-dium der Natur endet und das der Kulturbeginnt. An welchem Punkt auf der Skalader Evolution hörten biologische Prinzipi-en auf, die Vorherrschaft auszuüben, undbegannen andere, komplexere Prinzipienihren Platz einzunehmen? Wo genau ver-läuft die Trennungsl inie zwischen dem tie-rischen und dem menschlichen Gesell-schaftsleben? Ist die Unterscheidung einegrundsätzl iche oder eher eine graduelle?Und ist es in Anbetracht dieser Fragewirkl ich möglich, menschliche Phänome-ne wissenschaftl ich zu untersuchen – mitderselben unvoreingenommenen Objekti-vität, wie ein Astronom auf Galaxien ver-weisen kann oder ein Physiker auf suba-tomare Partikel?

Wenn die Frage des Verhältnisses zwi-schen den Wissenschaften für viele ver-worren erscheint, l iegt dies nur zum Teilan den wirkl ichen Schwierigkeiten, diedarin enthalten sind. Wissenschaft magmit dem einen Ende in der objektivenRealität verwurzelt sein, doch mit dem an-deren Ende ist sie in der Gesellschaft undin uns selbst verwurzelt. Letztendl ich ausgesellschaftl ichen und ideologischenGründen ist die moderne Wissenschaft,fragmentiert und verzerrt unter dem im-mensen, größtentei ls noch uneingestan-denen politischen Druck, zufäl l ig auf ihrgrößtes Problem und auf ihre größte Her-ausforderung gestoßen – die Geistes- undNaturwissenschaften auf der Basis desVerständnisses der Evolution und desPlatzes der Menschheit im Rest des Uni-

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Weltrevolution Nr. 1 76 5Fortsetzung von Seite 4

Rolle der Frauversums in einer einzigen vereinten Wis-senschaft zusammenzuschließen.“ (9)

Die Frage der „Trennungsl inie“ zwischender tierischen Welt, deren Verhalten voral lem von der genetischen Erblast vorbe-stimmt wird, und der menschlichen Welt,wo das Verhalten neben den Genen in ei-nem weitaus größeren Umfang von unse-rer kulturel len Entwicklung abhängt,scheint uns in der Tat kreuzwichtig zu sein,um die „menschliche Natur“ zu verstehen.Andere Primaten sind durchaus in der La-ge, zu lernen und bis zu einem gewissenPunkt zu erfinden und neue Verhaltens-weisen zu übermitteln, doch dies bedeutetnicht, dass sie eine „Kultur“ im menschli-chen Sinn besitzen. Diese erlernten Ver-haltensweisen bleiben „marginal bei derAufrechterhaltung der sozio-strukturel lenKontinuität“. (1 0) Was es der Kultur er-möglicht, in einer „kreativen Explosion“(11 ) die Oberhand zu gewinnen, ist dieEntwicklung der Kommunikation unter denmenschlichen Gruppen, die Entwicklungeiner symbolischen Kultur, die auf Spracheund Rituale basiert. Knight zieht in der Tateinen Vergleich zwischen der symboli-schen Kultur und der Sprache, die denmenschlichen Wesen gestattet, miteinan-der zu kommunizieren und somit Ideenund daher überal l Kultur und Wissen-schaften zu übermitteln, die ebenfal ls aufeinen gemeinsamen Symbolismus grün-den, welcher sich auf eine planetare Über-einstimmung zwischen allen Wissen-schaftlern und zumindest potenziel lzwischen allen menschlichen Wesenstützt. Die wissenschaftl iche Praxis ist un-trennbar verbunden mit der Debatte undder Fähigkeit eines Jeden, die Schlussfol-gerungen zu verifizieren, zu der die Wis-senschaft gelangt ist: Sie ist daher derErzfeind jeder Form der Esoterik, die vomGeheimwissen lebt, das dem Nicht-Einge-weihten verschlossen bleibt.

Weil sie eine universel le Form des Wis-sens ist und weil sie seit der industriel lenRevolution eine eigenständige Produktiv-kraft gewesen war, die von der assoziier-ten Arbeit sowohl zeitl ich als auch räum-lich abhängig ist (1 2), ist die Wissenschaftvon Haus aus internationalistisch, und indiesem Sinn sind Proletariat und Wissen-schaft natürl iche Verbündete. (1 3) Diesbedeutet überhaupt nicht, dass es so et-was wie eine „proletarische Wissenschaft“geben kann. In seinem Artikel über „Mar-xismus und Wissenschaft“ zitiert Knightdiese Worte von Engels: „[ je rücksichts-loser und unbefangener die Wissenschaftvorgeht, desto mehr befindet sie sich imEinklang mit den Interessen und Strebun-gen der Arbeiter. “ (1 4). Knight fährt fort:„Die Wissenschaft als einzige universel le,internationale und die Spezies vereinigen-de Form des Wissens hat Vorrang. Wennsie in den Interessen der Arbeiterklasseverwurzelt werden musste, dann nur indem Sinne, dass alle Wissenschaft in denInteressen der menschlichen Spezies ins-gesamt verwurzelt sein muss, wobei dieinternationale Arbeiterklasse diese Interes-sen in der modernen Epoche verkörpert,so wie die Erfordernisse der Produktion infrüheren Perioden immer diese Interessenverkörpert haben.“

Es gibt zwei weitere Aspekte im wissen-schaftl ichen Denken, die in Carlo Rovell isBuch über den griechischen PhilosophenAnaximander von Miletos (1 5) beleuchtetwerden, die wir hier aufgreifen wollen, weilsie uns fundamental erscheinen: Respektfür die Vorgänger und Zweifel.

Rovell i zeigt, dass Anaximanders Haltunggegenüber seinem Meister Thales mit demVerhalten brach, dass seine Epoche cha-rakterisierte: entweder totale Ablehnung,um sich selbst als neuer Meister zu eta-bl ieren, oder sklavische Ergebenheit ge-genüber den Worten des „Meisters“, des-sen Gedanken in einem Zustand der

Mumifizierung gehalten werden. Die wis-senschaftl iche Haltung besteht im Gegen-tei l darin, uns auf das Werk der „Meister“zu stützen, die von uns gegangen sind,und gleichzeitig ihre Fehler zu kritisierenund zu versuchen, das Wissen zu erwei-tern. Dies ist die Haltung, die wir in KnightsBuch bezüglich Lévi-Strauss und bei Dar-mangeat hinsichtl ich Morgan finden.

Der Zweifel ist fundamental für die Wis-senschaft, die das ganze Gegenteil derReligion ist, welche stets Gewissheit undTrost in der Unveränderl ichkeit einer ewi-gen Wahrheit anstrebt. Wie Rovell i sagt:„Die Wissenschaft bietet die besten Ant-worten an, eben weil sie ihre Antwortennicht als absolute Wahrheiten betrachtet;daher ist sie immer in der Lage, zu lernenund neue Ideen aufzunehmen.“ (1 6) Diestrifft besonders auf die Anthropologie undPaläo-Anthropologie zu, deren Daten oft-mals diffus und ungewiss sind und derenbeste Theorien über Nacht durch neueEntdeckungen umgekippt werden können.

