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1 Geheimnisvolles Wechselbad der Emotionen »Liebende schließen beim Küssen die Augen, weil sie mit dem Herzen sehen möchten.« (Daphne du Maurier, englische Schriftstellerin französischer Abstammung, 1907–1989). Ein Tag im Leben von Bianca und Michael Selten zuvor war Michael so pünktlich am Flughafen. Doch heu- te ist ein ganz besonderer Tag. Ein kurzer Blick auf den Monitor zeigt ihm, dass die erwartete Maschine aus Amerika voraussichtlich erst in einer Stunde am Gate B14 eintreffen wird. An Bord ist Bianca, mit der er seit sechs Monaten glücklich ver- lobt ist. Während Bianca als Medizinstudentin einen großen Teil der Semesterferien bei Verwandten in den USA verbracht und neben ei- nem Krankenhauspraktikum in dieser Zeit sicherlich viel erlebt hat, ist Michael, der als Ingenieur für Informationstechnik für ein deut- sches Elektronikunternehmen tätig ist, die Phase der Trennung da- gegen wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Zu tun hatte er ei- gentlich immer genug, aber an die langen Wochenenden, an denen er allein war, erinnert er sich nur ungern. »Da hätte ich mir ja noch etwas Zeit lassen können«, denkt sich Michael insgeheim. »Aber was solls – besser zu früh als zu spät am Flughafen.« Schon bei dem Gedanken, dass er in einem Verkehrs- stau hätte stecken bleiben und Bianca mit Koffern in der Hand ver- geblich nach ihm hätte suchen können, wird ihm unbehaglich zu- mute. Michael schlendert durch den Ankunftsbereich, vergewissert sich noch einmal, welchen Ausgang Bianca für B14 nehmen wird und bemerkt, wie sich seine innere Anspannung allmählich legt um ei- ner tief empfundenen Freude Platz zu machen. Um die verbleiben- de Zeit zu überbrücken, setzt er sich in ein Bistro namens »Zeppe- lin«, welches einen direkten Blick auf die Anzeige »Arrivals« gestat- tet. Ein Tag im Leben von Bianca und Michael 1

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1Geheimnisvolles Wechselbad der Emotionen

»Liebende schließen beim Küssen die Augen, weil sie mit dem Herzen sehen möchten.«

(Daphne du Maurier, englische Schriftstellerin französischer Abstammung, 1907–1989).

Ein Tag im Leben von Bianca und Michael

Selten zuvor war Michael so pünktlich am Flughafen. Doch heu-te ist ein ganz besonderer Tag. Ein kurzer Blick auf den Monitorzeigt ihm, dass die erwartete Maschine aus Amerika voraussichtlicherst in einer Stunde am Gate B14 eintreffen wird.

An Bord ist Bianca, mit der er seit sechs Monaten glücklich ver-lobt ist. Während Bianca als Medizinstudentin einen großen Teil derSemesterferien bei Verwandten in den USA verbracht und neben ei-nem Krankenhauspraktikum in dieser Zeit sicherlich viel erlebt hat,ist Michael, der als Ingenieur für Informationstechnik für ein deut-sches Elektronikunternehmen tätig ist, die Phase der Trennung da-gegen wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Zu tun hatte er ei-gentlich immer genug, aber an die langen Wochenenden, an denener allein war, erinnert er sich nur ungern.

»Da hätte ich mir ja noch etwas Zeit lassen können«, denkt sichMichael insgeheim. »Aber was solls – besser zu früh als zu spät amFlughafen.« Schon bei dem Gedanken, dass er in einem Verkehrs-stau hätte stecken bleiben und Bianca mit Koffern in der Hand ver-geblich nach ihm hätte suchen können, wird ihm unbehaglich zu-mute.

Michael schlendert durch den Ankunftsbereich, vergewissert sichnoch einmal, welchen Ausgang Bianca für B14 nehmen wird undbemerkt, wie sich seine innere Anspannung allmählich legt um ei-ner tief empfundenen Freude Platz zu machen. Um die verbleiben-de Zeit zu überbrücken, setzt er sich in ein Bistro namens »Zeppe-lin«, welches einen direkten Blick auf die Anzeige »Arrivals« gestat-tet.

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»Ich nehme das Sandwich mit Huhn und dazu eine Tasse Kaf-fee«, sagt er dem Kellner und greift nach einer Zeitung. Er überfliegtdie Schlagzeilen, liest die Artikel aber nur diagonal. Es fällt ihmsichtlich schwer, sich heute so richtig zu konzentrieren. Lediglicheine Reportage über San Franciso veranlasst ihn zu einem tieferenEinstieg. »Ihre Verwandten leben in einem Vorort von Monterey«,überlegt er. »Wie ich Bianca kenne, hat sie sich die Golden GateBridge nicht nur auf Fotos angesehen.«

Während Michael noch mit seiner kleinen Mahlzeit beschäftigtist, wird die Anzeige mit den »Arrivals« gerade aktualisiert. »Die Ma-schine trifft doch etwas früher ein und wird in wenigen Minuten lan-den«, schießt es ihm durch den Kopf. Nervös faltet er die Zeitungzusammen und gibt dem Kellner ein Zeichen. Nach dem Bezahlender Rechnung begibt er sich auf direktem Weg zum Ausgang.

Aufgeregt beobachtet Michael, wie sich die Tür in kurzen Ab-ständen öffnet und schließt. Braun gebrannte und mit Koffern undReisetaschen gut bepackte Urlauber bahnen sich ihren Weg durchdie Menschenmenge, Geschäftsleute mit Aktenkoffern hasten anihm vorbei, ein aufgeregter Japaner scheint jemanden zu suchen,während drei Araber sich offensichtlich beim Smalltalk amüsieren.Ähnlich wie in einem Film registriert Michael dies aber nur ganz amRande.

Plötzlich entspannt sich sein Gesichtsausdruck – Bianca kommtaus der Tür. Sie erkennt ihn sofort, lässt den Wagen mit dem Kofferkurz stehen und läuft auf ihn zu. Wortlos fallen sich die beiden indie Arme. Als sie sich küssen, hat Bianca Tränen der Freude in denAugen. Michael hingegen – den vertrauten Geruch ihres Körperswahrnehmend – hat nur einen einzigen Gedanken: »Wir gehörenzusammen!«

Diese kurze Szene aus dem Leben zweier junger Menschen dürf-te vielen von uns bekannt vorkommen. Die innere Unruhe, An-spannung, Aufregung, gepaart mit Sehnsucht und dann das schierunendliche Glücksempfinden nach der Begegnung – wer hat diesesWechselbad der Gefühle in ähnlichen Situationen nicht bereits sel-ber durchlebt?

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Weshalb unser Gehirn »Schmetterlinge« produziert

Auch wenn die beiden den Eindruck haben, das Zentrum ihrerLiebe sitze im Herzen, so ist es in Wahrheit doch ausschließlich ihrGehirn, das für das Herzklopfen und die »Schmetterlinge imBauch« verantwortlich ist. »Nicht mit dem Herzen, sondern mitdem Gehirn denken wir«, so hatte es der griechische Arzt Hippo-krates, der auf der Insel Kos lebte, bereits um 400 v. Chr. formuliert,womit er seiner Zeit allerdings hoffnungslos voraus war. Denn ob-wohl das Organ, dem die antiken Griechen den Namen »en kepha-le« (»im Kopf gelegen«) gegeben hatten, die Menschen von jeherfaszinierte, war es ein langer Weg, bis man verstand, dass allein dasGehirn der Entstehungsort unserer Gedanken, Gefühle, Empfin-dungen und letztendlich auch des Bewusstseins ist.

Die Frage nach der Quelle und dem Ort des Bewusstseins dürfteunsere Ahnen indessen bereits in grauer Vorzeit beschäftigt haben.So wurde von den Menschen des Altertums der Kopf als Behausungböser Geister betrachtet. Wie wir heute von Knochenfunden wissen,wurden Menschen dieser Epoche gelegentlich Löcher in den Kopfgeschabt – offensichtlich um Krankheiten wie »Besessenheit« mitmehr oder weniger fragwürdigem Erfolg zu kurieren.

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Abb. 1: Hippokrates

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Griechische Anatomen wie Anaxagoras suchten nach dem Sitzdes Geistes im menschlichen Körper und glaubten, dass die Hohl-räume im Gehirn jene Flüssigkeiten enthielten, welche den Hauchdes Geistes darstellten. Der Grieche Alkmäon von Kroton stellte be-reits um 500 vor Christus im Rahmen eigens durchgeführter Sek-tionen an Tieren fest, dass sich von den Sinnesorganen Nervenbah-nen zum Gehirn ziehen. Er nahm daraufhin an, dass im Gehirn dasZentrum für die Sinneswahrnehmung und auch für das Denken lie-ge. Allerdings hielt er das Gehirn für eine Drüse, die Gedanken ab-sondere wie eine Tränendrüse Tränen.

Lange davor war indessen bereits den Ägyptern bewusst, dass dasGehirn mit den Denkprozessen eines Menschen in Verbindung ge-bracht werden musste. Herophilos (335 v. Chr) und Erasistratos (300v. Chr) brachen erstmals das Tabu, Leichen zu sezieren, und fanden,dass ein Mensch dem bestimmte Nervenbahnen durchtrennt wur-den, nicht mehr sehen konnte. Sie entwickelten daher die Vorstel-

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Leonardo da Vinci:Künstler und ForscherAls Leonardo da Vinci im Jahre 1452

das Licht der Welt erblickte, war Italiengerade im Begriff, das Mittelalter in ra-schen Schritten zu verlassen. Italien undinsbesondere Florenz standen im Mittel-punkt des während der Renaissance neuerwachten geistigen Lebens. Diese histo-rische Entwicklung, die ihre Anfänge inden gelehrten Kreisen der humanisti-schen Schriftsteller hatte, stand in deutli-chem Zusammenhang mit den Fort-schritten der Wissenschaft, mit den Ver-änderungen im kirchlichen Bereich undmit dem Entstehen wirtschaftlicherStrukturen.

Leonardo da Vinci war der Sohn einesangesehenen Notars. Schon früh erkann-te der Vater die außergewöhnliche Bega-bung seines Sohnes und förderte ihn mitallen zur Verfügung stehenden Mitteln.Auf diese Weise kam der junge Leonardoim Alter von 15 Jahren in die Werkstattdes Florentiner Meisters Verrocchio undhatte sich im Jahre 1472 – gerade zwan-

zigjährig – in der Malerzunft der Stadtbereits einen Namen gemacht.

Etwa ab 1500 widmete sich Leonardoda Vinci hauptsächlich technischen undnaturkundlichen Studien. In unzähligensehr präzisen Zeichnungen von Mus-keln, Knochen und Gehirnen versuchteer, dem Gesetz des Lebens auf die Spurzu kommen und es in einer alle Naturer-scheinungen umfassenden Kosmologiezusammenzufassen.

Abb. 2: Leonardo da Vinci

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lung eines zusammenhängenden Systems, von welchem das Gehirndas Zentrum bildete. Das Gehirn war für sie der Sitz der Seele unddie Kommandozentrale für sämtliche Denkprozesse.

Der römische Arzt Claudius Galenus konnte wiederum zahlrei-che Erfahrungen an verletzten Gladiatoren sammeln. Auf dieseWeise verhalf er der bereits von den Ägyptern entwickelten und heu-te allgemein akzeptierten Vorstellung zum Durchbruch, dass dasGehirn das Zentrum menschlichen Denkens und des Gedächtnis-ses ist. Ganz anderer Auffassung war hingegen Aristoteles. Er ver-trat im Gegensatz zu Hippokrates die durchaus nachvollziehbareMeinung, dass der Mensch mit dem Herzen denkt.

Letztendlich obsiegte aber das Kammernmodell von Anaxagoras,welches im Laufe der Jahrhunderte immer weiter verfeinert wurde.Mittelalterliche Philosophen schufen daraus ein sehr anschaulichesModell, bei dem die erste Kammer des Gehirns zur Wahrnehmungund Einsicht diente. Die zweite Kammer sollte dem Modell zufolgefür Erkenntnis und Urteil und die dritte Kammer für die Speiche-rung der Ergebnisse der vorigen Kammern zuständig sein.

Erst um 1490 entwarf das »Allround-Genie« der Renaissance, Le-onardo da Vinci, eine vorläufige »Landkarte« des Geistes, auf der ineiner Art Dreiteilung unterschiedlichen Bereichen des Gehirns ver-schiedene geistige Funktionen zugeordnet wurden.

Selbst wenn heute Leonardo da Vincis Skizzen des Gehirns für dieWissenschaftler nur noch von historischem Interesse sind und einsehr viel differenzierteres Abbild des Gehirns und seiner Funktio-nen zum Stand der Forschung gehört, hat unser intimstes Organviele seiner Geheimnisse noch nicht preisgegeben. Vielmehr mussdas Gehirn auch heute noch in weiten Bereichen als ein weißer Fleckauf der Landkarte der wissenschaftlichen Erkenntnisse bezeichnetwerden.

Eine weitaus technischer geprägte Vorstellung hatte der französi-sche Philosoph René Descartes (1596–1650), der das Gehirn mit ei-ner Art Maschine verglich. Er stellte sich vor, dass eine in den Win-dungen des Gehirns enthaltene Substanz, die er als »Pneuma« be-zeichnete, durch die von den Sinnesorganen ausgehende Erregungunter Druck gesetzt und von der Epiphyse (Zirbeldrüse des Gehirns)in die mit Röhrchen vergleichbaren Nerven umgeleitet würde. Aufdiese Weise sollte das Pneuma zur Muskulatur gelangen und diesezu gezielten Bewegungen veranlassen.

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Franz Josef Gall (1758–1828) stiftete wiederum unter seinen Zeit-genossen mit der Behauptung Unruhe, dass bestimmte Leistungendes Gehirns an den Schädelwölbungen ertastbar seien. Doch erstPaul Broca (1824–1880) und Carl Wernicke (1848–1905) liefertenden wissenschaftlichen Beweis dafür, dass allen Hirnfunktionen ab-grenzbare Regionen zuzuordnen sind. Zu diesem Zweck hatten dieForscher eine Reihe von Patienten mit Sprachstörungen untersucht.Cecile und Oskar Vogt sowie Korbinian Brodmann zogen zwischen1900 und 1920 aus diesem Lokalisationskonzept die Konsequenzund fertigten die ersten detaillierten »architektonischen« Karten derHirnrinde an.

Die Kartierung des Gehirns kommt der Entschlüsselungdes Genoms gleich

Während man also früher glaubte, dass komplexe Vorgänge wiedas Lernen oder die Erinnerung in einem einzigen Gebiet des Ge-hirns lokalisiert seien, geht die heutige Forschung davon aus, dassan jeder Leistung des Gehirns diverse räumlich voneinander ent-fernte, aber über Nervenfasern verknüpfte Zellgruppen beteiligtsind. Wissenschaftler am Institut für Medizin im Forschungszen-trum Jülich widmen sich unter der Leitung von Prof. Karl Zilles derAufgabe, derartige Knotenpunkte und Vernetzungen zu lokalisie-ren. Das angestrebte Ziel – eine lückenlose Kartierung aller Gehirn-funktionen – ist indessen äußerst ehrgeizig und dürfte der vollstän-digen Entschlüsselung des menschlichen Genoms durchaus eben-bürtig sein. Die aus der Forschung resultierenden Ergebnissewerden, so viel zeichnet sich heute bereits ab, wieder eine Vielzahlvon neuen Fragen aufwerfen, die noch zahlreiche Wissenschaftler-Generationen beschäftigen werden.

Unstrittig ist heute bereits, dass das Gehirn unsere Kommando-zentrale ist, die über sämtliche Körperfunktionen regiert. Dies giltnicht nur für unsere einfachen Verhaltensweisen wie Essen, Schla-fen, Trinken und die Wärmeregulierung, sondern schließt auch diehöher entwickelten Fähigkeiten des menschlichen Geistes wie seineBegabung für Kultur, Musik, Kunst, Wissenschaft und Sprache mitein. Aber erst vor kurzem erhielten die Forscher Einblicke in die mo-lekularen Vorgänge im Gehirn und entschlüsselten die ersten Bau-

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steine und Prozesse einer bis dato unbekannten Chemie, die überunsere sämtlichen Denkprozesse – bewusst oder unbewusst – wachtund damit auch unsere gesamte Gefühlswelt bis hin zur Liebe steu-ert. Als Bianca und Michael auf dem Flughafen aufeinander zulie-fen, sich in die Arme nahmen und liebkosten, setzte dies zugleicheine ganze Kaskade chemischer Reaktionen in ihren Gehirnen frei.

Bianca und Michael haben ihr eigenes Universum im Kopf

Dennoch darf man sich das Gehirn unseres Paares nicht als eineneinfachen Chemiereaktor vorstellen. Denn es wäre arbeitslos, wennes mit dem menschlichen Körper nicht durch ein unvorstellbaresNetzwerk von Befehlsleitungen verkabelt wäre. Ein Geflecht ausrund 380 000 km Nervenfasern, das aneinander gereiht die Entfer-nung von der Erde bis zum Mond überbrücken würde, sorgt für deneinwandfreien Informationsfluss zwischen der Kommandozentraleund allen Bereichen des menschlichen Körpers.

So unglaublich es klingt: Die Hardware dieser Kommandozentra-le im Kopf besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen – das ent-spricht der Anzahl der Sterne in unserer Milchstraße. Wollten wirdie Anzahl der theoretisch möglichen Verbindungen zwischen die-sen Zellen berechnen, wäre das Ergebnis ganz und gar unvorstell-bar, denn es gibt mehr mögliche Verbindungen zwischen all diesenZellen als Atome im gesamten Universum!

Der Wissenschaftler Prof. Dr. Werner Stangl vom Institut für Pä-dagogik und Psychologie der Johannes-Kepler-Universität Linz setztnoch eins drauf und veranschaulicht diese unvorstellbar hohe Zahlwie folgt: »Wenn das Gehirn mindestens 15 Milliarden Gehirnzellenenthält, so können durch die verschiedenen Verbindungsmöglich-keiten insgesamt 210 Milliarden Informationen gespeichert werden.Wenn wir diese Zahl niederschreiben wollten und jede Sekunde ei-ne Null notierten, bräuchten wir hierfür sage und schreibe 90 Jah-re.«

Diese einzigartige Architektur gestattet es dem Gehirn, die aufge-nommenen Informationen nicht einfach nur abzubilden. Vielmehrist es im Gegensatz zu einem Fotoapparat oder einem Tonbandge-rät in einer geradezu genialen Weise in der Lage, eine Datenreduk-tion vorzunehmen. Mit anderen Worten: Das Gehirn separiert über-

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flüssigen Datenmüll, indem es die von außen empfangenen Signa-le in Bruchteilen einer Sekunde interpretiert und zu einer persön-lichen Welt zusammenfasst. Als Michael am Flughafen auf Biancawartete, hat sein Gehirn, so unglaublich es klingt, etwa eine MillionMale mehr Informationen empfangen, als es bewusst verarbeitethat.

Um diesen einmaligen Vorgang verstehen zu können, der vonkeinem Computer auch nur annähernd erreicht wird, wollen wirzunächst das menschliche Gehirn ein wenig näher unter die Lupenehmen. Es bringt im Falle von Bianca statistisch gesehen etwa 1245Gramm, bei Michael 1375 Gramm auf die Waage.

Den größten Raumanteil nimmt das Großhirn ein, das etwa dieGröße einer Grapefruit besitzt. Es ist in zwei unterschiedliche He-misphären unterteilt, die für die Funktionen der jeweils gegenüber-liegenden Körperhälfte zuständig sind. Bedeckt sind die beiden Ge-hirnhälften von der vielfach gefalteten Großhirnrinde (Cortex cere-bri). Der Cortex versetzt uns in die Lage, zu organisieren, uns zuerinnern und zu verstehen, zu kommunizieren und kreativ zu sein,etwas zu erfinden und wertzuschätzen. Der komplizierteste und be-merkenswerteste Teil des Gehirns ist indes der nur erbsengroße Hy-pothalamus, quasi das »Gehirn« des Gehirns. Von hier aus werdenGrundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, aber auch Körper-temperatur, Pulsfrequenz, die Hormone und die Sexualität gesteu-ert. Durch eine Kombination aus elektrischen und chemischen Bot-schaften steuert der Hypothalamus auch die Hypophyse. Sie ist die

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Das alternde Gehirn büßt nur wenigeZellen ein Nach Angaben von Prof. Dr. Werner

Stangl verliert der Mensch pro Tag zwi-schen 1000 und 10 000 Gehirnzellen.»Selbst wenn wir annehmen, dass einMensch von ursprünglich 15 MilliardenGehirnzellen täglich 10 000 Zellen ver-liert, müsste er rund 410 Jahre alt wer-den, um nur zehn Prozent des Gehirnszu verlieren«, kalkuliert der Wissen-schaftler. Diese Rechnung mache deut-lich, dass die Kapazität des Gehirns nichtdaran schuld sein könne, wenn die Ge-dächtnisleistung im Alter abnehme. Die

Ursache für einen Abbau liege gewöhn-lich im mangelnden Training. Wenn einMensch durch die Umwelt und das Ar-beitsleben nicht mehr gefordert werde,wenn er nicht mehr lernen müsse unddie intellektuellen Anforderungen sinken,dann müsse er selber etwas tun und seinGehirn trainieren. Nur durch geistige Ak-tivität werde sichergestellt, dass neueGehirnmuster und Strukturen gebildetwerden. Auf diese Weise werde die Denk-und Gedächtnisleistung nicht nur behal-ten, vielmehr könne sie selbst im Alterdurchaus noch gesteigert werden.

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wichtigste Drüse unserer Schaltzentrale und reguliert unseren Kör-per mit Hilfe von Hormonen, komplexen chemischen Botenstoffen,die durch das Blut zu bestimmten Zielzellen transportiert werden.

Unser Gehirn auf einen BlickGrob betrachtet kann das menschliche

Gehirn in fünf Bereiche unterteilt wer-den: Hirnstamm, Kleinhirn, limbischesSystem, Großhirn und die Cortex-Lap-pen.

Der HirnstammDies ist der älteste Teil des Gehirns.

Er entwickelte sich vor mehr als fünfhun-dert Millionen Jahren. Da er dem voll-ständigen Gehirn eines Reptils ähnelt,wird er auch als Reptiliengehirn bezeich-net. Schon unsere tierischen Vorfahrenbesaßen dieses Gehirn; deshalb ist esauch für alle Grundfunktionen des Le-bens zuständig: Bewegung, Jagen, Pfle-gen, Revierabsteckung, Riten, Paarungs-drang, Gewohnheit. Das Reptiliengehirnsteuert auch lebenswichtige Funktionenwie die Atmung oder die Pulsfrequenz.Da es uralte Gewohnheiten und Verhal-tensweisen nahezu unabänderlich ge-speichert hat, ist es nur sehr begrenztlernfähig und vermittelt uns statt dessendas Gefühl der Routine und Sicherheit.Emotionen kennt das Reptiliengehirn da-gegen nicht. Der Schweizer Psychoanaly-tiker Carl Gustav Jung (1875–1961) vertratdaher die Auffassung, dass bestimmteArchetypen, das sind Verhaltensmusteraus der Urzeit der Menschheit, im Repti-liengehirn verankert sind.

Das KleinhirnDieses befindet sich an der Rückseite

des Hirnstamms. Seine Größe hat sichim Laufe der Evolution innerhalb derletzten Million Jahre etwa verdreifacht.Es besteht ebenfalls aus zwei Hemisphä-ren und liegt im hinteren Teil des Schä-dels unter dem Großhirn. Das Kleinhirnist vor allem für den richtigen Ablauf derKörperbewegungen verantwortlich undermöglicht die Orientierung im Raum. Esdient auch als Speicher für Erinnerungen

und einfache erlernte Funktionen; die Fä-higkeit, neue Bewegungen zu erlernenund später automatisch abzurufen, liegtebenfalls hier. Das Kleinhirn speichertsämtliche erlernten Bewegungsabläufevom Werfen eines Balles bis hin zumKlavierspielen.

Wenn wir gehen, laufen oder greifen,passiert scheinbar alles automatisch. Da-bei ist jede Bewegung mit einem außer-ordentlichen Aufwand verbunden. Erstbeim Eintauchen in eine völlig neue Um-gebung erkennen wir, wie viel das Gehirnleistet. In der Welt der Schwerelosigkeitetwa müssen Astronauten selbst einfa-che Bewegungen neu erlernen.

Das limbische System, auch SäugerhirngenanntEntwicklungsgeschichtlich etwas jün-

ger ist das limbische System. Dieser beiden Säugern am höchsten entwickelteBereich kann auf eine zwei- bis dreihun-dert Millionen Jahre alte Entwicklungs-geschichte zurückblicken. Er ist an derSteuerung von Körpertemperatur, Blut-druck, Pulsfrequenz und Blutzuckerspie-gel beteiligt und hat darüber hinaus we-sentlichen Anteil an lebenswichtigen Ge-fühlsreaktionen. Mit anderen Worten:Lachen und Weinen, Spieltrieb und Sexu-alität, Euphorie und Depressionen sindhier verankert. Alle Informationen, die imLangzeitgedächtnis gespeichert werdensollen, passieren zuerst einmal diesenTeil des Gehirns. Rationale Kognitionund Gefühle treffen hier aufeinander.