Ist es überhaupt möglich, eine wissen-schaftl iche Sicht auf die Geschichte zuhaben? Karl Popper (1 7), der eine Refe-renz für die meisten Wissenschaftler ver-körpert, sagte nein. Er betrachtete Ge-schichte als ein „einmaliges Ereignis“, dasdaher nicht reproduzierbar sei. Da die Ve-

"Der Zweifel istfundamental für dieWissenschaft"

rifizierung einer wissenschaftl ichen Hypo-these von einem reproduzierbaren Experi-ment abhängt, könne die Geschichte nichtals wissenschaftl ich erachtet werden. Ausden gleichen Gründen lehnte Popper dieEvolutionstheorie als nicht-wissenschaft-l ich ab. Und doch ist es heute offensicht-l ich, dass die wissenschaftl iche Methodesich als imstande erwiesen hat, die we-sentl ichen Mechanismen des evolutionärenProzesses soweit offenzulegen, dass dieMenschheit nun die Evolution durch dieGentechnologie manipul ieren kann. Ohneso weit zu gehen wie Popper, ist es den-noch klar, dass die Anwendung der wis-senschaftl ichen Methode auf die Untersu-chung der Geschichte bis zu dem Punkt,dass wir Vorhersagen über ihre weitereEntwicklung machen können, eine äußerstheikle Übung ist. Auf der einen Seite ver-körpert die menschliche Geschichte – wiedie Meteorologie zum Beispiel – eine un-kalkul ierbare Anzahl von unabhängigenVariablen, auf der anderen Seite – und voral lem weil , wie Marx sagte, die Menschenihre eigene Geschichte machten – ist dieGeschichte daher durch Gesetze determi-niert, aber auch durch die Fähigkeit (oderUnfähigkeit) der menschlichen Wesen, ih-re Handlungen auf bewusstes Denken undauf die Kenntnis dieser Gesetze zu grün-den. Die historische Evolution ist stets Be-schränkungen unterworfen: In einem be-stimmten Moment sind gewisseEntwicklungen möglich, andere nicht. Dochdie Art, in der sich eine bestimmte Situati-on entwickelt, wird ebenfal ls von der Fä-higkeit des Menschen bestimmt, sich die-ser Einschränkungen gewahr zu werdenund auf der Grundlage dieses Bewusst-seins zu handeln.

Es ist daher besonders wagemutig vonKnight, wenn er die volle Strenge der wis-senschaftl ichen Methode akzeptiert undseine Theorie experimentel len Tests unter-wirft. Natürl ich ist es unmöglich, die Ge-schichte experimentel l zu „reproduzieren“.Knight macht daher Vorhersagen auf derBasis seiner Hypothese (1 991 , dem Jahr,als Blood Relations publiziert wurde) be-zügl ich künftiger archäologischer Entde-ckungen: insbesondere dass die frühestenSpuren der symbolischen Kultur des Men-schen einen extensiven Gebrauch von ro-tem Ocker enthül len würden. 2006, fünf-zehn Jahre später, scheinen sich diese

Vorhersagen durch die Entdeckungen derersten bekannten Spuren menschlicherKultur in der Blombos-Höhle (Südafrika)bestätigt zu haben. (1 8) Diese beinhalte-ten in Stein eingravierten roten Ocker,durchbohrte Meeresmuscheln, anschei-nend als Körperschmuck benutzt, und so-gar den ersten Farbtopf der Welt, was al-les in das Evolutionsmodell passt, dasKnight vorschlägt (zu dem wir später zu-rückkehren werden). Es l iegt auf derHand, dass dies kein „Beweis“ seinerTheorie ist, doch erscheint es uns unbe-streitbar, dass es seine Hypothese stärkt.

Die wissenschaftl iche Methode unter-scheidet sich deutl ich von dem Ansatz,der von Darmangeat verfolgt wurde, wel-cher sich, wie uns scheint, auf die induk-tive Methode einengt, eine Methode, dieTatsachen zusammenbringt, um anschlie-ßend aus ihnen einige gemeinsame Fak-toren zu extrahieren. Diese Methode istnicht ohne Wert im wissenschaftl ichenGeschichtsstudium: Im Grunde genom-men muss jegl iche Theorie mit der Reali-tät übereinstimmen. Doch Darmangeatscheint sehr zurückhaltend gegenüberdem Versuch zu sein, weiter zu gehen,und dies scheint uns eher ein empirischerdenn ein wissenschaftl icher Ansatz zusein: Wissenschaft schreitet nicht durchdie Induktion aus beobachteten Tatsachenvoran, sondern durch die Hypothese, diesich sicherl ich in Übereinstimmung mit derBeobachtung befinden muss, aber aucheinen Ansatz (experimentel l , wenn mög-l ich) anregen sollte, der es ermöglichenwürde, weiter zu gehen in Richtung neuerEntdeckungen und neuer Beobachtungen.Die String-Theorie in der Quantenmecha-nik ist ein eindrucksvolles Beispiel für die-se Methode: Obwohl sie soweit wie mög-l ich mit beobachteten Faktenübereinstimmt, kann sie heute experimen-tel l nicht verifiziert werden, da die Partikel(oder „Strings“), deren Existenz sie postu-l iert, zu klein sind, um mit den existentenTechnologien gemessen werden zu kön-nen. Die String-Theorie bleibt somit einespekulative Hypothese – doch ohne dieseArt von gewagter Spekulation wäre dieWissenschaft nicht in der Lage, voran zuschreiten.

Ein anderes Problem mit der induktivenMethode besteht darin, dass sie notge-drungen eine Auswahl ihrer Beobachtun-gen aus der Unermesslichkeit der be-kannten Realität treffen muss. So verfährtDarmangeat, wenn er sich al lein auf eth-nographische Beobachtungen stützt undjegl iche Berücksichtigung der Rolle vonEvolution und Genetik außer Acht lässt –was uns für ein Werk, das bezweckt, „denUrsprung der Unterdrückung der Frauen“(so der Untertitel von Darmangeats Buch)offenzulegen, als ein Unding erscheint.

"Der Kommunismushängt nicht vom 'Guten'im Menschen ab"

die die verschiedenen Stufen der Gesell-schaftsentwicklung aufl istet, die von Mor-gan und der Anthropologie seiner Zeit be-nutzt wurden („Wildheit“, „Barbarei“, etc.)und die heute benutzt werden (Altsteinzeit,Jungsteinzeit, etc.), was es erleichtert, sichin die historische Zeit zu versetzen, unddie erläuternden Diagramme verschiede-ner Verwandtschaftssysteme. Der ganzeAbschnitt ist vol l von klaren, didaktischenErläuterungen.

Das Fundament der Theorie Morgans be-steht darin, die Famil ienform, das Ver-wandtschaftssystem und die technischeEntwicklung in einer Reihe von evolutio-nären Schritten zusammenzubringen, dieaus dem „Zustand der Wildheit“ (der ers-ten Stufe der menschlichen Gesellschaft-sentwicklung, die der Altsteinzeit ent-sprach) in die „Barbarei“ (die Jungsteinzeit,Eisen- und Bronzezeit) und schließlich indie Zivi l isation führten. Diese Evolutionwird demzufolge von der technischen Ent-

Fortsetzung S. 6

Morgan, Engels und die wissen-schaftl iche MethodeWenden wir uns nun, nach diesen sehrbescheidenen Anmerkungen über die Fra-ge der Methodik, wieder DarmangeatsBuch zu, das der Ausgangspunkt diesesArtikels ist.

Das Buch ist in zwei Hälften getei lt: Dererste Teil untersucht das Werk des ameri-kanischen Anthropologen Lewis Morgan,auf dem Engels sein Buch Über den Ur-sprung der Famil ie, des Privateigentumsund des Staates basierte, während derzweite Teil Engels‘ Frage bezüglich derUrsprünge der Unterdrückung der Frauaufgreift. In diesem zweiten Teil konzen-triert sich Darmangeat darauf, den Ge-danken zu attackieren, dass einst ein pri-mitiver, auf dem Matriarchat basierenderKommunismus existierte.