Schlüsselelemente dieses Bereichssind der Hypothalamus und die Hypo-physe. Obwohl er nur erbsengroß ist,steuert der Hypothalamus wichtigeFunktionen wie Essen, Trinken, Schlafen,Wachen, Körpertemperatur und viele an-dere Funktionen. Dieser Regelmecha-nismus basiert auf einer Vielzahl von

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elektrischen und chemischen Botschaf-ten, mit denen der Hypothalamus dieHypophyse steuert.

Das GroßhirnDer größte Teil des menschlichen Ge-

hirns ist das Großhirn. Dieser Hauptteildes Endhirns macht etwa 85 Prozent dergesamten Hirnmasse aus und besitzt ei-ne hoch entwickelte äußere Schicht, dieGroßhirnrinde. In den Rindenfeldern desGroßhirns befinden sich etwa die für dieKörperbewegungen sowie für das Spre-chen, Sehen und Hören verantwortlichenZentren.

Unser Großhirn ist zudem Sitz vonBewusstsein, Willen, Intelligenz, Ge-dächtnis und Lernfähigkeit. Es bestehtaus zwei stark gefurchten Halbkugeln,den Hemisphären, die durch einen tiefenEinschnitt voneinander getrennt sind.Die linke Hemisphäre steuert die rechteKörperseite und die rechte die linke. Sowerden Nervenzellen im linken motori-schen Feld aktiviert, wenn die rechteHand berührt wird. Beide Gehirnhälftensind über einen dicken Nervenstrang,den so genannten Balken, miteinanderverbunden, tauschen also ständig Infor-mationen aus. Die verschiedenen Aufga-ben, die der Mensch zu lösen hat, sindungleich auf die Hemisphären verteilt.Zeitgefühl und Sprachvermögen bei-spielsweise sitzen vorwiegend links,Musikalität und Rhythmusgefühl dage-gen rechts. Auch die Verarbeitung vonInformationen ist verschieden: Links ver-läuft sie überwiegend seriell, also in zeit-licher Folge, rechts parallel, also gleich-zeitig. Ein Schaden in einer Gehirnhälfteführt zum Ausfall aller sensorischen und

motorischen Funktionen auf der gegen-überliegenden Körperseite. Dies ist oftnach einem Schlaganfall zu beobachten.

Bei den meisten Menschen ist die lin-ke Gehirnhälfte dominant. Daher gibt eserheblich mehr Rechts- als Linkshänder,wobei aller Wahrscheinlichkeit nach aberauch kulturelle Aspekte eine Rolle spie-len (vgl. Güntürkün, Literatur im An-hang).

Die Cortex-LappenIn beiden Gehirnhälften ist der Cortex

in vier Bereiche unterteilt, die so genann-ten Lappen. Von diesen ist der Stirnlap-pen in erster Linie für Planen, Entschei-den und zielgerichtetes Verhalten not-wendig. Der Scheitellappen repräsentiertden Körper: Er empfängt die Sinnesinfor-mationen. Ein Teil des Hinterhauptlap-pens ist für den Gesichtssinn verantwort-lich und wird deshalb als Sehrinde be-zeichnet. Dem Schläfenlappen scheinenmehrere wichtige Funktionen zuzufallen.Dazu zählen unter anderem das Hören,das Empfindungsbewusstsein und dasGedächtnis. Die Hirnrinde ist der Sitzder Sinneswahrnehmungen, deren Ver-bindungsstelle zum Bewegungsapparatund den intellektuellen Leistungen. Fürden Menschen bedeutet sie das wichtigs-te Überlebensorgan, da sie so entschei-dende Fähigkeiten wie Erkennen, Den-ken, Kombinieren, Erinnern ermöglicht –Voraussetzungen für das, was wir Ler-nen nennen. Hier spielt sich ein hoch-kompliziertes Wechselspiel von herein-kommenden Informationen, ihrer Verar-beitung und Stapelung sowie derBefehlsübermittlung an die Bewegungs-organe ab.

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Vor dem Handeln bitte das Gehirn einschalten – Befehl verweigert, sagt das Rückenmark 11

Abb. 3: Verschiedene Bereiche des Gehirns

Vor dem Handeln bitte das Gehirn einschalten –Befehl verweigert, sagt das Rückenmark

»Das ging aber durch Mark und Bein!« Diese Redensart ist we-sentlich vielschichtiger, als es zunächst erscheinen mag – vorausge-setzt, dass mit »Mark« auch tatsächlich das »Rückenmark« gemeintwar. Denn zusammen mit unserem Gehirn repräsentiert dasRückenmark das zentrale Nervensystem, kurz ZNS. Dabei hat dasRückenmark die Funktion eines Kommunikationskabels. Mit seiner

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Hilfe ist es möglich, Nachrichten des Gehirns mit sehr hoher Ge-schwindigkeit an den Körper zu übermitteln. Zugleich regelt es aberauch selbstständig eine Reihe von Reflexen.

Dabei werden sicher manche Leser sogleich an den berühmtenKniesehnenreflex erinnert, den der Neurologe mit einem Schlag aufdie Sehne unterhalb des Knies auslösen kann. Der Schlag verursachteine kurze Muskeldehnung des Streckermuskels, die reflektorischzu dessen Kontraktion führt. Manch einer, der den leichten Ham-merschlag des Arztes bereits verspürt hat, wird sich fragen, wozudieser Reflex eigentlich nützlich ist. Nun – Mutter Natur hat sichdurchaus etwas dabei gedacht, denn ohne diesen Reflex würden wirbei aufrechter Haltung in den Kniegelenken dauernd einknicken.Für den Arzt oder Neurologen ist die Untersuchung des Knieseh-nenreflexes wiederum von diagnostischer Bedeutung, da sein Feh-len auf eine ernsthafte Erkrankung des ZNS hindeuten kann.

»Vor dem Handeln bitte das Gehirn einschalten!« Zumindest fürReflexe gilt diese saloppe Redensart nicht. Vielmehr sind Reflexequasi Sofortmaßnahmen, die vom Rückenmark unter sprichwört-licher Umgehung des Gehirns unmittelbar in Handlungsweisenumgemünzt werden. Ein Beispiel liefert die Reaktion, wenn wir ver-sehentlich eine heiße Herdplatte berühren und die Hand automa-tisch blitzschnell zurückzuckt, während sich Schmerz und Einsichterst später melden. Dieser Rückziehreflex verläuft völlig unbewusst:Mit Hilfe von Rezeptoren in der Hand, Schaltneuronen im Rücken-mark und motorischen Nervenzellen, die zum Oberarmbeuger füh-ren, wurde das Schlimmste verhindert.

Im Schnittbild offenbart sich das Rückenmark als eine etwa fin-gerdicke rundliche Scheibe. In seinem Inneren befindet sich die sogenannte graue Substanz, die entfernt an einen Schmetterling er-innert. Sie ist aus eng aneinander liegenden Nervenzellkörpern auf-gebaut, und ihre äußere Hülle besteht aus einem »Mantel« von Ner-venzellfasern, der so genannten weißen Substanz.

Je nach Körpergröße eines Menschen kann das Rückenmark biszu etwa 45 Zentimeter lang sein, es bringt aber durchschnittlich nur25 Gramm auf die Waage. Das Rückenmark beginnt am verlänger-ten Mark des Gehirns und verläuft im Wirbelkanal bis zur Höhe deszweiten Lendenwirbels. Dabei verlassen in regelmäßigen AbständenNervenwurzelpaare rechts und links das Mark. Die hintere Nerven-wurzel wird auch als sensibles Neuron bezeichnet. Sie leitet Impul-

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se aus dem Körper zur grauen Substanz des Rückenmarks. Die vor-dere Nervenwurzel, das motorische Neuron, leitet dann aus demMark Impulse an die Muskeln des Körpers. Wenige Millimeternachdem die Nervenwurzeln das Rückenmark verlassen haben, ver-einigen sie sich zu den sogenannten Spinalnerven. Diese treten überdas Zwischenwirbelloch aus dem Wirbelkanal in den Körper hinaus.

Im Hals- und Lendenwirbelbereich ist das Rückenmark wiede-rum stark verdickt. An diesen Stellen treten sehr viele Nervenfasernzur Versorgung der Arme und der Beine aus. Obwohl das Rücken-mark in Höhe des zweiten Lendenwirbels aufhört, ziehen die Ner-venfasern aus den unteren Bereichen des Rückenmarks im Wirbel-kanal weiter nach unten. Sie sind zu einem dicken Faserbündel ver-einigt, aus dem nach und nach einzelne Nervenfasern über dieZwischenwirbellöcher austreten. Das dicke Faserbündel erinnert imAussehen an einen Pferdeschweif und hat deshalb die lateinischeBezeichnung »Cauda equina« erhalten.

Michaels Hirn – ein Supercomputer, von dem die Elektronikindustrie nur träumen kann

Was geschah in Michaels Kopf, als er auf dem Flughafen auf Bi-anca wartete? Hunderte von Menschen, Restaurant, Check-in-Schal-ter, Anzeigetafeln, Lautsprecherdurchsagen – schlicht die gesamteDynamik des Flughafenbetriebs – sorgten zunächst für eine wahreInformationslawine, die von seinen Augen aufgenommen wurdeund zunächst über die Pupillen auf lichtempfindliche Nervenzellengelangte, wo sie in elektrische Impulse verwandelt wurde. Von dortaus trafen die Informationen in der Sehrinde ein, wo eine einge-hende und differenzierte Analyse stattfand. Noch während dieserAuslese rekonstruierte Michaels Sehrinde aus den elektrischen Im-pulsen wieder konkrete Informationen, die von dort aus in denSchläfenlappen übermittelt wurden, wo erstmals sein Gedächtniseingeschaltet wurde.

Doch damit war die scheinbare Odyssee des Informationsflussesnoch nicht beendet. Denn vom Schläfenlappen ausgehend gelang-ten die Informationen immer weiter in die Tiefen von Michaels Ge-hirn, zunächst zu den Strukturen des Vorderhirns. Dort fand eineweitere Filterung der Daten statt, bis die selektierte und bewertete

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Information schließlich für die Weiterleitung an die gesamte Groß-hirnrinde freigegeben wurde. Erst durch dieses ständige Hin undHer Tausender von Detailinformationen in den »Schaltkreisen« vonMichaels Gehirn wurde er in die Lage versetzt, aus dem Überange-bot an Informationen seine eigene Welt quasi herauszukristallisie-ren und Bianca in der Menschenmenge zu orten. Parallel hierzu er-möglichte ihm der motorische Cortex seiner Großhirnrinde, die un-verkennbaren Zeichen des Wiedererkennens (unter anderem dieFreude in seinem Gesicht) sichtbar werden zu lassen.

Ist unser Gehirn ein natürlicher Parallelrechner?

Das Gehirn ist also im Prinzip ein gigantisches Kabelnetzwerkvon mehreren 100 000 Kilometern Länge. Wie in einem Stromka-bel fließt auch entlang der Nervenbahnen Strom. Wird eine Ner-venzelle durch einen ankommenden Reiz stimuliert, dann verändertsie innerhalb kürzester Zeit ihren Zustand: Entweder sie wird erregtoder sie wird gehemmt. Wenn eine Zelle erregt wird, dann werdenin einer Art Kettenreaktion über Botenstoffe auch die nächsten undübernächsten Nervenzellen angeregt.

Prof. Dr. Ernst Pöppel vom Institut für Medizinische Psychologiean der Universität München vermutet, dass mit jeder Nervenzellemindestens 10 000 andere Nervenzellen ständig in Kontakt stehen.Diese Kontaktaufnahme bedeutet wiederum, dass 10 000 Nerven-zellen von einer Nervenzelle beeinflusst werden (Prinzip der Diver-genz) und dass andererseits jede Nervenzelle von 10 000 Nerven-zellen beeinflusst wird (Prinzip der Konvergenz). Diese Kontaktauf-nahme, so Pöppel, könne erregend (Prinzip der Exzitation) oderhemmend (Prinzip der Inhibition) sein. Für Erregung und Hem-mung sind unterschiedliche chemische Botenstoffe, sogenannteTransmitter, verantwortlich.