Der erste Teil erscheint uns besonders in-teressant (1 9), und wir können Darman-geat rückhaltlos zustimmen, wenn er jeneangeblich „marxistische“ Position atta-ckiert, die das Werk von Morgan (und erstrecht von Engels) in den Rang eines un-antastbaren rel igiösen Textes hebt. Nichts

könnte dem wissenschaftl ichen Geist desMarxismus fernerl iegen. Auch wenn wir vonMarxisten erwarten sollten, das Erscheinenund die Entwicklung der material istischenGesellschaftstheorie von einem histori-schen Standpunkt aus zu betrachten undsomit auch früheren Theorien Rechnungzu tragen, ist es völl ig klar, dass wir Texteaus dem 1 9. Jahrhundert nicht als letztesWort nehmen und die immense Anhäufungvon ethnographischen Erkenntnissen seit-her ignorieren können. Sicherl ich ist esnotwendig, eine kritische Sichtweise indiesem Zusammenhang aufrechtzuhalten:Darmangeat besteht wie Knight auf dieTatsache, dass der Kampf gegen MorgansTheorien in keiner Weise auf der Grundla-ge einer „reinen“, „neutralen“ Wissenschaftgeführt wurde. Wenn Morgans zeitgenös-sische und spätere Gegner seine Fehleraufzeigten oder wenn sie die Aufmerksam-keit auf Entdeckungen lenkten, die nicht inseine Theorie passen, war ihr Ziel im All-gemeinen nicht unvoreingenommen. Indemsie Morgan angriffen, attackierten sie dieevolutionäre Sichtweise der menschlichenGesellschaft und versuchten, die patriar-chalische Famil ie und das Privateigentumder bürgerl ichen Gesellschaft als „ewige“Kategorien al ler menschlichen Gesell-schaften in der Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft wiederherzustel len. Dies warganz eindeutig der Fall bei Malinowski, ei-nem der größten Ethnographen des frühen20. Jahrhunderts, der 1 931 in einemRundfunkinterview äußerte: „Ich glaube,dass das zerstörerischste Element in denmodernen revolutionären Tendenzen dieIdee ist, dass die Elternschaft kol lektivausgeübt werden kann. Falls wir je an demPunkt gelangten, die Einzelfamil ie als dasSchlüsselelement unserer Gesellschaft ab-zuschaffen, werden wir uns einer gesell-schaftl ichen Katastrophe gegenübersehen,gegen die der politische Umbruch derFranzösischen Revolution und die ökono-mischen Veränderungen des Bolschewis-mus unbedeutend sind. Daher ist die Fra-ge, ob die Gruppenmutterschaft eineInstitution ist, die niemals existiert hat, oderob sie ein Arrangement ist, das mit dermenschlichen Natur und der sozialen Ord-nung kompatibel ist, von einem beträchtl i-chen praktischen Interesse.“ (1 8) Hier sindwir weit entfernt von wissenschaftl icherObjektivität[

Kommen wir nun zu Darmangeats Kritik anMorgan. Diese ist in unseren Augen vongrößtem Interesse, und sei es nur, weil siemit einer ziemlich detai l l ierten Zusammen-fassung von Morgans Theorie beginnt unddiese somit auch für die Nichteingeweihtenunter den Lesern zugänglich macht. Be-sonders begrüßen wir dabei die Tabelle,

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Weltrevolution Nr. 1 766

wicklung bestimmt, und der scheinbareWiderspruch zwischen den Famil ien- undVerwandtschaftssystemen, den Morgan invielen Völkern (insbesondere den Iroke-sen) beobachtet hat, stel lt für ihn die da-zwischen liegenden Stufen zwischen einerprimitiven und einer fortgeschrittenen Wirt-schaft und Technologie dar. Traurig nur fürdie Theorie, dass, wenn wir genauer hin-schauen, dies nicht der Fall ist. Um nureins der vielen Beispiele Darmangeats zugeben: laut Morgan soll das „punaluani-sche“ Verwandtschaftssystem angeblicheine der primitivsten technischen und ge-sel lschaftl ichen Stufen darstel len, unddoch kann es auf Hawaii in einer Gesell-schaft angetroffen werden, die Wohlstand,soziale Ungleichheit und eine aristokrati-

sche Gesellschaftsschicht beherbergt unddie im Begriff ist, sich in einen voll entfal-teten Staat und in eine Klassengesellschaftzu verwandeln. Famil ien- und Verwandt-schaftssysteme werden also von gesell-schaftl ichen Bedürfnissen bestimmt, je-doch nicht in direkter Linie von denprimitivsten zu den modernsten.

Bedeutet dies, dass die marxistischeSichtweise der gesellschaftl ichen Evoluti-on in die Mülltonne geworfen werden soll-te? Ganz oder gar nicht, sagt Darmangeat.Jedoch müssen wir trennen, was Morganund nach ihm Marx und Engels zusam-menzubringen versuchten: die Evolutionder Technologie (und somit der Produktivi-tät) und die Famil iensysteme. „Obgleichsich die Produktionsweisen alle qualitativ

voneinander unterscheiden, besitzen sieal le eine gemeinsame Quantität, die es er-möglicht, sie in eine aufsteigende Reiheeinzuordnen, die darüber hinaus grob ih-rer chronologischen Ordnung entspricht([) (Für die Famil ie) gibt es keine ge-meinsame Quantität, die dazu benutztwerden könnte, eine aufsteigende Reihevon verschiedenen Formen herzustel len“.(20) Es liegt auf der Hand, dass die Öko-nomie „in letzter Instanz“ (um Engels Wor-te zu benutzen) der ausschlaggebendeFaktor ist: Wenn es keine Ökonomie (d.h.keine Reproduktion von allem Lebensnot-wendigen für das menschliche Leben) gä-be, dann würde es auch kein gesellschaft-l iches Leben geben. Aber diese „letzteInstanz“ hinterlässt einen großen Raum für

andere Einflüsse, seien sie geographi-scher, historischer, kulturel ler oder ande-rer Art. Ideen, Kulturen – in ihrem breites-ten Sinn – sind ebenfal lsausschlaggebende Faktoren in der Gesell-schaft. Am Ende seines Lebens bedauer-te es Engels, dass die dringende Not, denhistorischen Material ismus auf eine siche-re Basis zu stel len, Marx und ihm selbst zuwenig Zeit übrig l ieß, andere historisch be-stimmende Faktoren zu analysieren. (21 )

[Fortsetzung folgt]

[Fußnoten siehe Website]

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1 933: Demokratie als Wegbereiter des FaschismusAnlässl ich des 80. Jahrestages derMachtergreifung Hitlers im Januar1 933 veröffentl ichen wir hier eineüberarbeitete und gekürzte Fassungeines Artikels wieder, den wir erst-mals in der WELTREVOLUTION Nr.57 publiziert hatten.

Im Januar 1 933 übernahmen die Nazis dieMacht in Deutschland - demokratisch undfrei gewählt im Reichstag. Programm undZiel der Nazis: Deutschland aus der Krisevon 1 929 herauszuführen, was nur - des-sen waren sich die Nazis von Anfang anbewusst - durch Krieg ging. Den bereite-ten sie dann auch systematisch und plan-vol l vor. Was daraus geworden ist, wissenwir: der 2. Weltkrieg mit seinen weit über50 Mil l ionen Toten, die Vernichtungslager. . .Heute rufen uns alle „guten Demokraten“dazu auf, dass wir Farbe bekennen gegenNeonazis, gegen Rechts und uns dabeihinter die Demokratie stel len. Sie wollenuns weismachen, dass der Faschismus derHauptfeind sei, gegen den es zu mobil isie-ren gelte. Tatsächlich sind Demokratie undFaschismus aber zwei Gesichter der glei-chen kapital istischen Barbarei. Es gibt kei-nen grundsätzl ichen Gegensatz zwischenden beiden. Die Geschichte hat bewiesen,dass die Demokratie genauso blutrünstigund barbarisch wie der Faschismus oderStal inismus sein kann, wenn es um dieVerteidigung des Kapital ismus geht. Wirdürfen uns nicht von dieser falschen Pola-risierung in Antifaschismus und Faschis-mus vereinnahmen lassen. Stattdessenmüssen wir al le Formen der bürgerl ichenHerrschaft bekämpfen, ob faschistischoder demokratisch. Nachfolgend wollen wiruns damit auseinandersetzen, wie es da-zu kommen konnte, dass der Faschismusin Deutschland Einzug hielt.

Die Niederlage der Arbeiterklasse inden 20er Jahren1 91 4 war die Welt, getrieben von den Hur-rapatrioten der bürgerl ichen Parteien, aberauch von den meisten sozialdemokrati-schen Parteien, in den I . Weltkrieg gestürztworden. Erst die revolutionären Erhebun-gen in Russland 1 91 7 und Deutschland1 91 8, denen ein wachsender Widerstandseitens der Arbeiterklasse in Form vonStreiks, Massendemonstrationen, Meute-reien und Fraternisierungen an der Frontim Verlauf des Krieges vorausgingen, be-reiteten dem I. Weltkrieg ein Ende. Um denFrieden durchzusetzen und um nicht zuverhungern, waren die ArbeiterInnen inRussland gezwungen, den Herrschendendie Macht abzujagen. Auch in Deutschlandkam es, kaum ein Jahr später, zu mächti-gen revolutionären Erschütterungen. Dochdank der SPD und Gewerkschaften, diesich schützend vor dem bürgerl ichen Staatstel lten, war dem revolutionären Anlauf derdeutschen Arbeiterklasse kein Erfolg be-schieden. So friedl ich die Revolution in

Deutschland war, so blutig wütete die Kon-terrevolution, angeführt vom „Bluthund“Noske (SPD) und seinen Freikorps. Allein1 91 9 fielen ihr über 20.000 Arbeiter zumOpfer, darunter Rosa Luxemburg und KarlLiebknecht. Die Folge der Niederschla-gung der Bewegung in Deutschland: dieArbeiter in Russland blieben weitegehendisol iert. So mussten sie sich im Folgendender Offensive einer imperial istischen Ar-mee von 22 Staaten – an deren Spitze diegroßen Demokratien – erwehren. Zwargingen sie – in mil itärischer Hinsicht - sieg-reich aus dem blutigen Bürgerkrieg hervor,doch zahlten sie dafür einen furchtbarenPreis – den Verlust der politischen Macht.

Anfang der 20er Jahre, spätestens 1 923war der revolutionären Bewegung die Spit-ze gebrochen. Die Arbeiterklasse war phy-sisch zu Boden gestreckt, ihre Kampfmo-ral untergraben, vor al lem war sie politischdesorientiert. In Russland hatte sich eineneue Herrschercl ique eingenistet, die ihrTerrorregime gegen die Arbeiterklasseauszuüben begann. Der Stal inismus gabvor, die Fortsetzung der Oktoberrevolutionzu sein, obwohl er tatsächlich der Toten-gräber derselben war. Die KommunistischeInternationale, vormals Weltpartei des Pro-letariats, unterwarf sich den Interessen desrussischen nationalen Kapitals, kapitul ier-te vor dem Stalinismus und wurde zum In-strument der zunehmend imperial istischenAußenpolitik Russlands. In Deutschlandwar die SPD am Ruder, deren Apparatspätestens seit 1 91 4, seit ihrer Zustim-mung zu den Kriegskrediten, in den Staatintegriert war. Es war gerade die SPD ge-wesen, mit deren Hilfe das Kapital denKrieg hatte führen können. Und es warenvor al lem die famose SPD und die Ge-werkschaften gewesen, die die Gefahr derAusdehnung der Revolution gebannt hat-ten. Diese lupenreinen Demokraten hattendie Arbeiter niedergestreckt, und nicht dieNazis, die erst viel später ihre Drecksarbeitausführen konnten.

So steckte in den 20er Jahren der Arbei-terklasse ihre Niederlage tief in den Kno-chen. Alle ihre früheren Massenorganisa-tionen waren in das Lager des Kapitalsübergewechselt: SPD, Gewerkschaften,KPD. Und diese Niederlage der Arbeitersol lte dem Kapital freie Hand geben, standihm doch nunmehr kein ernstzunehmen-der Gegner mehr gegenüber. Nun konntees seine barbarischen, kriegerischen Ten-denzen voll ausleben.

Der Krieg wird zur Überlebensart derBourgeoisieDer 1 . Weltkrieg hatte eine neue Periodeeingeläutet. Der Kapital ismus trat endgül-tig in die Epoche seines historischen Nie-dergangs ein. Nur kurz währte die Phasedes allgemeinen Aufschwungs nach denrevolutionären Nachkriegswirren; 1 929stürzte die Weltwirtschaft in eine historischbeispiel lose Krise. In Deutschland hatte

bereits 1 923 die Inflation für eine Enteig-nung des Mittelstandes und für ein Weg-schmelzen der letzten Sparguthaben derArbeiter gesorgt. Deutschland war dergroße Verl ierer des 1 . Weltkriegs gewesen.Stark angeschlagen und mit Reparations-zahlungen belastet, fristete der deutscheImperial ismus in den 20er Jahren ein Pa-ria-Dasein. Aus seiner Sicht bot sich ihmals einziger Ausweg aus dieser Misere einneuer Krieg an, um seinen KonkurrentenMärkte, Rohstoff- und Einflussgebiete ab-zujagen. Doch die Krise von 1 929 trieb al-le Länder in diese Konfrontation - der fa-talen imperial istischen Logik folgend, bl iebkeine andere Lösung als die Kriegsvorbe-reitung auf al len Seiten. Der Krieg war zurÜberlebensform schlechthin geworden.

Vor diesem Hintergrund waren die Nazisdie konsequenteste Kriegspartei. Auchwenn sie unter den verzweifelten Kleinbür-gern den größten Anhang fanden, warensie spätestens mit ihrem Machtantritt imJanuar 33 faktisch zur Partei des Großka-pitals geworden. Die Aufgabe, die die Na-zi-Partei im Namen des Kapitals zu erfül-len hatte, hieß:

- Verstärkung des Staatskapital ismus, for-cierte Mil itarisierung, kurzum: Mobil isie-rung aller Ressourcen für den Krieg;

- vol lständige Unterwerfung der Arbeiter-klasse, nachdem die SPD und die Ge-werkschaften in den Kämpfen von 1 91 8-23 schon die unabdingbare Vorarbeit ge-leistet hatten.

Erst als die Arbeiterklasse besiegt und da-mit der Weg frei war für die Logik des Ka-pitals, konnten die Nazis aufmarschieren.Das heißt, erst als die Arbeiterklasse trotzder ungeheuren Verarmung infolge derGroßen Depression von 1 929 keinen sub-stanziel len Widerstand mehr leistete, brachdie Nazi-Pest herein. Der Aufstieg der Na-zis zur Macht war also erst möglich gewor-den, nachdem die politische Niederlageder Arbeiterklasse endgültig besiegelt wor-den war.

Der Mythos des „verpassten Wider-standes“Nun sagen viele, vor al lem Linke, dassman den Faschismus hätte verhindernkönnen, wenn sich alle antifaschistischenKräfte zusammengeschlossen hätten. IhrLeitgedanke ist die Dämonisierung desFaschismus. Indem sie ihn aus jegl ichemhistorischen Zusammenhang reißen, ihnzu einer Singularität sti l isieren, ignorierensie nicht nur, dass insbesondere der deut-sche Nationalsozial ismus als ein notwen-dige Etappe zum Krieg und Mil itarisierungder Arbeiterklasse erst möglich wurde,nachdem die Demokratie die Arbeiter ent-waffnet und enthauptet hatte. Sie ver-schweigen auch die gegenseitige Durch-dringung von Demokratie und Faschismus;denn nur so können sie sich erdreisten,uns von einem prinzipiel len Gegensatzzwischen Demokratie und Faschismus zu

überzeugen. Und sie verlangen Wider-stand von Organisationen, die längst inden Staat integriert worden sind, an derenFingern viel Blut klebte, und die sich al ledurch ihre Feindschaft gegenüber der Ar-beiterklasse in den revolutionären Kämp-fen ausgezeichnet hatten.