»Obwohl es sehr viele Nervenzellen im Gehirn gibt, sind seineVerarbeitungsmechanismen aber durch das »starke Gesetz der klei-nen Zahl« gekennzeichnet, das sich in funktioneller Nähe von Ner-venzellen äußert«, folgert Pöppel. Jede Nervenzelle sei nicht weiterals maximal vier Umschaltstationen von jeder anderen Nervenzelleim Gehirn entfernt. Diese strukturell bedingte funktionelle Nähe be-deute in der Sprache der Datenverarbeitung, dass das Gehirn durch

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»massivste Parallelität« ausgezeichnet ist: Alles ist mit allem offen-bar engstens verbunden.

Pöppel geht noch einen Schritt weiter und kommt zu dem weit-reichenden Ergebnis, dass »sich eine Simulation menschlichenDenkens in weiter Ferne befindet.« Das liege daran, dass das Gehirnprinzipiell völlig anders aufgebaut sei als jeder Computer und sichauch die Verarbeitungsprinzipien grundsätzlich von Algorithmenund deren Implementierung als Programme in Computern unter-schieden. Eine Simulation oder explizite Modellierung von mensch-lichem Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Entscheiden, Erinnern oderHandeln liefere daher bislang eher Stoff für Science-Fiction-Auto-ren, so Pöppel.

Allein aus der Architektur des Gehirns leitet der Wissenschaftlerdie Feststellung ab, dass ein Wahrnehmen ohne ein gleichzeitigesErinnern und gefühlsmäßiges Bewerten (oder umgekehrt ein Erin-nern ohne ein gefühlsmäßiges Bewerten und Wahrnehmen) oderein Gefühl ohne einen Erinnerungsbezug und eine wahrneh-mungsmäßige Repräsentation nicht möglich ist.

Erst in der retrospektiven Reflexion würden wir vermeintlich un-abhängige phänomenale Bereiche entdecken oder erfinden, indemwir Begriffe wie Wahrnehmung, Erinnerung oder Gefühl einsetzen.Im gegenwärtigen Vollzug des Erlebens und in der unmittelbarenHandlung gebe es diese Trennung nicht.

Ein weiterer Befund der modernen Neurowissenschaften verdientbesondere Aufmerksamkeit wegen seiner potenziellen Bedeutungfür andere Bereiche. So sind Neugeborene mit einem geradezu ver-schwenderischen Überangebot möglicher Verbindungen von Ner-venzellen ausgestattet. Dieses genetisch vorgegebene Potenzial wirdExperten wie Pöppel zufolge aber erst wirksam, wenn in den erstenLebensjahren die zahlreichen Verbände von Nervenzellen und ihregenetisch angebotenen Verknüpfungen auch tatsächlich genutztwerden. Erst durch Gebrauch der lokalen Informationsverarbeitungwird das Potenzial zu einer Ressource, die langfristig verhaltens-wirksam und lebensbestimmend wirkt.

Durch die funktionelle Betätigung der Verbindungen wird die de-taillierte Struktur des Gehirns überhaupt erst festgelegt. Was nichtgenutzt wird, das wird endgültig abgeschaltet. Das heißt, potenziel-le Verbindungen zwischen Nervenzellen bleiben nicht das ganze Le-ben lang erhalten. Einfaches Lernen – zum Beispiel das Erlernen von

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Fremdsprachen wie in der frühen Kindheit – ist später nicht mehrmöglich, da die Lernprozesse dann in bereits festgelegten Hirn-strukturen ablaufen. So besitzt das Kleinkind eine ausgeprägte Be-gabung für die korrekte Phonetik sowie für das Auswendiglernenvon Sprachmustern. Ab etwa dem zehnten Lebensjahr entwickelnsich die kognitiven Denkprozesse stärker, so dass das Erlernen einerFremdsprache zunehmend über logische Zusammenhänge (Gram-matik) erfolgt. Das Gehirn ist demnach kein passiver Filter, sondernkonstruiert jeweils seine eigene Welt. »Das Gehirn verfügt auchüber eine gestaltende Kraft«, untermauert Pöppel.

Ein Beleg hierfür sind die bekannten optischen Täuschungendurch doppeldeutige Figuren, bei denen man je nach Einstellungverschiedene Dinge sehen kann, etwa zwei Gesichter, die sich an-schauen, oder eine Vase. Man kann nie beides gleichzeitig sehen,aber willentlich zwischen den beiden Sehweisen hin und her pen-deln und sich so die gewünschte Alternative sichtbar machen.

Rechts? Links? Unser geteiltes Gehirn muss sich entscheiden

Wie bereits erwähnt, repräsentiert das Großhirn den entwick-lungsgeschichtlich jüngsten Teil des menschlichen Gehirns. Inzahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen konnte nachge-wiesen werden, dass es offensichtlich eine klare Arbeitsteilung zwi-schen den beiden Hälften gibt: Der linken Hemisphäre werdenFunktionen wie logisches Denken, Sprache und analytisches Den-ken zugeschrieben, der rechten Musikalität, Kreativität und räumli-

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Abb. 4: optische Täuschung

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ches Vorstellungsvermögen. Außerdem steuern beide Hälften je-weils die Bewegungen der anderen Körperseite.

»Aus dieser Funktionsteilung sind vielfach Forderungen nach ei-nem Lernen laut geworden, das eine stärkere Beteiligung der rech-ten Großhirnrindenhälfte beinhalten soll«, erläutert Prof. Stangl. Essei aber gezeigt worden, dass diese Forderungen kritisch zu be-trachten seien, da die Hemisphären zwar tatsächlich spezialisiert,aber die Funktionsbereiche keineswegs klar getrennt sind.

In der Tat übernimmt auch die rechte Hemisphäre, die zumBeispiel über ein umfangreiches Lexikon verfügt, Aufgaben beider Sprachbildung. Andererseits ist die linke Hälfte an der Verar-beitung von Musik beteiligt. Aus der Spezialisierung der Hemi-sphären eindeutige Schlussfolgerungen für das Lernen abzuleiten,ist daher ziemlich problematisch. Auch Untersuchungen zum Blut-durchfluss beim Empfang emotionaler Informationen bestätigendies.

Lange rätselten die Forscher, weshalb die rechte Seite für diemeisten Menschen die »Schokoladenseite« darstellt und die Natursich im Laufe der Evolution für eine derartige Bevorzugung ent-schieden hat, obwohl man eigentlich eine 50:50-Verteilung erwartensollte. Stangl zufolge zeigen bereits Ungeborene im Mutterleib einedeutliche Präferenz für die rechte Seite und auch bei Neugeborenensei diese Bevorzugung zu beobachten. Im Alter von drei bis sechsMonaten verschwinde der Effekt jedoch. Da sich die Rechtsvorliebendes Arms, des Fußes, des Auges und des Ohrs erst viel später im Le-ben ausprägten, sei es bisher unklar geblieben, ob sie eine Folge derTendenz seien, lieber zu einer bestimmten Seite zu schauen.

Beim Küssen dreht man den Kopf (vermutlich) nach rechts

Die meisten Menschen bevorzugen das rechte Auge, das rechteOhr, den rechten Fuß und die rechte Hand in einem Rechts:Links-Verhältnis von etwa 2:1. Auch Vögel bevorzugen das rechte Auge, sodass sie wie fast alle anderen Wirbeltiere schon als Embryo ihrenKopf am liebsten nach rechts drehen. Dadurch wird noch vor demSchlupf hauptsächlich das rechte Auge durch Licht stimuliert. Bo-chumer Forscher haben herausgefunden, dass dieser Effekt dasnoch junge Vogelgehirn asymmetrisch verändert und dass diese

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Asymmetrie weitere Rechts/Links-Unterschiede in der Wahrneh-mung und in kognitiven Prozessen bedingt.

Der Nachweis der Vorliebe von Erwachsenen für die rechte Seitesetzt voraus, dass man die Menschen in einer Situation beobachtet,in der sie sich spontan und ohne jeden Druck von außen entschei-den, den Kopf zu einer Seite zu drehen. Der Biopsychologe Prof. Dr.Dr. h.c. Onur Güntürkün von der Ruhr-Universität in Bochum woll-te es genauer wissen und begab sich im Dienste von Forschung undWissenschaft in die Rolle eines Voyeurs.

»Mir kam die Idee, Paare beim Küssen zu beobachten«, erläutertGüntürkün. Gesagt, getan: Zweieinhalb Jahre lang nutzte der Bo-chumer Wissenschaftler Wartezeiten an Flughäfen und Bahnhöfen,Aufenthalte am Strand und in Parks in Deutschland, den USA undder Türkei, um Daten für seine Studie zu sammeln. In dieser Zeitwertete er 124 Küsse von Paaren zwischen ca. 13 und 70 Jahren aus,wobei für jedes Paar nur ein Kuss und bei mehreren Küssen nur dererste zählte. Um sich für die Auswertung zu qualifizieren, mussteein Kuss vier Kriterien genügen:

• Es musste Lippenkontakt geben, • die Küssenden mussten sich gegenüberstehen,• keiner durfte etwas in der Hand halten (denn das könnte eine Sei-

tenvorliebe hervorrufen) und• es musste eine eindeutige Kopfbewegung zu beobachten sein.

Das Ergebnis zeigte, dass 80 der 124 Küsse mit nach rechts ge-drehten Köpfen stattfanden. Daraus schloss Güntürkün, dass der»Rechtsdrall« des Kopfes erhalten bleibt und somit auch die ande-

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Deutsche küssen gut, aber zu selten Wenn es ums Küssen geht, sind sich

Männer und Frauen offenbar einig: EinerMeldung der Nachrichtenagentur Associ-ated Press zufolge sind 65 Prozent derDeutschen der Meinung, sie würdenzu selten geküsst. Die Zahl basiert aufeiner aktuellen Umfrage des Meinungs-forschungsinstituts Gewis, das im Auf-trag der Hamburger Frauenzeitschrift»Laura« insgesamt 1026 Frauen und

Männer zwischen 20 und 45 Jahren be-fragte.

Wenn es dann aber doch geschieht,sind wiederum 68 Prozent der Deut-schen mit den Küssen des oder der Aus-erwählten sehr zufrieden. So finden 71Prozent der Frauen, dass ihr Partner gutküsst. Männer sind offenbar etwas an-spruchsvoller, denn von ihnen fühlensich nur 66 Prozent von ihrer Liebstenrichtig geküsst, meldet die Agentur.

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ren Asymmetrien der Wahrnehmung und der Handlung nach sichzieht.

»Unfälle« zwischen Rechts- und Links-Küssern hat der Professorder Universität Bochum bei seinen Studien nicht erlebt. »Ich nehmean, dass die beobachteten Paare sich nicht zum ersten Mal küsstenund sich schon aufeinander eingestellt hatten«, berichtet Güntür-kün. Ein Kuss auf die Lippen sei bei Paaren, die sich gegenüberste-hen, eben nur dann möglich, wenn beide den Kopf in die gleicheRichtung neigen.

Interessant bleibt die Frage, weshalb der Unterschied zwischenRechts- und Linkshändern mit einem Verhältnis von 8:1 wesentlichausgeprägter ist. Güntürkün vermutet, dass neben genetischenUnterschieden auch andere Ursachen für diese Ungleichheit ver-antwortlich sind. »Vermutlich sind diese kultureller Natur«, sagtGüntürkün. Immerhin »erziehe« man Kinder regelrecht zu Rechts-händern.

Beim Küssen dreht man den Kopf (vermutlich) nach rechts 19

Entscheidungen im Gehirn werdensichtbar: Jülicher Forscher zeigen,wie Gehirnhälften miteinanderkommunizierenWo im Gehirn wird kontrolliert, ob die

linke oder rechte Hirnhälfte eine Arbeiterledigen soll? Wo wird festgelegt, wel-che Hirnregionen eine Aufgabe lösen?

Zum ersten Mal konnte der Hirnfor-scher Prof. Dr. med. Gereon Fink vomForschungszentrum Jülich und der Neu-rologischen Klinik des Universitätsklini-kums Aachen jetzt diesen Entschei-dungsprozess beobachten.

In einem Beitrag für das Wissen-schaftsmagazin »Science« (Bd. 301, S.384, 2003) berichtet Fink gemeinsam mitKollegen des Forschungszentrums Jülichsowie der Universitäten Düsseldorf, Lon-don und Oxford: Eine Struktur im Stirn-hirn weist den Hirnhälften die Arbeit zu.Ihre Forschungsergebnisse, so hoffen dieWissenschaftler, werden Patienten hel-fen, bei denen beispielsweise durch ei-nen Schlaganfall eine Hirnhälfte geschä-digt ist.