Die SPD? Seit 1 91 4 ging es nur darum,die Arbeiterklasse an den Staat zu binden,ob im 1 . Weltkrieg, ob 1 91 8/1 91 9 oder inden 20er Jahren. Und jedes Mal wenn dieSPD für ein Massaker an den Arbeiternverantwortl ich war, rechtfertigte sie diesmit der Verteidigung der Demokratie (d.h.der Herrschaft des Kapitals).

Die Gewerkschaften? Sie verwandeltensich ab 1 91 4 in eine betriebl iche Polizei;sie beschlossen einen Burgfrieden (Streik-verbot) mit den Kapital isten, als der I .Weltkrieg ausbrach, und wirkten als Boll-werk der Herrschenden gegen die revolu-tionäre Erhebung 1 91 8/1 9. In den 20erJahren wurden sie vollends in den Staats-apparat integriert und sorgten dafür, dasskein größerer Widerstand in der Krise von1 929 aufkam. Zwar wurden im Januar1 933 Gewerkschaftsführer eine Zeitlangin Haft genommen, aber kurz danach wie-der freigelassen. Der Apparat stel lte sichden Nazis zur Verfügung. Auch wenn dieNazis publikumswirksam einige Gewerk-schaftshäuser in Brand setzten, ändertedies nichts daran, dass der Gewerk-schaftsapparat für die Nazis ein unver-zichtbares Instrument war. Dieser Apparatging nahezu unverändert in die DeutscheArbeitsfront über, die Nazi-Gewerkschaft.Kein Zufal l , dass die Gewerkschaften am1 . Mai 1 933 unter Nazi-Fahnen mit mar-schierten.

Von diesen beiden Organisationen alsoWiderstand zu erwarten hieße, den Bockzum Gärtner zu machen. Für sie spielt esnämlich keine Rolle, welche Partei an derRegierung ist, ihre Aufgabe besteht darin,das System zu verteidigen.

Und die KPD? Während sie in den Kämp-fen von 1 91 8/1 9 noch an der Spitze derBewegung gestanden und resolut die In-teressen der Arbeiter verteidigt hatte, warsie in den 20er Jahren zum Vasallen Mos-kaus geworden. Sie schlug als erste denKurs zur rückhaltlosen Unterwerfung un-ter die Interessen des russischen Kapitalsein, ihre Stal inisierung schritt am schnells-ten voran. Auch stützte sie sich bei ihrerArbeit auf die Gewerkschaften (z.B. revo-lutionäre Gewerkschaftsopposition) undden Parlamentarismus („Haltet Hitler auf,wählt Thälmann“), mithin auf die Waffen,mit Hilfe derer die Arbeiterklasse ge-schwächt, gefesselt und niedergestrecktworden war. Schlimmer noch: mit ihremSchlachtruf der nationalen Befreiung des„unterdrückten Deutschlands“ trat sie aufnationalistischem Parkett in einen Wettlaufmit den Nazis, der die Arbeiter von ihrenalles andere als nationalen Interessen ab-brachte.

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Weltrevolution Nr. 1 76 7

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Ambivalenz“ Organe fürs Kapital – undgleichzeitig Organe fürs Proletariat. Sofernman von einem antagonistischen Verhältniszwischen den Interessen des Proletariatsund denen des Kapitals ausgeht (und diesenAusgangspunkt werden die Verteidiger derAmbivalenz nicht in Frage stel len wollen),wäre dies als stabiler Zustand unmöglich.Dass Organe sich bekämpfender Klasseneinen Doppelcharakter haben, kommt nur alsAusnahme in revolutionären Zeiten vor, bei-spielsweise bei den Sowjets bzw. Arbeiter-räten im Frühsommer 1 91 7 in Russland undim November/Dezember 1 91 8 in Deutsch-land. Letztl ich bedeutet die Position einerstabilen Ambivalenz, auf das Kriterium desKlassencharakters zu verzichten.

Vermutl ich steckt hinter dieser Position dienicht zu Ende gedachte Erfahrung, dass eszwischen der „Klasse an sich“ und der „Klas-se an und für sich“ in normalen Zeiten einegrosse Kluft gibt. Die „Klasse an sich“ ist dasProletariat, das in der Regel der herrschen-den Ideologie unterworfen ist, in der bürger-l ichen Demokratie mitmacht, die Gewerk-schaften okay findet, in Mil l iarden vonIndividuen aufgetei lt ist – kurz: das Proleta-riat, das sich gar nicht als eigenständige undweltumspannende Klasse, als kol lektivesSubjekt wahrnimmt. Die „Klasse an und fürsich“ ist das selbstbewusste, die Geschichtein die eigenen Hände nehmende Proletariat– eine Ausnahmeerscheinung. Bedeutet aberdie Erfahrung, dass die Klasse im normalenkapital istischen Alltag (selbst in wirtschaftl i-chen Krisenzeiten) seine antagonistischenInteressen zum Kapital nicht ausdrücklichformuliert, dass wir die Begriffe Klasseninter-essen oder gar das Erkennen des Klassen-wesens aufgeben müssen?

Marx schrieb in Die heil ige Famil ie: „Es han-delt sich nicht darum, was dieser oder jenerProletarier oder selbst das ganze Proletari-at, als Ziel sich einstweilen vorstel lt. Es han-delt sich darum, was es ist, und was es die-sem Sein gemäß geschichtl ich zu tungezwungen sein wird.“ – Diese viel zitierteStel le kann natürl ich als Abkömmling desHegelschen Weltgeistes oder schlicht deter-ministisch à la Bordiga interpretiert werden.Wenn man sich aber von diesen idealisti-schen Schalen befreit und nach dem mate-rial istischen Kern fragt, so stösst man aufeinen nützl ichen Begriff: den des proletari-schen Wesens, d.h. das, was das Proletari-at geschichtl ich ist (sein Sein). Daran misstsich das proletarische Interesse. Es zielt dar-auf ab, die kapital istische Ausbeutung unddamit sich selbst aufzuheben.

Gibt es einen Erkenntnisvortei l , wenn manvon einem nicht eindeutigen, eben einemambivalenten Charakter der Gewerkschaftenausgeht? Die „Position der Ambivalenz“ stel ltsich als differenziert und „dialektisch“ dar.Sie wil l insbesondere eine wesentl iche Diffe-renz zwischen dem Kapital und dem Staatmachen: Die Gewerkschaften seien sehrwohl Teil des Kapitals als gesellschaftl ichemVerhältnis, aber nicht Teil des Staats, obwohlsie wie dieser Interessen des Gesamtkapi-tals verträten. Selbst wenn wir diesem Ge-danken folgen könnten und diese Differen-zierung übernähmen, ist doch in Bezug aufdie Frage des Klassencharakters der Ge-werkschaften nichts Neues gewonnen. Wennsie Teil der kapital istischen gesamtgesell-schaftl ichen Reproduktion sind, üben sie ei-ne Funktion fürs Kapital aus. Dass sie dabeigleichzeitig eine Funktion fürs Proletariatübernähmen, wird von der „Position der Am-bivalenz“ nur insofern behauptet, als es umdie „immanenten Interessen der Arbeiter_in-nen“ geht. Mit diesem Argument könnte auchein kapital istisches Unternehmen wie IKEAals ambivalent bezeichnet werden: Abgese-hen davon, dass es dem Kapital Profit ab-wirft, kann sich auch der Arbeiter als Käuferan seinen neuen günstigen Möbeln freuen [Die subjektiven Befindl ichkeiten von Ge-werkschaftsmitgl iedern oder Konsumentenzum Ausgangspunkt zu nehmen, wenn mandie wesentl iche Funktion einer gesellschaft-l ichen Organisation bestimmen wil l , ist nichtseriös. Die Dialektik dieses Zwiespalts ist diezwischen Wesen und – Schein.

Praktische Bedeutung der Diver-genz?Manche_r wird sich viel leicht in der Zwischen-zeit gefragt haben, was die praktischen Folgendieser scheinbar tiefschürfenden Meinungsver-schiedenheiten sind. Wir wissen es auch nichtgenau. Wir können es uns aber nicht verknei-fen, da noch ein paar Gedanken anzustricken.Betrachten wir die anscheinend praktischste al-ler Fragen – die der Intervention, des Eingrei-fens in den Klassenkampf. Verleitet die Positi-on der Ambivalenz angesichts fehlenderKampfbereitschaft der „Klasse an sich“ nichtzur Schlussfolgerung, man könne das Terraingetrost der Gewerkschaften überlassen? DasProletariat sei „selber schuld“, wenn es nur im-manent kämpfe? – Fast jeder Kampf der Arbei-terklasse beginnt auf dem zunächst rein wirt-schaftl ichen Terrain der Verteidigung vonvermeintl ichen (oder tatsächlichen) Errungen-schaften. Führt diese Position des zwiespälti-gen Charakters der Gewerkschaften nicht zurAussage: Für solche Kämpfe sind die Gewerk-schaften genau der richtige Helfer?

Wir haben diese Position in der laufenden Dis-kussion nicht gehört oder gelesen. Aber wennes sie gäbe, wäre ihr zu entgegnen: Eine am-bivalente Haltung gegenüber den Gewerkschaf-ten in der heutigen Gesellschaft kann Ausdruckeines passiven Rollenverständnisses der Re-volutionäre gegenüber der Kernfrage des Be-wusstseins sein. Im Sinne von: Die Forderun-gen und Haltungen der Klasse „an sich“ seienin einem gewissen Sinne neutral – so sei siehalt, die Klasse, die „nur immanent“ kämpfe.Die Gewerkschaften helfen ihnen immanent,und für die grosse Sache ist nichts verloren –weit gefehlt! Wenn die Gewerkschaften (= „Ver-treter des variablen Kapitaltei ls“) der richtigeOrt für sich immanent wehrende Arbeiter sind,so sind sie logischerweise auch der richtige Ortfür unser Eingreifen. So können, ja müssen wirFunktionen in diesem Räderwerk übernehmen,sei es im Gewerkschaftsapparat oder wenigs-tens an der Basis?

Die wohl gravierendste Schwäche und Konse-quenz dieser Position der Ambivalenz ist dieReduzierung der Rolle der Gewerkschaften aufdas ökonomische Terrain, da sie ja dort die In-teressen des variablen Kapitals (sprich der Ar-beiterklasse) repräsentieren würden. Die Ge-werkschaften haben seit Beginn des 20.Jahrhunderts mitnichten nur in der Auseinan-dersetzung über Löhne, Arbeitsbedingungenoder Betriebsschliessungen eine Rolle gespielt.Sie waren (neben dem Tagesgeschäft der Teil-nahme am demokratischen Abstimmungs- undWahlzirkus) die unabdingbaren ideologischenund praktischen Faktoren für das Kapital zurMobil isierung der Arbeiterklasse in die Weltkrie-ge. Bekanntestes Beispiel dafür ist viel leicht dieRolle der deutschen Gewerkschaften 1 91 4. DerKlassencharakter einer Organisation wie derGewerkschaften zeigt sich unverblümt in Mo-menten der offenen Klassenkonfrontationenoder des Krieges. Gerade hier ist nicht nach-vollziehbar, was die Rede vom „ambivalentenCharakter“ differenzieren wil l . Das Wesen derGewerkschaften anhand einer auf die Ökono-mie und die relativ „friedl ichen Zeiten“ einge-grenzten Sichtweise beurtei len zu wollen, führtwohl zwangsläufig zu einer Unterschätzung ih-rer konterrevolutionären Macht.

Da wird munter am alten kapital istischen Ver-blendungszusammenhang gesponnen, unab-hängig davon, ob sich die Protagonisten desDramas dessen bewusst sind oder nicht.

Im zweiten Teil des Artikels werden wir auf dieKritik eingehen, die Haltung der IKS zu den Ge-werkschaften habe Gemeinsamkeiten mit Ver-schwörungstheorien.

Maluco, 29.01 .1 3 - [Fortsetzung folgt]

1 ) http: //www.undergrounddogs.net/

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UNSERE POSITIONEN– Seit dem 1 . Weltkrieg ist der Kapital ismus eindekadentes gesellschaftl iches System. Zweimalhat er die Menschheit in einen barbarischen Zy-klus von Krise, Weltkrieg, Wiederaufbau, neueKrise gestürzt. In den 80er Jahren ist er in dieletzte Phase seines Niedergangs eingetreten –die seines Zerfal ls. Gegenüber diesem unwider-rufl ichen historischen Abstieg gibt es nur eine Al-ternative: Sozial ismus oder Barbarei, kommunis-tische Weltrevolution oder Zerstörung derMenschheit.

– Die Pariser Kommune von 1 871 war der ersteVersuch des Proletariats, diese Revolution durch-zuführen. Dies geschah jedoch zu einem Zeit-raum, als die Bedingungen dafür noch nicht reifwaren. Nachdem diese Bedingungen aber mitdem Eintritt des Kapital ismus in seine Dekadenzgeschaffen waren, stel lte die Oktoberrevolution1 91 7 in Russland den ersten Schritt einer echtenkommunistischen Weltrevolution innerhalb einerinternationalen Welle von revolutionären Kämp-fen dar, die den imperial istischen Weltkrieg zu En-de brachte und mehrere Jahre fortdauerte. DasScheitern dieser revolutionären Welle, insbeson-dere in Deutschland von 1 91 9–23 führte dazu,dass die Revolution in Russland isol iert bl ieb undschnell entartete. Der Stal inismus war nicht dasErgebnis der russischen Revolution, sondern ihrTotengräber.

– Die staatl ichen Regime, die unter der Bezeich-nung „sozial istisch“ oder „kommunistisch“ in derUdSSR, in Osteuropa, China, Kuba usw. entstan-den waren, waren nur besonders brutale Formeneiner weltweiten Tendenz zum Staatskapital ismus,die typisch ist für die Niedergangsphase des Ka-pital ismus.

– Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts sind al-le Kriege imperial istische Kriege in einem Todes-kampf zwischen großen oder kleinen Staaten ge-wesen, um eine internationale Stel lung zu erobernoder zu erhalten. Diese Kriege haben derMenschheit nur Tod und Zerstörung in einem im-

mer größeren Ausmaß gebracht. Die Arbeiterklas-se muss dem ihre internationale Solidarität undden Kampf gegen die Bourgeoisie in al len Län-dern entgegensetzen.

– All die Ideologien der „nationalen Unabhängig-keit“, des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“,unabhängig davon, ob sie unter einem ethni-schen, historischen, rel igiösen oder sonstigenVorwand verteidigt werden, sind für die Arbeiterein wahres Gift. Indem sie für die eine oder ande-re Fraktion der Bourgeoisie Partei ergreifen sol-len, werden so die Arbeiter gegeneinander aufge-hetzt und dazu getrieben, sich im Interesse derAusbeuter in den Kriegen zwischen diesen ge-genseitig abzuschlachten.

– Im dekadenten Kapital ismus sind das Parlamentund die Wahlen zu einer einzigen Heuchelei ge-worden. Jeder Aufruf zur Beteil igung am Wahlzir-kus kann nur die Wirkung der Lügen verstärken,mit der die Wahlen als eine „echte Alternative“ fürdie Ausgebeuteten darstel lt werden. Die Demo-kratie, die eine besonders heuchlerische Herr-schaftsform der Bourgeoisie ist, unterscheidetsich im Grunde nicht von den anderen Formender kapital istischen Herrschaft, dem Stalinismusund dem Faschismus.