Nicht der Augenschein zählt, sondernder Auftrag: Was in unserem Gehirn ge-

schieht, wenn wir einen Reiz verarbeiten,hängt vor allem davon ab, was wir mitdieser Information anfangen sollen. Sokann der Anblick desselben Wortes maldie rechte, mal die linke Hirnhälfte akti-vieren, je nachdem, ob es eine sprachli-che Aufgabe zu bewältigen gilt oder einProblem der räumlichen Wahrnehmung.Das menschliche Gehirn, das äußerlichaus zwei fast spiegelgleichen Hälften be-steht, ist asymmetrisch organisiert. DasSprachvermögen ist gemeinhin links zu-hause, räumliche Fähigkeiten dagegenrechts. Wie aber wird die Arbeit im Hirneingeteilt? Finks Arbeitsgruppe fand jetztheraus, wie beide Hirnhälften den Um-gang miteinander regeln.

Die Hirnforscher baten Versuchsper-sonen, kurze Hauptwörter zu betrachten,in denen ein Buchstabe rot gefärbt war.Nun erhielten die Teilnehmer unter-schiedliche Aufträge: Einmal sollten sieangeben, ob das jeweils gezeigte Wortden Buchstaben A enthielt – eine sprach-liche Aufgabe also. Ein andermal wurdendie Teilnehmer gefragt, ob der rote Buch-stabe rechts oder links der Wortmittestand – hier war die räumliche Wahrneh-

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mung gefordert. Währenddessen beo-bachteten die Wissenschaftler, welcheBereiche des Gehirns jeweils besondersaktiv waren. Dafür nutzten sie die funk-tionelle Magnetresonanz-Tomographie(fMRT). Dieses Verfahren misst, wie gutdas Hirngewebe mit Sauerstoff versorgtwird, und macht damit diejenigen Berei-che des Hirns sichtbar, die gerade inten-siv arbeiten. Wurde nach dem Buchsta-ben A gefragt, waren ausschließlich Area-le in der linken Hirnhälfte mit derLösung der Aufgabe beschäftigt, darun-ter auch die so genannte Broca-Region.Ihre Rolle bei der Sprachverarbeitung istseit langem bekannt. Galt es dagegen,die Position des roten Buchstabens rich-tig einzuordnen, löste dasselbe Wort nurin der rechten Hirnhälfte, speziell imScheitellappen, Aktivitäten aus.

Die Hirnforscher begnügten sich nichtdamit, diese Arbeitsteilung zu beobach-ten. Sie wollten vor allem wissen, wie dasGehirn die Arbeit der linken oder derrechten Hirnhälfte zuweist. Für dieseManagementaufgabe wird eine Kontroll-zentrale im Gehirn benötigt, die die For-scher ebenfalls mit Hilfe der funktionel-len Magnetresonanz-Tomographie auf-spürten. Es zeigte sich: Ein Bereich desStirnhirns, vorderer cingulärer Cortex(anterior cingular cortex, ACC) genannt,entscheidet darüber, ob die linke oderdie rechte Hirnhälfte aktiv wird. Dr. KlaasStephan vom Institut für Medizin desForschungszentrums Jülich führt aus:»Der linke Teil des ACC arbeitete immerintensiver mit der Sprachregion der lin-

ken Hirnhälfte zusammen, während dieEntscheidung zugunsten der Buchsta-benerkennung fiel. Im anderen Fall nahmder Einfluss des rechten ACC auf denScheitellappen der rechten Hirnhälftezu.«

Damit konnten die Forscher zum ers-ten Mal direkt verfolgen, wie die ver-schiedenen Regionen des Gehirns mit-einander kommunizieren, während sieein Problem beurteilen und die zuständi-gen »Sachbearbeiter« ermitteln. »Wir se-hen auf diese Weise, wie sich die ver-schiedenen beteiligten Hirnregionen mit-einander unterhalten und wie sich das‚Gespräch‘ verändert, wenn die Aufgabewechselt«, erläutert Gereon Fink.

Solche Erkenntnisse helfen auch zuverstehen, was im Gehirn von Menschenvorgeht, bei denen, etwa als Folge einesSchlaganfalls, diese Kontrollmechanis-men gestört sind. So können Schäden imrechten Scheitellappen dazu führen, dassPatienten eine Hälfte der Welt ignorie-ren. Sie sehen sie zwar, beachten sieaber nicht – Wissenschaftler sprechenvom »Neglect«.

Manche Patienten mit Schlaganfällenin der linken Hirnhälfte können dagegenSprache nicht mehr richtig verstehen –ein Krankheitsbild, das als »Aphasie« be-zeichnet wird. In beiden Fällen ist dieVerständigung zwischen verschiedenenHirnregionen beeinträchtigt. Die JülicherForscher können nun diese Probleme imManagement des Gehirns genauer nach-vollziehen – eine Voraussetzung dafür,künftig bessere Therapien zu entwickeln.

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Die Gedanken sind frei, doch Wissenschaftler können sie messen

Verliebte Paare wie Bianca und Michael ertappen sich gelegent-lich dabei, dass sie spontan den gleichen Gedanken haben. »Dunimmst mir das Wort aus dem Mund« ist eine häufig verwendeteRedensart, bei der sich das Pärchen in der Regel verwundert an-

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schaut. Mal ehrlich – ist Ihnen Vergleichbares nicht auch schon pas-siert?

Handelt es sich dabei um simple Zufälle aufgrund nahe liegenderGedankenabläufe? Oder sind geheimnisvolle »Psi-Phänomene« amWirken, die gelegentlich für eine flüchtige Gleichschaltung der Ge-danken sorgen? Die Autoren möchten an dieser Stelle nicht weiterdarüber spekulieren. Das Risiko, dieses Buch beim Händler unterder Rubrik »Esoterik« wiederzufinden, wäre uns doch zu groß!

Vielmehr möchten wir der brennenden Frage nachgehen, ob undinwieweit sich Prozesse im Gehirn mit den Methoden der modernenWissenschaft nachweisen und messen lassen. Zuvor ist es jedoch er-forderlich, in Anlehnung an die bisherigen Ausführungen einen er-weiterten Blick auf die neuronale Architektur des Gehirns zu wer-fen.

Die Nervenzellen des Gehirns ähneln in vielerlei Hinsicht denanderen Zellen des menschlichen Körpers. Das heißt, jede Gehirn-zelle verfügt über einen Kern mit der DNA und einer Zellmembran,welche die ganze Zelle umschließt, sowie den auch als Mitochon-drien bezeichneten »Energiezentralen« der Zelle und anderen zel-lulären Substrukturen. Der wichtigste Unterschied der Nervenzel-len im Vergleich zu herkömmlichen Zellen besteht nun darin, dassErstere sich nach dem Abschluss der embryonalen Entwicklungnicht mehr teilen. Mit anderen Worten: Der bis zur Geburt entstan-dene Vorrat an Nervenzellen muss ein Leben lang reichen!

Der zweite wesentliche Unterschied basiert auf der Fähigkeit zurInformationsübertragung, die mittels langer Fasern, die aus demZellkörper herauswachsen, realisiert wird. Nur eine von diesen Fa-sern aber – das so genannte Axon (abgeleitet vom griechischen Wortfür »Achse«) – ist in der Lage, Informationen an andere Zellen zuübermitteln. Alle anderen Fasern, die vom Körper der Nervenzelleausgehen, sind Dendriten (von griech. »Baum«). Sie haben die Auf-gabe, Informationen von den Axonen anderer Nervenzellen ent-gegenzunehmen. Während das Axon einer Nervenzelle eine respek-table Länge von einem Meter erreichen kann, sind die Dendritensehr kurz und erreichen nur in seltenen Fällen eine Länge von ei-nem Millimeter.

Die von den Axonen ausgehenden Impulse werden infolge einerAusschüttung chemischer Substanzen über die Schaltstellen (Sy-napsen) an die Dendriten und von dort aus im Durchschnitt zu 1000

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(bis zu 6000) anderen Neuronen weitergeleitet. Diese Neuronensind untereinander zu lokalen Schaltkreisen in den einzelnen Re-gionen der Hirnrinde verknüpft und bilden damit die unterste Ebe-ne der neuronalen Architektur. Je nach der Aufgabe, die sie zu er-füllen haben, bilden sich gänzlich unterschiedliche Verknüpfungs-strukturen aus.

Ein Formel-1-Rennwagen in Michaels Gehirn

Welche Kraft löst nun die Impulse aus? Was passiert physikalisch-chemisch in den Gehirnzellen? Zur Beantwortung dieser Fragenwollen wir das Axon noch etwas genauer unter die Lupe nehmen.Wir können es uns vereinfacht als eine lange, dünne Röhre vorstel-len, die von der Membran der Nervenzelle umschlossen ist. Inner-halb der Membran befindet sich die innere Substanz des Axons,außerhalb der Membran die extrazelluläre Gewebsflüssigkeit.

»Innere Substanz und äußere Flüssigkeit verfügen nun über sehrunterschiedliche chemische Zusammensetzungen«, erläutert deramerikanische Humanbiologe Prof. Dr. Robert Ornstein und Präsi-dent des Institute for the Study of Human Knowledge im kaliforni-schen Los Altos. Die Substanz im Inneren enthalte in der Regel sehrviele Proteinmoleküle und sehr wenig Natrium. Die äußere Flüssig-keit sei im Gegensatz dazu arm an Proteinen, verfüge aber über ei-nen hohen Gehalt an Natrium. Als wichtigstes Ereignis beim Ner-venimpuls bezeichnet Ornstein die Bewegung von Natriumionendurch die Zellwand von außen nach innen. Dabei dringen die Ionendurch Kanäle ein, die man sich wie eingestülpte Röhren in der Zell-membran vorstellen muss. Diese Kanäle sind normalerweise ge-schlossen, doch wenn der Nervenimpuls entsteht, springen sie kurz-zeitig auf und lassen Natrium ein.

Die Geschwindigkeiten, mit denen elektrische Impulse im Ge-hirn weitergeleitet werden, sprengen das menschliche Vorstellungs-vermögen: So rasen die Impulse mit sage und schreibe der Höchst-geschwindigkeit eines Formel-1-Rennwagens – rund 350 Kilometerpro Stunde – von Zelle zu Zelle. Um dies zu realisieren, müsseninnerhalb einer tausendstel Sekunde viele tausend Ionen durch ei-nen Kanal schießen. Wenn Sie, verehrte Leserinnen und Leser, ge-rade eine Buchseite umgeschlagen haben, dann haben sich nur um

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diese einfache Bewegung der Armmuskeln auszuführen in IhremGehirn gerade rund zwei Milliarden Ionenkanäle geöffnet und wie-der geschlossen. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Michael Bi-anca beim Wiedersehen deutlich fester in seine Arme geschlossenhat, dürfte die Anzahl beteiligter Ionenkanäle noch viel höher gele-gen haben.

Die Zelle als Chemiereaktor

Rein technisch betrachtet muss man sich jede Zelle im Prinzipwie einen Reaktor vorstellen. Die »Wandfläche« dieses Reaktors be-steht aus der bereits erwähnten Membran, die das Zellinnere vonder Umgebung trennt. Auf diese Weise ist die Zelle in der Lage, ei-ne Vielzahl von Bedingungen für eine nicht minder große Vielzahlbiochemischer Reaktionen zu schaffen und für einen konstantenAblauf dieser Reaktionen zu sorgen.

Die Zellen sind jedoch etwas komplizierter aufgebaut, als es die-ses einfache Bild zunächst vermuten lässt, denn auch innerhalb derZelle gibt es von Membranen eingeschlossene Bereiche. Dieseübernehmen durchaus wichtige Rollen, unter anderem in der Ener-gieerzeugung, aber auch bei der Synthese oder dem Abbau vonMembranproteinen. Über diese Membranen finden Stofftransportund Signalübertragung statt – allesamt Aufgaben, die von speziali-sierten Proteinen, die in die Membran eingebaut sind, wahrgenom-men werden. Auch die bereits erwähnten Ionenkanäle sind nichtsanderes als spezialisierte Proteine, die für den spezifischen Trans-port von Ionen, wie beispielsweise Natrium- oder Chloridionen, zu-ständig sind.

Ionenkanäle werden häufig nach den lonenarten klassifiziert, diesie durchlassen, so dass man zum Beispiel Kalium-, Natrium- undChloridkanäle unterscheidet. Als wässrige Poren innerhalb derMembran erlauben sie einen passiven Transport durch Diffusion.Da die Transportraten der elektrisch geladenen Ionen recht hochsind, fließt auch ein beträchtlicher elektrischer Strom. Diese Strömesind die Grundlage für die elektrische Datenverarbeitung im Ner-vensystem und in den Muskeln. Wie hoch sie im Extremfall seinkönnen, zeigen Zitteraale und bestimmte Rochenarten, die mit ih-rem elektrischen Organ Fische betäuben können. Prof. Dr. Dr. Tho-

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mas Jentsch vom Zentrum für Molekulare Neurobiologie der Uni-versität Hamburg konnte in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zei-gen, dass diese Tiere in ihrem elektrischen Organ große Mengenvon Chloridionenkanälen enthalten.