– Die Fraktionen der Bourgeoisie sind al le gleichreaktionär. Alle sog. „sozial istischen“, „kommunis-tischen“ Arbeiterparteien (jetzt die früheren „Kom-munisten“), die Organisationen der extremen Lin-ken (Trotzkisten, Maoisten, und Ex-Maoisten,offiziel le Anarchisten) stel len den linken Flügeldes politischen Apparates des Kapitals dar. All dieTaktiken der „Volksfront“, der „antifaschistischen“Front und der „Einheitsfront“, die die Interessendes Proletariats mit denen einer Fraktion derBourgeoisie zusammenbringen wollen, dienen nurdazu, dass der Kampf der Arbeiterklasse kontrol-l iert und in Sackgassen gelenkt wird.

– Mit dem Eintritt des Kapital ismus in seine Deka-denz sind die Gewerkschaften überal l zu Orga-nen der kapital istischen Ordnung innerhalb derArbeiterklasse geworden. Die gewerkschaftl ichenOrganisationsformen, ob die „offiziel len“ oder die

„Basisgewerkschaften“, dienen nur dazu, die Ar-beiterklasse zu kontrol l ieren und ihre Kämpfe zusabotieren.

– Um ihre Kämpfe erfolgreich durchzuführen,muss die Arbeiterklasse ihre Kämpfe zusam-menschließen, indem sie deren Ausdehnung undOrganisierung selbst in die Hand nimmt. Dies ge-schieht mittels selbständiger Vollversammlungenund Komitees von Delegierten, die jeweils jeder-zeit von diesen Versammlungen gewählt und ab-gewählt werden können.

– Der Terrorismus ist in keiner Hinsicht ein Mitteldes Kampfes der Arbeiterklasse. Als Ausdruck dergeschichtl ich zukunftslosen gesellschaftl ichenSchichten und des Zerfal ls des Kleinbürgertumsliefert der Terrorismus, wenn er nicht direkt einMittel des ständigen Krieges zwischen den Staa-ten ist, immer einen Nährboden für die Manipula-tionen der Bourgeoisie. Indem er für die geheimenAktionen von kleinen Minderheiten eintritt, stehter im totalen Gegensatz zur Klassengewalt, diesich auf Handlungen einer bewussten und orga-nisierten Masse des Proletariats stützt.

– Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die da-zu in der Lage ist, die kommunistische Revoluti-on durchzuführen. Der revolutionäre Kampf führtdie Arbeiterklasse notwendigerweise zu einerKonfrontation mit dem kapital istischen Staat. Umden Kapital ismus zu zerstören, muss die Arbeiter-klasse alle Staaten zerstören und die Diktatur derArbeiterklasse auf Weltebene errichten: die inter-nationale Macht der Arbeiterräte, die das gesam-te Proletariat umfassen.

– Die kommunistische Umwandlung der Gesell-schaft durch die Arbeiterräte bedeutet weder„Selbstverwaltung“ noch „Verstaatl ichung“ derWirtschaft. Der Kommunismus erfordert die be-wusste Abschaffung der kapital istischen Gesell-schaftsverhältnisse durch die Arbeiterklasse: dieLohnarbeit, die Warenproduktion, die Landesgren-zen. Dazu muss eine Weltgemeinschaft errichtetwerden, deren ganze Aktivitäten auf die volle Be-friedigung der menschlichen Bedürfnisse ausge-richtet sind.

– Die revolutionäre politische Organisation stel ltdie Avantgarde des Proletariats, den aktiven Fak-tor des Prozesses der General isierung des Be-wusstseins innerhalb des Proletariats dar. IhreRolle besteht weder in der „Organisierung der Ar-beiterklasse“ noch in der „Übernahme der Macht“in ihrem Namen, sondern aktiv an der Vereinigungder Kämpfe mitzuwirken, dass die Arbeiter dieKämpfe selbst in die Hand nehmen und eine re-volutionäre politische Orientierung für den Kampfdes Proletariats aufgezeigt wird.

UNSERE AKTIVITÄT– Die theoretische und politische Klärung der Zie-le und Mittel des Kampfes des Proletariats, seinergeschichtl ichen und unmittelbaren Bedingungen.

– Die organisierte, vereinigte und auf internatio-naler Ebene zentral isierte Intervention, um zumProzess beizutragen, der zu revolutionären Hand-lungen der Arbeiterklasse führt.

– Die Umgruppierung der Revolutionäre im Hin-bl ick auf die Schaffung einer wirkl ichen kommu-nistischen Weltpartei, die unabdingbar ist für dieAbschaffung der kapital istischen Herrschaft unddie Entwicklung hin zur kommunistischen Gesell-schaft.

UNSER URSPRUNG– Die Positionen der revolutionären Organisatio-nen und ihre Aktivitäten sind das Ergebnis dervorherigen Erfahrungen der Arbeiterklasse undder Lehren, die diese politischen Organisationenaus der Geschichte gezogen haben. So beruftsich die IKS auf die Errungenschaften, die nach-einander erbracht wurden vom Bund der Kommu-nisten (1 847–52) um Marx und Engels, den dreiInternationalen (Internationale Arbeiterassoziati-on 1 864–72, Sozial istische Internationale1 889–1 91 4, Kommunistische Internationale1 91 9–1 928), den Linkskommunistischen Fraktio-nen, die in den 20er und 30er Jahren aus der Drit-ten Internationale während ihres Niedergangs her-vorgegangen waren, insbesondere derDeutschen, Holländischen und Ital ienischen Lin-ken.

Haben die Gewerkschaften einen „zwiespältigen“ Charakter

Fortsetzung S. 7

Klassencharakter der Gewerk-schaften oder Ambivalenz?In der Tradition der ital ienischen und franzö-sischen kommunistischen Linken, in der sichdie IKS sieht, sind die Gewerkschaften seitBeginn der Dekadenz des Kapital ismus – seitdem Ersten Weltkrieg – Teil des kapital isti-schen Staates. Da ab diesem Zeitpunkt dieobjektiven Bedingungen für eine revolutio-näre Überwindung des Kapital ismus reif undumgekehrt für die Arbeiterklasse keine sub-stantiel len und dauerhaften Reformen mehrherauszuschlagen sind, verl ieren die bishe-rigen Organe der Arbeiterklasse, die sie sichzur Erkämpfung solcher Reformen geschaf-fen hatte, ihre Funktion. Sie werden für dieArbeiterklasse wertlos. Da sie aber nicht ab-geschafft, sondern von der Bourgeoisie undihrem Staat für ihre Zwecke angeeignet wur-den (zur Erhaltung des „Burgfriedens“ undzur Mobil isierung der proletarischen Massenfür den Krieg), verloren sie ihren proletari-schen Klassencharakter . Sie wurden in dentotal itären Staat der Bourgeoisie (sei er de-mokratisch, stal inistisch oder faschistisch) in-tegriert. Ihr Klassencharakter ist kapital is-tisch, bürgerl ich geworden. DieGewerkschaftsführer sind oft Parlamentarieroder andere Funktionsträger des bürgerl i-chen Staats, während die Gewerkschaftsmit-gl ieder weiterhin Arbeiter_innen sind, die sichje nach politischer und wirtschaftl icher Situa-tion mehr oder weniger mit der Politik derGewerkschaft identifizieren und sich durchsie vertreten fühlen – oder unabhängig vonihnen Kämpfe führen und sich selber organi-sieren.

Die in den Diskussionen aufgetauchte Posi-tion der Ambivalenz, des zwiespältigen Cha-rakters der Gewerkschaften, unterscheidetnicht zwischen verschiedenen geschichtl i-chen Phasen des Kapital ismus, sondern ver-sucht, das Wesen der Gewerkschaften rein

„ihrem Inhalt nach“ zu bestimmen: „([) dieGewerkschaften waren und sind keineKampfform der Gesamtklasse. Dreierlei fäl ltauf, wenn man sie sich diesbezüglich an-schaut: Erstens vertreten sie grundsätzl ichdie Interessen ihrer spezifischen Klientel undvertiefen damit die Zersplitterung der Arbei-terinnen und Arbeiter in Betriebe und Sekto-ren, sowie in Gelernte und Ungelernte. Zwei-tens sind die Gewerkschaften in ihrer Rolleals ‚Sozialpartner‘ im nationalen Rahmenentstanden und an diesen gebunden. ([)Auch die Spaltung der Klasse in Nationenwird somit von den Gewerkschaften verdop-pelt. Drittens schliessl ich ist zu beobachten,dass die Gewerkschaften – da sie sich in ih-ren Forderungen stets auf den vom Kapita-l ismus vorgegebenen Rahmen beschränkenmüssen – ihr Handeln immer an den durchdie Konjunktur gegebenen Möglichkeitenausrichten.“

In der Diskussion auf undergrounddogs.netformuliert Muoit das zwiespältige Wesen so:„Die Gewerkschaften vertreten ähnlich wieder Staat das Interesse des Gesamtkapitals- auch gegen den Widerstand einzelner Ka-pitale oder Kapitalfraktionen - an der Repro-duktion der Gesamtklasse und sie haben einInteresse daran, dass die Arbeiterklasse ver-waltet werden kann und nicht komplett ausdem Ruder läuft. In diesem Sinne sind sietatsächlich ein Teil des Kapitals als gesell-schaftl ichem Verhältnis. Gleichzeitig abersind sie Vertreter des variablen Kapitaltei ls,welches halt in der kapital istischen Realitätmit den immanenten Interessen der Arbeite-rInnen zusammenfäl lt. Dieser Doppelcharak-ter zeigt die innere Widersprüchlichkeit derGewerkschaften ziemlich gut auf: Auf dereinen Seite vertreten sie ihre Klientel inner-halb des Kapital ismus - und sind dabei übri-gens von der Mobil isierungsfähigkeit ihrerBasis abhängig! - andererseits haben sie da-

für zu sorgen, dass die ArbeiterInnen ebengerade nicht unkontrol l ierbar werden und imErnstfal l dann mit ihrer Rolle als ArbeiterInschluss machen wollen.“

Einigkeit besteht zwischen den beiden Posi-tionen vermutl ich in der Feststel lung, dassdie Gewerkschaften keine Organe der Revo-lution sind . Die beiden Analysen scheidensich auch nicht hinsichtl ich der Frage, waspassiert, wenn die Arbeiter_innen sich für ih-re Kämpfe auf die Gewerkschaften verlas-sen: Diese haben die Aufgabe, die Kämpfein Bahnen zu lenken, die das System nichtbedrohen, d.h. die nationalstaatl iche Logikund ein in die verschiedenen Sektoren undBerufsgattungen gespaltenes Proletariat sinddie Folgen. Grundsätzl ich könnte man diegemeinsame Basis, auf der wir argumentie-ren, so zusammenfassen:

- Ablehnung jeder nationalstaatl ichen Logik;

- das Proletariat muss für seine Ziele selbstkämpfen und

- sich dabei selbst, in eigenen von ihm kon-trol l ierten Strukturen organisieren.

Worin besteht denn die wesentl iche Differenzzwischen den beiden Positionen? – Viel leichtkann man sie so auf einen einfachen Nennerbringen: Während die IKS behauptet, dassdie Gewerkschaften in der niedergehendenPhase des Kapital ismus für die Arbeiter_in-nen nicht nur unnütz sind, sondern ihremKlassenfeind, der Bourgeoisie, dienen, ent-gegnet die „Position der Ambivalenz“: Diesist zu einfach – wenn die Arbeiter_innen hin-ter den Gewerkschaften stehen, so fühlen siesich in ihren Interessen, soweit diese im Ka-pital ismus realisierbar sind, vertreten undsind es auch; insofern sind die Gewerk-schaften nicht nur Organe fürs Kapital, son-dern auch fürs (nicht revolutionäre) Proleta-riat.

Aber die „Position der Ambivalenz“ macht es

sich unseres Erachtens zu einfach, obwohlsie vorgibt, differenzierter zu sein.

Niemand wird bestreiten, dass die Gewerk-schaften verschiedene Funktionen haben, jenach Sichtwinkel. Aus der Sicht eines Ge-werkschaftsmitgl iedes erfül len diese Orga-nisationen manchmal die Funktion, punktu-el le, von ihm erwünschte Verbesserungendurchzusetzen. Aus der Sicht des bürgerl ich-demokratischen Staates sind die Gewerk-schaften „Sozialpartner“ und konstitutiveElemente der verfassungsmässigen Ord-nung. Weiter ist auch klar, dass die Einstel-lung der Arbeiter und Arbeiterinnen zu denGewerkschaften empirisch betrachtet ambi-valent ist. In normalen Zeiten fühlen sie sichvon ihnen vertreten; wenn es stürmisch wird,wenden sie sich enttäuscht von ihnen ab.Die Frage kann aber aus „kommunistischer“Sicht nicht sein, al le möglichen subjektivenGesichtspunkte demokratisch gegeneinan-der abzuwägen und daraus eine „Objektivi-tät“ zu kreieren – den Doppelcharakter –,sondern von einem Klassenstandpunkt auszu bestimmen versuchen, welches ihre we-sentl iche Funktion ist.

Gehen wir von Muoits Feststel lungen aus,dass die Gewerkschaften „Teil des Kapitalsals gesellschaftl ichem Verhältnis“ sind und„ähnlich wie der Staat das Interesse desGesamtkapitals ([) an der Reproduktion derGesamtklasse“ vertreten. Für die aufstei-gende Phase des Kapital ismus wären wir mitdieser Charakterisierung nicht einverstan-den, weil die Gewerkschaften in der damali-gen Zeit ein lebendiger Ausdruck desKampfes der Arbeiterklasse waren, auchwenn ihr Ziel nicht unmittelbar die Revoluti-on war. Darin zeigt sich eine interessanteDialektik zwischen Ziel und Erreichbarkeitdesselben: In den Zeiten, als die Gewerk-schaften entstanden, erreichten sie genaudie Ziele, die sie sich vornahmen – es gingum die langfristige Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen der Arbeiter_innen.Sie waren noch kein Organ, das im Interes-se des Gesamtkapitals fungierte. Obwohlnicht explizit revolutionär waren die Gewerk-schaften damals auf lange Sicht durchausim Einklag mit den Interessen der Revoluti-on. – Aber hier interessiert uns die Aktuali-tät, so dass wir die Beschreibung Muoitsgelten lassen können. Was folgt daraus? DieGewerkschaften sind gemäss „Position der

Im politischen Mil ieu im deutschsprachigen Raum, das den Anspruch hat, eine Rolle bei einer zukünftigen revolutionären Um-gestaltung der menschlichen und gesellschaftl ichen Verhältnisse zu spielen, ist seit einiger Zeit eine Diskussion über das We-sen der Gewerkschaften im Gang. Es geht dabei insbesondere um die Fragen, ob die Arbeiterklasse sich noch auf diese Or-gane stützen könne und ob sie für eine Revolution mit dem Ziel einer Gesellschaft der freien Assoziation der Produzierendenvon Nutzen oder umgekehrt ein Hindernis seien. Ein Beitrag zu dieser Diskussion ist Ende 2011 in Kosmoprolet Nr. 3 unterdem Titel Schranken proletarischer Emanzipation – zur Kritik der Gewerkschaften erschienen. In der Schweiz ist die Debattenamentl ich auf dem Internetforum undergrounddogs.net weiter geführt worden, wobei auch Artikel und andere Stel lungnah-men der IKS zur Gewerkschaftsfrage zitiert und kritisiert worden sind. Der folgende Beitrag möchte auf zwei aus unsererSicht offen gebliebene Fragen zurück kommen und versuchen, die begonnenen Gedanken weiter zu spinnen. Dabei geht eseinerseits um die Frage, ob die Gewerkschaften heute einen eindeutigen Klassencharakter haben oder umgekehrt „zwiespäl-tig“, „ambivalent“ seien, andererseits um das Argument, die IKS-Position zu den Gewerkschaften sei letztl ich eine Art Ver-schwörungstheorie.