Nicht minder wichtig ist natürlich auch der in den Ionenkanälenablaufende Stofftransport. So werden Ionenkonzentrationen in dendafür vorgesehenen Zellbereichen eingestellt; Ionentransportedurch die Membranen in Zellen von Körpergrenzflächen, den Epi-thelien, sind verantwortlich für den Salz- und Wassertransport zu le-benswichtigen Organen – angefangen vom Darm über Leber undNieren bis hin zum Gehirn.

Die erste Begegnung mit Bianca: Michaels Ionenkanäle »erinnern« sich

Auch beim Abspeichern von Erinnerungen spielen Ionenkanäleeine wichtige Rolle. Sie können sich nämlich durch einen Reiz blei-bend verändern und die Information fixieren. »Diese Erkenntnishaben Wissenschaftler aus Versuchen mit der gehäuselosen undfünf bis zehn Pfund schweren Meeresschnecke Aplysia gezogen, de-ren Zentralnervensystem aus nur rund zwanzigtausend Nervenzel-len besteht«, schreibt die Biologin Gaby Miketta in ihrem Buch»Netzwerk Mensch« (vgl. Lit. im Anhang). Treffe ein schmerzhafterReiz, wie etwa ein Wasserstrahl, den Kopf der Schnecke, ziehe dasTier sofort die Kiemen in die Mantelhöhle ein und schütze sich sovor der vermuteten Gefahr. Nach ungefähr zehn Berührungsreizenlasse sich dieser Reflex etwa eine Stunde lang nicht mehr auslösen.Fazit: Aplysia hat sich an den Reiz gewöhnt und diese Informationim Gedächtnis gespeichert.

Beim Menschen herrscht natürlich ein sehr viel komplexeres Zu-sammenspiel von Erinnerungsvermögen und den daran beteiligtenIonenkanälen. Inzwischen weiß man, dass offensichtlich eine ge-naue Abfolge von molekularen Veränderungen an Nervenzellen ab-laufen muss, damit wir uns an ein Ereignis, eine Melodie, einen Ge-ruch, einen Geschmack oder an eine zärtliche Berührung erinnernkönnen. Die einzigartige Fähigkeit des Gehirns versetzt uns erst indie Lage, »bewusst« zu leben, auf Erfahrungen basierende Hand-

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lungsweisen vorzunehmen und im Laufe des Lebens (hoffentlich)reifer zu werden.

Zugleich sind diese Erinnerungen aber auch mit Gefühlen be-setzt: Wenn sich beispielsweise Michael an seine erste Begegnungmit Bianca erinnert, werden wie in einer Art Zeitreise seine Gefüh-le von damals wieder lebendig. Eine bestimmte Melodie – völliggleichgültig, ob es sich um klassische Musik oder Popmusik handelt– kann wiederum als Eselsbrücke dienen und ebenfalls Erinnerun-gen und Gefühle auslösen.

Michael hat Bianca geortet: Die »Chemie des Augenblicks«

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Ionenkanäle für Zellendie »Tore zur Welt« darstellen: Von chemischen oder elektrischenSignalen gesteuert öffnen und schließen sich ihre Ventile wieSchleusentore, lassen äußere Reize auf Sinneszellen einwirken undstarten Kaskaden von Reaktionen. Das trifft auch für Michaels Au-gen zu, die Bianca sofort in der Menschenmenge geortet haben. Las-sen Sie uns daher im Folgenden die Chemie des Sehvorgangs einwenig näher unter die Lupe nehmen.

Wie jedes normal entwickelte menschliche Auge enthält auch Mi-chaels unterschiedliche Sehzellen: Drei Typen von Sehzapfen rea-gieren auf einen jeweils anderen Bereich des Lichtspektrums be-sonders empfindlich und ermöglichen auf diese Art und Weise dasFarbsehen. Allerdings ist dieser Vorgang nur für das Sehen bei aus-

Michael hat Bianca geortet: Die »Chemie des Augenblicks« 25

Abb. 5: Menschliches Auge

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reichender Beleuchtung – also am Tage – geeignet. In der Dämme-rung hingegen übernehmen die etwa 100-mal empfindlicheren Seh-stäbchen die Arbeit, die allerdings nur ein schwarz-weißes Bild lie-fern können. »Nachts sind alle Katzen grau«, heißt es im Volks-mund.

Im Dunkeln fließen positiv geladene Natriumionen durch Io-nenkanäle in die Sehzelle – das ist der so genannte Dunkelstrom. BeiBelichtung schließen sich diese Tore jedoch sofort wieder. Dadurchverändert sich die Verteilung der Ionen zwischen dem Inneren unddem Äußeren der Zelle, was wiederum an der Zellmembran einelektrisches Signal auslöst.

Prof. Benjamin Kaupp, Direktor des Instituts für Biologische In-formationsverarbeitung (IBI) im Forschungszentrum Jülich, be-schreibt die Funktion der Sehstäbchen wie folgt: »Diese sind soempfindlich, dass schon ein Lichtquant ausreicht, ihre Ionenkanälezu schließen. Dazu wird das Lichtsignal durch eine Kaskade bioche-mischer Reaktionen unter hohem Energieaufwand um mehr als dasZehntausendfache verstärkt. Licht bewirkt zunächst eine Umlage-rung im Sehfarbstoff Rhodopsin. Das veränderte Rhodopsin akti-viert viele »Transducin« genannte Moleküle, die wiederum ein En-zym – die Phosphodiesterase – veranlassen, einen spezifischen Bo-tenstoff, das cyclo-Guanosin-Monophosphat (cGMP) abzubauen.Sobald dieser Botenstoff nicht mehr in ausreichender Menge vor-handen ist, schließen sich die Natrium-Kanäle. Der Dunkelstromwird unterbrochen – die Zelle meldet Licht!«

Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat Kaupp nach einer Ant-wort auf die Frage gesucht, auf welche Weise die Natur bei gutenLichtverhältnissen eine Energieverschwendung in den Stäbchen ver-meidet. Dabei stießen sie auf Eiweißmoleküle, die den Baustein Glu-taminsäure in hoher Konzentration enthalten. Glutaminsäure ge-hört zwar nicht zu den essenziellen Aminosäuren, dennoch ist sieals Proteine bildende Aminosäure in der Natur weit verbreitet undspielt auch im Stoffwechsel eine wichtige Rolle.

Genau diese Eiweißmoleküle (glutamic acid rich proteins), derEinfachheit halber abgekürzt als »GARP«, scheinen bei der Chemiedes Sehvorgangs eine herausragende Rolle zu spielen. Wie Kauppnämlich herausfand, heftet sich das rätselhafte GARP-Molekül wieeine Klette an die Phosphodiesterase und hemmt somit deren Akti-

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vität. Darüber hinaus koppelt es an ein weiteres Enzym, das den Bo-tenstoff cGMP wieder aufbaut.

»Dadurch wird ein Kreislauf in Gang gesetzt«, erläutert Kaupp.Als »Türsteher« und »reitender Bote« pendele das GARP-Molekülzwischen der äußeren Zellmembran und den inneren Membransta-peln hin und her. Der Wissenschaftler geht davon aus, einen wich-tigen Einblick in eine bis dato unbekannte Chemie gewonnen zu ha-ben. Seine Hypothese: »Vermutlich hält GARP bei Tageslicht alleMitspieler in den Stäbchenzellen so lange in Schach, bis die Seh-stäbchen bei zunehmender Dämmerung benötigt werden. Ist esdunkel, dann fällt der Energie sparende Komplex wieder auseinan-der.«

Michael hat Bianca geortet: Die »Chemie des Augenblicks« 27

Ein Lügendetektor für Verliebte?Mit einer neuen und hochsensiblen

Methode zur Verarbeitung bioelektri-scher Signale erzielten zwei HamburgerWissenschaftler einen wichtigen Etap-pensieg. Die Ergebnisse wurden erst-mals im Frühjahr 2001 auf einer Fachta-gung des VDE in Dresden vorgestellt.

Das hätte sich Stanley Kubrick wohlniemals träumen lassen: Als am 3. April1968 in New York die Uraufführung sei-nes Science-Fiction-Opus »2001 – Odys-see im Weltraum« stattfand, konnte ernicht ahnen, dass Teile des aufwändig in-szenierten Filmspektakels ausgerechnetim Jahre 2001 einmal von der Realitäteingeholt werden könnten. Zu verdankenhat er dies zwei Hamburger Wissen-schaftlern, Dr. Dietmar Schröder undDipl. Ing. Bernhard Fuchs von der TUHamburg-Harburg. Diese interessierensich weniger für die Geheimnisse des Ju-piter als für das Innenleben des heim-lichen Hauptdarstellers des Films. Ver-körpert wurde dieser durch den genialenComputer »Hal«, der eine physische undgedankliche Verbindung zur Besatzungeines Raumschiffs auf dem Weg zum Ju-piter unterhielt.

Auch wenn Schröder und Fuchs biszur Drucklegung des vorliegenden Bu-ches noch nicht mit einem Prototypen

von »Hal« aufwarten können, haben siedennoch einen wichtigen Meilenstein aufdem Weg dorthin genommen. »Es istuns gelungen, in der Verarbeitung vonbioelektrischen Signalen wesentlicheFortschritte zu erzielen«, beschreibtSchröder den Kern der Innovation. Zwarsind so genannte Biocontroller, die anStelle von Maus, Joystick oder Tastaturvom Körper produzierte bioelektrischeSignale als Eingabe akzeptieren, seit kur-zem auf dem Markt; sie beschränkensich aber in der Regel mehr auf die rela-tiv einfache Erkennung von Augenbewe-gungen oder Muskelkontraktionen.

Das Harburger Duo hat indessen einneues und wesentlich sensibleres Schal-tungskonzept entwickelt. Durch einentechnischen Kunstgriff können nunmehrtypische bioelektrische Signale wie Ge-hirnwellen und Herzrhythmen wesentlicheffizienter und empfindlicher als je zuvorverarbeitet werden. Hinter der Erfindungverbirgt sich zugleich ein Meilenstein fürdie gesamte Telemedizin, deren »Fla-schenhals« bisher darin bestand, dassden äußerst limitierten Ressourcen desmobilen Teils der Messgeräte die geball-te Leistung und Rechenkapazität des sta-tionären Teils gegenüberstand. Als ersteAnwendungsmöglichkeit sehen die Har-burger daher Geräte zur Aufnahme und

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Übertragung bioelektrischer Signale wieetwa des Elektrokardiogramms in Formminiaturisierter tragbarer Einheiten.

»Das Verfahren eignet sich aber auchzur Verarbeitung einer Vielzahl weitererbioelektrischer Signale«, verdeutlichtSchröder. Dazu gehört zum Beispiel dieDetektion extrem schwacher Signale, wiesie im Zusammenhang mit Stoffwechsel-vorgängen im Körper auftreten. Auch Zu-stände wie »Verliebtsein« oder »Liebes-kummer« sollten sich an der Ausschüt-tung spezifischer Hormone detektierenlassen. Dennoch denken Schröder undFuchs nicht daran, landesweit Standes-ämter mit dem Gerät auszustatten, umHeiratswillige nach dem Vorbild einesLügendetektors vor der Erteilung des Ja-worts auf Herz und Nieren zu checkenoder gar die eheliche Treue unter die wis-senschaftliche Lupe zu nehmen.

Denn zum Glück kann das System –im Gegensatz zu »Hal« – Gedanken und

Gefühle noch nicht im Detail erkennen.Dennoch sind laut Fuchs und Schröderdie unmittelbaren Zukunftsaussichtenkaum weniger spektakulär. Denn mit Hil-fe mikroskopisch kleiner Sensoren, dieDaten über Körpertemperatur, Pulsfre-quenz, Blutdruck und andere charakteris-tische Werte erfassen, kann beispiels-weise der Gesundheitszustand eines Pa-tienten online kontrolliert werden. Es istsogar denkbar, dass bereits in naher Zu-kunft bestimmte Gruppen von Patientenin den eigenen vier Wänden überwachtund die gewonnenen Daten zunächst anden Hausarzt und von dort gegebenen-falls zur Ferndiagnose an spezialisierteZentren weitergegeben werden.

Aktualisierte Fassung eines in den VDI-Nachrichten erschienen Artikels vonR. Froböse (vgl. Literatur im Anhang).

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Michaels und Biancas Emotionen finden vorwiegend in dervorderen rechten Hirnhälfte statt

Nach Auffassung des österreichischen Psychologen Prof. Dr.Werner Stangl gibt es solche spezifischen Funktionssysteme fürsämtliche Sinnesorgane zur Auswertung von Empfindungen undfür Organe, deren Motorik vom Gehirn gesteuert werden kann. »Dasgilt auch für alle lebenswichtigen Funktionen, die unbewusst ge-steuert werden«, ergänzt der Wissenschaftler. Ferner gebe es Regio-nen für Sprache und Begriffsverarbeitung, für das logisch-rationaleDenken und ein davon völlig autonomes System für die Entschei-dungsfindung. Das Letztere sei stark korreliert mit der Fähigkeit zurEmotionsverarbeitung und der Verarbeitung von körpereigenenEmpfindungen sowie dem Sozialverhalten und befinde sich meist inder vorderen rechten Hirnhälfte.

So unglaublich es klingen mag: Es ist heute bereits möglich, eingrobes Abbild des Informationsflusses im Gehirn zu visualisieren.

»Wir wissen heute, dass Gehirnzellen quasi im Takt feuern«, ver-deutlicht Dr. Peter Tass vom Institut für Medizin (IME) des For-

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schungszentrums Jülich. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern ist esihm gelungen, aus unzähligen aus dem Gehirn stammenden Sig-nalen die interessantesten Muster neuronaler Aktivität zu erkennen.

Seinen Angaben zufolge beruht beispielsweise das Erkennen vonBildern auf einer synchronen neuronalen Aktivität der verschiede-nen beteiligten Gehirnbereiche. »Synchronisation neuronaler Akti-vität ist ein fundamentaler Mechanismus der Informationsverarbei-tung«, erklärt Tass. Ohne kurzzeitige Kopplungen innerhalb einerNervenzellgruppe oder zwischen Neuronen unterschiedlicher Ge-hirngebiete gebe es keinen Informationsaustausch und damit auchkeine kognitiven Prozesse wie Lernen oder Erinnerung.

Anders ausgedrückt: Wenn Michaels Gehirn ungeachtet des quir-ligen Flughafen-Ambiente eine eigene individuelle Welt entstehenlässt, ist der »Gleichschritt« der Neuronen hierfür eine wichtige Vor-aussetzung.

Synchronisation spiele aber auch bei vielen Krankheitsbildern ei-ne Rolle, führt Tass weiter aus. So sei das unwillkürlich auftretendeZittern, medizinisch korrekt »Tremor« genannt, bei Parkinson-Pa-tienten eine Folge synchroner neuronaler Aktivität. Auch die Bewe-gungsstörungen, unter denen Dystonie-Patienten leiden, fallen demWissenschaftler zufolge in diese Kategorie.

»Tintenfische« aus Niob als Kompass unserer Gedanken

Schlüssel zum Erfolg waren für Tass und seine Mitarbeiter soge-nannte »Squids«: Hinter dem Kürzel verbergen sich nicht etwa Tin-tenfische, sondern vielmehr auch als Superconducting QuantumInterference Devices (supraleitende Quanteninterferenzdetektoren)bezeichnete Wortpolypen. Bei dem Zungenbrecher handelt es sichum ein neuartiges Sensorsystem, welches wiederum zum Nachweisder durch geringe Ströme erzeugten extrem schwachen Magnetfel-der dient. Ausschlaggebend für die Entwicklung solcher Systemewar der Gedanke, nicht die elektrischen Ströme, sondern vielmehrdie gleichzeitig auftretenden äußerst schwachen Magnetfelder, diemit der Weiterleitung von Informationen im Gehirn einher gehen,zu messen.

Eine supraleitende Legierung des als Stahlveredler bekanntenMetalls Niob, durch flüssiges Helium auf eisige –269 °C gekühlt,

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bildete das Herz des sensiblen Squid-Kompasses. Dieser nimmt Sig-nale wahr, die nur ein Millionstel des Erdmagnetfelds betragen.

Das aus solchen Messungen resultierende Magnetenzephalo-gramm (MEG) unterscheidet sich vom »klassischen« Elektroenze-phalogramm (EEG), welches die elektrischen Potenziale von derSchädeloberfläche ableitet, insbesondere durch eine bessere räumli-che Auflösung: Da die Magnetfelder die Schädeldecke ohne Rich-tungsänderung passieren, lassen sich die Orte rhythmischer Akti-vität auf bis zu fünf Millimeter genau lokalisieren.

Um Störungen durch Herzschlag und Augenbewegungen auszu-schließen, werden parallel zum MEG auch das Elektrokardiogramm(EKG) und Elektrookulogramm (EOG) aufgezeichnet. Letzteres be-zeichnet eine Methode, bei der durch Ableitung der Spannungsdif-ferenzen zwischen dem vorderen und hinteren Augenpol die Au-genbewegungen registriert werden. Ein zusätzliches Kernspin- oderMagnetresonanz-Tomogramm liefert die genauen anatomischen In-formationen. Bei der Aufnahme wird der Patient in einem starkenMagnetfeld hochfrequenten Radiowellen ausgesetzt. Dadurch wer-den die in den Gehirnzellen vorhandenen Wasserstoffatome ange-regt und geben nach dem Abschalten der Radiosignale selbstelektromagnetische Wellen ab, die sich mit externen Empfängernaufzeichnen lassen.

»Bisher hat sich das MEG-Verfahren in der klinischen Praxis nochnicht durchsetzen können, weil die Messungen äußerst aufwändigund kostspielig sind«, erläutert Tass. Unabhängig davon sei dieInterpretation der Daten schwierig.

Letzteres soll sich aber bald schon ändern. Um neuronale Syn-chronisationsprozesse auf eine für den Patienten schonende Weisemit der MEG-Technik zu untersuchen, hat der Wissenschaftler ge-rade ein neuartiges mathematisch-statistisches Verfahren zur Aus-wertung der Messdaten entwickelt. Damit wurde erstmals am Men-schen möglich, was bislang nur mit implantierten Elektroden beiTieren gelang.

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Gefühlsausbrüche setzen molekulare »U-Boote« in Gang

Um jene Vorgänge nachzuweisen, die letztendlich für die Chemieder Liebe verantwortlich sind, müssen wir indessen noch viel tieferins Gehirn vordringen. Über die Hypophyse erreichen wir die letzteund zugleich alles entscheidende Funktionsebene. Was wir dort vor-finden, ist ein Mikrokosmos, in dem ausgewählte Moleküle wie win-zige U-Boote durch die Blutbahn gleiten und an genau definiertenPlätzen vor Anker gehen, um ihre Wirkung zu entfalten. Es ist eineWelt, die von der Biochemie regiert wird und die dafür Sorge trägt,dass Milliarden von Nervenzellen einwandfrei funktionieren kön-nen. Diese Chemie steuert nicht nur unsere Lebensfunktionen, son-dern auch unsere ureigensten Gedanken und Gefühle.

Auch die zwischenmenschliche Beziehung von Bianca und Mi-chael wird letztendlich von derartigen Molekülen gesteuert. Mankann in der Tat sagen, dass ein ausgefeiltes chemisches System fürdie unterschiedlichen Liebesgefühle zuständig ist. Auch die Libido –die Lust am Sex – wird somit im Wesentlichen von der Chemie be-stimmt.

Sind die Wissenschaftler auch in diesen intimsten Bereich bereitsvorgedrungen? »Im Prinzip ja«, würde die Antwort des legendären»Radio Eriwan« lauten. »Es ist ähnlich wie mit einem gut versiegel-ten Liebesbrief – Sie können Schreiber und Empfänger identifizie-ren, wissen aber noch lange nicht, was in dem Brief eigentlichsteht.«

So ist es den Forschern aus Jülich in Zusammenarbeit mit der Nu-klearmedizinischen Klinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Uni-versität tatsächlich gelungen, jene Gehirnzellen zu identifizieren,die gerade Botenstoffe absenden oder empfangen. Denn mit Hilfemoderner Methoden der Hirnforschung – den so genannten bildge-benden Verfahren – können die Hirnforscher sichtbar machen, wassich im Inneren des Kopfes gerade abspielt: Als »Wegweiser« dienendie bereits erwähnten elektrischen Impulse, welche die Nervenbah-nen durchlaufen und magnetische Felder entstehen lassen. Auchwenn in den filigranen Kapillaren vermehrt Blut zu den aktiven Be-reichen fließt, lässt sich dies nachweisen, weil dort unter anderemmehr Sauerstoff verbraucht wird, was mit einem erhöhten Konsumdes Brennstoffs Glucose einhergeht.

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Für solche Untersuchungen setzen die Forscher aus Jülich diefunktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) ein, mit dersich der Sauerstoffgehalt des Blutes eindeutig messen lässt: Je nach-dem, ob der rote Blutfarbstoff Hämoglobin mit einer erhöhten Kon-zentration an Sauerstoff beladen ist oder nicht, gibt er ein unter-schiedliches »Echo«. So lassen sich unter anderem jene Bereiche desGehirns identifizieren, die an der Bewegungssteuerung oder an Ent-scheidungsprozessen beteiligt sind.

Ein in Jülich unter dem Namen FIRE (Functional Imaging in Re-al Time) entwickeltes und zum Patent angemeldetes Verfahren hatdie funktionelle MRT so beschleunigt, dass die auf diese Weise ge-wonnenen Bilder nunmehr in Echtzeit zur Verfügung stehen – po-pulärer würde man von »Turbo-MRT« sprechen.

Michaels Liebe löst im Gehirn eine Lawine von Signalen aus

Die Forscher sind aber noch einen Schritt weiter gegangen. Sokönnen sie mit Hilfe der Echtzeit-MRT erstmals auch die an der Ge-hirntätigkeit beteiligten Moleküle identifizieren und messen. Sokann mit Hilfe der Methode inzwischen sogar unterschieden wer-den, ob die gemessenen Signale beispielsweise von einem Boten-stoff der Hirnzellen oder von einer Energie übertragenden Phos-phorverbindung stammen.

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Abb. 6: Hämoglobin

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Hätte man Michaels Gehirn bei Biancas Ankunft also der Echt-zeit-MRT unterworfen, wäre die Kaskade an Signalen den Forschernsicherlich nicht entgangen. Wie eingangs erwähnt, bleibt der Inhaltder Botschaft zum Glück ein Geheimnis, denn selbst mit einer Iden-tifizierung der Botenstoffe können die Forscher bildhaft ausge-drückt zwar Farbe oder Form des »molekularen Briefumschlags« er-ahnen – mehr aber auch nicht!

Übertragen werden diese verschlüsselten Nachrichten durch Bo-tenstoffe wie Neurotransmitter und Neuropeptide. Wie rasch dieseInformationen im konkreten Fall weitergegeben werden, hängt vonder Art der Nervenzellen, vom ausgeschütteten Neurotransmitterund von der Anzahl der Schaltstellen im Gehirn, den bereits er-wähnten Synapsen, ab.

Die verschiedenen Transmitter sind nur in geringen Mengen vor-handen und nicht wahllos im Gehirn verbreitet. Vielmehr liegenNervenzellen, die mit den gleichen Neurotransmittern arbeiten, inGruppen beisammen, und ihre Nervenfasern strahlen nur in be-grenzte Hirngebiete aus. Ein Beispiel sind Nervenzellen, die mit denTransmittern Dopamin, Serotonin und Noradrenalin arbeiten. Die-se Transmitterstoffe gehören zur Gruppe der Monoamine, anderewie zum Beispiel die Gamma-aminobuttersäure (GABA) gehören zuden Aminosäuren. Die wichtigsten Neurotransmitter und ihre Wir-kungsweise werden im Folgenden kurz beschrieben.

• Acetylcholin ((2-Acetoxyethyl)-trimethylammoniumchlorid): Die-ser Transmitter geht eine Bindung mit einem sogenannten nico-tinischen Rezeptor ein. Für einen Augenblick kürzer als ein Wim-pernschlag, nämlich für 0,1 Millisekunden, öffnet sich der Ionen-kanal, der in dieser Zeitspanne etwa 15 000–30 000 Ionenpassieren lässt. Acetylcholin wirkt an der Synapse zwischen Nervund Muskel erregend, weil es positiv geladenen Natriumionen dieMöglichkeit gibt, in die Zelle einzuströmen.

• Glutaminsäure (2-Aminoglutarsäure): Sie wirkt an verschiedenenRezeptoren auf Natriumionen (Einstrom), Kaliumionen (Aus-strom) und bei einigen davon auch auf Calciumionen (Einstrom).Als so genannte »exzitatorische Aminosäure« gehört sie zu denwichtigsten erregenden Transmittern im zentralen Nervensys-tem.

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• Serotonin (5-Hydroxytryptamin): Der erstmals im Jahre 1948 ausBlutserum isolierte Neurotransmitter spielt eine wichtige Rolleim Schlaf-Wach-Rhythmus. Darüber hinaus beeinflusst er in ent-scheidendem Maße unsere Stimmungslage. Als Indol-Derivat istSerotonin strukturell mit einigen Halluzinogenen wie zum Bei-spiel Psilocybin (»Magic Mushroom«) und LSD verwandt.

• GABA (Gamma-Aminobuttersäure) verursacht durch einen Chlo-ridioneneinstrom eine Hemmung der nachgeschalteten Zelle.

• Glycin (Aminoessigsäure): Der einfachste unter den Neurotrans-mittern ist im Körper weit verbreitet und wirkt – ähnlich wie GA-BA – über den Chloridioneneinstrom auf nachgeschaltete Zellenhemmend.

• Dopamin (4-(2-Aminoethyl)-brenzcatechin) sowie das funktions-verwandte

• Noradrenalin (4-(2-Amino-1-hydroxyethyl)-resorcin) wirken indi-rekt, indem sie die Konzentration eines »zweiten Boten« erhöhenoder senken, der dann seinerseits die elektrischen oder bioche-mischen Wirkungen auslöst. Der amerikanische Biochemiker,Pharmakologe und Physiologe Earl Wilbur Sutherland identifi-zierte den »zweiten Boten« als cyclisches Adenosinmonophos-phat (cyclo-AMP), wofür ihm 1971 der Nobelpreis für Physiologieund Medizin verliehen wurde.

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Abb. 7: Wichtigste Neurotransmitter

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Neurotransmitter – Wächter über Emotionen und Schlaf

Nervenzellen, die mit Dopamin als Transmitter arbeiten, befin-den sich vor allem in der ventralen Haube im Mittelhirn und reichenbis ins Vorderhirn, wo sie an der Steuerung emotionaler Reaktionenbeteiligt sind. Andere Dopamin-haltige Nervenfasern enden nahedem Zentrum des Gehirns im Streifenkörper, wo Dopamin bei derRegulierung komplexer Bewegungen eine Rolle spielt. Eine Dege-neration dieser Nervenfasern hat verheerende Folgen und führt un-ter anderem zu Muskelsteife und Zittern.

Serotoninhaltige Nervenzellen befinden sich wiederum in einemkleinen Gebiet des Hirnstamms, dem sogenannten Raphe-Kern. DieFasern dieser Nervenzellen reichen in den Hypothalamus, den Tha-lamus und in viele andere Hirnregionen. Dort ist Serotonin an derWahrnehmung von Empfindungen und am Zustandekommen desSchlafs beteiligt.

Noradrenalinhaltige Nervenzellen befinden sich besonders häu-fig in einem kleinen Gebiet im Hirnstamm, dem blauen Kern (Nu-cleus coeruleus). Diese Nervenzellen sind stark verzweigt und ste-hen mit dem Hypothalamus, dem Kleinhirn und dem Vorderhirn inVerbindung, wo das Noradrenalin an der Erhaltung des Wachzu-standes, am Belohnungssystem des Gehirns, am Träumen und ander Regulierung der Stimmungslage beteiligt zu sein scheint. AlsBelohnungssystem bezeichnen Hirnforscher die Zentren der Lust-empfindung. Diese spielen beim Lernen, aber auch für Gedächtnis-leistungen eine herausragende Rolle.

Neben den bereits genannten Transmittern kennt und vermutetman weitere, wobei auch einige Aminosäuren als Transmitter inFrage kommen. Zum Beispiel wirken Glutamin- und Asparagin-säure erregend auf die meisten Nervenzellen. Von der einfachstenAminosäure, dem Glycin, weiß man, dass es als hemmender Trans-mitter im Rückenmark wirkt.

Der wichtigste Transmitter mit hemmender Wirkung ist dieGamma-Aminobuttersäure (GABA), die ausschließlich in Hirn undRückenmark synthetisiert wird. Man schätzt, dass ein Drittel allerHirnsynapsen mit GABA als Transmitter arbeitet.

Kleine Ursache – große Wirkung: Bemerkenswert ist, dass sichder hemmende Transmitter GABA vom erregenden TransmitterGlutaminsäure nur dadurch unterscheidet, dass ihm eine Gruppe

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bestehend aus einem Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatomenfehlt. Demnach können schon kleine Unterschiede in der moleku-laren Struktur dazu führen, dass die einzelnen Transmitter völligentgegengesetzte Wirkungen aufweisen.

Michaels Gehirn – ein Energieverschwender

Neben den sieben klassischen und chemisch relativ einfachenNeurotransmittern kennen die Forscher inzwischen rund 50 weite-re Botenstoffe, von denen man heute weiß, dass auch sie im Gehirnals Neurotransmitter wirken. In den letzten Jahren wurden sowohlin der Charakterisierung der Transmittersubstanzen als auch in derAnalyse der molekularen Vorgänge beträchtliche Fortschritte erzielt.

»Dank dieser Untersuchungen weiß man, dass die Wirkung vie-ler Pharmaka und Nervengifte daher rührt, dass sie die chemischeÜbertragung der Nervensignale unterbrechen, verändern oder nach-ahmen, und es gibt Hinweise dafür, dass auch Geisteskrankheitenauf Defekten in der Funktion von chemischen Übertragungssyste-men im Gehirn beruhen«, zieht der britische Pharmakologe LeslieL. Iversen Bilanz.

Seinen Angaben zufolge zählt das Gehirn zu den größten Ener-gieverbrauchern im Körper. Dies komme durch seine starke Durch-blutung und durch seinen hohen Sauerstoffbedarf zum Ausdruck,führt Iversen weiter aus. Zwar würde das Gewicht des Gehirns eineserwachsenen Menschen nur etwa zwei Prozent seines Körperge-wichts ausmachen, dennoch würden ihm 20 Prozent des im Ruhe-zustand aufgenommenen Sauerstoffs zufließen.

Moderne Hirnforscher vermuten daher, dass sich der große Ener-giebedarf des Gehirns aus der Notwendigkeit ergibt, an allen Ner-venmembranen die Konzentrationsgefälle von Ionen aufrecht zu er-halten, von denen die Erzeugung, Verarbeitung und Weiterleitungvon Nervensignalen in den vielen Milliarden Nervenzellen abhängt.Für das Gehirn gibt es keine Verschnaufpause. Vielmehr ist die In-tensität des Hirnstoffwechsels Tag und Nacht in etwa gleich – siekann sogar im Schlaf, vor allem wenn Bianca und Michael geradeträumen, etwas ansteigen.

Der Versuch, die Intensität des arbeitenden Gehirns näher zu er-forschen, lässt die Forscher zunächst an Grenzen stoßen. Im Prin-

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zip ist es natürlich möglich, die Neurorezeptoren quasi im Rea-genzglas zu untersuchen: Hierzu zerkleinern die Wissenschaftlerdie aus lebenden oder toten Gehirnen isolierten Nervenzellen, biszum Schluss nur noch die Hüllen der Zellen – ihre Membranen mitden eingeschlossenen Rezeptormolekülen – übrig bleiben. Die ein-zelnen chemischen Bausteine, aus denen die Rezeptoren zu-sammengesetzt sind, lassen sich nun bestimmen. Einziges Pro-blem: Es ist nicht mehr möglich, einen einzelnen Rezeptor oder gardas komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Rezeptortypen imlebenden Gehirn zu beobachten.

Einen Ausweg aus dem scheinbaren Dilemma bietet die Positro-nen-Emissions-Tomographie. Das Verfahren gestattet es nämlich,mit Hilfe radioaktiv markierter Moleküle die Verteilung der unter-schiedlichen Rezeptoren im Gehirn sichtbar zu machen. Doch wiebringt man das Gehirn dazu, diese Substanzen aufzunehmen?

Bianca mag Traubenzucker – ihr Gehirn auch

Inzwischen ist es Forschern in der Tat gelungen, die Intensitätdes Energiestoffwechsels einzelner Hirnzellen sichtbar zu machen.Dazu bedienten sie sich eines Tricks, und der »Appetit« des Gehirnsauf Traubenzucker wies ihnen den richtigen Weg.

Gehören Sie zufällig zu den Menschen, die in Stresssitiuationeneinen verstärkten Appetit entwickeln und zum Naschen neigen?

Falls ja, müssen Sie sich keine Vorwürfe machen, denn Sie be-finden sich in absolut guter Gesellschaft.* So werden auch Nerven-zellen bei erhöhtem Energiebedarf buchstäblich gefräßig und kon-sumieren deutlich mehr Traubenzucker (Glucose), als dies in derRuhephase der Fall ist. Bei diesem Vorgang wird die aufgenomme-ne Glucose normalerweise rasch umgesetzt, dementsprechend lässtsie sich bereits nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisen.

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* In der Tat scheinen die Menschen inStress- oder Prüfungssituationenunterschiedlich zu reagieren. Währendder weibliche Part des Autorenteamseher dazu neigt, die Nahrungszufuhrzu vergessen, fällt der Autor durch ei-nen häufigeren Gang zum Kühl-

schrank auf. Leider wird geistige An-strengung von der Personenwaagenoch nicht einmal ansatzweise hono-riert, und bedauerlicherweise konntein diesem Zusammenhang auch nochkein familiärer »Emissionshandel« zu-stande kommen ...

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Anders stellt sich jedoch die Situation dar, wenn man die Gluco-se mit einer Art »Leuchtspur« versieht. Forscher in Jülich haben zudiesem Zweck die Glucose mit radioaktivem Fluor 18F markiert. DieVerteilung einer auf diese Weise vorbehandelten Glucose sowie ihrVerbrauch innerhalb des Körpers lässt sich danach von außen mitder Positronen-Emissions-Tomographie (PET) verfolgen.

Für Untersuchungen am lebenden Gehirn leistet der auf dieseWeise markierte Traubenzucker unschätzbare Hilfe – auch wenn ervermutlich nie zum Einsatz kommen wird, um etwa den Grad derVerliebtheit anhand erhöhter Gehirnaktivität zu erforschen!

Dagegen lässt sich mit seiner Hilfe beispielsweise nach Schlag-anfällen das Ausmaß der Zerstörung feststellen. Da das markierteMolekül wie gewöhnlicher Traubenzucker die Blut-Hirn-Schrankepassiert, ist es ein wertvoller Indikator und zeigt an, wo der Stoff-wechsel des Hirngewebes normal verläuft und wo er durch ein blo-ckiertes Blutgefäß beeinträchtigt ist. Je höher der Glucoseverbrauchin der geschädigten Hirnregion ist, desto besser sind die Heilungs-chancen.

Inzwischen werden bereits zahlreiche Kliniken mit dem strahlen-den Zucker aus Jülich beliefert, der 1999 vom Bundesinstitut fürArzneimittel und Medizinprodukte offiziell als erstes radioaktivesDiagnostikum für PET-Untersuchungen in Deutschland zugelassenwurde. Da das radioaktive Fluor relativ schnell zerfällt und bereitsnach 110 Minuten die Hälfte der Radioaktivität verschwunden ist,entspricht die Strahlenbelastung eines Patienten nur der einer ge-wöhnlichen Röntgenuntersuchung.

Aus diesem Grund wird das Präparat seit kurzem auch in derHerzdiagnostik eingesetzt. So lässt sich nach einem Herzinfarkt bei-

Wie Forscher einen »strahlendenDoppelgänger« des TraubenzuckersherstellenZur Herstellung von markiertem Trau-

benzucker wird zunächst radioaktivesFluor in einem Teilchenbeschleunigerhergestellt. Dazu werden Wassermolekü-le, die das Sauerstoff-Isotop 18O enthal-ten, mit Wasserstoffkernen beschossen(18O + p → 18F–). Das dabei entstehende

Fluoridion 18F– gelangt durch Leitungenin der Größe winziger Kapillaren in einemit Blei ummantelte Synthese-Zelle.Dort bildet sich ein mit radioaktivem Flu-or markierter Traubenzucker, der nocheinige Schutzgruppen als »Anhängsel«trägt. Nach einer Prozessdauer von ins-gesamt weniger als einer Stunde ist derstrahlende Doppelgänger des Trauben-zuckers einsatzbereit.

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spielsweise feststellen, welche Bereiche unwiderruflich zerstört undwelche noch lebensfähig sind.

In ähnlicher Weise ist der radioaktive Zucker gerade dabei, die Tu-mordiagnostik zu revolutionieren. So reichert sich der markierte Zu-cker bevorzugt in schnell wachsenden Tumoren an, da diese einenbeschleunigten Stoffwechsel aufweisen. Mit Hilfe von PET-Kameraslassen sich auf diese Weise Hirntumore millimetergenau orten.